New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 68: Die Schatten und das Licht -------------------------------------- Tag 152   Ganz in der Nähe explodierte etwas. Ken zuckte in seinem Kommandosessel zusammen. „Funktionieren die Kameras schon wieder?“, rief er. „Positiv.“ „Dann zeigt mir, was vor der Brücke vor sich geht!“ Ihm blieb fast das Herz stehen. Cody war dort draußen – gemeinsam mit Willis, und die beiden kämpften gegeneinander! Er hatte sich schon gewundert, warum der Junge nicht aufgetaucht war, und war nahe dran gewesen, einen Suchtrupp loszuschicken. Ansonsten konnte er noch Rapidmon sehen, das etwas angriff – etwa Armadillomon? Und wieso konnte Terriermon überhaupt digitieren? Das Goldene ArmorEi müsste in einer sicheren Kammer in der Festung vor sich hin stauben! Hatten sie es etwa gefunden? „Sofort raus!“, blaffte er Arukenimon und Mummymon aus. „Helft ihm! Und bleibt am Leben! Müsst ihr eigentlich ständig seine Erlaubnis einholen?“, fragte er gereizt, als sie Oikawa einen fragenden Blick zuwarfen. „Verzeihung!“ Mummymon huschte als Erstes davon, in Mullbinden gekleidet. Arukenimon begegnete Ken noch kurz mit ausdruckslosem Gesicht, dann verwandelte es sich ebenfalls.     Die Tür zur Brücke glitt auf, gerade als Ankylomon zurückdigitiert war. Cody hielt sich nicht damit auf. Ein Rauchschleier hing noch von Rapidmons letzter Attacke in der Luft, das nutzte er aus. Der Arenakämpfer warf sich nach vorn, zog vor jedem Schritt eine saubere Linie mit dem Schwert. Er traf tatsächlich, noch bevor er sein Ziel erkennen konnte. Die goldene Klinge fraß einen Spalt in Endigomons Brust und ließ das affenartige Digimon knurren. Cody drehte das Schwert gekonnt in der Hand und stieß die Spitze genau in die frische Wunde. Diesmal brüllte es, stürzte rückwärts und digitierte zu einem kleinen, braunen Digimon zurück. Allein dieser Kampfkniff hatte Codys Atem beschleunigt. Er war eindeutig nicht mehr in Bestform … Der blonde Junge stand zwei Meter vor ihm und starrte ihn hasserfüllt und fassungslos an. „Der schon wieder!“, hörte er Arukenimons Stimme hinter sich. Es war in der Tür zur Brücke aufgetaucht, gemeinsam mit Mummymon. „Mach, dass du reinkommst“, sagte die Mumie zu Cody. „Du wirst schon erwartet.“ „Ich bleibe“, sagte Cody stur, obwohl es unvernünftig war. „Ihr zwei seid also auch hier“, stellte der Blonde fest und wich etwas vor Codys Klinge zurück. „Hätte ich mir denken können. Diesmal wird es ein ehrlicher Kampf – oder habt ihr Angst davor?“ „Dir sollte mal einer den Hintern versohlen“, rief Mummymon aus und legte auf Rapidmon an. „Nimm das!“ Die Lichtschlange aus seinem Gewehr war zu langsam. Das goldene Digimon sauste aus der Schusslinie und gab fast im selben Moment einen eigenen Schuss ab, der Mummymon gegen die Brust traf und zurück durch die Tür schleuderte. Arukenimon machte es schlauer und versprühte Giftnebel, der den halben Gang ausfüllte. „Halt den Atem an, Kleiner!“ Ein rosa Spinnenfaden schoss auf Cody zu, um ihn zurückzureißen. Aber Cody hatte genug davon, beschützt zu werden! Entschlossen kappte er den Faden mit seinem Schwert, dann stürzte er sich auf den Blonden. Wie Mummymon zu langsam für Rapidmon gewesen war, war der Junge zu langsam für Cody. Ohne dass er viel Gegenwehr leisten konnte, riss er ihn von den Füßen und schmetterte ihm den Schwertknauf gegen das Kinn. Arukenimon stöhnte auf. „Verdammt, bist du eine Nervensäge!“ Es wollte auf ihn zutrippeln, doch Rapidmon, dem das Giftgas offenbar nichts ausmachte, stellte sich ihm in den Weg. „Ich bin dein Gegner.“ Die Spinnenfrau schnalzte verärgert mit der Zunge. „An deiner Stelle würde ich mir Sorgen machen, dass mein kleiner Junge deinem kleinen Jungen den Kopf abschlägt.“ Das wirkte. Rapidmon flog sofort zu Cody zurück, der dem anderen die Klinge an die Kehle setzte. Der war immerhin klug genug, sich nicht zu wehren. „Ihr seid gefangen“, rief er aus. „Alle drei! Digitiere sofort zurück!“ „Schmutzige Tricks“, presste der Blonde hervor. „Ich habe dich ganz alleine überwältigt. Komm mir nicht mit schmutzigen Tricks!“ „Cody, was soll das?“, schallte plötzlich eine Stimme durch den Gang. Der DigimonKaiser. Cody zwang sich dazu, sich nicht umzudrehen. Die Klinge noch fest am Hals seines Opfers, sagte er: „Ich habe ihn überwältigt. Wir nehmen ihn gefangen.“ Und ohne mich hätte Rapidmon sicher auch alle anderen Digimon über den Haufen geschossen. Der Kaiser seufzte. „Schön. Gut gemacht. Willis, ergib dich.“ „Niemals!