New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Prolog: Der Geruch der Wüste ---------------------------- Wenn ich aufwache, dringt mir der Geruch in die Nase. Es ist ein heißer, trockener Geruch, der Geruch von glühendem Sand und warmen Felsen, von Sonne und Staub. Aber auch der Geruch von brennendem Metall, von Maschinenöl und Ozon. Und ich fühle wieder den Sand zwischen meinen Fingern, die Wut und Verzweiflung und den Schmerz in meiner Brust. Es ist der Geruch der Niederlage, der Geruch der Wüste. Ich sehe sie vor mir, wie sie mich erwartet, ein weites Grab aus tödlicher Sonne und totem Sand. Wo alles begann. Wo alles endete. Und wo nun von neuem alles beginnt. Ken rückte sein Cape zurecht. Seine Brille lag schwer und unbequem auf seiner Nasenwurzel. Gemächlich glitten seine Finger in die dunklen Handschuhe. Wormmons trippelnde Schritte begleiteten ihn auf dem Weg durch die Dunkelheit. Hinter ihnen glitt die Tür zu seiner Schlafkammer mit einem mechanischen Säuseln zu. Das Licht am Ende des Ganges war gleißend, trotz der getönten Brillengläser stach es in seine Augäpfel. Blinzelnd blieb er auf dem steinernen Erker stehen. Die Wüste erstreckte sich unter ihm, wie er es in Erinnerung hatte. Die Morgensonne ließ selbst die niedrigen Dünen Schatten werfen und tauchte den Sand in blendendes Weiß. Dieselbe Sonne, die seinen Untergang verkündet hatte, wurde nun Zeuge eines neuen Zeitalters. Die einstmals schwebende Festung kauerte nun in der Dünenlandschaft wie ein ägyptisches Königsgrab. Wie ein Kaisergrab. Und wie Obelisken ragten zwei Reihen nachtschwarzer Türme vor ihr in den Himmel. Das Sandfeld dazwischen war mit Digimon übersät, die in ordentlicher Formation der aufwallenden Hitze trotzten. Als sie ihn auf seinem Aussichtspunkt erkannten, brachen sie in Jubelgeschrei aus. „DigimonKaiser! DigimonKaiser!“, brandeten die Rufe aus Hunderten von Kehlen an sein Ohr. Ken lächelte. Kaum ein Zehntel der Digimon trug Schwarze Ringe. - Die Wellen rauschten fast lautlos aus dem Nebel heran. Die Schwaden waren das Hellste an diesem Ort, selbst Karis blasse Hände hatten in dem ungewöhnlichen Dämmerlicht eine graue, ungesunde Farbe angenommen. Es war, als wäre die Luft selbst es, die trüb geworden war. Dem Salzgeruch haftete ein Hauch von Moder an. Algen waren an den Strand gespült worden, wie schwarze, glänzende Schlangen lagen sie dort im feuchten Sand, wurden von jeder weiteren Woge zum Tanzen gebracht. Ruhig umspülten die Wellen Felsen, die im knietiefen Wasser lauerten; kühler Wind trieb sie an den Strand und zerrte an Karis Daunenjacke. Sie hatte sich erinnert, wie kalt es am Meer der Dunkelheit war, und so hatten sie und T.K. warme Kleidung mitgenommen. Niemand wusste schließlich, wie lange sie hierbleiben würden. Die Schatten hier waren so dick, so greifbar wie Gelee. Das grauschwarze Wasser, der bleierne Himmel, der nie eine Sonne gesehen hatte … Ein Gefühl der Verlorenheit drückte schwer auf ihr Herz. T.K. stand neben ihr, das Haar windzerzaust, den Blick starr und grimmig auf das Meer gerichtet. Er war immer noch nicht mit ihrem Entschluss einverstanden, aber alleine lassen konnte er sie nicht. Gatomon und Patamon saßen vor ihnen in dem grauen, nassen Gras. Die Zeit schien ihre Bedeutung zu verlieren, während sie warteten. Als die dunklen Kleckse unter der Wasseroberfläche erschienen, hielt Kari sie zunächst für weitere Schattenspiele, die das schwarze Licht des Leuchtturms verursachte. Dann kamen sie näher, erst zwei, dann vier und schließlich ein Dutzend. Das Wasser perlte an dumpfen, schwarzen Körpern ab, die sich schemenhaft und gemächlich wie dunkle Geister aus den Wogen erhoben. Schweren Schrittes schleppten sich die Kreaturen an Land, gebeugte Schattenwesen mit giftig gelben Schlangenaugen. Das letzte Mal waren sie es gewesen, die sie gerufen hatten. Heute rief Kari sie. Gatomons Ohren zuckten, als das Digimon jede ihrer Bewegungen verfolgte. Patamon schwang sich in die Lüfte, flatterte knapp über T.K. Die Schattenwesen schlurften bis zur Böschung und sahen zu ihnen hoch. Sie schwiegen. Die gesichtslosen, grauschwarzen Körper standen stumm wie unheimliche Statuen und warteten. Kari sammelte sich. „Wisst ihr noch, wer ich bin?“ Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd, wie sie das regelmäßige Rauschen der Wogen übertönte und den Frieden aus dieser finsteren Welt riss. Die Wellen schlugen gegen die hinteren Wesen, die noch im Wasser standen, und wiegten ihre Körper sanft in der Brandung. „Lange ist es her“, krächzte das erste der schlammigen Untiere. Ja, es war in der Tat lange her – und doch erinnerte sie sich genau an seine Stimme. „Die auserwählte Jungfrau ist zurückgekehrt.“ „Das bin ich.“ Sie warf T.K. einen Seitenblick zu, erhoffte sich eine auffordernde, zustimmende Geste, doch er sah nur stumm geradeaus. „Wie geht es euch? Habt ihr euren Frieden gefunden?“ Gemurmel schwoll an. Der Wind frischte auf, zerrte aggressiv an ihrem Haar, als wollte er Kari zeigen, welcher Art der Frieden wirklich war, der hier herrschte. „Unser Gott ist nicht mehr unter uns“, sagte der Sprecher der Schattenwesen, die Stimme schleppend und gequält. „Unser Ende ist abzusehen. Wenn wir sterben, wird niemand mehr dieses Meer besiedeln.“ „Ihr habt immer noch keine Nachkommen?“ Das Gemurmel wurde lauter, klang zorniger in ihren Ohren. „Seit du, auserwählte Jungfrau, uns abgewiesen hast, warten wir darauf, dass eine neue Prophezeiung uns Hoffnung verheißt.“ „Dann hat das Warten jetzt ein Ende“, verkündete Kari mit fester Stimme. „Ich bin jetzt bereit, euer Angebot anzunehmen. Ich bin bereit, eure Braut zu werden.“ Die Schattenwesen starrten sie aus ihren traurigen Augen an. „Unter einer Bedingung.“ Und der Wind drehte. „Ich hoffe, du weißt, was du tust“, hörte sie T.K. murmeln. Es war nicht das erste Mal, dass er diese Worte in den letzten Tagen gesagt hatte. Die Schattenwesen schienen perplex, denn es dauerte, bis eines der hinteren antwortete: „Deine Worte erfüllen uns mit Freude, erwählte Jungfrau. Mit dir an unserer Seite können wir gewiss das Unheil abwenden, das uns bedroht, und das Überleben unserer Art sichern. Was ist deine Bedingung?“ Nun kam das Entscheidende. Kari trat einen Schritt vor, bis an den Rand der Böschung. Die Wesen hockten wie unförmige Klumpen unter ihr im Schlick. „Wählt einen Anführer. Er muss der Stärkste unter euch sein, der Einflussreichste und der Beliebteste. Jemand, dem ihr alle folgen würdet. Einen König.“ Wenn nur ihre Stimme nicht so zittrig wäre … „Seine Braut werde ich dann sein. Aber bevor wir an … an seine Nachkommen denken, werdet ihr die Wünsche eurer neuen Königin befolgen. Ihr werdet mir folgen.“ T.K.s Miene war mit jedem ihrer Worte finsterer geworden. Er sah aus, als würde er sie am liebsten packen und von diesen Kreaturen fortzerren. Dass er es nicht tat, rechnete sie ihm genauso hoch an wie das zornige Funkeln in seinen Augen. „Wenn das deine Bedingungen sind, werden wir uns dir unterwerfen“, krächzte der Sprecher der Schattenwesen. „Auch wenn es unter uns nicht üblich ist, einen einzigen in den Rang eines Königs zu erheben. Über uns herrscht nur unser Gott. Und unser Gott ist von uns gegangen.“ „Dann werde ich eure neue Göttin sein. Euer Licht“, sagte Kari mit lauter Stimme. Gatomons Blick gab ihr Kraft. „Und ihr werdet mir gehorchen. Erst wenn ihr mir meinen Wunsch erfüllt habt, werde ich euren erfüllen. Bis dahin werdet ihr mir überall hin folgen.“ „Auserwählte Jungfrau“, ertönte eine schleimige Stimme von der anderen Seite des Keils aus Schattenwesen, „was ist dieser Wunsch, von dem du sprichst?“ Kari sog tief die salzige Luft ein. Ihre nächsten Worte taten ihr leid, so unendlich leid, doch sie konnte nicht anders. Sie musste sie aussprechen. Außer den Schattenwesen gab es niemanden, der ihnen helfen konnte. „Wir werden kämpfen. Und wir gehen in eine andere Welt, eine Welt, die mit jedem Tag mehr aus dem Gleichgewicht gerät. Wir werden sie wieder in Ordnung bringen, die auserwählte Jungfrau und die Wesen vom Meer der Dunkelheit.“ Warte auf mich, Tai. Ich bin bald bei dir. Kapitel 1: Schattenjagd ----------------------- Es war ein lustiger Abend gewesen. Lächelnd dachte er daran, wie Davis und Yolei sich darum gestritten hatten, wer Tais Torte ins Zimmer bringen durfte. Alle waren sich hinterher einig gewesen, dass die Überraschung gelungen war, und Ken war heilfroh, dass er daran Anteil gehabt hatte. Er schloss die Tür hinter sich, die klickend einschnappte. In seinem Zimmer hätte es stockdunkel sein sollen, aber flimmerndes Licht zuckte in unregelmäßigen Abständen über die Wände und warf abstruse Schatten. Hatte er vergessen, seinen Computer auszuschalten? Um seine Eltern nicht zu wecken, schlich er näher auf den flackernden Monitor zu. „Auf ein Wort, Ken.“ Die Stimme klang wie ein Donnerschlag in der Stille. Ken fuhr herum. Dort, in den Schatten in der Ecke seines Zimmers … war etwas. Es bewegte sich, es … es sah ihn an. Ein neuerliches Flackern des Lichtes ließ ihn eine Gestalt wie einen Scherenschnitt erkennen – einen menschlichen Umriss mit riesigen Flügeln. Ken unterdrückte einen Schrei. „W-Wer bist du?“ „Weißt du das wirklich nicht?“ Die Stimme war nur in seinen Gedanken, merkte er. Er wusste zwar deutlich, dass sie aus dieser Richtung kam, aber sie besaß weder Nachhall, noch wurde sie von dem Raum gedämpft. „Ich habe euch damals geschworen, dass ihr es bereuen würdet, mich wegzusperren, erinnerst du dich?“ Ken hielt die Luft an. Dieser Schatten, diese Stimme … „Du bist … Nein, du kannst es nicht sein, du solltest doch …“ „Auf ewig an Dragomons Meer vermodern, meinst du das?“ Die Stimme gewann an Schärfe, an … Kraft. „Los, sag ruhig meinen Namen, Ken.“ „Deemon“, murmelte er. Aus der Ecke breiteten sich mit einem Schlag flimmernde Schatten aus, umschlossen das ganze Zimmer, hüllten alles in einen undurchdringlichen, ölig schwarzen Mantel. Deemon wurde vor ihm sichtbar, nicht mehr nur als Schemen, sondern als … etwas anderes. Als würde er ein Bild bei schlechtem Empfang im Fernsehen vor sich haben, flimmerte und zuckte Deemons Gestalt. Die Farbe seines roten Mantels war verblasst und es wirkte immer noch merkwürdig zweidimensional. Dennoch lief Ken ein Schauer über den Rücken. „Ihr konntet mich damals nicht töten. Ihr hättet daran denken sollen, dass ich zurückkehren würde.“ Ken fühlte sich in die Nacht zurückversetzt, als sie Deemon ans Meer der Dunkelheit verbannt hatten; als er selbst das Tor geöffnet und dabei gegen all die aufquellende Angst vor der Dunkelheit angekämpft hatte. Er schluckte hart. Von seiner Schläfe lief ein Schweißtropfen, saugte sich in seinen Hemdkragen. Nicht jetzt. Warum jetzt? Er tastete instinktiv nach seinem DigiVice, doch er hatte es nicht bei sich. Warum auch? Sechs Jahre waren seitdem ins Land gegangen, und nichts war geschehen, das die Anwesenheit der DigiRitter bedurft hätte. Deemon lachte kehlig. „Suchst du dein DigiVice, Ken? Es ist in deiner Schreibtischschublade.