New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 35: Das Lied des Wolfes ------------------------------- Tag 106   „Ich beschwöre Euch, überlegt Euch das noch einmal. Ich traue ihm zu, dass er Euch mit bloßen Händen angreift, und er ist listenreich“, lag ihm Clockmon in den Ohren. Ken schwieg, als seine neue Leibgarde ihm zur Tür von Matts Zelle folgte. Es waren allesamt Champion-Digimon, kein Vergleich zur defensiven Wucht von Taomon, aber wenn die Feinde ein Tapirmon geschickt hatten, um ihn zu vergiften, würden sie ihn ohnehin nicht mit roher Gewalt überraschen. „Er ist wirklich gefährlich“, beharrte Clockmon. „Er hat in all der Zeit nichts von seiner Wildheit verloren. Er ist immer noch ein Eherner Wolf. Der Eherne Wolf. Nur wirklich geübte Kämpfer und geschickte Fallensteller können ihn bändigen.“ Genau diesen Satz hatte Ken von ihm erwartet. Seit er wieder in der Festung war, spielte es sich als großer Held auf und schielte auf die Ritterwürde, einen Titel und womöglich Land. Immer wieder durfte Ken sich anhören, wie genial Clockmon vorgegangen war, um den flüchtigen Matt wieder einzufangen. „Willst du damit sagen, ich bin nicht geübt und geschickt?“, fragte er schneidend. Das Uhrendigimon zuckte zusammen. „Natürlich nicht, ich …“ „Dann folgt meinem Befehl.“ „Ja, Eure Majestät. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich Euch natürlich beschützen.“ Sie standen vor der Tür, die zusätzlich vakuumverriegelt war. Wenn er sie öffnete, würde sie ein zischendes Geräusch von sich geben. Er streckte die Hand nach dem Schalter aus, als er von drinnen eine Stimme hörte. Matt sang, erkannte er, laut genug, dass er ihn durch die Tür hören konnte. Im Hintergrund erklangen sanfte Gitarrentöne. Offenbar hatte er sein Geschenk angenommen – wahrscheinlich aber nur, um sich die Zeit zu vertreiben. Er würde auch sofort aufhören, wenn er wüsste, dass Ken ihm zuhörte. „Wir mussten ihm eine neue bauen“, berichtete Clockmon. „Die alte hat er kaputtgeschlagen.“ „Schsch“, machte Ken. Er wollte warten, bis Matt aufhörte zu spielen. Wenn er ihn in die Verlegenheit brachte, genau dann hineinzuplatzen, wenn er auf seinem Geschenk spielte, wäre er sicher ungehalten. Während sie warteten, lauschte Ken Matts Gesang. Etliche der Lieder seiner Band waren in Englisch gehalten, wie er wusste, aber in Deemons Spiel gab es nur noch eine einzige Sprache, und dies hier war wohl eine Neukomposition.   „Stürmisch war die Nacht Sengend war der Tag als des Wolfes Rudel seiner Beute unterlag Ja, ich weiß was dein Joch verspricht Doch du bist nicht der der das Eisen bricht Einsam zwar, verlassen Der Wind das Schilf nur beugt Der Tag wird wieder kommen da der Wolf die Zähne zeigt   Wisse, deine Ketten fürcht‘ ich nicht Denn du bist nicht der der das Eisen bricht …“   Ken schluckte, als er die letzten Zeilen hörte. In dem Moment erkannte er, dass ein Gespräch keine Früchte tragen würde, und sein Mut, mit Matt zu reden, verblasste. Er straffte die Schultern. „Wir gehen“, sagte er und ließ die verdutzte Garde hinter ihm her zu seinen Gemächern zurückeilen.   