“, zischte der Blonde. „Du wirst dich ergeben. Wenn nicht freiwillig, dann pflanze ich dir meine Saat ein, und dir wird nichts anderes übrig bleiben, als mir zu gehorchen. Und dann töte ich wieder deine Digimon. Nur diesmal lasse ich es dich eigenhändig tun.“ Willis erstarrte. Die Klinge hüpfte, als er hart schluckte. Als hätte es genau wie er seinen Kampfgeist verloren, digitierte Rapidmon zurück.     Im hinteren Winkel des Zimmers stand jemand – oder besser gesagt, jemand wurde in eine stehende Position gezwungen. Straff gespannte Riemen umwickelten Oberkörper und Arme der Person und waren an zwei Stahlträger gebunden. Die Knöchel steckten in eisernen Manschetten, die direkt an der Wand angebracht waren, der Kopf wurde mit einem gepolsterten Stirnreif fixiert. Im linken Arm des Menschen steckte eine Nadel, die über einen Schlauch mit einem medizinischen Tropf verbunden war. Als die Gestalt Matt und WereGarurumon bemerkte, weiteren sich ihre Augen und sie gab unverständliche Laute von sich. Ein dicker Knebel hinderte sie am Sprechen. „WereGarurumon, hilf mir.“ Matt löste die Seile, während WereGarurumon es schaffte, die Eisenringe als Ganzes aus der Wand zu reißen. Als Matt ihr den Knebel aus dem Mund nahm, beugte sie sich hustend vornüber und stützte sich an seiner Schulter ab, als würde es ihr schwer fallen, selbstständig zu stehen. „Danke“, krächzte sie und hustete wieder. Ihre Kehle klang ausgedörrt. Erst, als sie vollständig befreit war, erkannte Matt dieses Mädchen. WereGarurumon erging es ebenso. „Königin Nadine“, grollte es verblüfft. Ihr schwarzes Kleid war von den scheuernden Riemen zerschunden, einzelne Fäden aufgetrennt. Ihr Haar fiel ihr ungewaschen und widerborstig ins Gesicht, aber sie war es eindeutig. Blinzelnd sah sie ihn an, und auch durch ihre Augen zuckte der Schein des Erkennens. „Na so was“, sagte sie und lachte rau. Es klang schmerzhaft. „Du bist das! Was für eine Ironie.“ „Du … lebst?“, brachte Matt völlig überrascht heraus. Er hatte nicht vergessen, dass sie es gewesen war, die ihn seinerzeit aus der Gewalt des DigimonKaisers befreit hatte. Es gab die wildesten Gerüchte über ihn und die Königin: Offiziell war sie seit geraumer Zeit krank, aber daran glaubte mittlerweile niemand mehr. Es lag auf der Hand, dass die Schwarze Rose den DigimonKaiser verraten hatte und dafür von ihm bestraft worden war – und in der Wüste hatte sie genau das zugegeben. In der Wüste, wo sie gestorben war. „So leicht sterbe ich nicht“, sagte sie und verzog das Gesicht, bleckte die Zähne. „Dafür hat er ja gesorgt!“ Mit einem Ruck riss sie sich die Nadel aus der Armbeuge, ballte die Faust und starrte das Blut an, das ihr über den Am lief. „Dieser elende Mistkerl“, murmelte sie. „Dieser verdammte, verdammte Idiot!“ Mit einem Schrei riss sie den leeren Tropf vom Ständer, stieß selbigen um und zerrte dann an den losen Fesseln, als wollte sie sie zerreißen. Matt wagte es kaum, sie anzusprechen. „Was … bedeutet das hier alles?“ Sie schien nicht zu wissen, was er meinte. „Das bedeutet, dass ich ihn mit seinen eigenen Eingeweiden erwürge!“ Mit funkelnden Augen drehte sie sich zu ihm um. „Nicht nur, dass er mich hier einsperrt – verschnürt mich der doch wie ein Paket! Nicht einmal selbst essen hat er mich lassen! Ich könnte mir ja die Zunge abbeißen, o weh! Und wozu gibt’s schließlich künstliche Ernährung?“ Sie schleuderte den Schlauch mit der Nadel angewidert von sich. „Und dreimal am Tag schickt er so ein hohles Pumpkinmon mit einem Nachttopf! Nur keine Umstände, liebe Königin! Kannst du dir vorstellen, wie demütigend das war?“ Keine Spur von Scham war auf ihrem Gesicht zu sehen. Das Rot auf ihren Wangen schien einzig von ihrer Wut herzurühren. Matt schwieg mit offenem Mund. Er hatte das Gefühl, als zöge irgendetwas Wichtiges an ihm vorbei und er könnte nicht verstehen, was es war. Als Nadine seinen fragenden Blick sah, winkte sie ab. „Was rede ich überhaupt mit einem NPC wie dir? Mach Platz.“ Sie stapfte an ihm vorbei zu dem Bett, das sich schemenhaft im Zimmer abzeichnete. Daneben stand ein wuchtiger Schrank. „Dreht euch um! Ich muss mich umziehen.“ Gehorsam wandten Matt und WereGarurumon ihr den Rücken zu. Er suchte immer noch nach Worten. Wie konnte sie leben? Wo war ihre Wunde hinverschwunden? Er hörte ihre Röcke rascheln. Unentwegt fluchte sie über den DigimonKaiser, über irgendein Spiel und andere Dinge, die er nicht verstand. „Er ist sowas von tot, dieser Mistkerl … Hat mich so weit gebracht, dass ich hier vor einem NPC herum jammere. Ich muss ja wohl sehr lange einsam gewesen sein!“ Sie schnaubte. „Immerhin, Deemon hatte recht. Dich zu befreien, war eine gute Idee. Ihr könnt euch wieder umdrehen.