“ Aus der Dunkelheit tauchte das kleine Gerät auf, schob sich selbst aus dem nunmehr unsichtbaren Tisch. Das Display glühte, violett wie damals, während es auf Augenhöhe mit Ken in der Luft schwebend verharrte. „Keine Sorge, ich bin nicht hier, um mit dir zu kämpfen. Ken, ich will dir ein Spiel vorschlagen.“ Ken hätte gelacht, so absurd war das, wäre er nicht zu nervös gewesen. „Ich werde mich niemals auf ein Spiel mit dir einlassen. Egal, worum es geht.“ „Bist du sicher? Nun, ich muss dir wohl mehr dazu erklären. Die Flucht vom Meer der Dunkelheit ist kaum möglich, wenn alle Tore versiegelt sind. Ich habe nach Jahren den einzigen verbleibenden Ausweg gefunden. Das hat mich fast meine gesamte Kraft gekostet – allerdings habe ich eine neue Kraft gewonnen, Ken. Du darfst raten, wo ich gerade bin.“ Ken schluckte. Es gab ja eigentlich nur eine Möglichkeit. Seine Gedanken rasten. „In der DigiWelt?“ Deemons Lachen verhieß nichts Gutes. „Falsch. Ich werde in den nächsten tausend Jahren keinen Fuß in die DigiWelt setzen. Nein, ich bin an einem anderen Ort. Der Schlüssel, der mich fort von Dragomons Meer geführt hat, hat mich in den Raum jenseits der Feuerwand gebracht.“ „Jenseits der …“ Ken kniff die Lippen zusammen. War das möglich? Meinte es die Feuerwand, von der Izzy einmal gesprochen hatte? „Du scheinst darüber Bescheid zu wissen. Die Macht der Dunkelheit in der DigiWelt war nicht immer so ausgeprägt, wie zu euren Zeiten. Hinter der Feuerwand siechen die Verdammten, die ausgestorbenen Digimonarten, die keinen Platz mehr in der DigiWelt haben – unter anderem. Es ist das Jenseits, oder die Hölle, je nachdem, wie du sie dir vorstellst. Der Feind, dem die allerersten DigiRitter trotzen mussten, kam von dort, ebenso Apocalymon, gegen das deine älteren Freunde kämpften.“ Ken lief es eiskalt den Rücken runter. Das war das Digimon gewesen, das Tai und die anderen in Daten aufgelöst und letzten Endes die DigiWelt beinahe völlig zerstört hatte … „Sie alle besaßen die Fähigkeit, Zeit und Raum in der DigiWelt zu manipulieren. Dank des Schlüssels habe ich diese Kraft nun auch für mich gewonnen. Ich habe die DigiWelt zu unserem Spielbrett gemacht, Ken. Sie wartet nur darauf, dass du sie betrittst und einen Platz als Spielstein und Spieler einnimmst. Es wird dir gefallen, Ken. Ich gebe dir eine zweite Chance, als DigimonKaiser die DigiWelt zu erobern.“ Das war doch Irrsinn! Was dachte es sich dabei? „Ich bin nicht mehr der DigimonKaiser. Ich werde niemals wieder … Ich habe kein Interesse daran, die DigiWelt zu beherrschen!“ Deemon legte den Kopf schief. „Die anderen, denen dieser Mensch einst die Saat der Finsternis eingepflanzt hat, haben sich nicht so lange gesträubt.“ Die Saatkinder von damals? „Das ist eine Lüge! Warum sollten sie sich darauf einlassen?“, rief er fassungslos. „Warum sollte ich dich anlügen, Ken? Vergiss nicht, ich beherrsche Raum und Zeit in der DigiWelt. Ich habe mir die Freiheit genommen, ihre Erinnerungen zu verändern. Sie halten das Ganze wirklich nur für ein Spiel – oder für ihre Bestimmung, diese Welt zu beherrschen.“ Genau wie ich damals … Ken biss die Zähne zusammen, während Deemon fortfuhr: „Sie bauen bereits Schwarze Türme für mich, die die Macht der Dunkelheit stärken und mich hinter der Feuerwand nähren und meine Kräfte mehren. Wenn ich stark genug bin, werde ich die DigiWelt mit der Macht aus dem Raum hinter der Feuerwand betreten, und mit dieser Macht kann ich mit einem Fingerschnippen die DigiWelt vernichten. Und vergiss nicht, ich kann auch das Tor in die Menschenwelt öffnen. Bist du meinem Spiel immer noch so abgeneigt, Ken?“ Er überlegte fieberhaft nach einem Ausweg. Träumte er vielleicht nur? Nein, es gäbe keinen Grund für solche Träume … und für einen Traum war das viel zu … nicht real, aber es passte nicht! „Und meine Rolle wird also sein, die Schwarzen Türme der Saatkinder zu zerstören?“ „Selbst ohne die Türme wird die Macht der Dunkelheit meine Kräfte Stück für Stück wiederherstellen. Hast du mir nicht zugehört? Du sollst selbst Schwarze Türme bauen. Erinnere dich, die Türme dünnen die Grenzen zwischen den Welten aus. Wenn du es schaffst, dass in jedem Gebiet ein Schwarzer Turm steht, wird die ganze DigiWelt ein Resonator sein, der sogar ein Tor hinter die Feuerwand öffnen kann. Wenn dir das gelingt, ist es für dich ein Leichtes, meine inkomplette Existenz zu vernichten.“ Ken glaubte zu verstehen. Myotismon hatte mit den Türmen die Grenze zwischen der DigiWelt und der Realen Welt verschwimmen lassen wollen, aber auch andere Grenzen waren davon betroffen. „Das heißt also, dein Spiel ist ein zweischneidiges Schwert? Ich muss Türme bauen, die deine Macht vergrößern, aber die DigiWelt schnell genug damit einnehmen, um dich hinter der Feuerwand zu erwischen? Ich muss die DigiWelt knechten, damit ich sie retten kann?“ „Du bist schlau, Ken. Genau deswegen habe ich beschlossen, deine Erinnerungen intakt zu lassen. Du hast schon einmal fast die DigiWelt erobert. Mit diesen Erinnerungen schaffst du es womöglich am ehesten, mir Kraft zu liefern.“ Deemon lachte hässlich. „Die anderen Saatkinder werden dir im Weg stehen. Ich werde es keinem von euch leicht machen, das Spiel zu gewinnen.“ Ken kam ein Gedanke, den auszusprechen er sich hütete. Wenn die anderen ebenfalls Schwarze Türme bauten und er sich mit ihnen zusammentat, um die DigiWelt damit zuzupflastern, würde es Deemon viel schneller an den Kragen gehen. Vorausgesetzt natürlich, es sagte die Wahrheit. „Es ist unmöglich. Die DigiWelt ist riesig. Izzy hat mir erzählt, er vermutet, dass sie viel größer als unsere Welt ist. Ich kann unmöglich in noch unentdeckten Gebieten meine Türme bauen.“ „Das ist mir bewusst“, dröhnte Deemons Stimme in seinen Gedanken. „Vielleicht ist es zu dick aufgetragen, die ganze DigiWelt zu sagen. Das Spiel findet nur in der bekannten DigiWelt statt, auf dem Server-Kontinent. Ich habe die DigiWelt so verändert, dass ich alte Gebiete wiederhergestellt und weiter entfernte zusammengerückt habe, damit das Spielbrett kompakter ist. Wir haben beide nichts davon, wenn du wochenlang auf der Suche nach Land über den Ozean irrst.“ „Du bist mein Feind“, sagte Ken entschlossen. „Wer sagt mir, dass du nicht lügst?“ „Niemand. Du weißt, es bereitet mir Freude, dich zu quälen, bist du doch derjenige, der mich damals verbannt hat. Aber einige der anderen Saatkinder haben bereits zugestimmt. Kannst du es dir leisten, dass sie, ohne zu wissen, worum es geht, für mich Türme bauen?“ Deemon lachte hämisch. Es wusste, dass er nicht ablehnen konnte. „Und wie lange?“, murmelte er. „Wie lange brauchst du, um zurückzukehren? Was ist das Zeitlimit?“ „Ich habe dir gesagt, ich würde in tausend Jahren keinen Fuß mehr in die DigiWelt setzen. Das ist die Wahrheit. Es ist etwa ein volles Millennium, wenn die Hälfte der DigiWelt mit Schwarzen Türmen bebaut ist. Eine grobe Schätzung, aber genug Zeit für dich, meinst du nicht? Selbstverständlich wird dein Körper währenddessen nicht altern.“ Ken haderte mit sich. Es klang utopisch. Deemon musste sehr sicher sein, dass es gewinnen konnte, trotz dieser Zeitspanne … Aber unterschätzte es ihn vielleicht nur? „Nun komm“, drängte ihn das dunkle, flimmernde, verschwommene Digimon. „Ich stelle dir auch deinen geliebten Partner zur Seite. Was sagst du?“ „Wormmon?“ Ken ballte die Fäuste und fasste einen Entschluss. „In Ordnung, ich spiele mit. Aber ich werde kein Tyrann werden, nicht schon wieder. Ich werde die DigiWelt erobern, aber ich werde ein guter Herrscher sein! Ich werde nur bei verbrecherischen Digimon, bei Störenfrieden und meinen Feinden Schwarze Ringe einsetzen. Das bin ich der DigiWelt schuldig.“ Deemon lachte, lauter als zuvor, und breitete die Arme aus. „Du erhöhst selbst den Schwierigkeitsgrad? Nichts anderes habe ich von dir erwartet, Ken. Du wirst mich köstlich unterhalten, während ich langsam meine Kraft zurückgewinne. Wenn du bereit bist, nimm dein DigiVice.“ Ken schluckte. Noch konnte er umkehren, und das alles wäre nur ein Traum gewesen. Oder er konnte in die DigiWelt gehen, allein, um sie vor Deemon zu schützen, das sie damals alle gemeinsam nicht besiegen konnten. Und dafür musste er alles erobern. Es war Irrsinn. Und ausgerechnet jetzt, wo er endlich mit dem Leben zufrieden war, das er führte, ausgerechnet nach dieser lustigen Geburtstagsfeier … Er streckte die Hand nach seinem DigiVice aus, das immer noch in der Luft schwebte. Bei der Berührung leuchtete es heller. Wartet auf mich. Ich bin bald zurück, versprach er seinen Freunden. Grimmig umschloss er es mit der Hand. Für die DigiWelt. Tag 1 Die Reise war anders als sonst, kürzer, und rief die Ahnung in ihm hervor, dass er vielleicht nicht in seinem Zimmer, sondern in einer Art Zwischenwelt mit Deemon gesprochen hatte. Seine Füße versanken in heißem Sand, als das gleißende Licht nachließ. Blinzelnd versuchte er seine Umgebung zu erkennen. Seine Sicht war in einem merkwürdigen Violett gedämpft. Es roch scharf nach Hitze … und es stank nach der Macht der Dunkelheit. „Ken!“ Er fuhr herum und sah Wormmon über die Sanddünen hüpfen. „Wormmon.“ Lächelnd ging er in die Knie und es sprang ihm an die Brust. Jetzt erst erkannte er, dass er wieder die Kleidung des DigimonKaisers trug, dieselbe wie früher, wenn auch in einer anderen Größe. Ein blauer, futuristischer Anzug, schwarze Stiefel und Handschuhe und sein gespaltenes Cape. Auf der Nase ruhte seine Brille, deren Gewicht er erst jetzt spürte. Stickig heiß war es in dieser Kleidung. Ein Winkelzug Deemons, um die Digimon an seine Schandtaten zu erinnern und ihm das Leben schwer zu machen? In dem Moment bemerkte er den Schatten, der riesengroß vor ihm aufragte. Ken stockte der Atem. Seine Festung. Die Fliegende Festung, sie steckte tief im Wüstenboden wie ein einsamer Felsen. „Was geht hier vor?“, murmelte er. „Wormmon … weißt du, warum die Festung wieder da ist?“ „Weil der DigimonKaiser seine Festung braucht“, ertönte eine weibliche Stimme neben ihm. Ken fuhr herum, Wormmon landete neben ihm im Sand. Zwei Digimon beobachteten ihn, und sie sahen nicht sehr vertrauenserweckend aus: Ein hässliches SkullSatamon mit knochentrockenem Körper, einer dämonischen Fratze, Flügeln und Stab, und eine hochgewachsene, dunkelgekleidete Frau mit überlangen, krallenbewehrten Armen, die nur ein LadyDevimon sein konnte. Im Zusammenhang mit Deemon war Ken sich sicher, dass er wusste, wer sie waren. „Wormmon“, sagte er alarmiert, trat ein paar Schritte zurück und umklammerte sein DigiVice. LadyDevimon kicherte. „Keine Angst, mein Kleiner“, spottete es. „Wir werden euch nichts tun. Im Gegenteil, wir sind dir sehr dankbar, dass du das Spiel angenommen und Deemon einen Grund gegeben hast, uns wieder zum Leben zu erwecken.“ Wieder zum Leben erwecken? „Ihr seid nicht meine Feinde?“ „Auch wenn es dein Digimon war, das mich damals erledigt hat“, klackerte SkullSatamons Kiefer. Er spürte plötzlich etwas in seinem Unterbewusstsein, eine fremde Präsenz in der Ecke seines Verstandes, die zwar nicht gefährlich war, aber einfach nicht dorthin gehörte. „Überrascht es dich, Ken?