Seine Kammer kam ihm kalt vor. Es liegt am Licht, dachte er. In Nadines Palast hatte er ein Fenster, und alles war hell und fröhlich. Er sollte wirklich überlegen, die Festung zu renovieren, oder sie gleich nur noch als Zweitwohnsitz benutzen. Er streifte sich die DigimonKaiser-Kleidung ab, hängte sie über den Stuhl und legte sich in Unterwäsche ins Bett. Dort blieb er wach und grübelte über den Mordversuch nach. Nadine und er hatten beschlossen, das Attentat nicht zu verheimlichen, sondern im Gegenteil öffentlich zu verkünden, dass sie ihr Essen nun vorkosten lassen würden. Das würde die Drahtzieher hoffentlich davon abhalten, es erneut zu versuchen und dabei ihre Vorkoster-Digimon zu töten. Ihre Digimon hatten die ganze Festung durchsucht, aber das Tapirmon war nirgends zu finden gewesen. Wahrscheinlich war es längst wieder auf dem Weg in seine Heimat. Weder auf dem Radar noch auf Überwachungskameras war es zu sehen, daher vermutete Ken, dass sich Takashi mit der Wissens-Armee verbündet hatte, die wieder sein System befallen hatte wie ein lästiger Parasit. Seufzend wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Er würde Zephyrmon noch mehr Truppen schicken müssen, um endlich die ermüdenden Grubenkämpfe rund um das Kolosseum zu beenden und das Herz des Server-Kontinents in seine Gewalt zu bringen. Fürst Musyamon würde sicherlich einige Rekruten entbehren, und Ken würde Botschafter durch sein Reich schicken, um Soldaten anzuwerben. Dabei wollte er doch heute gar nicht über den Krieg nachdenken … Der Tag war doch so gut verlaufen. Nadine hatte ihm ihre Liebe gestanden. Fast wog das mehr als die Gefahr, der sie beide ausgesetzt gewesen waren, aber nur fast. Seine Gedanken kreisten um seine Freunde. Tai und Sora waren mit Taomon unterwegs. Hoffentlich ging es ihnen gut. Er hatte nichts mehr von ihnen gehört, auch nicht von MetallPhantomon. Spadamon war auf der Ebene unterwegs, hatte ihm aber noch keine neuen Berichte geschickt. Irgendwo weit östlich von hier segelten zwei Kriegsflotten um die Wette, wer als Erstes die File-Insel erreichte, den einen Ort der DigiWelt, den er unter gar keinen Umständen verlieren wollte. Und irgendwo im Westen versteckten sich die beiden letzten Saatkinder. Und von Mimi und Yolei fehlte seit einer Weile ebenfalls jede Spur – von Kari und T.K. hingegen seit Spielbeginn. Wo mochten sie nur sein? Hatte Deemon sie gleich am Anfang irgendwie getötet, um ihn noch mehr zu entmutigen? Der Gedanke war so schrecklich, dass Ken den Kopf schüttelte, um ihn zu vertreiben. In dem Moment klopfte es an seine Tür. Er hob den Kopf. Zwei Starmon hielten Wache vor seiner Kammer, zur Sicherheit, und es gab nur eine Person, die sie durchlassen würden. „Komm rein“, sagte er und setzte sich auf. Die Tür glitt auf, ein Lichtstreifen aus dem Gang wurde breiter, ein dicker Strahl, der durch die Finsternis stach. „Ich hab dich doch nicht geweckt, oder?“ Als sie eintrat, wirkte Nadine wie ein Gespenst. Statt ihres Königinnenkleids trug sie ein blütenweißes Nachthemd und Pantoffeln, und sie sah blass aus. „Nein. Ich war wach.“ „Gut.“ Sie betätigte den Lichtschalter und dimmte die Deckenlampen dann auf ein dämmriges Halbdunkel. Die Tür schloss sich hinter ihr und für einen Moment stand sie verloren im Raum. „Ich konnte auch nicht schlafen. Ich habe ... nein, das kann ich nicht sagen. Das ist einer Königin nicht würdig.“ „Wir sind unter uns“, erinnerte Ken sie. Nadine atmete tief durch. „Gut. Dann geb ich‘s zu. Ich hab Angst, Ken. Ich will nicht alleine sein – zumindest nicht heute Nacht.