“ Königin Nadine war in ein einfaches, graues Kleid geschlüpft, das unter den Knien endete und ärmellos war. Es schien nicht zu einer Königin zu passen. Eben kämmte sie ihr Haar ein wenig nach hinten. „Ihr seid hier, um den DigimonKaiser zu töten, oder? Dann komme ich mit“, entschied sie, etwas ruhiger. Matt fand endlich seine Sprache wieder. „Was geht hier vor?“, fragte er. „Warum lebt Ihr noch?“ „Mein Gott, bitte, bestätige mir nicht das Klischee, dass Blondinen dämlich sind. Oder generell Schönlinge“, stöhnte sie und verdrehte die Augen. „Das hab ich dir doch schon erzählt, oder nicht? Er hat alles dafür getan, dass ich nicht Selbstmord begehen kann! Das wird er noch bereuen!“ Sie ging zu einer Stahlkiste mit winzigen Luftlöchern, die an der Wand stand, öffnete den Riegel und hob ein Elecmon heraus, das sie zärtlich streichelte. Es kuschelte sich an ihre Brust und murmelte etwas, und Nadine flüsterte ihm beruhigende Worte zu. „Aber Ihr habt Selbstmord begangen“, sagte Matt ernst. „Ihr habt Euch einen Speer in die Brust gerammt. Meine … Freunde haben es gesehen.“ Nadine starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Dann lachte sie. Ihre Stimme klang immer noch rau und kratzig. „Oh, komm schon. Das wüsste ich doch wohl.“ „Wart Ihr nicht am Rand der Wüste? Habt Ihr nicht gemeint, Ihr müsstet für Eure Sünden bezahlen?“ „Wovon redest du überhaupt?“ Sie lachte immer noch, verstummte aber, als sie seinen ernsten Blick sah. „Ich war die ganze Zeit hier – in meiner verdammten Königinnenzelle!“ „Dann muss es jemand gewesen sein, der Euch ungeheuer ähnlich sah“, beharrte Matt. Er hatte sie selbst nicht gesehen, aber selbst der einfachste Soldat hatte die Geschichte erzählen können. Er zweifelte nicht daran, dass es die Wahrheit war. Nadine machte ein nachdenkliches Gesicht, während sie in ihrem Nachtkästchen nach einem Haargummi kramte und sich die Haare zu einem Pferdeschwanz band. „Da war jemand, der genauso aussah wie ich?“ „Ja.“ Sie ließ sich auf ihr Bett sinken. Dann wanderte ein Schatten über ihr Gesicht. „Dieser Verrückte, was hat er nur wieder ausgeheckt? Ich kann mir nur eines vorstellen, wie er …“ Sie unterbrach sich. „Die Maschine! Verstehe, das muss es sein! Er hat mich geklont, dieser Irre!“ Geklont. Das Wort hallte in Matts Kopf wider. „Ihr meint, er hat sich eine Puppe gebaut, die genauso aussieht wie Ihr?“ „Warte. Ich will das nur schnell überprüfen.“ Nadine schien sich plötzlich in Gedanken zu verlieren. Für einen Moment schien es, als lauschte sie jemandem, dann nickte sie. „Es stimmt tatsächlich. Das mit der Puppe. Und ich will gar nicht wissen, was er alles mit ihr angestellt hat“, murmelte sie finster. Wenn es nur eine Puppe gewesen war … „Dann kann der DigimonKaiser gar keine Menschen kontrollieren, so wie die Schwarzringdigimon?“ Nadine lachte humorlos auf. „Nie im Leben. Das wüsste ich.“ Matt fühlte ein Ziehen in der Magengegend. Wenn das stimmte, wenn er gar keine selbstmörderischen Geiseln besaß … Dann war soeben seine letzte Trumpfkarte verbrannt. „Gehen wir, WereGarurumon“, sagte er. „Ich komme mit“, verkündete Nadine und stand schwungvoll auf. In ihren Augen funkelte Tatendrang. „Ich kann mir drei Orte vorstellen, an denen er im Moment sein könnte. Am besten fangen wir mit der Brücke an. Und ich schwöre euch, ich bringe ihn um. Diesmal schaffe ich es.“     Kari sah mit an, wie die Seeschlangen unter den Divermon wüteten. Besonders MegaSeadramon schien sich einen Spaß daraus zu machen, die kleinen Schattenwesen auf sein Horn zu spießen und davon zu schleudern. Angewomon hatte den Großadmiral endlich erreicht und schoss einen Himmelspfeil auf ihn. MegaSeadramon zuckte zusammen, doch sein Leib war zu groß, als dass ein einziger Schuss ihm viel ausgemacht hätte. Angewomon umschwärmte es wie eine lästige Wespe – und mehr war es für das Digimon wohl auch nicht: lästig. „Schnell!“, schrie Kari, so laut sie konnte, doch gegen den Schlachtenlärm kam sie nicht an. „Bringt euch in Sicherheit!“ MegaSeadramons Schwanz peitschte durch die Luft und erwischte Angewomon, schleuderte es irgendwo in Strandnähe ins Wasser. Kari konnte nur noch sehen, wie es zurückdigitierte. Es hatte alle Energie beim Kampf auf der Mauer verbraucht. „Tu doch endlich was!“, herrschte sie Agunimon an, das ihr kaum Beachtung zollte, sondern immer noch den nun ungeschützten Bereich vor dem Tor im Auge behielt. Eben lief ein Digimon, das Kari noch nie gesehen hatte, über den kraterübersäten Boden. Es trug eine schwarze Rüstung, aus der an mehreren Stellen riesige Augäpfel glotzten. Seine beiden Schwerter glühten rot, und es schwenkte sie in einem Halbkreis, als es auf das Tor zusprang. Dann war es außerhalb von Karis Sichtbereich. „Verdammt!