“ Deemons Worte kamen mit der Geschwindigkeit eines einzelnen Gedanken, und dagegen hielt die Zeit in der Wirklichkeit fast den Atem an, verblasste zu gefrorenen Grautönen. „Ich kann Zeit und Raum beliebig verändern, vergiss das nicht. Ich habe die Zeit für die Körper meiner ehemaligen Anhänger zurückgedreht, um sie wiederherzustellen. Ihre Erinnerungen habe ich nicht zurückgesetzt. Ich setze große Stücke auf dich, Ken. Du bist mein bester Spielstein, daher werde ich sie dir zur Seite stellen.“ Glaubst du, ich vertraue solchen zwielichtigen Gestalten? Ken richtete diesen Gedanken an den Schatten, der vor seinem inneren Auge Deemons Gestalt annahm. Das Digimon verstand ihn. „Das ist dir überlassen. Sie sind momentan deine besten Streiter, Ken. Deine Festung habe ich übrigens auch wiederhergestellt, wie du siehst. Genau hier ist sie damals abgestürzt. Vielleicht kannst du sie diesmal besser verteidigen.“ Ihr Gespräch endete und die Zeit verlief wieder normal – oder besser gesagt, der Gedankengang endete und ließ ihn sich wieder auf die Wirklichkeit konzentrieren. „Und welche Rolle hat Deemon für euch geplant?“, fragte Ken die beiden Digimon. LadyDevimon lächelte böse. „Ich bin die Generalkommandeurin deiner Armee. Noch sind es nicht viele, aber ich habe schon in der Wüste herumgefragt und ein paar Digimon gefunden, die nach Abwechslung dürsten und gegen irgendwen oder irgendwas kämpfen wollen. Das Spiel läuft immerhin schon ein paar Stunden.“ „Und ich bin dein Leibwächter“, sagte SkullSatamon. Seine Stimme war ebenso hässlich wie sein Aussehen, und Ken konnte sich kein Digimon vorstellen, das er weniger gern in seiner Nähe hätte. „Außerdem der Kastellan deiner Festung, wenn du mal nicht hier bist. Muss ja alles seine Ordnung haben. Auch wenn ich als General besser platziert wäre“, fügte es mit einem finsteren Seitenblick auf LadyDevimon hinzu. „MarineDevimon hat ein paar Meeresdigimon um sich geschart“, sagte die Dämonenfrau ungerührt. „Es ist gerade im Norden und hat dort in deinem Namen die Eisregion eingenommen. Entlang der Küste hat es auch den Weg freigeräumt. Wir müssen nur noch deine Türme bauen.“ Also hatten sie schon ohne Ken angefangen. Er seufzte. So hatte er es nicht gewollt. „Die Saatkinder haben auch schon losgelegt. Wir sollten uns beeilen, damit wir ein Stück von der Torte abkriegen. Am besten fangen wir gleich mal an, Türme in den Dörfern und Städten rund um die Wüste zu bauen. Da leben fast nur Schwächlinge, die schnappen wir uns mit den Ringen, dann haben wir gleich ein ordentliches Heer“, schlug SkullSatamon vor. „Nein“, sagte Ken entschlossen. „Wir warten.“ „Hä? Willst du denen das Feld überlassen?“ „In der Eisregion ist es schon zu spät, also werde ich dort Türme bauen, aber ansonsten warten wir ab. Die Digimon werden die Saatkinder nicht lieben, wenn sie sie beherrschen wollen. Wir werden später in den Krieg eingreifen.“ „Und dann den Befreier spielen?“, gackerte SkullSatamon. „Ich weiß nicht, ob das nett oder barbarisch ist.“ „Die Digimon sollen sich mir freiwillig anschließen. Das ist besser“, legte Ken fest. „Du solltest vielleicht nicht allzu lange warten, Kleiner“, griente LadyDevimon. „Sonst läuft dir irgendwann die Zeit davon.“ „Wieso? Ich habe tausend Jahre.“ „Wer hat dir denn diesen Schwachsinn erzählt?“, prustete SkullSatamon los und Ken fühlte sich wie mit kaltem Wasser übergossen. Natürlich, er hätte es wissen sollen. Du hast mich belogen, warf er Deemon in seinen Gedanken vor. „Ich werde dich niemals über die Spielregeln anlügen“, entgegnete Deemon. „Auch wenn ich dir vielleicht nicht alle gleich zu Beginn verrate. Du weißt, dass zu Zeiten Apocalymons die Zeit in der DigiWelt viel schneller vergangen ist als in deiner Welt? So ist es auch jetzt. Wir haben in deiner Welt geredet, also war es nur korrekt, dass ich das Zeitlimit umgerechnet habe. Von deiner Welt aus sind es in der DigiWelt tausend Jahre. Aber vierzig Sekunden in deiner Welt bedeuten einen Tag hier.“ Ken brauchte eine Weile, um die Rechnung zu überschlagen. Vierzig Sekunden für einen Tag … Das bedeutete, er hatte etwa fünfeinhalb Monate. Wütend hieb er mit der Faust gegen die Wand seines Festungsfelsens. Du hast mich ausgetrickst! „Das war mein erster Zug in diesem Spiel. Jetzt bin ich auf deinen ersten gespannt.“ Er atmete tief durch. „Gehen wir hinein“, sagte er zu seinen neuen Untergebenen. „Ich muss einen Überblick über die Lage gewinnen.“ In der Festung war es angenehm kühl; kalt sogar, je näher sie dem Maschinenraum kamen. Und alles war so seltsam vertraut, steckte voller Erinnerungen und vergrabener Träume, die er damals gehabt hatte. Albträume, sagte er sich, und doch hatte es eine Zeit gegeben, da hatte er sie geliebt. Er strich mit den Fingern über die kalten Wände aus Stein, Chrom und Stahl, fuhr die Fugen und Schweißnähte nach. Es war ihm, als wäre es erst gestern gewesen, dass er durch diese Gänge marschiert war, und das machte ihm Angst. Im Kontrollraum, der fast völlig im Dunkeln lag, blendete Ken eine digitale Karte ein, um sich den Kontinent anzusehen. Server sah nicht anders aus als früher, aber von einigen Orten war er sich nicht sicher, ob sie tatsächlich an dieser Stelle lagen. Er verlangte einen Lagebericht von den beiden finsteren Digimon. „Hier in der Kaktuswüste sind schon Türme aufgetaucht“, erklärte LadyDevimon. „Da unten, im Süden, auch.“ Dort versteckten sich also die anderen Saatkinder. Das war gut zu wissen. „Ich bin immer noch dafür, dass wir uns die wichtigsten Orte in der Nähe unter den Nagel reißen“, sagte SkullSatamon unaufgefordert. „Die Arkadenstadt und den Ölbohrturm. Wird uns eine Menge einbringen.“ „Ich werde keine Stadt erobern, wenn ich nicht zumindest versucht habe, sie friedlich zu übernehmen“, beharrte Ken. „Ich bin kein Tyrann.“ „Ach nein.“ SkullSatamon sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Ken erinnerte sich, wie es damals Kinder in einem Bus als Geiseln genommen hatte. Er hasste dieses Digimon. Ihm war nicht zu trauen. „So kannst du aber keinen Krieg führen, du närrischer Mensch.“ „Genau so werde ich diesen Krieg führen“, sagte Ken mit fester Stimme. „Kommt mit, ich habe eine Aufgabe für euch.“ Er würde sie nicht bei sich in der Festung behalten. Genau wie damals wartete auch hier im Lagerraum der Festung, in tischgroße Container gefüllt, grauschwarzes grobkörniges Granulat auf seinen Einsatz. Ken ging mit wehendem Umhang daran vorbei und aktivierte einige der Kisten mit seinem schwarzen DigiVice. „Reist an der Küste entlang nach Norden in die Eisregion. In regelmäßigen Abständen leert ihr den Inhalt eines Containers auf den Boden, dann wird sich das Granulat in einen Turm umwandeln. Seht zu, dass ihr mindestens auch einen für die Eisregion übrig lasst. Dann kehrt ihr mit MarineDevimon hierher zurück, alle drei.“ Schwarze Türme entlang der Küste zu haben schien ihm für den Anfang ein guter Plan zu sein. Dort war wenig, was er für seine Bauvorhaben zu bekämpfen hatte, und sollten die Türme angegriffen werden, würde er zumindest gleich wissen, auf welchem Breitengrad ihm seine Feinde auflauerten. „Ich bin dein Leibwächter, Menschlein. Sollte ich da nicht eher an deiner Seite bleiben?“ SkullSatamon legte den Kopf schief. „Du sollst vor allem meinen Befehlen folgen“, sagte Ken, der erkannt hatte, dass das ein Digimon war, von dem er sich nicht einschüchtern lassen durfte. „Noch etwas: Wenn ihr auf Widerstand stoßt, tötet ihr niemanden. Ihr vertreibt die Feinde oder nehmt sie gefangen. Für jeden Todesfall werdet ihr mir einen genauen Bericht liefern.“ SkullSatamon kicherte, was ihm nicht gefiel. Nachdem die beiden fort waren, konnte er etwas aufatmen und die Spielsteine genauer inspizieren. Aus Wormmons Perspektive war die Festung plötzlich wieder aufgetaucht. Es hatte sich direkt unter ihrem Schatten befunden, kurz bevor Ken erschienen war, also musste er seinem Freund zuerst alles erklären, was er von Deemon erfahren hatte. Wormmon war überaus besorgt darüber, versprach ihm aber natürlich an seiner Seite zu bleiben. Als er sich einen ausreichenden Überblick über seine Lage verschafft hatte, saß Ken bis in die Nacht hinein in seinem Forschungsraum und zermarterte sich das Hirn. Die Baupläne für die Schwarzen Ringe waren noch in der Festung verzeichnet; sie waren auch nicht sonderlich kompliziert. Sogar die Position des Dunklen Strudels tauchte in den Karten der Festung auf, als wollte Deemon ihn herausfordern, erneut hineinzutauchen und sich die Dunkelheit für ein Kimeramon zum Partner zu machen. Aber so sehr er auch in den Daten grub und überlegte, eines bekam er nicht hin: die Teufelsspirale. Seine einzige Möglichkeit, Ultra-Digimon zu beherrschen. Damals, als er sie entwickelt hatte, war sie das Produkt vieler komplizierter Berechnungen und wahnwitzig geschlussfolgerter Logik gewesen. Jetzt, ohne die zusätzliche Intelligenz, die ihm damals die Saat verliehen hatte, konnte er nicht einmal eine Ahnung davon erhaschen, wie zum Teufel er das damals hinbekommen hatte. Seufzend gab er schließlich auf. Er wollte nur ungern andere Digimon beherrschen, das stimmte, aber vor allem für die zweifelhaften Verbündeten, die Deemon ihm geschenkt hatte, hätte er gern eine sichere Methode der Kontrolle gehabt. Als er seine alte Schlafkammer bezog, fiel sein Blick in den Spiegel. Der DigimonKaiser. Wütend über die fehlgeschlagenen Berechnungen und die Last dieser Aufgabe, die er nun erst so richtig wahrnahm, riss er sich das Cape vom Leib, Handschuhe und Stiefel, und den blauen Anzug hätte er am liebsten in Fetzen gerissen. Wenn mich die Digimon so sehen, werden sie unwiderruflich an mein altes Ich denken. Er würde irgendwoher neue Kleidung beschaffen müssen … „Gefällt dir dein kaiserliches Gewand nicht, Ken?“, hörte er Deemons verabscheuungswürdige Stimme. „Wenn du vorhast, es einzutauschen, muss ich dich warnen. Was auch immer du auf diesem Spielbrett anziehst, wird sich in die Kleidung des DigimonKaisers verwandeln. Du willst doch den Digimon nicht vorspielen, dass du nichts mit dem ersten DigimonKaiser gemein hast, oder?“ Sein tiefes Lachen ließ Ken mit den Zähnen knirschen. Er packte seine Brille und schleuderte sie in die Ecke des Raumes, in der Deemon seinen Gedanken nach war. Das violette Glas zerbrach nicht. Dann kauerte er sich auf seinem Bett zusammen. Es war einfach verrückt. Plötzlich war er wieder DigimonKaiser. Plötzlich steckte er bis zum Hals in Deemons verfluchten Spielregeln, und es war fast aussichtslos für ihn, den Kampf – er weigerte sich, es ebenfalls als Spiel zu sehen – so zu führen, wie er wollte. Daheim wartete seine Familie auf ihn, seine Freunde … Er erinnerte sich an die Feier. Matt hatte ein Geburtstagslied auf der Gitarre gespielt, Davis und Yolei hatten voller Inbrunst mitgegrölt, Kari hatte gelacht, T.K. gelächelt, Cody hatte die Torte anschneiden dürfen, weil Tai gemeint hatte, er sei der Schwertkämpfer unter ihnen. Joe hatte ihn dann getadelt, weil er das Anschneiden zu dramatisch und übermütig inszeniert und sich fast geschnitten hätte. Cody war eben rebellischer und lockerer geworden, wer konnte es ihm in dieser Zeit verübeln? Mimi und Sora hatten ein gemeinsames Geschenk präsentiert, eine komplette Bikerausrüstung, von der Fahrradpumpe bis zum Sportanzug, und um sie einzuweihen, hatte die ganze Truppe am nächsten Wochenende eine Fahrradtour in die Berge geplant. Mitten in die Party war dann noch Davis‘ Schwester geplatzt, und das Chaos war perfekt gewesen – die lebendigste Geburtstagsfeier, die Ken je erlebt hatte. Und nun spielte er mit Deemon um das Schicksal der DigiWelt. Alleine, von Feinden umzingelt. Er musste herrschen, und er wollte ein guter Herrscher sein. Und wie genau soll ich das anstellen? Ich war doch immer nur der Tyrann. Tränen fanden den Weg in seine Augen und kühlten seine angespannten Kiefermuskeln. Seine Hände packten die Decke fest. Vielleicht hätte er einfach ablehnen sollen. Die DigiWelt wäre zugrunde gegangen, aber keiner von ihnen war in den letzten Jahren dort gewesen, und vielleicht hätte Deemon ja die Menschenwelt verschont; immerhin hatte es auch damals bekundet, wenig Interesse daran zu haben … „Ken …“, murmelte Wormmon und kroch neben ihn. „Wovor hast du Angst?