“ Ein warmes Gefühl durchlief ihn, aber Nervosität nagte plötzlich daran. Nein, so meint sie das nicht. Es ist nichts dabei. „Du hast nichts zu befürchten“, sagte er trotzdem. „An deinen Digimon kommt ein einzelnes Tapirmon sicher nicht vorbei.“ Außerdem hatte sie im Moment sogar mehr Wachen als Ken; da die Versorgungswege zur Front immer noch unsicher waren, hatten die Hagurumon den größten Teil der Besatzung der Festung ausgeschickt, sie zu sichern und Karawanen zu bewachen. Erst in den nächsten Tagen würde Nadines neue Kavallerie, mit der sie RiseGreymon fangen wollte, mobil sein und sie ablösen. Sie zupfte an ihren Ärmeln. „Heißt das, du wirfst mich raus?“ „Natürlich nicht!“, sagte er schnell. „Willst du …“ „Ich würde gerne heute bei dir schlafen, wenn es dir nichts ausmacht. Es macht dir doch nichts aus, oder?“ „Ich ... Das ... Nein, das macht mir nichts aus.“ „Danke“, seufzte sie erleichtert und kam zögerlich näher. Ken rutschte zur Wand, damit sie unter die Decke kriechen konnte. Er spürte ihre Wärme und fühlte, wie sein Herz in seinen Schläfen pochte. Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. „Was ist mit Elecmon?“, fragte er, weil es das Erste war, das ihm einfiel. „Ist bei der Garde. Ich wollte es nicht mitnehmen. Ich habe sie alle wichtigen Gänge überwachen lassen.“ Ihn schauderte, als er ihre Hand auf seinem Rücken fühlte. Nadine presste sich gegen seine Brust, ihre Haare kitzelten seine Nasenspitze. „Ich weiß, ich bin sicher ... Aber hier bei dir fühle ich mich auch sicher. Nur heute Nacht, ja? Morgen bin ich wieder eine Königin. Lass mich nur heute Nacht ein kleines Mädchen sein, das ein wenig Schutz sucht.“ „Jederzeit.“ Und er gab sich einen Ruck und schloss die Arme um sie. Eng an sie geschmiegt, ihren Duft in der Nase, der ein wenig anders war als beim Abendessen, ihre Wärme fühlend und ihr Atmen, den sanften Lufthauch auf seiner Haut und das Heben und Senken ihres Brustkorbs … so fand er noch weniger in den Schlaf als vorhin, aber das störte ihn nicht länger. Irgendwann dämmerte er schließlich doch weg und träumte von wirren Dingen, von Wormmon und Nadine, aber auch von Kelchen. Immer wieder meinte er den Geschmack des Giftes auf der Zunge zu spüren, und einmal zuckte er so heftig zusammen, dass er aufwachte. Er lag auf dem Rücken. Das Licht war immer noch gedimmt, gerade so hell, dass er es in der Klinge des Messers spiegeln sah, ehe es herabfuhr. Es war ein Reflex, der ihn sich herumwerfen ließ, noch ehe er einen erstickten Schrei ausstoßen konnte. War der Traum noch nicht zu Ende? Das Messer bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch neben ihm in die Matratze. Als er aus dem Bett fiel, bemerkte er, dass Nadine nicht mehr neben ihm lag. Seine Beine verhedderten sich in der Decke, die seinen Sturz einen Moment lang abfing, ehe sie nachgab und er hart auf den Boden schlug. Für einen Moment sah er Sterne, sein Herz versuchte seinen Brustkorb mit stechenden Schlägen zu durchbrechen und jagte flüssige Glut durch seine Adern, und er meinte das Adrenalin auf seinen Sehnerven tanzen zu sehen. Sicher erblickte er nur deswegen Nadines Gesicht über sich, die Augenbrauen zusammengezogen, als das Messer in ihrer Hand wieder auf ihn herabstieß wie ein Greifvogel. Ken riss