“, fluchte Agunimon noch, dann erbebte die gesamte Festungsmauer, als ein roter Feuerball meterhoch in den Himmel stach. Wo sich das Tor befand, wurde der gesamte Wehrgang verformt, aufgerollt wie ein Teppich. Alle Digimon, die sich noch darauf befanden, wurden im hohen Bogen fortgeschleudert. Wenn Kari noch dort gestanden wäre … Steinbrocken in jeder Größe flogen durch die Gegend, schlugen im feindlichen Heer ein oder gingen im Burghof nieder, wo sie von dem Chromtuch aufgefangen wurden. Gemahlenes Gestein rieselte auf Kari herab. Als das rote Licht verglomm, gähnte ein gewaltiges Loch in der Mauer, als hätte jemand ein Stück herausgebissen. Schon strömten Kens Digimon auf den Burghof. „Sie kommen durch! Haltet stand!“, brüllte Agunimon. Aus allen Quartieren, Türmen und Mauern stürzten Digimon herbei, die Besatzung des Forts, die einen guten Teil des Nordheeres ausmachte. Sie würden die Angreifer eine Weile aufhalten, zumindest bis man die Verletzten fortgebracht hatte. Aber was war mit Gatomon, mit Klecks und den Divermon …? Als Kari sich wieder der Bucht zuwandte, sah sie direkt in MegaSeadramons Augen. Plötzlich war sie unfähig, sich zu bewegen. Aus dieser Nähe hatte sie so ein Digimon noch nie gesehen, den blitzenden Schädel, die grässliche, faltige Haut um die Augen, die glänzende Zunge, die aus seinem Maul hing … Es war ebenfalls auf die Explosion aufmerksam geworden. „Sieh an“, fauchte es. „Ein Mensch. Ich habe zwar strikte Anweisungen, aber ich frage mich, wie es sein mag, einen Menschen zu rösten.“ Licht sammelte sich in seinem Horn. „Weg da, Närrin!“ Agunimon packte Kari grob und sprang. Noch während sie in der Luft waren, fegte ein heller Blitz über den Wehrgang und zerschmetterte alle Digimon, die sich noch darauf befanden. Agunimon landete stolpernd mit Kari auf dem Arm auf der Treppe, die in den Burghof führte. „Du musst Todessehnsucht haben! Komm mit!“, zischte es und zerrte sie mit sich nach unten. Kari versuchte sich zu wehren. „Lass mich los! Ich muss zu Gatomon!“ Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie alleine zur Bucht lief, aber konnte sie ihre Digimon deswegen im Stich lassen? Tränen liefen ihr über die Wangen. Im Hof war die Hölle los. Sechs Meter breit war die Lücke in der Mauer, und dort zwischen geborstenem Fels und umherliegendem, zersplittertem Holz lieferten sich drängelnde Digimon ein hitziges Gefecht. Immer wieder verirrte sich eine Attacke und geriet bis zu dem Chrom-Zelt. Die Verletzten wurden eben fortgebracht und irgendwo in den viel zu engen Gängen der Burg einquartiert. Auch von der östlichen Mauer hörte man Waffengeplänkel und Schreie. Agunimon hatte sie losgelassen und wandte sich KaiserLeomon zu, das über den Platz gehetzt kam. „Wir haben ein Problem“, sagte es. „Mehr als eines“, erwiderte der schwarze Löwe. „Das Tor ist zerstört, und dieses MegaSeadramon ist groß genug, dass es uns von oben angreifen kann“, knurrte Agunimon. „Sie können uns von zwei Seiten angreifen!“ „Von drei, fürchte ich“, entgegnete KaiserLeomon. „Digimon vom Stiefel greifen uns im Osten an. Sie rennen uns fast das Tor ein – als hätten sie erfahren, in welcher Zwickmühle wir sind.“ Agunimon verzog das Gesicht. „Das ist schlecht. Das ist sehr schlecht … Wir können uns unmöglich verteidigen, wenn sie aus drei Richtungen kommen.“ Es stieß die Luft aus und ihm war anzusehen, wie schwer ihm seine nächsten Worte fielen. Allein, dass es sie aussprach, bewies ihre missliche Lage. „Wir müssen uns zurückziehen. Der Weg nach Norden ist noch frei. Wir können nur unseren Rückzug decken und uns irgendwo formieren, wo wir nicht von jeder Seite angegriffen werden.“ „Nein!“, rief Kari. Sie wusste, was das bedeutete. „Gatomon ist noch da draußen!“ „MegaSeadramon auch“, knurrte Agunimon. „Sei endlich artig, Majestät, oder ich lasse dich in irgendeinen Kerker werfen, in dem du keine Dummheiten machst.“ Kari überlegte schon, ob sie alleine durch das zerstörte Tor laufen sollte, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sora stand mit mitfühlendem Gesichtsausdruck hinter ihr. „Tu nichts Unüberlegtes“, murmelte sie. Sie schöpfte neue Hoffnung. „Sora … Bitte, ich brauche Garudamon. Kannst du es mir leihen? Ich muss Gatomon finden!“ Sora nickte. Sie war eine herzensgute Person geblieben, trotz all dieser Umwälzungen. „Fliegt schon mal voraus“, sagte sie zu Agunimon und KaiserLeomon. „Kari und ich kommen nach.