“ „Vor mir selbst.“ Er tätschelte es am Kopf. „Es ist nur für fünf Monate, nicht wahr?“, flüsterte er. „Danach ist es so oder so vorbei. Danke, dass wenigstens du bei mir bist.“ Wormmon kuschelte sich neben ihn. Ehe Ken erschöpft einschlief, beschloss er seinen eigenen, ersten Zug. - T.K. hätte nicht einmal sagen können, zu welcher Tages- oder Nachtzeit die Trauung stattfand. Wie spät es auch war, am Meer der Dunkelheit herrschte immer diese deprimierende, dämmrige Finsternis. An das Leben hier würde er sich nie gewöhnen können. Das Meer ließ seine Füße frieren, da er bis zu den Knöcheln im Wasser stand. Kari schlugen die Wellen zuweilen sogar gegen die Hüften, so tief standen sie und ihr Angetrauter darin. Sie trug kein Kleid oder Ähnliches, nur ihre normale Daunenjacke und die Herbstkleidung, mit der sie das Meer der Dunkelheit betreten hatte. Einzig der kurze Schleier, der mit Plastikblüten verziert war, wies darauf hin, dass sie hier die Braut war. Eine Zeremonie war auch unter den Schattenwesen üblich, und Kari hatte erwirkt, dass sowohl Elemente aus ihren als auch den menschlichen Bräuchen darin Einzug fanden. Den Schleier hatten sie noch in der Menschenwelt gekauft, für den Notfall, der schließlich, nach drei Tagen Bangen und Hoffen, eingetreten war. T.K. wäre es lieber gewesen, wenn Kari so wenig wie möglich an eine echte Braut erinnert hätte, aber sie hatte gemeint, so würde ihr das Ganze leichter fallen: wenn es nur ein wenig festlich wäre. Karis Bräutigam war ganz in Schwarz, aber das waren die Schattenwesen schließlich alle. Er wusste nicht, warum sie gerade dieses Geschöpf zu ihrem Anführer gewählt hatten, äußerlich war es ident mit den anderen, vielleicht ein winziges Stück größer als der Durchschnitt. „Wir feiern also heute eine besondere Verbindung, hier am Meer der Dunkelheit, zwischen unserem und eurem Volk“, sagte T.K. laut. Er improvisierte, für Kari, auch wenn er seine eigenen Worte verabscheute. Die Schattenwesen wären gleich dazu übergegangen, das Jubelpaar mit Salzwasser zu übergießen, aber er wollte ihrem Wunsch entsprechen und es etwas festlicher gestalten. „Diese beiden hier sind heute Braut und Bräutigam, zwei Seelen, die sich aneinander binden wollen.“ Festlich, aber nicht zu lang, da Kari in dem eisigen Wasser bereits zitterte. „Tauscht nun die Ringe aus, zum Zeichen eurer Verbundenheit.“ Kari machte den Anfang und steckte ihrem Gemahl einen der Ringe an den Finger, die sie aus Seegras geflochten hatten. Das Schattenwesen tat es ihr gleich. Hatte das Gras im Wasser noch sattgrün gewirkt, so war es getrocknet von schwarzer, unansehnlicher Farbe. „Wollt ihr einander dienen und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod euch scheidet?“ Er musste sich bemühen, nicht abfällig zu klingen. Das lieben hatte er absichtlich ausgelassen. „Ich will“, sagte Kari leise. T.K. zuckte bei den Worten mit der Augenbraue. Es ist in Ordnung. Wer sich wirklich scheiden will, wartet sowieso nicht auf den Tod. Davon konnte er ein Liedchen singen. „Ich auch“, antwortete das Schattenwesen. „So erkläre ich euch zu Mann und Frau nach Tradition der Menschen.“ Zum Kuss würde er sie nicht auffordern – außerdem hatten die Schattenwesen nicht einmal so etwas wie Lippen. Er nickte den dunklen Kreaturen zu, damit sie mit ihrem Teil der Zeremonie beginnen konnten, und watete zurück an den Strand. Zwei Schattenwesen traten heran und schöpften mit ihren unförmigen Händen Wasser aus dem Meer. Das Jubelpaar fasste sich an den Händen, als es damit übergossen wurde. T.K. sah, wie Kari schauderte, als das schwarze Wasser ihr durch das Haar in den Kragen floss und ihren Schleier mitriss. Dreimal musste sie das über sich ergehen lassen, dann traten die Schatten zurück. „Von heute an seid ihr Mann und Frau“, verkündete eines der Wesen. Die anderen stießen seltsame, glucksende Jubellaute aus und patschten mit den Pranken ins Wasser, als wollten sie musizieren. „Und wir werden unser Versprechen gegenüber unserer neuen Königin einhalten.“ Damit war die Zeremonie beendet. T.K. erwartete Kari am Strand, legte ihr seine eigene Jacke über die zitternden Schultern und bugsierte sie über den gemauerten Steg, der zum Leuchtturm führte. Sie hatten auch überlegt, eines der Holzhäuser zu beziehen, die etwas vom Strand entfernt standen, aber die waren allesamt morsch und unwohnlich. Der Leuchtturm schien das behaglichere Heim für zwei Menschen zu sein – und ein Schattenwesen. Karis Gemahl – als Ehemann wollte T.K. ihn gar nicht bezeichnen – trottete hinter ihnen her. Er hatte kaum ein Wort gesagt, schien aber sowieso eher schweigsam zu sein. Oder war er nur pflichtbewusst? Die anderen Schattenwesen fuhren in ihrem Jubel fort. „Auserwählte Jungfrau!“ „Unser Licht! Unsere Königin!“ „Unsere Retterin, die auserwählte Jungfrau!“ „Königin des Lichts!“ „Die Braut aus der Prophezeiung!“ „Die neue Göttin an unserem Meer!“ „Hoch lebe die auserwählte Jungfrau! Hoch lebe unsere Braut!“ T.K. ließ sie rufen, auch wenn ihn einige Bezeichnungen die Stirn runzeln ließen. Es hätte ja ganz glorreich sein können, hätten die Schattenwesen nicht alle solche schleimtriefenden Stimmen gehabt – die Rufe klangen, als pressten die Kreaturen die Worte unter großen Schmerzen hervor. Außerdem ist sie keine Jungfrau mehr. Eure Prophezeiungen sind eine einzige Lüge. Er öffnete die Tür zum Leuchtturm. Ab jetzt begann der wirklich schwierige Teil. Die Jagd nach einem Schatten. Das schleimige Rufen blieb hinter ihnen zurück. Hoffentlich nennen sie Kari auch weiterhin auserwählte Jungfrau, dachte T.K, und fangen nicht irgendwann mit auserwählte Mutter an. Queen of the light, star shining bright Blessed by the light of the moon A chase with the wind to the gardens of sin Take me away, I am coming (Gamma Ray – Chasing Shadows) Kapitel 2: Eröffnung -------------------- Tag 2 „Ich möchte wissen, was unser verehrter Kaiser jetzt wieder Verrücktes vorhat“, sagte LadyDevimon, als es anmutig von Fledermäusen umgeben über die Wogen flog. „Der ist doch ein Weichling“, krächzte SkullSatamon. „Keine Spur von dem Eroberer, den Deemon sich gewünscht hat. Wahrscheinlich sollen wir ihm die Daten für irgendein Superdigimon aus dem Strudel holen, hinter dem er sich verstecken kann.“ Der Kastellan hatte zwar Flügel, konnte aber nur kurze Distanzen damit fliegen und musste deshalb auf dem Rücken von MegaSeadramon stehen, während die jüngst gegründete Flotte des DigimonKaisers durch die Wellen tauchte. Das ungeschlacht wirkende MegaSeadramon war das stärkste Mitglied selbiger, nach MarineDevimon, welches sich entschieden geweigert hatte, SkullSatamons Transportmittel zu spielen. Es schwamm gemächlich hinter den anderen her und lauschte stumm dem Gespräch seiner Kameraden. „Seine Festung ist ja an den Boden gefesselt. Wie frustrierend muss es für ihn sein, wenn er nicht kreuz und quer durch die DigiWelt fliegen kann. Sicher wünscht sich unser Kleiner etwas Großes mit Flügeln, mit dem er dann wieder die DigiWelt in Schutt und Asche legen kann“, sinnierte LadyDevimon. „Dafür hat er doch uns“, griente SkullSatamon. MarineDevimon bemerkte, wie sich die Strömung veränderte, und es spürte die unsagbar böse Aura des Ortes, auf den sie zusteuerten. „Richtig. Und dieses träge, stumme Weichtier“, sagte LadyDevimon mit einem abfälligen Blick auf es. MarineDevimon grunzte nur. Es konnte die beiden nicht leiden, und umgekehrt war es ebenso. Die Flotte, die aus einem Dutzend seeschlangengleicher Seadramon, drei krebsartigen Ebidramon und dem viel größeren, wendigeren MegaSeadramon bestand, hielt am Rand des riesigen Strudels an, den sie erreicht hatten. Finstere Energien wirbelten darüber in der Luft und übten eine magische Anziehungskraft auf sie alle aus, verlockend und gleichzeitig mit einem Angstgefühl terrorisierend. Die Meeresdigimon mussten mit all ihrer Kraft gegen die Strömung ankämpfen. „Wir sind da“, verkündete LadyDevimon, das schräg über dem Strudel in schwebender Position verharrte. Der wasserfeste Projektor, der auf dem Kopf eines der Ebidramon angebracht war, aktivierte sich surrend. Ein transparentes Hologramm des DigimonKaisers erschien. Er hatte seine Frisur geändert; statt des wirren, blaugrauen Schopfes floss ihm nun glattes, blauschwarzes Haar bis auf die Schultern. Offenbar die einzige Modifikation seines Outfits, derer er mächtig war. „Gut gemacht“, sagte er. „Das ist der perfekte Schauplatz für euren Auftrag. Der Strudel der Finsternis, der Eingang zur Welt der Dunkelheit, wenn auch kein Ausgang.“ „Das ist doch nur ein kleiner Wasserwirbel. Was immer du willst, mein Kleiner, ich hole es dir aus diesem Strudel heraus“, versprach die Dämonenfrau und klackte mit den roten Krallen ihres rechten Armes. „Das wird nicht nötig sein“, sagte die Projektion. „Ich habe vielmehr die Absicht, etwas in den Strudel hineinzuwerfen.“ „Was redest du da?“ SkullSatamon fuchtelte mit seinem Knochenstab herum. „Hast du uns hier herausgeschickt, um Witze zu reißen?“ MarineDevimon grollte nur tief und wartete ab, was der DigimonKaiser zu sagen hatte. „Keineswegs. Das hier wird eine Prüfung eurer Treue und Stärke. Meine Aufgabe ist es, die DigiWelt zu erobern. Das ist kein Problem.“ „Der Kleine hat ja plötzlich Rückgrat“, fiel ihm LadyDevimon kichernd ins Wort. „Aber das geht nicht über Nacht“, fuhr der DigimonKaiser fort, „und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, ein so großes Reich allein zusammenzuhalten. Fähige Generäle findet man leicht. Ich brauche aber jemanden, der an meiner Seite herrscht. Damit ich das Reich aufteilen und mich mehr um die Eroberung kümmern kann. Sonst erschlägt mich die Verwaltung.“ Das waren exzellente Aussichten, fand MarineDevimon. LadyDevimon lachte frech. „Aber sicher doch, natürlich. Ich würde doch eine perfekte Kaiserin abgeben, meinst du nicht?“ „Das wird sich jetzt zeigen. Generalkommandeurin LadyDevimon, SkullSatamon, Herr der Kaiserwüste, Großadmiral MarineDevimon, hier ist euer Auftrag. Bekämpft euch bis zum Tod, sodass nur das stärkste und treueste von euch übrig bleibt. Der Sieger wird mein Mitherrscher. MegaSeadramon, du bist mir dafür verantwortlich, dass niemand den Kampf stört, und keiner aus der Flotte soll irgendwie eingreifen.