die Hände hoch, spürte einen brennenden Schnitt am Unterarm, eher er ihre Handgelenke packen konnte. „Verdammt, hast du Glück“, zischte sie. Er bäumte sich mit einem atemlosen Schrei auf, wollte sie von sich fortschieben, doch die Decke hielt seine Knöchel immer noch umfangen. Kaum dass er aufsprang, verlor er wieder das Gleichgewicht und landete mit Nadine wieder auf der Matratze. Sie nutzte seine vollkommene Orientierungslosigkeit, um sich und ihn herumzuwälzen und sich auf seine Brust zu knien. Das Messer schimmerte nur wenige Zentimeter über seiner Nasenspitze, nur von seinen eigenen Händen in der Schwebe gehalten, doch Nadine drückte es erbarmungslos tiefer. „Was … Was tust du da?“, stieß Ken ungläubig keuchend hervor. „Wenn Gift nicht funktioniert, muss wohl Stahl ran“, gab sie schwer atmend zurück und legte ihr ganzes Gewicht hinter das Messer. „Du warst …?“ Nein, das konnte nicht sein, das war unmöglich, er träumte noch immer … Während jede Faser seines Geistes vor Verständnislosigkeit und Ohnmacht aufbrüllte, zog sich dieser einzige Gedanke durch seinen Kopf. Nur ein Traum, es ist so unlogisch, dass es nur ein Traum sein kann … Als man ihnen den Wein gebracht hatte, war er schon vergiftet gewesen, natürlich, dieses Tapirmon war es … Nur Elecmon hat dieses Tapirmon gesehen. Ken biss die Zähne zusammen. Tränen wollten in seine Augen treten, während er an der Messerspitze vorbei in Nadines wild entschlossenes Gesicht blickte. Nein, sie hätte nie die Gelegenheit gehabt … Der Kuss. Er hatte die Augen geschlossen, und der Kelch stand direkt vor ihnen. Es war diese Erkenntnis, die ihn laut aufjaulen ließ und Bärenkräfte in ihm weckte. Er bäumte sich einmal mehr auf und stieß Nadine mit aller Macht von sich. Sie landete mit einem dumpfen Schlag am Boden, ihr blasser, zerbrechlicher, wunderschöner Körper … Ken sprang vom Bett, bekam sein DigiVice zu fassen und drückte auf seinen Connector. „Alarm!“, schrie er, konnte kaum glauben, was er da gerade tat … Er kam gar nicht auf die Idee, gegen sie zu kämpfen. Mit wenigen Schritten war er bei der Tür, die sich fauchend vor ihm öffnete. „Gib dir keine Mühe!“, rief Nadine ihm abfällig hinterher. „Du kannst mir nicht entkommen!“ Die Wachen, seine Wachen … Als er aus seiner Kammer stürmte, glaubte er, plötzlich freier atmen zu können, als ließe er einen grauenhaften Albtraum hinter sich. Doch es war noch nicht vorbei. Seine Starmon waren fort. Es gab ein paar Brandflecken dort, wo sie Wache gehalten hatten, als hätte sie irgendeine leise Attacke an Ort und Stelle pulverisiert. In der Ferne hörte er Schreie und Lärm. Dort wurde gekämpft. Und Nadines Truppen sind heute in der Überzahl. Ken stieß einen Fluch aus, und seine Stimme klang genauso verzweifelt und weinerlich, wie er sich fühlte. Wahllos rannte er nach links, folgte dem Gang, sprintete, so schnell er konnte, während sich Tränen unter seinen Lidern hervorkämpften und sein Blick verschwamm. Von seinem Schreck war er noch halb gelähmt, und er taumelte mehr, als dass er geradeaus lief. Ein Traum, ich träume nur, oh bitte, lass mich aufwachen … Nicht Nadine, warum sollte ausgerechnet sie so etwas tun? Er hörte ein Knacken in den Lautsprechern, die in der ganzen Festung angebracht waren. „Hier spricht die Königin“, erklang Nadines Stimme verzerrt. Sie musste das Kommunikationssystem in seiner Kammer benutzen. „Der DigimonKaiser ist auf der Flucht in den Gängen der Festung. Verriegelt alle Ausgänge. Lasst nicht zu, dass er entkommt.