“     Vorsichtig tasteten sich Davis und Flamedramon voran. Er wollte dem DigimonKaiser keinen Grund geben, die Geiseln zu töten. Vielleicht übersah man sie beide einfach. Eben waren sie in einen großen Frachtraum gekommen. Hier hatte er garantiert niemanden eingesperrt, aber womöglich gingen von hier weitere Gänge aus. „Soll ich nicht doch lieber die neue Digitation benutzen?“, fragte Flamedramon. Davis schüttelte den Kopf. „Warte, bis es nicht mehr anders geht. Wir haben oft genug einfach drauf losgeschlagen. Jetzt hängt alles vom richtigen Timing ab – wir können nicht mehr Hals über Kopf losstürmen.“ Er kletterte einen der Container hoch, die hier überall herumstanden. Dieser hier war offen. Er ließ sich den Inhalt durch die Hand gleiten. „Schwarzer Sand“, murmelte er. „Eiskalt.“ „Meinst du, der DigimonKaiser baut daraus seine Türme?“, fragte Flamedramon. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. „Möglich.“ Davis sah sich im Lagerraum um. „Allzu viele Kisten hat er nicht mehr.“ „Sollten wir sie anzünden? Vielleicht verbrennt das Zeug ja.“ Davis überlegte kurz. Es würde dem DigimonKaiser signalisieren, dass etwas in seiner Festung geschehen war, aber vielleicht würde er nicht sofort an Angreifer aus dem Nordreich denken. „Tun wir’s. Aber mach schnell.“     Endlich funktionierten wieder sämtliche Überwachungskameras. Die Hagurumon hatten doch noch einmal die Sicherheitsmechanismen erneuert und somit wieder für scharfe Bilder gesorgt. Ken brauchte nicht lange, um seine Freunde auszumachen. Davis hatte offenbar Lagerraum 3 in Brand gesteckt und schlich nun einen Gang weiter, entfernte sich dabei aber von der Brücke. Tai hatte einige internationale DigiRitter im Schlepptau – offenbar waren sie wirklich gekommen, um Kens vermeintliche Geiseln zu befreien. Und Matt … Matt hatte Nadine und Elecmon befreit. Er konnte sie auf dem Überwachungsmonitor eindeutig sehen. Verdammt. Das bedeutete das größte Problem. Was wusste Nadine, welche Schlüsse konnten Kens Freunde daraus ziehen? Und außerdem … „Wie kann es sein, dass ihre Digimon digitiert sind?“, keuchte er und schaltete noch einmal zu Tai zurück. WarGreymon, tatsächlich … „Sind die Türme mittlerweile beschädigt?“, fragte er die Hagurumon. „Türme einwandfrei.“ „Sie können trotzdem wieder digitieren“, sagte Cody. „Was soll das heißen?“ „Armadillomon konnte digitieren, obwohl wir im Einflussbereich der Schwarzen Türme waren. Das liegt bestimmt an dem Licht, das in unsere DigiVices gesickert ist.“ Ken vergrub die Hände in seinem Haar. Konnte das sein? Warum war er noch nicht darauf gekommen? War ihm sein Schicksal doch eine Spur zu gleichgültig gewesen? „Was denn? Hol doch einfach deine übrigen Geiseln raus und zwinge sie, sich umzubringen. Ich bin sicher, das wird die anderen aufhalten“, sagte Willis hämisch, den Arukenimon an einen Drehsessel gefesselt hatte. Sein DigiVice und sein ArmorEi lagen sicher in einiger Entfernung. Der Zwillingsritter legte herausfordernd den Kopf schief. Seine Augen wurden schmal. „Oder hast du damals einfach nur geblufft und kannst sie gar nicht töten?“ Fast war Ken ihm dankbar. Seine Worte hatten ihn wieder zur Ordnung gerufen. Panik war unangebracht. Er konnte nur gewinnen – für nichts anderes hatte er gekämpft, seine Hände beschmutzt, für nichts anderes war er der Tyrann, den alle hassten. Wie lächerlich wäre es, jetzt zu verlieren, jetzt hysterisch zu werden! „Bringt ihn zum Schweigen“, befahl er ruhig. „Liebend gern.“ Mummymon wickelte Willis ein paar Schichten Mullbinden vor den Mund. „Wie gehen die Bauarbeiten auf Zwei-Eins-M voran?“, fragte Ken die Hagurumon. „Die Digimon liegen gut im Zeitplan. Allerdings wurden zwei Container noch nicht geöffnet.“ „Das dauert zu lange.“ Ken drehte sein DigiVice in der Hand. „Ich fliege selbst hin.“ „Überleg dir das noch einmal“, warnte Oikawa. „In der Festung wimmelt es im Moment nur so vor Feinden.“ „Das ist mir egal. Komm, Wormmon.“ Ken betätigte den Öffner der Brückentür. Als er einen Schritt nach draußen machen wollte, hörte er metallische Schritte – schnelle, metallische Schritte. Die Alarmlampen waren mittlerweile wieder durch die gewöhnliche Deckenbeleuchtung ersetzt worden, daher sah er sie schon, als sie um die Ecke bogen: Matt und Nadine, auf MetallGarurumons Rücken. Sie sind schon hier? Ken sprang zurück und hieb auf den Schalter. Fauchend schloss sich die Tür wieder. Ruhig aktivierte er die rein-manuelle Steuerung und schloss noch die Sicherheitsblende, die er nach dem ersten Attentat hatte einbauen lassen. Lange würde das ein Digimon wie MetallGarurumon trotzdem nicht aufhalten … „Wir haben ein Problem. Sie sind bereits da“, verkündete er ohne Gefühlsregung. „Die gesamte Besatzung der Festung soll die Brücke verteidigen. Wir halten sie auf, so lange es geht.