“ „In Ordnung“, grollte MegaSeadramon, und die Projektion des Kaisers verschwand. Die Meeresdigimon fächerten sich auf und umschlossen den Strudel in einem Kreis. „Hm“, machte LadyDevimon und reckte angriffslustig den krallenbewehrten Arm vor. „Ich hatte eigentlich gehofft, bald gegen Menschen kämpfen zu dürfen, aber ihr seid mir genauso recht.“ SkullSatamon, das noch immer auf MegaSeadramons Helm stand, schnaubte und ließ seinen Stab kreisen. „Wir wissen doch alle drei, dass ich das zäheste von uns bin. Der Kampf ist schon so gut wie entschieden.“ MarineDevimon grunzte nur und richtete sich schwerfällig im Wasser auf, als das Skelettdigimon auch schon in die Höhe sprang. Zuerst sah es aus, als zielte es auf LadyDevimon, das in der Luft auswich, doch SkullSatamon schoss genau auf MarineDevimons massige Gestalt zu und schmetterte ihm seinen Nagelknochen gegen die Brust. Dumpf röhrend sackte es nach hinten, als betäubender Schmerz durch seine weiche Haut krachte. SkullSatamon stieß sich von ihm ab, als es ins Wasser platschte, den Knochen erneut erhoben. Schrill lachend vollführte LadyDevimon eine Art Tanz in der Luft, und brennende Fledermäuse flatterten dem Skelett entgegen. SkullSatamon wehrte sie mit kreisenden Stabbewegungen ab und prallte gegen die Dämonenfrau, stieß ihr den Knochen in die Magengegend. Mit einem Würgen wurde sie wie eine Pflaume ins Wasser geschleudert. MarineDevimons Tentakel schnellten empor und schlossen sich um den mageren Körper des Skelettdigimons, das protestierend aufschrie, dann wurde es davon in die Tiefe gezogen. Unter Wasser starrte MarineDevimon seinen einstigen Mitstreiter hämisch an. Dies hier war sein Element. Würgend pumpte es die entzündliche Flüssigkeit aus seinem Magen in seinen Mund. SkullSatamon schien zu wissen, was ihm blühte, denn es zappelte in seinem Griff und konnte sich genügend Freiraum schaffen, um MarineDevimons Tentakel mit seinem Stab fortzuprügeln. Unter Wasser konnte es sich jedoch nicht wirklich bewegen und wurde im Gegenteil von der Strömung angezogen, die es in den Strudel ziehen wollte, und so tat der Großadmiral ihm einen Gefallen und beförderte es mit einem peitschenden Schlag seiner Tentakel nach oben. Als SkullSatamon krächzend die Wasseroberfläche durchbrach, erwartete es ein wütendes LadyDevimon. Das einst so schnelle Digimon, das sich noch in der Luft überschlug, wurde mit voller Wucht von den Strahlen aus den Augen der Dämonenfrau erwischt und davon zielgenau in den Dunklen Strudel befördert. Seinen Schrei hörte MarineDevimon selbst unter Wasser noch. Sofort tauchte der Admiral auf, erschien wie ein riesiger Schatten hinter LadyDevimon und tauchte es in blauschwarze Flammen, ehe es entwischen konnte. Mit einem Aufschrei wirbelte das Digimon zu ihm herum, doch selbst seine Fledermäuse vergingen in der brennenden Flüssigkeit. Das Feuer hielt so lange an, bis LadyDevimons Schrei markdurchdringend wurde und dann abrupt abbrach, als es sich in Daten auflöste. MarineDevimon grollte zufrieden. Der Sieg war sein. Der Ausgang des Kampfes war nicht unbemerkt geblieben. Das Bild des DigimonKaisers erschien aus dem Projektor, kaum dass das Echo von LadyDevimons schrillem Todesschrei verklungen war. „Gut gemacht, MarineDevimon. Ich habe nichts anderes von dir erwartet, immerhin ist das Meer dein Element.“ Der Großadmiral fauchte zustimmend, und der Kaiser wandte sich an die Flotte. „MegaSeadramon, auch du hast deine Aufgabe gut gemacht. Ich habe eine weitere für dich, die schnelles Handeln und Opferbereitschaft erfordert. Ich befördere dich zum neuen Großadmiral der Kaiserlichen Flotte. Vernichtet MarineDevimon und versenkt es in dem Strudel.“ Seine Gestalt flackerte und verschwand wieder. MarineDevimon brüllte angesichts dieses Verrats und drehte sich zu seiner ehemaligen Flotte um. Es stand mit dem Rücken zum Strudel, und aus der Stelle an seiner Brust, wo SkullSatamons Nagelknochen es erwischt hatte, sickerte schwarzes Blut. MegaSeadramon schien sich nicht sicher zu sein, was es tun sollte, also machte MarineDevimon eine drohende Bewegung mit seinen Tentakeln. Es würde kämpfen. Nichts anderes hatte es sein Lebtag getan. Es begann wieder Flüssigkeit hochzuwürgen. „Tja, tut mir leid für dich, Kamerad“, grollte MegaSeadramon und schnellte auf es zu. Das Seeschlangendigimon mit der gekrümmten Klinge auf dem Kopf war viel schneller und wendiger als MarineDevimon selbst und prallte genau gegen seine verwundete Stelle. Der Schlangenkörper umwickelte das massige, dunkle Digimon ohne Schwierigkeiten und drängte es auf den Strudel zu, schnürte seinen Hals ab, sodass die brennbare Flüssigkeit in seinem Magen blieb. Die geringeren Seadramon tauchten neben ihm auf und spien ihren kalten Atem auf seine Gliedmaßen. MarineDevimon brach die Eisschicht mit ungelenken Bewegungen, aber SkullSatamons Attacke entfaltete langsam ihre betäubende Wirkung. Es wurde langsamer, und sofort überzog das Eis wieder seine Haut. Am Rand des Strudels löste MegaSeadramon seine Umklammerung. Die Klinge, die aus seinem Helm ragte, blitzte in elektrischem Licht auf, und ein gleißender Stromstoß schwappte gegen MarineDevimons Brust und ließ es vor Schmerz aufröhren. Durch das Eis beschwert, kippte sein Leib hintenüber und wurde von den saugenden Kräften des Strudels verschluckt. Wie ein Stein fiel es in den Wirbel, der sprudelnde Rand und der blaue Himmel über ihm wurden immer kleiner, bis nur noch Finsternis seinen Verstand umhüllte. Nachdem er das Ende der drei auf dem großen Bildschirm auf der Kommandobrücke mitverfolgt und MegaSeadramon die Rückkehr befohlen hatte, nahm Ken in Gedanken Kontakt mit Deemon auf. Du hast gesagt, du würdest dich auf meinen ersten Zug freuen. Hier hast du ihn. Deemon lachte. „Und was für ein Zug das war. Äußerst gewagt, Ken. Und der Macht der Dunkelheit würdig.“ Das hat nichts mit der Macht der Dunkelheit zu tun. Er empfand kaum Mitleid mit Deemons Häschern. SkullSatamon hatte unschuldige Menschen töten wollen, ehe Imperialdramon es besiegen konnte, MarineDevimon hatte grundlos ein Krankenhaus angegriffen, und LadyDevimon hatte Yolei schwere Gewissensbisse beschert, weil sie es töten mussten, nachdem es einen harmlosen Jungen als Geisel genommen hatte. Diese Digimon wären besser tot geblieben. Ich traue niemandem, der einmal für dich gearbeitet hat, auch nur ein Stück weit. Egal, wie stark sie gewesen sind, sie waren deine Handlanger. Deemon schien das zu amüsieren. Sollte es lachen; Ken war sich sicher, dass er mit diesem Zug einen Vorteil gewonnen hatte. Und wirklich. „Du bist ein ernst zu nehmender Gegner in diesem Spiel, scheint mir. Ich muss mir meinen nächsten Zug wohl genau überlegen, wenn ich dich überlisten will.“ Tu, was du nicht lassen kannst. Aber mein Zug ist noch nicht beendet. „Wie meinst du das?“ Statt einer Antwort suchte Ken den Weg in die Wirklichkeit zurück und verließ raschen Schrittes die Brücke. Mit Wormmon auf seiner Schulter und zwei rostroten, maschinenartigen Guardromon, die er mit Schwarzen Ringen kontrollierte, weil sie die im Bau befindlichen Türme an der Küste angegriffen hatten, durchquerte er die Gänge, die tief in den Bauch der Festung führten, bis in einen Raum, der von Kabeln nur so überquoll und in dem eisige Kälte und Düsternis herrschten. Finstere Energie pulsierte in einem Knäuel aus Kabeln, aus denen etwas hervorragte, das wie der Kopf eines Drachen aussah. Eine stete, schwarze Rauchfahne stieg aus dem Maul der Vorrichtung. Hast du geglaubt, mir würde nicht auffallen, dass du in dieser Festung auch wieder einen Zugang zur Welt der Dunkelheit eingebaut hast? Ken machte eine herrische Handbewegung und die Guardromon verschossen aus ihren Handgelenken zwei Granaten, die die Vorrichtung pulverisierten. Das Strömen der dunklen Energie hörte abrupt auf. Ken hätte sich dem schon eher zuwenden können, aber er hatte gefürchtet, Deemons Leute hätten sich ihm entgegenstellen können. „Du bist gewitzter, als ich vermutet habe“, stellte Deemon fest und klang etwas aus der Fassung gebracht, so wie damals, als ihre Digimon keine seiner Attacken durch ihre Abwehr gelassen hatten. „Aber so wird sich die Festung nie wieder bewegen, selbst wenn du eine Antriebsmöglichkeit findest.“ Das macht nichts. Wenn ich mich dadurch vor der Dunkelheit schützen kann und du länger brauchst, um zu Kräften zu kommen, ist es mir das wert. „Das wirst du bereuen, Ken.“ Tag 11 Sein Plan, mit dem Krieg zu warten, ging auf. Die Saatkinder verloren keine Zeit: Im Westen und Süden der DigiWelt wurde hart gekämpft, wie er hörte. Flüchtlinge strömten nach Osten, und er ließ Stingmon und einige andere, wohl ausgesuchte, majestätisch und glaubwürdig wirkende Digimon davon berichten, dass er, der neue DigimonKaiser, ihnen Zuflucht und Hilfe gewähren würde. Er ließ Propaganda verkünden, was sich seltsam anfühlte, da er diese Möglichkeit das letzte Mal nie in Anspruch genommen hatte; er heuerte dafür fernsehköpfige Monitormon an, die den Digimon in den nahen Siedlungen Videonachrichten von ihm zeigten. Die Ölbohrinsel südlich der Wüste, wo Cody einst das DigiArmorEi der Zuverlässigkeit gefunden hatte, ging freiwillig an ihn, um vor Überfällen geschützt zu sein, die wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steins von den Kriegsgebieten ausgingen. Die Landzunge unterhalb der Bambusbucht, die man gemeinhin den Stiefel nannte, willigte ebenfalls ein, sich in sein Reich einzugliedern. Einzelne Gebiete widerstrebten dem, doch er ließ schließlich die Aufstände dort schnell zerschlagen und die Aufrührer mit Schwarzen Ringen ausstatten. Er tat es nicht gern, aber er würde kaum jedes einzelne Digimon in der DigiWelt dazu bringen können, ihn zu mögen. So naiv wollte er nicht sein. Ken sorgte dafür umso akkurater für eine gerechte Behandlung all seiner Untertanen, schickte Rohstoffe in Gegenden, wo sie benötigt wurden; ließ Steine in die Eisregion bringen, wo man Behausungen nur aus instabilerem Eis und Schnee baute, lieferte den primitiven Siedlungen auf dem Stiefel bessere Technologien und Ackergeräte aus dem Norden und brachte exotische Lebensmittel und Wasser in die wüstennahen Gegenden. Er beschäftigte Spione, die die anderen Saatkinder auskundschafteten, bezahlte seine rasch wachsenden Truppen mit Lebensmitteln, Luxusgütern und was er sonst noch billig in die Finger bekommen konnte. Bald würde er eine eigene Währung einführen können, dachte er bei einer Teepause mit Wormmon, von denen er wenig genug hatte. Ein Reich zu verwalten war schwieriger, als er gedacht hatte, wenn man nicht gerade ein Tyrann war, und das Spiel lief erst seit wenigen Tagen – aber wenigstens lief es gut. Das Vernichten von Deemons Anhängern hatte sein Selbstvertrauen und sein Sicherheitsempfinden deutlich gesteigert. Südwestlich der Wüste schien das ShogunGekomon von früher ein eigenes Reich aufgebaut zu haben – oder eher, Deemon hatte es ihm einfach zugestanden. Die Digimon dort hatten genau die Art von Infrastruktur und die Menge an handelbaren Wirtschaftsgütern, die er für sein Reich brauchte, aber das Krötendigimon wollte nicht mit ihm verhandeln. Nach zehn Tagen hielt Ken es für an der Zeit, seine Zähne zu zeigen. „Sie werden mich dafür nicht lieben“, sagte er an diesem Morgen zu Wormmon. „Nein – ich werde mich nicht dafür lieben. Ich will verbreiten lassen, dass das Shogunat ein Gefahrenpotential für uns darstellt, damit meine Digimon mir eher folgen – was meinst du?