“ Ihre Stimme, die einst Balsam für seine wunden Nerven war, stach nun wie tausend Glassplitter in sein Herz. „Warum?“, rief er in den Gang hinein, als könnte er sie hören. „Warum tust du mir das an?“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als ein knarrendes Lachen in seinem Kopf immer lauter wurde. „Du bist zu leichtgläubig, Ken.“ Sofort versuchte er sich zu konzentrieren und Deemon seine Gedanken zu verschließen. Es funktionierte nicht. Obwohl er alles genauso machte wie immer, funktionierte es nicht. Deemon! Es saß am Rand seines Bewusstseins wie ein giftiger, schwarzer Polyp. „Hast du geglaubt, ich ließe mich so einfach aus deinem Kopf aussperren, Ken? Vergiss nicht, wer hier die Regeln gemacht hat!“ Die ganze Scharade, die zusammenfiel, stürzte tonnenschwer auf Ken ein. Das Lachen in seinem Kopf, das er endlich für alle Zeiten abgewehrt zu haben glaubte, dröhnte mit einem Mal so laut, dass er gegen die Wand prallte und sich erst nach Atem ringend sammeln musste. Irgendwo in der Ferne trötete eine Alarmsirene. Ken versuchte sich wenigstens auf dieses Geräusch zu konzentrieren. Dennoch hallte Deemons triumphales Lachen noch lange in seinen Ohren nach. Ziellos irrte er in der Festung umher, seine Gedanken um Nadines Verrat kreisend, ohne dass er verstehen konnte, warum sie so etwas tun könnte. Und was sollte er nun tun? Die Brücke, fiel ihm ein. Er musste den Hagurumon befehlen, irgendwie seinen Rückzug zu arrangieren, und seine Truppen koordinieren … Immer noch fühlte er sich wie in einem Traum, taumelnd in einem Meer aus Watte, bis endlich die schweren Türflügel vor ihm zur Seite glitten und er den Raum betrat, an dem er vor wenigen Stunden mit Nadine vor Devimons Rätsel gegrübelt hatte. Er trat sein, seine nackten Füße auf kaltem Metallboden … Ein Centarumon stand inmitten zerstörter und zerschossener Maschinen. Keines von Kens Digimon war noch am Leben. Der Zentaur erkannte ihn sofort und wandte sich zu ihm um. Er wusste, dass es Nadines Elecmon war, das er hier vor sich hatte. Aus Centarumons Hand wuchs eine Lichtkugel, und Ken wäre beinahe zu spät ausgewichen, so sehr zog ihn der Anblick der Verwüstung in seinen Bann. Der Energieball sauste neben ihm in den Türrahmen. Ken schrie auf, stolperte zurück und machte Hals über Kopf kehrt, irrte wieder wahllos in den Gängen der Festung umher. Keine Hufe verfolgten ihn, aber er wusste, er war nicht sicher, ehe er nicht im Freien war … Aber war er dort außer Gefahr? Gab es überhaupt noch irgendeinen Ort, an dem er in Sicherheit wäre? Mit wirbelnden Gedanken und einem bitteren Geschmack auf der Zunge wich er den Kampfherden aus, die er schon von weitem hörte, und gelangte irgendwann in Schlangenlinien zur Treppe um den Maschinenraum. Ohne die Macht der Dunkelheit, die die Festung bewegte, war es hier nicht kalt, sondern nur kühl. Der gewaltige Generator, der die Fliegende Festung fliegend gemacht und in dem Davis einst das DigiArmorEi des Wunders gefunden hatte, stand still. Deemon hatte klargemacht, dass er, selbst wenn er wieder eine Antriebsmöglichkeit fände, ohne den Zugang zur Macht der Dunkelheit