“ „Lange kann das nicht sein“, meinte Oikawa. „Entweder lange genug, oder wir haben verloren. Alles oder nichts, Yukio. Es ist einfacher. Gewöhn dich daran.“     Kari und Sora saßen auf Garudamons Schulter, das wegen seiner Größe natürlich sofort von MegaSeadramon aufs Korn genommen wurde. Ein Blitzstrahl fuhr in seine Brust und ließ es stöhnend erzittern. „Alles in Ordnung?“, fragte Sora besorgt. „Es geht schon … aber nicht lange.“ Kari ließ ihren Blick schweifen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch der Anblick ließ ihr speiübel werden. Die Wellen, auf denen zerbrochene Eiskrusten tanzten, spülten Dutzende lebloser Körper an den Strand, die eben dabei waren, sich in Datenstaub aufzulösen. In den Eisblöcken eingeschlossen waren Gliedmaßen, die sich noch nicht in Daten verwandelt hatten. Kari sah kein einziges Divermon mehr in den Fluten. „Kari!“, rief plötzlich eine bekannte Stimme. „Gatomon!“ Es hatte sich an Land gerettet und hinter einem Felsen versteckt. Nun winkte es ihnen zu. „Wir müssen nach Überlebenden suchen“, sagte Kari zu Sora und Garudamon. „Dann überlass MegaSeadramon mir“, sagte das Digimon mit mächtiger Stimme. „Ich lenke es ab.“ Es landete am Strand und setzte Sora und Kari ab. Dann stürzte es sich auf die Seeschlange, die sich über ihren neuen Gegner zu freuen schien. Mit den Fußkrallen packte Garudamon MegaSeadramon knapp unter dem Kopf und stieß es zurück ins Wasser. „Kari!“, schrie Gatomon ihr zu und lief ihr entgegen. „Eine Armor-Digitation müsste noch drin sein!“ „Gut!“ Sie nahm ihr D-Terminal zur Hand. „Erstrahle!“ Auf Nefertimons Rücken suchten Kari und Sora die Bucht ab. Die Seadramon spien Eis nach ihnen, und mehr als einmal war das Armor-Digimon zu einem halsbrecherischen Ausweichmanöver gezwungen. Wenn es sich ergab, schoss es die Juwelen in seinen Läufen auf die Digimon. Irgendwann entdeckten sie das erste noch lebende Divermon und fischten es aus dem nachtschwarzen Wasser. Garudamon rang in dessen weiter mit MegaSeadramon. Es hatte die Schlange an Land gezerrt und in den Sand gedrückt, hieb mit den Fäusten auf seinen gepanzerten Schädel ein. MegaSeadramon hingegen hatte sich wie eine Würgeschlange um Garudamons riesigen Leib gewickelt und versuchte, es zu erdrücken. Sein Kopf wand sich hin und her und versuchte, das Horn in Position zu bringen. Immer wieder zuckten kleine Lichtblitze daraus in den Sand oder die nahe Festungsmauer. Die Seeschlange fauchte kehlig. „Das war das Letzte“, meinte Sora. „Schon?“, fragte Kari erschrocken. „Das kann nicht sein – es muss noch andere geben!“ „Ich sehe auch keines mehr“, ließ Nefertimon vernehmen. Kari fühlte sie wie zerschlagen. Nur sieben Divermon hatten sie geborgen und hinter einen Felsen am Strand gebracht, und selbst diese konnten sich kaum mehr rühren – sieben! Von Achtzig! „Kari, lass uns umkehren“, sagte Sora und berührte sie sanft am Arm. Sie schluckte ihre Tränen hinunter. „Okay“, sagte sie mit gebrochener Stimme. Sie flogen zurück, gerade als Garudamon eine leuchtend rote Flügelklinge auf die Seeschlange niedergehen ließ. Einmal mehr wand sich MegaSeadramon, dann löste es sich mit einem hässlichen Zischeln endlich in Daten auf.     Tai wurde nicht schlau aus der ganzen Sache. Er hatte bereits überraschend viele Menschen in den Eingeweiden der Festung gefunden, aber kein Einziger war vom DigimonKaiser kontrolliert worden. Sein DigiVice hatte nie auch nur irgendeine Reaktion gezeigt. Einige hatte er sogar regelrecht nötigen müssen, ihm zu folgen. Das war mehr als merkwürdig. Da war einmal ein anderes Mädchen gewesen, gegen dessen Schönheit selbst Mimi nicht ankam. Fast hätte Tai sie nicht erkannt, doch sie war damals Soras Gefangene gewesen, in dem Kerker, in dem er sein Auge verloren hatte. Sie schien sich gar nicht an ihn zu erinnern. Tai wollte sie gern darauf ansprechen, aber für den Moment ließ er es dann doch sein. Dann war da noch ein Mädchen, fast noch ein Kind, mit dunklen geflochtenen Zöpfen. Diese beiden und ein stämmiger Junge schienen nicht gewillt zu sein, befreit zu werden – irgendwie kam es Tai vor, als betrachteten sie ihn als Bösewicht. Nicht zu vergessen, dass die meisten von ihnen Digimonpartner hatten. Drei Brüder hatte er noch gefunden, die immerhin erfreut waren, dass jemand sie retten kam. Anscheinend hatte der DigimonKaiser sie irgendwo im Westen in einem Lokal gefunden und