“ Wormmon überlegte nicht lange. „Wenn du es für das Beste hältst, bin ich auch dafür“, sagte es. „Und ein großes Reich vor unserer Tür kann ja wirklich Gefahr bedeuten.“ Ken verschickte den Angriffsbefehl mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend, aber es wurde Zeit, ernstzumachen. Er hatte die Spielregeln verstanden, und er würde spielen. Und er würde gewinnen, letztendlich. So zeigte der DigimonKaiser der Welt seine Eröffnungszüge. Tag 14 Mit einem lauten Bersten zersprang der Schwarze Turm in seine Einzelteile, die wie Hagel auf die Steppe niedergingen. Wer von den kämpfenden Digimon einen Schwarzen Ring trug, hielt plötzlich verdutzt inne. Veggiemon und Monochromon kamen zur Besinnung und flohen aus dem Getümmel, andere waren einfach wie erstarrt. Die Wölfe zogen sich zurück und formierten sich neu, damit Freund und Feind sich aussortieren konnten. Etliche Gazimon, die keine Ringe trugen, suchten ebenfalls ihr Heil in der Flucht, als sie sahen, wie wohlgeordnet und bedrohlich die Garurumon, Gaomon und Kyuubimon plötzlich waren. Sie waren Wölfe, Hunde und Füchse, und doch wohnte ihnen allen das Herz von Wölfen inne, wie sie oft sagten. Wild heulten sie und fletschten mit den Zähnen, um die Moral der Truppen des DigimonKaisers weiter zu brechen. Diese waren nur ausgerückt, um den Turm zu schützen; nun würden sie auch die angrenzenden Gebiete verlieren. „Was ist mit euch Memmen?“, brüllte Deltamon. Das große, violette Dinosaurierdigimon, das einen bleichen Echsenschädel und einen mechanischen Kopf als Hand hatte, war der heißblütige Anführer der Jagdtruppe. Es trug keinen Schwarzen Ring und schien darauf erpicht, den Kampf fortzuführen. „Bleibt hier! Werdet ihr wohl unserem Kaiser zeigen, dass ihr auch wie Helden sterben könnt? Was für Soldaten seid ihr, dass ihr davonlauft, nur weil sie unseren Turm zerstört haben?“ „Und was für ein Anführer lässt seine Untergebenen in einem aussichtslosen Kampf sterben?“, fragte Matt. Die großen, roten Augen Deltamons suchten ihn in der Linie der Wölfe und fixierten ihn finster. „Ein Mensch!“, höhnte es. „Was kann ein Mensch schon von der Ehre eines Digimons wissen?“ „Wohl wenig“, sagte Matt leichthin. „Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich nicht, wie sich ein ehrbares Digimon freiwillig einem Menschen verschwören kann, der Schwarze Türme baut und Digimon versklavt. Habt ihr denn vergessen, was der erste DigimonKaiser euch allen angetan hat?“ „Dieser hier ist anders“, behauptete Deltamon impulsiv. „Er lässt uns überall zeigen, dass wir die großen Herren in dieser Welt sind, und er schickt uns Wein und genug zu essen!“ Eine typische Kriegerseele. So hatte Matt sich das vorgestellt. Deltamon wollte der DigiWelt nur zeigen, wie toll es doch war, und war damit zufrieden, einen vollgefressenen Wanst zu haben und sich gelegentlich zu betrinken. „Digimon wie du sollten überhaupt keine Herren sein“, sagte er. Seine Wölfe knurrten zustimmend. Deltamon klapperte lachend mit seinen Köpfen. „Was will so ein kleines Bürschlein wie du dagegen unternehmen? Ist das dein Partner da neben dir? Ich habe gehört, dass ihr Menschen euch immer ein Leibdigimon haltet. Ziemlich mickrig, nicht?“ „Gabumon“, sagte Matt leise, „willst du es noch mal versuchen?“ „Ich bin bereit“, nickte sein Partner. Matt hob sein DigiVice, das blau aufglühte. Ein plötzlicher Windstoß ließ seinen gelbbraunen Staubmantel flattern. Es funktionierte. Also hatte doch der Turm die Digitation verhindert. „Pah! Selbst wenn dieser Kümmerling digitiert, was will er gegen mich ausrichten?“ Deltamon riss alle drei Mäuler auf. Violette Energie strömte daraus hervor und sammelte sich vor ihm in der Luft. Seine Untergebenen wichen respektvoll zurück. Das Licht hatte Gabumon verformt, und als gleißende Gestalt sprang es mitten durch den Energieball, der regelrecht zerfetzt wurde. Deltamon stieß einen ungläubigen Schrei aus, als es einen DigiChrom-gepanzerten Wolf aus dem Lichtgewitter springen sah, der knurrend das Maul aufriss. Deltamon stolperte rückwärts, als es auch schon von einem eisigen Hauch metallischer Kälte eingehüllt wurde, dass jede Faser seines Körpers sofort einfror. Als es auf dem Boden aufschlug, zersplitterte es in tausend Eiskristalle. Seine Untergebenen, die bisher wie erstarrt zugesehen hatten, verfielen in heilloser Panik, als MetallGarurumon sie nur kurz anknurrte. Die Wölfe ließen sie ziehen. Matt trat zu seinem Partner und legte ihm die behandschuhte Hand auf die kühle, metallene Flanke. „Meinst du, sie kommen zurück?“, grollte das Digimon. „Vielleicht. Wenigstens ist das Gebiet wieder frei. Auch wenn hier kaum jemand lebt, der DigimonKaiser hat nicht das Recht, hier einen Turm hinzupflanzen, um sein Gebiet zu markieren.“ „Die DigiWelt muss frei sein“, bestätigte einer der Wölfe. „Also werden wir weiter gegen ihn kämpfen? Die Küstenlinie ist noch voller Türme, heißt es“, sagte MetallGarurumon, als Matt sich auf seinen Rücken schwang. „Irgendwann holen wir sie uns. Jetzt ruhen wir uns aber erst mal aus“, beschloss Matt. Kurz dachte er, einen Schwarzen Ring hoch oben am Himmel zu sehen, aber vielleicht täuschte er sich. Die anderen folgten ihm, als er auf MetallGarurumon über die Steppe preschte. Der Ring hatte all die Szenen aufgenommen und direkt in Kens Kommandobrücke übertragen. Mit geweiteten Augen sah er, wie die Digimon über die weite Graslandschaft im Südwesten der Kesselstadt hetzten, wo er versucht hatte, seine Küstenlinie aus Schwarzen Türmen auszuweiten. Das kann nicht sein … das darf nicht sein! Wormmon blickte ebenfalls besorgt auf den Bildschirm. Zuerst hatte er es nicht glauben können und für einen Trick von Deemon gehalten. Er hatte geglaubt, dort, in einen schmutzig braunen, lose schlackernden Staubmantel gehüllt, wäre eines der Saatkinder aufgetaucht, als er den Jungen tatsächlich als Matt erkannte. Und er hatte nicht nur seinen Turm zerstört, wie er es damals so oft getan hatte, sondern schien auch noch der Anführer dieser plötzlich aufgetauchten Horde aus wolfsähnlichen Digimon zu sein! Deemon nutzte den Moment seines Entsetzens, um wieder einmal seine Gedanken zwischen Kens eigene zu schieben. „Was ist los, Ken? Bist du nicht froh, einen deiner alten Freunde wiederzusehen? Wenn ich mich nicht irre, hast du sie doch schon vermisst und gehofft, sie würden dir beistehen, oder nicht?“ Du … Du hast … Ken fiel es sogar schwer, ihm diesen Gedanken zu schicken. Du hast ihn auch in dieses Spiel geworfen? Was ist mit den anderen? Sag mir, dass sie noch in der Realen Welt sind! Deemon lachte heiser. „Sie haben die Ehre, Figuren in unserem Spiel zu sein. Nur fürchte ich, dass sie nicht auf deiner Seite sind, Ken.“ Warum? Verdammt, was hast du mit ihnen gemacht? „Ich dachte, ich hätte es dir erklärt. Ich kann in ihren Erinnerungen wühlen, soviel ich will. Bei deinem Freund Matt musste ich nicht viel ändern. Er war lange Zeit ein einsamer Wolf und hat sich schließlich einem ganzen Rudel einsamer Wölfe angeschlossen. Nur lernte er weder dich noch deine anderen Freunde je kennen. Alles Weitere erforschst du am besten selbst. Ich möchte dir doch nicht die Spannung verderben.“ Deemon verließ ihn, die Realität gewann wieder an Farbe. Nicht, dass sie weniger erdrückend gewesen wäre als seine Gedankenwelt. Ken kaute auf seiner Daumenkuppe herum. Das war nicht gut, das war gar nicht gut. Wenn Matt ihn nicht mehr kannte … nein, er kannte ihn sicherlich nicht. Für ihn war er anscheinend nur ein Irrer, der die DigiWelt erobern wollte. Aber sein altes Ich kannte er? Wusste Matt vielleicht, dass er derselbe wie der erste DigimonKaiser war? „Verdammt, und Gabumon kann auf das Mega-Level digitieren?“ Mit den Nerven am Ende schlug er mit der Faust auf die Konsole und schaltete den Bildschirm dabei ab. „Wie sollen wir ihn jemals aufhalten, Wormmon? Ich kann nicht einmal Ultra-Digimon beherrschen! Wir haben verloren, noch bevor es richtig begonnen hat!“ Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Und seine anderen Freunde, was war mit denen? Würden sie ihn wieder bekämpfen, wie damals? Das könnte er nicht ertragen, es würde sich schrecklich anfühlen, das alles erneut durchmachen zu müssen … Er merkte plötzlich, wie schwer er atmete. „Verdammt“, flüsterte er. „Verdammt, verdammt, verdammt! Wir sind erledigt, ich kann das nicht!“ „Nur die Ruhe, Ken“, piepste Wormmon und wollte ihn am Arm berühren. Ken schüttelte es grob ab und erstarrte dann, als er erkannte, was er getan hatte. „Ich …“ Er senkte den Blick. Nein, ich bin nicht er, ich bin nicht mehr er! „Es tut mir so leid, Wormmon. Ich war gerade … nicht ich selbst.“ Er fühlte Tränen in den Augenwinkeln. Nein, reiß dich zusammen! „Ist schon gut“, murmelte sein Partner und tastete wieder vorsichtig nach ihm. Es tat weh, seine Vorsicht zu sehen, als fürchtete es, er könnte es tatsächlich verletzen. „Auch wenn er MetallGarurumon hat, es kann nicht digitieren, solange es ein Schwarzer Turm daran hindert. Hier in der Festung sind wir sicher.“ Ken hatte vor der Festung Türme bauen lassen, auch wenn zwei am selben Ort, wie Deemon sagte, nichts brachten. „Ja“, murmelte er. „Das stimmt.“ Aber es löste nicht das Problem, dass Matt seine Gebiete angreifen konnte, so sehr er wollte. Da fiel es ihm ein. „Davis. Wir müssen Davis finden! Gemeinsam mit Veemon kannst du auch auf das Mega-Level digitieren, dann kannst du MetallGarurumon schlagen!“ „Das … stimmt, Ken“, sagte Wormmon, aber seine Stimme klang brüchig. „Was hast du?“ „Nichts. Ich … bin froh, dass du mich diesmal für dich kämpfen lassen willst“, sagte es leise. Ken seufzte und schloss es in die Arme. „Ach, Wormmon.“ Er fasste wieder neuen Mut. Wenn er nur Davis finden und ihn überzeugen konnte, sich ihm anzuschließen, wäre er Matt gewachsen. Bis dahin mussten die Türme herhalten, und er würde seine Expansionspläne nur ein wenig verschieben müssen. Außerdem warteten schon zwei weitere, andere Pläne auf ihre Durchführung. Er durfte nicht den Mut verlieren – auf jeden Fall aber brauchte er Klarheit über die Regeln, die Deemon ihm erst nach und nach verriet. So konnte er nicht kämpfen. Deemon! Beantworte mir ein paar Fragen, wenn du dich traust! Vielleicht konnte er es mit provozierenden Worten zur Wahrheit drängen, schließlich war es recht stolz. Einmal mehr hielt die Welt den Atem an und Deemons unscharfe Gestalt war das einzig Farbige in dem Raum. „Willst du mir wieder unfaire Spielweise vorwerfen, Ken?“ Keineswegs. Ich will, dass du mir deine Spielregeln erklärst. „Und wenn ich kein Interesse daran habe, dir alles zu erklären?