nicht arbeiten würde. An einem der großen Sichtfenster, die rund um den Generator in jeder Höhe zu finden waren, hielt er an und rang nach Luft. Überall fühlte er das Seitenstechen, und bei jedem Atemzug hustete er mittlerweile. Zwei Ebenen weiter unten war ein Kampf im Gange. Durch die Luke sah er Clockmon, das sich als großer Kastellan aufgespielt hatte und nun von zwei Gargoylemon aus Nadines Garde in Stücke gerissen wurde. Kaum dass es sich in Daten aufgelöst hatte, trat auch Nadine selbst in sein Sichtfeld. Sie trug immer noch ihr Nachtkleid, gespenstisch weiß, und wurde von vier Revolvermon von der Felsenklaue begleitet – und sie blickte zufällig in Kens Richtung. „Da oben!“, rief sie. „Schießt!“ Wieder fühlte Ken diesen Stich, als er sich zu Boden warf und in Deckung rollte, während hinter ihm die Kugeln einschlugen. Nadine wollte ihn verletzen. Sie wollte ihn töten … Der Schnitt an seinem Unterarm brannte wieder. Kopflos rannte er die Treppe weiter und gelangte in eine große, finstere Halle. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, was das hier war: irgendein Hangar, in dem sich abholbereit Container mit Kriegsausrüstung und Schwarzem Granulat stapelten. Das gewaltige Tor aus DigiChrom war fest vakuumverriegelt. Dort lag die Freiheit, hinter dieser einen halben Meter dicken Hoffnungslosigkeit. Es war sicherlich vom Zentralcomputer aus verschlossen worden. Nie und nimmer würde er es aufbekommen. Ken ließ sich mutlos auf einem der Container nieder und schluchzte. Er wollte nicht mehr. Alles war dahin, all sein Vertrauen und seine Liebe zu Nadine waren eine Verschwendung gewesen. Dass das nur ein schlimmer Traum war, glaubte er selbst nicht mehr. Wenn du reden willst, ich höre dir zu. Sooft du willst. Das hatte sie gesagt, irgendwann einmal. Er hatte sich so oft an ihrer Schulter ausgeweint, sie hatte ihn so oft getröstet, seine dunklen Gedanken vertrieben … Ich will gerne in deiner Nähe blieben. Ein neuerlicher Schluchzer entfuhr ihm, als er das Gesicht in den Händen vergrub. In der Dunkelheit rückten die Schatten näher. War das alles gelogen gewesen? Er konnte es nicht begreifen! Ich liebe dich, Ken. Ich liebe dich … Irgendwo in der Ferne knirschte und quietschte etwas, aber er hatte nicht die Kraft, weiter davonzulaufen. Vielleicht würden sie ihn hier nicht finden. Vielleicht würden sie ihn hier einfach in Ruhe lassen, den zerbrochenen Kaiser mit dem zerbrochenen Herzen, der für niemanden mehr eine Gefahr war. Ich bin froh, dass du zu mir zurückgekommen bist. Sie war alles gewesen, was ihm nach Wormmons Tod geblieben war, das letzte bisschen Menschlichkeit in dieser kalten, rauen Welt … Du bist nicht allein, Dummkopf. Du hast doch noch mich. Ich bin immer bei dir, vergiss das nie. Er hielt es nicht mehr aus. So fest raufte er sich die Haare, dass es wehtat, als er laut in die Dunkelheit schrie: „Warum? Warum, Nadine? Erkläre es mir, bitte!“ „Du willst eine Erklärung? Schön.