mitsamt ihrer drei Syakomon-Muscheldigimon verhaften lassen. Mit diesen neun erschöpfte sich Tais Erfolg. Niemand von ihnen wusste, wen der DigimonKaiser als Geiseln vorgeschickt hatte oder wo man sie finden könnte. Die meisten kannten wenig mehr als ihre Quartiere oder durften sich immerhin frei auf dem dazugehörenden Flur bewegen. Viele waren überdies erst kürzlich in die Festung gebracht worden und hatten zuvor ihr Dasein auf dem Rosenstein gefristet, in Königin Nadines Palast. Für Tai war das ein Beweis, dass der Kaiser sie als Geiseln einsetze wollte – aber es war sein einziger. Als er aus der Ferne Kampfgeräusche hörte, beschloss er die Suche aufzugeben und bei den Kämpfen mitzumischen. Ewig würde WarGreymon sein Megalevel schließlich nicht halten, und vielleicht hatten die anderen mehr Erfolg gehabt und er durchstöberte hier umsonst finstere, leere Räume. Immer wieder waren ihnen Feinde begegnet, aber sie wurden immer weniger. Selbst die stärksten hatte WarGreymon mit einem kleinen Energieball vernichtet. Zu viel Schaden wollte Tai nicht anrichten. „Bleibt hinter mir. Und keiner läuft davon“, schärfte er seinen Schützlingen ein, als sie eine Weile durch die Gänge geirrt und dem Lärm gefolgt waren. Nach der nächsten Biegung atmete er auf. Dort waren Matt und MetallGarurumon und entledigten sich soeben einiger Guardromon und tückischer Thunderboltmon. Die Hand zum Gruß erhoben trat Tai auf sie zu, die anderen Menschen folgten ihm. Neben Matt sah er noch ein Mädchen und ein Elecmon. „Ah, du hast auch jemanden …“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er die Schwarze Rose erkannte. „Das … Das ist doch …“ Matt blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Königin Nadine von der Felsenklaue, ja. Der DigimonKaiser hat sie nicht umgebracht. Das war nur eine Kopie – genau wie die anderen Menschen, vermute ich.“ „Eine Kopie“, stieß Tai aus. Der Eherne Wolf nickte. „Deine Norddigimon sind zweimal auf denselben Trick hereingefallen.“ „Nicht zu fassen!“, knurrte Tai. „Dann haben wir ganz umsonst … Er hat also gar keine Geiseln, die er gegen uns einsetzen kann?“ „Wenn ich mir ansehe, wie viele du befreit hast, wohl nicht mehr“, meinte Matt mit einem schiefen Lächeln. „Wisst ihr, wo der DigimonKaiser steckt?“ „Dahinter.“ Nadine zeigte verärgert auf eine dicke Stahltür am Ende des Ganges. „Und ich bin mir sicher, dass er mein DigiVice auch irgendwo dort gebunkert hat. Ich liege deinem Freund hier schon ewig in den Ohren, dass er endlich die Tür aufbricht, aber er will unbedingt rumtrödeln und sich lieber mit den Digimon kloppen, die von überall angerannt kommen.“ „Ich halte es für besser, wenn wir auf die anderen warten“, bestätigte Matt. „Königin Nadine sagt, es gäbe keinen zweiten Eingang zur Brücke. Er sitzt in der Falle. Wir sollten ihn alle gemeinsam stellen, damit er uns nicht entwischt.“ „Wenn unsere Digimon nicht vorher zurückdigitieren“, brummte Tai. „Hast du etwas von den Piximon gehört?“ Sie waren ihm nicht mehr über den Weg gelaufen, seit sie sich getrennt hatten. Matt schüttelte den Kopf. „Sie wurden vermutlich auch in Kämpfe verwickelt. Sie sind nicht so stark wie unsere Digimon.“ „Wie groß und mächtig ihr doch seid“, seufzte Nadine. „Also gut, wir warten zehn Minuten“, entschied Tai. „Wenn Davis, Willis und die Piximon nicht bis dahin aufgetaucht sind, schlagen wir ohne sie los.“     Sie hatte noch gesehen, wie die letzten Festungsmauern fielen, ehe sie zu der fliehenden Armee aufschlossen. Mit einer unglaublichen Leere in ihrem Herzen hatte Kari über ihre Schulter geblickt. Die Digimon, die vom Stiefel gekommen waren, jubelten, als sie das Fort fast verlassen vorfanden. Die Schwarzturmdigimon, die ihnen auf dem Burghof begegneten, freuten sich nicht. Sie verharrten einfach, hatten ihre Aufgabe erfüllt. Dann hatte Kari noch gesehen, wie sie sich neu formierten, sicherlich, um die Verfolgung aufzunehmen, ehe sie sich gezwungen hatte, wieder nach vorne zu schauen. Snimon, Kuwagamon, Unimon, sogar Piximon, alle möglichen Flugdigimon hatten ihr Bestes gegeben, ihre langsameren Kameraden in Sicherheit zu bringen. Unter ihnen war ein breiter Strom aus Norddigimon über die Steppe geflossen, die Verwundeten in der Mitte, die Flanken von den Stärksten geschützt. Sie hatten kein Licht entzündet, um möglichst nicht gefunden zu werden. Nicht alle Digimon hatten evakuiert werden können. Einige Freiwillige hatten die Festung verbissen bis zum letzten Moment gehalten und waren gestorben. Ohne ihr Opfer hätten die anderen nie alle durch das Nordtor entkommen können. Zweifellos würden sie später als Helden gefeiert werden. Und was war mit Karis Divermon? Sieben hatte sie gerettet. Sieben Schattenwesen trug Garudamon in seinen Klauen. Die anderen waren in der Bucht gestorben, in der ersten Schlacht, in der sie auf sich allein gestellt waren. Kari war froh gewesen über den rauen Flugwind, der ihre Augen trocknete.   