“ Natürlich hatte es das nicht, es würde ja sonst einen entscheidenden Vorteil verlieren. Ich habe zu meinen Fragen schon Vermutungen. Die zu bestätigen wird dir nicht wehtun, oder? Zuerst etwas Grundlegendes. Du beherrschst Raum und Zeit in der DigiWelt, aber du kannst nicht zufällig meine Festung plötzlich ins Meer teleportieren oder ein Digimon wiederbeleben, das ich gerade eben getötet habe? Du hättest es längst getan, wenn es ginge, nicht wahr? Deemon brummte. „Du hast keine Vorstellung, wie schwierig es ist, diese Kräfte zu benutzen. Ich habe einen großen Teil meiner wiederhergestellten Energie darauf verwendet, und es hat Jahre gedauert, bis ich das Spielfeld so herrichten konnte. Darum habe ich auch die Zeit in der DigiWelt beschleunigt: damit ich von außen einen rascheren Zugriff hatte. Da du dich nun bereits auf dem Feld befindest, macht es keinen Sinn, es weiter zu manipulieren.“ Das heißt, das Spielfeld wird sich nicht mehr ändern? Die Regeln stehen fest, seit der Krieg begonnen hat? Das war eine entscheidende Annahme. Es bedeutete, dass Deemon von Anfang an geplant hatte, seine Freunde einzubauen, und sie nicht erst als Reaktion auf Kens Zug mit seinen Untergebenen in die DigiWelt geholt hatte. „So ist es. Alles, was geschieht, ist nur der natürlich Lauf der Figuren auf dem Spielbrett. Ich selbst habe das Brett aufgebaut, aber ich spiele nicht aktiv mit.“ Das heißt, du kannst nichts tun, außer mir deine Kommentare in den Kopf zu flüstern?, stellte Ken triumphierend fest. Deemon schien verstimmt. „Deine nächste Frage, wenn du schon darauf bestehst.“ Die Schwarzen Türme. Es bringt nichts, wenn ich einfach zwanzig oder hundert oder tausend nebeneinander auf ein Feld stelle, oder? Ich kann damit die Phasen nicht ausreichend durcheinanderbringen, um dich hinter der Feuerwand zu erreichen, habe ich recht? „Natürlich funktioniert das nicht. Die Türme senden das Signal der Macht der Dunkelheit aus, das die Grenzen zwischen den Welten schwingen lässt. Viele Türme an einem Ort bewirken einen starken Ausschlag der Amplituden und verschieben die Phasen, sodass die Grenzen instabil sind. Aber der Raum hinter der Feuerwand ist keine Welt wie deine oder die DigiWelt oder das Meer der Dunkelheit. Sie liegt direkt unter der DigiWelt. Die Grenzen können nur vernichtet werden, wenn die ganze DigiWelt schwingt, oder ein ausreichend großer Teil davon.“ Was ist mit den anderen Saatkindern? Sie bauen auch Schwarze Türme, aber ich bezweifle, dass du den Fehler gemacht hast, mir damit in die Hände zu spielen. Wenn ich einen Teil der DigiWelt mit Türmen zubaue und die Saatkinder alles weitere, kann ich damit die Feuerwand überwinden? „Selbstverständlich nicht.“ Diesmal klang Deemon hämisch, als wäre es stolz auf einen besonders klugen Winkelzug. „Ich habe es so eingerichtet, dass die Türme der anderen jeweils andere Frequenzen aussenden als deine. Sie nähren allesamt die Macht der Dunkelheit, aber wenn nicht einer von euch gewinnt und die DigiWelt von einer einzigen Sorte Schwarzer Türme beherrscht wird, nützt es nichts.“ Etwas in der Art hatte er sich gedacht. Im Grunde ging es bei dem Spiel darum, eine Resonanzkatastrophe mit den Schwingungen der Türme zu erreichen, die die Grenze zum Raum hinter der Feuerwand durchbrach. Eine Brücke konnte theoretisch einstürzen, wenn ausreichend viele Leute im Gleichschritt darüber marschierten – allerdings musste es ein wirklicher, perfekter Gleichschritt sein, damit die Schwingung so stark wurde, dass irgendwann der Beton brach. Andernfalls würden die verschiedenen Wellenlängen auf störende Weise interferieren und die Brücke würde nicht brechen. Mit der DigiWelt war es also genauso; überall mussten Türme die Signale in denselben Wellenlängen senden, oder Deemon bliebe unerreichbar. Also kann ich mich mit den Saatkindern auch nicht einfach verbünden. Danke für die Gewissheit, Deemon. Noch eine weitere Frage. Was ist mit den Heiligen Steinen? „Ich wusste, dass du sie erwähnen würdest. Auf sie habe ich leider keinen Einfluss. Die heilige Macht in ihnen schützt sie vor mir, ansonsten hätte ich die zerstörten Steine wiederhergestellt, um die Phasen zu stabilisieren. Es gibt nur noch den letzten Heiligen Stein, aber versuch erst gar nicht, ihn zu zerstören. Ich habe ihn an einen weit entfernten Ort geschafft, wo die vier Wächterdigimon ihn beschützen. Die Lichtsaaten, die Azulongmon damals verstreut hat, sind alle auf Server, aber sie sind unangreifbar, solange sie nicht ausgereift sind. Was in unserem Zeitlimit nicht passieren wird.“ Ken nickte. Ich musste diese Möglichkeit bedenken. Deemon schnaubte. „Ich bin beeindruckt, an wie viele Dinge du tatsächlich denkst. Man kommt fast ins Zweifeln, ob du wirklich sechs Jahre lang nicht in der DigiWelt warst.“ Ken war nun wieder guter Stimmung. Du hast gesagt, wir würden es bereuen, dich zum Meer der Dunkelheit geschickt zu haben. Ich sage, du wirst es bereuen, von dort ausgebrochen zu sein und mich als deinen Gegner ausgewählt zu haben! Dafür hatte Deemon nur ein Lachen übrig, aber das hatte Ken erwartet. Deemon würde noch lachen, wenn er es hinter der Feuerwand in Asche verwandelte! Er fühlte die sechs Jahre sehr wohl auf sich liegen. Sie hatten ihn erwachsener, entschlossener, zielgerichteter werden lassen. Und Deemon würde das am eigenen Leib zu spüren bekommen. Vielleicht war es ganz gut, wenn es ihm ständig über die Schulter sah. Dann konnte es auch gleich mitansehen, wie sein Untergang herannahte. Tag 15 Er fand Veemon im hintersten Winkel der Kneipe. Sein Partner hatte wohl wieder ein klein wenig zu tief ins Glas geschaut – nicht tief genug, um keine zusammenhängenden Sätze mehr herauszubringen, aber doch so tief, dass das Schwarzbier ihm zu Kopf gestiegen war. Als Davis sich an den überfüllten Bänken und Tischen vorbeigezwängt und sich dabei wütende Rufe von schmutzigen Veggiemon eingefangen hatte, prahlte Veemon gerade vor drei Floramon und zwei kleinen, fellbedeckten Kapurimon mit seinen Heldentaten. „Und dann bin ich zu Ex-Veemon digitiert, und das Kokatorimon hat so einen Schreck bekommen, dass davongelaufen und über seine eigenen Beine gestolpert ist!“ Die Digimon machten große Augen. „Du kannst digitieren?“, fragte eines ehrfürchtig. „Dann hast du doch sicher einen Menschen-Partner“, meinte ein anderes. „Den besten, den es gibt“, nickte Veemon mit wichtigem Gesichtsausdruck. „Die meiste Arbeit erledige trotzdem ich.“ Es wollte wieder nach seinem Bierkrug greifen, doch Davis war schneller. Er stürzte den Rest des bitteren Gebräus hinunter, während dein Digimon-Partner noch mit großen Augen und ausgestreckter Hand auf die Stelle starrte, wo er eben noch den Krug vermutet hatte. „Genug ausgeruht, du Schwerarbeiter“, sagte Davis grinsend. „Die Pflicht ruft.“ Veemon sah nicht eben glücklich aus. „Oh. Du bist schon zurück.“ „Ich war zwei Stunden fort. Komm jetzt, die anderen haben ein neues Ziel ausgemacht.“ Er holte zwei zerknitterte Dollar-Scheine hervor und bezahlte Veemons Zeche bei dem zufriedenen Digitamamon. Seufzend stemmte sich sein Partner in die Höhe. „Na dann, tut mir leid. Ihr habt’s gehört, es gibt wieder Arbeit für uns.“ Als sie hinausgingen, warfen die Floramon und Kapurimon Veemon bewundernde Blicke hinterher. Davis fragte sich, was es ihnen alles erzählt hatte. He is the chosen one He walked out through the darkness He met the wisdom’s light (Rhapsody of Fire – Unholy Warcry) Kapitel 3: Hoffnung in der Dunkelheit ------------------------------------- Tag 15   Auch wenn es keine gute Idee war, mit ihm zu sprechen, und auch wenn der Aufwand, den er getrieben hatte, um den steinernen Bunker von seinen Airdramon bis hierher in die Steppe nördlich des Mori-Mori-Walds zu tragen, sie misstrauisch machte, hatten sie entschieden, sich wenigstens ein Bild von ihm zu machen. So waren die vier mehr als auf der Hut, als sie den schmutzig braunen Felsquader betraten, dessen stählerne Tür zur Seite glitt, sobald sie sich ihr näherten. Im Inneren herrschte Düsternis. Was wäre auch anderes von einem DigimonKaiser zu erwarten gewesen? Nachdem Frigimon als Letztes mit seinen gemächlichen Schneefüßen der Einladung der Finsternis gefolgt war und das Klacken von Centarumons Hufen auf dem Boden verklang, glitt die Tür mit einem Seufzen zu. Nun erhellte nur noch Meramons flammender Körper den steinernen Raum ein wenig. Leomon spannte seine Muskeln an. Der Raum war klein, aber nicht zu klein. Es könnte hier drin kämpfen. Wenn es hart auf hart kam, konnte es digitieren und seine Kameraden beschützen. Seine Pranke zog sein Schwert aus der Scheide und das scharfe, scharrende Geräusch zerschnitt die Stille. „Wir sind hier“, sagte das Löwendigimon. „Jetzt zeig dich!“ Vor ihnen blitzte Licht auf, dann erschein ein flimmerndes Bild auf der Wand, das einen Menschen mit blauem Umhang und dunklem Haar zeigte. Eine schwere Brille lag auf seiner Nase, dunkel getönt und von Gold eingefasst. „Es freut mich, dass ihr alle meiner Einladung gefolgt seid.“ Seine Stimme drang aus Lautsprechern links und rechts des Bildschirms. „Was soll das?“, fauchte Meramon gereizt. „Du hast den Nerv, uns zu einer Verhandlung herzubeten, und kommst dann nicht mal persönlich?“ Leomon packte seinen Schwertknauf fester. Das hier stank geradezu nach einer Falle. „Es tut mir leid, dass ich nur via Videoübertragung mit euch sprechen kann“, sagte der DigimonKaiser, „aber ich müsste durch die halbe DigiWelt reisen, und dazu fehlt mir im Moment die Zeit.“ „Lass mich raten – weil du deine verfluchten Türme bauen musst?“ Der DigimonKaiser ging nicht auf Meramons Worte ein. „Außerdem seid ihr nicht meine einzigen Gäste.“ Zu ihrer Rechten erwachte ein weiterer Monitor. Die Bildqualität war nicht besonders gut, das Digimon war nur durch einen Grauschleier zu erkennen, aber zweifellos befand es sich auch in einem Videobunker. Andromon drehte mit einer mechanisch anmutenden Bewegung den Kopf in ihre Richtung. „Na, wenn das nicht die alte Blechbüchse aus der Fabrikstadt ist“, griente Meramon. Der Cyborg nickte ihnen zum Gruß zu. „Was willst du von uns?“, fragte Leomon den Kaiser. „Warum hast du uns hier zu dieser Verhandlung zusammengerufen?“ „Nun, ich weiß, dass ihr alle Freunde von der File-Insel seid. Oder zumindest gute Bekannte. Und ihr seid zweifellos mutige Digimon und erfahrene Kämpfer. Veteranen, wenn ihr es so wollt.“ „Veteranen?“ Meramons Augen wurden schmal. „Wie kommst du darauf?“ Der DigimonKaiser schwieg. Seine Augen waren hinter den Brillengläsern nicht zu erkennen, aber Leomon war sich sicher, dass er nachdachte. „Auch wenn ihr euch nicht daran erinnern könnt, ihr habt schon einmal geholfen, die DigiWelt zu … Nein, lasst es mich so ausdrücken: In euch schläft das Potential, die DigiWelt zu retten. Davon bin ich überzeugt.“ „Wirres Gerede“, brummte Meramon. „Bevor wir dieses Gespräch weiterführen“, sagte Centarumon diplomatisch, „solltest du dir darüber im Klaren sein, dass wir dir keinesfalls trauen. Was auch immer du uns vorschlägst, wir werden nicht zustimmen, selbst wenn es uns gefällt.