“ Ken fuhr herum. Dort, wo das Licht vom Flur in den Hangar fiel, stand sie, Kleid und Haut mit der Helligkeit, das Haar mit den Schatten verschmelzend. Für einen Moment, als er ihr Gesicht sah, glaubte Ken, es wäre tatsächlich wieder alles in Ordnung und sie würde im nächsten Augenblick über einen Scherz lächeln, trotz des kalten Tons in ihrer Stimme. Doch als hinter ihr ein halbes Dutzend Digimon aufmarschierte, darunter ihr Centarumon, wurde diese Illusion zerfetzt wie Spinnweben im Wind. Etwas surrte, und die Deckenlampen flammten auf und betonten, wie armselig Ken allein in dieser Halle hockte. „Es ist eigentlich ganz einfach“, sagte Nadine und trat näher. „Sieh dich nur an. Lächerlich, wie du hier einen auf Drama-Queen machst. Weißt du eigentlich, wie schwer es war, die ganze Zeit an deiner Seite ernst zu bleiben? Dir in allem zuzustimmen, obwohl du als Einziger keine Ahnung hast, was hier eigentlich läuft?“ „Wie … meinst du das?“, fragte Ken heiser. Nadine lachte trocken. „Was glaubst du, wie wenig ich begeistert war, als Deemon mir aufgetragen hat, mich an dich ranzumachen. Du bist einfach nur ein Spielverderber – wenn du endlich aus dem Weg geräumt bist, werden wir anderen noch viel Spaß mit der DigiWelt haben. Warum zur Hölle glaubst du nur, das hier wäre real? Du bist doch nicht ganz dicht.“ „Nein …“, hauchte Ken kraftlos. „Das kann nicht sein … Warum …?“ Deemon hatte alle Saatkinder umgekrempelt, natürlich – wie hatte er nur glauben können, bei Nadine wäre es anders gewesen? Oder hatte sie recht? War in Wirklichkeit er es, der verrückt war? War das Ganze nur ein Spiel, wie Hiroshi gesagt hatte? Sie lachte wieder, ihr helles Lachen, das er so geliebt hatte. „Du solltest dein Gesicht sehen. Warum? Deemon hat es uns doch über Hiroshi ausrichten lassen. Du bist zu mächtig geworden, und es war an der Zeit, dass dein Kaiserreich fällt. Es ist vorbei, mein Lieber. Deine Festung steht so gut wie unter meiner Kontrolle, und die Digimon sind es mittlerweile so gewohnt, von mir mitregiert zu werden, dass sie den Verlust ihres Kaisers verschmerzen werden. Allerdings werde ich wohl deine Türme wieder durch meine ersetzen. Deine sind mir nämlich ein wenig unheimlich – du hast mit deinen Schwarzen Ringen und deinen Schnellbau-Türmen ja einen ungehörigen Startbonus von Deemon bekommen.“ Sie zwinkerte ihm zu. Ken konnte von Sekunde zu Sekunde weniger glauben, was er da hörte. „Dann war das … War alles zwischen uns … gelogen?“ „Nicht alles.“ Plötzlich war sie wieder ernst. „Du bist mir schon sympathisch und so – auch wenn ich ein wenig übertreiben musste. Und als du so eine Szene um dein ach so armes Wormmon gemacht hast, hab ich tatsächlich versucht, mich in dich einzufühlen. Wie würde ich denken, wenn meinem Partner etwas zustößt?“ Sie legte Centarumon die Hand auf die Flanke und lächelte dann hämisch. „Ich habe übrigens gehofft, dass du dich tatsächlich vom Turm stürzen würdest. Es würde mich brennend interessieren, ob du es getan hättest, wenn du mich nicht gesehen hättest.“ Ken biss die Zähne zusammen, dass sie schmerzend knirschten. Sein Unterkiefer zitterte, neue Tränen liefen über seine Wangen, diesmal auch von Wut durchtränkt. Nicht nur, dass sie wie alle anderen glaubte, das hier wäre nur ein Spiel – sie hatte auch mit ihm gespielt. Mit seinem Leben. „Genug der Worte, es gibt noch viel zu tun“, sagte Nadine und winkte ihre Soldaten näher. „Ohne dich fängt das Spiel erst richtig an.“ Sie schenkte ihm noch ein verschmitztes Lächeln. „Wenn du willst, können wir uns wirklich mal im echten Leben treffen. Ich nehme an, du wirst in Kürze vor deinem Computer aufwachen. Tötet ihn.