Wohin es ging, hatte niemand gesagt, aber sie hatte es sich denken können. Gemeinsam mit ihr, Gatomon und Sora war Garudamon den Flüchtenden in die Nacht hinein gefolgt. Schließlich waren sie in den südlichen Ausläufern der Edo-Berge gelandet. Die kläglichen Überreste der Wissens-Armee hatten wohl Izzy informiert, denn alle kampffähigen Digimon aus Little Edo hatten bereits dort gewartet. Mimi hatte einen Aufstand gemacht, ließ sich Kari sagen. Sie wollte die Feinde nicht weiter in ihr wiedergewonnenes Reich lassen als nötig, und Izzy hatte dem schließlich standgegeben. Im Dunkel der Nacht traf die geschlagene Besatzung von Fort Netwave im Lager des Heeres ein, das sich den feindlichen Digimon als letzte Grenze entgegenwerfen wollte, die schützenden Berge im Rücken. Vielleicht konnten sie standhalten – aber man war sich einig, dass die neuen Schwarzturmdigimon aus der Wüste das nun ungeschützte Little Edo überrennen würden, sollten Tai und die anderen es nicht schaffen, den DigimonKaiser ein für alle Mal unschädlich zu machen. Kari bekam von den Notfallplänen und strategischen Sitzungen, bei denen auch Izzy und Yolei zugegen waren, wenig mit. Nicht einmal das bange Warten auf den baldigen Angriff der nachrückenden Schwarzturm-Streifkräfte berührte sie. Sie saß abseits eines Lagerfeuers, im Schatten, weil das Licht heute den Tod gebracht hatte, und pflegte die Schattenwesen, die davon verbrannt worden waren. Klecks war unter den Überlebenden. Sie erkannte ihn an dem geflochtenen Ring aus trockenem Seetang, den sie ihm bei ihrer Hochzeit an den Finger gesteckt hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass er ihn noch hatte, auch nicht, dass er ihn am Tag der Schlacht tragen würde. Es ließ sie sich nur noch elender fühlen. Als er die Augen mit einem Ruck aufschlug, rutschte Kari zu ihm und ergriff seine Hand. „Meine Königin …“ Seine Stimme war ein mattes Schlürfen. „Verzeih uns. Wir haben versagt.“ „Das stimmt nicht“, sagte sie ärgerlich. „Nicht ihr habt versagt. Es ist alles meine Schuld, alles!“ Sie biss die Zähne zusammen, aber die Tränen kamen trotzdem. „Ich war so selbstsüchtig. So dumm! Ich habe euch alle in diese Sache mit hineingezogen, obwohl ich wusste, dass es gefährlich ist. Ich dachte, mit euch an meiner Seite könnte ich etwas ausrichten. Wie naiv ich doch war.“ „Es tut mir leid“, sagte Klecks schleppend langsam. „Wir haben deine Erwartungen nicht erfüllt.“ „Doch, das habt ihr.“ Sie drückte seine Hand fester. „Ihr habt euch immer an die Abmachung gehalten. Ihr habt für mich gekämpft, und so viele sind gestorben! Ihr habt euch nie gegen mich aufgelehnt, obwohl alles so aussichtslos aussah! Und ich … ich habe bereits begonnen, mein Versprechen zu verabscheuen!“ „Wir werden dir überallhin folgen“, bekräftigte er. „Sei still!“, befahl sie ihm schluchzend, die Augen zusammengekniffen. „Ich will es nicht mehr hören! Warum könnt ihr so sein? Wie könnt ihr mir so ruhig und stur in den Tod folgen? Ich habe versprochen, euch zu helfen, damit ihr nicht aussterbt. Sieh dir an, was ich angerichtet habe.“ „Das ist nicht der Grund“, sagte Klecks und richtete sich schwerfällig auf. Sie sah ihn überrascht an, wusste erst nicht, was er meinte. Den Grund, aus dem sie ihr folgten, vielleicht? „Als unser Gott verschwand, waren wir hilflos und ängstlich“, murmelte das verwandelte Schattenwesen. „Unser Leben verlor jeden Sinn und jede Bedeutung. Dann kamst plötzlich du, das Licht aus einer anderen Welt. Eine neue Göttin, der wir folgen konnten. Und wir haben es gern getan. Unsere Leere war gefüllt.“ „Göttin“, zischte sie abfällig. „Vielleicht bin ich wirklich das Licht. Das Licht tötet Schatten.“ „Nein“, sagte Klecks. „Die Schatten entstehen durch das Licht.“ Kari ertrug den Schmerz in ihrer Brust nicht länger. Zum ersten Mal umarmte sie ihren Gemahl, weinte laut an seiner Schulter. Und in dem Moment, als die Lichter der feindlichen Armee am Horizont auftauchten, schwor sie sich, dass sie ihr Versprechen halten würde. Egal, was T.K. oder sonst jemand davon hielt.   Attacked in the cold I lay to the ground And I’m starting to freeze Touched by the dark I travelled the desert (Primal Fear – Demons and Angels) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)