“ Ken verspürte für einen Augenblick den Wunsch, sich mit einem Schrei auf sie zu stürzen, doch die Waffen der Digimon, die sich auf ihn richteten, ließen ihn den Impuls umkehren. Der Schrei verließ dennoch seine Kehle, als er sich rücklings über den Container rollte. Revolverkugeln schlugen dumpf darin ein, und eine Energiekugel von Centarumon durchdrang den Behälter. Ken fühlte die Hitze auf der Haut, als sie auf seiner Seite knapp neben seiner Schulter wieder auftauchte, dann hörte er das Granulat aus dem Container rieseln. Und fasste einen letzten, verzweifelten Plan, der nur durch die Sturheit geboren wurde, mit der er sich weigerte zu glauben, was er eben gehört hatte. Er rannte weiter, tiefer in den Wald aus Containern, immer Deckung suchend, und gelangte nahe an das Schleusentor. Hinter ihm spritzte und regnete es Granulat, die Schüsse hallten laut wider, und Nadine rief ihre Befehle. Noch ein Behälter wurde gesprengt. Ken öffnete mit ganzer Kraft die Drehriegel auf den beiden nächsten, stemmte sich dagegen und kippte ihren Inhalt auf den Boden, bis er in glänzend schwarzen Dünen watete. Dann richtete er sein DigiVice darauf. Das Granulat schlug Wellen unter seinen Füßen und nahm Form an. Komm schon, komm schon, schneller! Ein Schwarzer Turm wuchs direkt neben ihm in die Höhe, dick und mächtig wie ein uralter Baum. Nadines Truppen kamen näher, Schüsse schlugen Kerben und Löcher in die glatte, schwarze Oberfläche. Der Turm erreichte die Decke des Hangars und fraß sich schabend hinein. Das schwarze Material war nicht ganz so stabil wie der Stein, aus dem die Festung hier war, aber auch gewöhnlicher Sand und Steinmehl rieselten auf Ken herab. Sein DigiVice sandte das kalte, schwarze Licht aus, als er noch inniger flehte. Bitte, komm schon, los, los, los! Was vom Turm oben abbrach, wuchs unten nach, und irgendwann hörte Ken das verheißungsvolle Knirschen, als der Turm den Stein durchbrach. In dem Moment kam Centarumon an den Containern vorbei, auf seinem Rücken saß Nadine. Ihr grimmiger Blick streifte seinen. Ich liebe dich, Ken. „Ich war so dumm“, flüsterte er bitter. Centarumon schoss als Allererstes auf den Schwarzen Turm, als ahnte es, dass Ken irgendetwas vorhatte, doch noch bevor die Lichtkugel ihn erreichte, wanderten elektrische Blitze über seine Oberfläche, als seine Spitze das Kabelgeflecht in der Decke durchstieß und die Verriegelung des Schleusentores kurzschloss. Mehrere Lichter auf dem Tor begannen wild durcheinander zu blinken, und es öffnete sich gerade ein klitzekleines Stückchen … Ken rannte wieder los, fort von seinen Verfolgern, seiner Herrschaft, seinem Kaiserreich. „Bleib sofort stehen! Du hast verloren!“, rief Nadine ihm hinterher. Er dachte an ihr Lächeln und weinte stumm. Durch den Spalt im Hangartor wurde heftig Sand hereingeweht. Dahinter war es stockdunkel, und ein prasselnder Wind heulte. Obwohl er wusste, dass er sich in der oberen Hälfte der Festung befand, sprang Ken nach draußen.   Second time your evil soul filled my mind with these black holes We were close to see your end, but now I hear your voice again You were waiting for surrender, found yourself a big pretender Can you hear the sound of rain? It keeps my mind away from pain (Celesty – Legacy of Hate Part 3) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)