“ „Das habe ich erwartet“, sagte der Mensch. „Allerdings habt ihr freiwillig diesen Videoraum betreten. Wenn ich euch eine Falle stellen wollte, hätten euch meine Häscher aufgelauert, oder Schwarze Ringe. Ich weiß, dass ihr gute Kämpfer seid, aber selbst wenn ich nur einen von euch unter meine Kontrolle gebracht hätte …“ Er ließ den Satz in ihren Gedanken ausklingen. „Dann mach uns deinen Vorschlag“, verlangte Leomon. Der DigimonKaiser nickte. „Wie gesagt, ich halte euch für Digimon, die in der Lage sind, mir zu helfen die DigiWelt zu retten. Daher möchte ich euch bitten, euch mir anzuschließen.“ Meramon brach in schallendes Gelächter aus. „Hast du sie noch alle? Du und die DigiWelt retten?“ Leomon schwieg. Der Mensch hatte noch etwas zu sagen. „Ihr wisst, dass die DigiWelt im Moment von einem Krieg gebeutelt wird. Überall gibt es Menschen, die versuchen, sie zu unterjochen.“ „Und du bist einer davon“, warf ihm Meramon vor. „Ich bin derjenige, der die besten Chancen dafür hat. Schließt euch mir an, und ihr steht auf der Gewinnerseite.“ „Lächerlich!“, sagte Meramon impulsiv. „Ein Mensch kann niemals über die DigiWelt herrschen. Das wäre ja noch schöner! Versuch es mit deinen Schwarzen Ringen, wenn du uns unbedingt in deiner Armee haben willst.“ „Wenn ihr euch mir anschließt, dann aus freien Stücken. Der Großteil meiner Armee hat das getan. Wenn ich die DigiWelt erobere, wird ein Frieden herrschen, den euch keiner der anderen Herrscher liefern kann.“ „Natürlich“, spottete das Flammendigimon. „Wenn ihr mir nicht glaubt, dann wirkt selbst daran mit. Ich mache euch zu meinen Vasallen. Ich werde euch die File-Insel übergeben.“ „Die File-Insel untersteht nicht deiner Kontrolle“, sagte Centarumon. „Sie ist frei und unabhängig. Sie hat mit diesem Krieg nichts zu tun.“ Leomon war sich da nicht so sicher. Gerüchte über Schwarze Zahnräder, die ebenso teuflisch waren wie die Ringe des DigimonKaisers, waren sogar hier im Norden von Server an seine Ohren gedrungen. Es war wirklich an der Zeit, zurückzukehren und nach dem Rechten zu sehen. Sie waren auf Frigimons Bitte hin bereits in die Eisregion gereist. Lakaien des DigimonKaisers hatten das Gebiet dort unsicher gemacht, Schwarze Türme errichtet und etliche Frigimon versklavt. Leomon, Centarumon, Meramon und einige andere Freunde hatten Anhänger hier im Norden gefunden und die Menschen aus diesem Gebiet verjagt. Momentan halfen sie beim Wiederaufbau, und viele der Digimon wollten nach Süden ziehen und auch dort für Ordnung schaffen. „Noch nicht“, sagte der DigimonKaiser. „Das soll keine Drohung sein. Ich brauche die Insel.“ „Du meinst, du brauchst die Stadt des Ewigen Anfangs?“, ließ Andromons blecherne Stimme aus den Lautsprechern rechts vernehmen. „Vor Jahren hat schon einmal ein DigimonKaiser versucht, die DigiWelt zu erobern“, sagte Leomon. „Er hat wie du Schwarze Türme gebaut und den Digimon seinen Willen aufgezwungen. Er hat mithilfe der Macht der Dunkelheit ein schreckliches Ungeheuer auf die DigiWelt losgelassen und sie in Schutt und Asche gelegt. Die Digimon haben nicht vergessen, welche Not und welches Leid dieser Mensch über sie gebracht hat.“ Die Gesichtszüge des Menschen wurden hart. „Ich bin nicht wie er“, behauptete er. „Ein Digimon wie Kimeramon werde ich nicht erschaffen. Ich werde nicht zerstören und nicht versklaven. Ich will diesen Krieg beenden. Dann ist die DigiWelt geeint und kann in Frieden weiterexistieren. Wenn ich das erreicht habe, werde ich abdanken.“ „Was für ein Unfug!“, rief Meramon aus. „Wenn du die DigiWelt beherrschst, warum solltest du deine Macht ablegen? Ihr Menschen seid doch alle gleich.“ „Leomon, du weißt, dass das nicht stimmt. Und du auch, Centarumon. Die DigiRitter sind dazu bestimmt, die DigiWelt zu retten, und ich bin ein DigiRitter.“ Leomon und Centarumon sahen einander an. „DigiRitter? Wenn du die Menschen meinst, wir haben schon viele von ihnen getroffen“, sagte Centarumon, „aber die DigiWelt braucht nicht von ihnen gerettet zu werden. Sie ist die Heimat von uns Digimon.“ Der DigimonKaiser schwieg. Oder war er verblüfft? Sein Mund war halb geöffnet, sein Blick starr. „Als sich damals ein Mensch zum Herrscher der DigiWelt aufschwingen wollte, schuf er Chaos und Verwüstung“, sagte Leomon. „Menschen dürfen die DigiWelt nicht regieren. Das ist unsere Antwort. Wir werden uns dir niemals anschließen – wir werden dich aufhalten. Den letzten DigimonKaiser hat das Legendäre Goldene vernichtet, dich werden wir aus eigener Kraft besiegen.“ Der DigimonKaiser knirschte mit den Zähnen. Er wusste, dass er verloren hatte. „Ist das euer letztes Wort?“ „Nein, das ist unser letztes Wort.“ In Meramons Hand flackerte ein Feuerball auf und mit Inbrunst schleuderte es ihn gegen den Bildschirm. Es zischte und flackerte, der Monitor verzog sich und schmolz, das Gesicht darauf zog sich in die Länge und wurde eine abstruse Fratze, ehe ein Riss es sprengte. „Dann seid ihr also auch meine Feinde“, drang die Stimme des DigimonKaisers aus den Lautsprechern. „Was ist mit dir, Andromon?“ „Ich habe meine Seite bereits gewählt“, sagte das Maschinendigimon schwerfällig. „Auch ich werde dein Feind sein, DigimonKaiser.“ Ein Seufzen. „Dann gibt es nichts mehr zu sagen.“ Zischend öffnete sich die Tür hinter ihnen und Sonnenlicht vertrieb die beklemmende Atmosphäre. Der Bildschirm, der Andromon zeigte, erlosch. Die Verhandlungen waren beendet. „War es klug, ihn so vor den Kopf zu stoßen?“, fragte Frigimon unsicher. „Pah!“, rief Meramon. „Soll er doch wissen, woran er ist. Was für ein Idiot, bildet er sich ein, Digimon wie wir würden uns von einem Menschen rumkommandieren lassen? Ha!“ Als sie den Videobunker verließen, blinzelte Leomon zum Himmel hoch. Wolken zogen sich langsam vor die Sonne.     Einer der Bildschirme im Kontrollraum rauschte in Schwarz und Weiß, nachdem er das Signal verloren hatte. Ken schaltete ihn ab, ebenso die Verbindung zu Andromons Videoraum, und öffnete die Türen der Bunker. Die Digimon hätten sich ohnehin befreit, und ohne Türme in diesem Gebiet wären Ringe wirkungslos. Deemons Stimme zwängte sich zwischen seine Gedanken. „Das hat wohl nicht ganz so funktioniert, wie du gehofft hattest. Dachtest du, die Helden im Kampf gegen die Meister der Dunkelheit würden sich mit jemandem wie dir verschwören?“ Ein tonloses Lachen hallte durch Kens Kopf. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, die Zähne immer noch zusammengebissen. Was für ein Spiel treibst du eigentlich? „Was meinst du?“ Du weißt genau, was ich meine. In der ausgegrauten Dunkelheit des Kontrollraums konnte Ken Deemons flackernden Schatten in einer Ecke ausmachen. Sie haben die DigiRitter vergessen? Aber sie kennen andere Menschen? Sag mir nicht, das da waren nicht die Digimon von der File-Insel! „Das waren sie. Du hast gute Arbeit geleistet, sie ausfindig zu machen. Doch du vergisst, dass ich die Macht über Raum und Zeit in der DigiWelt habe, und somit über Information, ihren Hauptbestandteil. Die Erinnerung der DigiWelt ist eine Ansammlung an Daten, eine riesige Datenmenge, die jemand mit genügend Zeit und Macht manipulieren kann. Der Schlüssel hat mir beides gewährt.“ Ken konnte – er wollte – es nicht glauben. Du hast die Erinnerung der DigiWelt umgeschrieben?, fragte er entsetzt. Er hatte gedacht, Deemon hätte nur die Macht, die Menschen, die es von außerhalb auf das Spielfeld geworfen hatte, beeinflussen zu können. „Nur eine kleine Sonderregel, Ken. Es hat niemals DigiRitter gegeben. Kein Digimon in dieser Welt wird in irgendeinem Menschen einen Retter oder Helfer sehen, nur weil er ein Mensch ist.“ Aber es hat mich gegeben. „So ist es. Der DigimonKaiser, mit anderen Worten, du, hat einst versucht die DigiWelt zu erobern. Ursprünglich nur mit der Saat der Finsternis ausgestattet, borgte er sich die vollendete Macht der Dunkelheit aus dem Dunklen Strudel und erschuf Kimeramon, den damaligen Schrecken dieser Welt.“ Ken knirschte mit den Zähnen. Das sah Deemon ähnlich. Alle guten Erinnerungen an Menschen war getilgt worden – nur er, der Verbrecher, der DigimonKaiser, und das von ihm erschaffene Untier, an sie beide erinnerten sich alle nur zu gut. Wenn es keine DigiRitter gegeben hat, wie konnte ich dann besiegt werden? „Ein legendäres Digimon tauchte auf, eins mit der Morgensonne, besiegte Kimeramon und beendete die Herrschaft des DigimonKaisers. Dann verschwand es. Niemand weiß, woher es kam oder wohin es ging.“ Magnamon. Du drehst es dir, wie es dir passt, zischte Ken in Gedanken. Deemon lachte. „Natürlich. Wenn du es zu einfach hättest, wäre dieses Spiel unausgewogen, nicht wahr, Ken?“ Ken ballte die Fäuste, dass seine Handschuhe knirschten. Er war aufgesprungen und ging im Raum umher, ehe er sich auf die Lehne seines Drehstuhls stützte. Wormmon beobachtete ihn besorgt. Es hatte alles mitverfolgt, doch da es wusste, dass er mit Deemon sprach, schwieg es. Dann zuckten Kens Mundwinkel leise, als er das Gespräch in seiner Gedankenwelt wieder aufnahm. Na gut. Danke, dass du mich darüber aufgeklärt hast. Ich habe sowieso wenig Hoffnung gehabt, dass sich Leomon mir anschließt. Jetzt weiß ich wenigstens ein wenig mehr über deine verrückten Regeln. Deemon schwieg, es schien zu spüren, dass Ken eine Überraschung für es hatte. Sein Schatten flackerte unstet, neugierig. Ken sammelte sich in Gedanken. Aber bei alledem hast du einen Fehler gemacht. Du hast die Erinnerung der DigiWelt umgeschrieben, aber ich weiß noch genau, was damals alles passiert ist. „Das hat keine Bedeutung.“ O doch. Ich bin jetzt vielleicht der einzige, der wichtige Geheimnisse kennt. Das Was-wäre-wenn dieser DigiWelt. Du hast vielleicht die Erinnerung von allen anderen gelöscht, aber ich kann trotzdem benutzen, was Izzy mir von ihren Abenteuern erzählt hat. Ich zeige es dir. Er ging wieder zu dem Pult mit den Bildschirmen. Seit seinem Gespräch mit Leomon und den anderen waren nur ein paar Sekunden vergangen. Er drückte auf einen Knopf und ein dritter Bildschirm leuchtete auf, als die Verbindung zu einem weiteren Videobunker hergestellt wurde. In der Düsternis wurde die Gestalt eines grünen, hässlichen Digimons sichtbar. „Hast du alles mitansehen können, Ogremon?“ Das Oger-Digimon hob den Kopf. „Klar. Die haben dich ja ganz schön abblitzen lassen“, gackerte es schadenfroh. „Das gute Meramon war schon immer ein Heißsporn.“ „Sie haben mein Angebot ausgeschlagen. Ich stelle dir dasselbe. Was sagst du?“ „Hm …“ Ogremon kratzte sich an der Backe. Nicht einmal, wenn es sprach, konnte es seinen Mund ganz schließen, das verhinderten seine schiefen Hauer. Ken half ihm auf die Sprünge. „Leomon hat mir mit seinen letzten Worten den Krieg erklärt. Zweifellos werde ich ihm auf dem Schlachtfeld begegnen. Ich weiß, dass ihr beide eine ewig währende Rivalität pflegt. Wenn du in meine Armee eintrittst, wirst du früher oder später gegen es kämpfen. Auf jeden Fall früher, als wenn du es selbst suchst. Und es hätte einen Grund, sich mit dir zu duellieren. Was sagst du?“ Ogremon überlegte noch kurz, dann lachte es. „Verdammt nochmal, als ob es mich interessiert, in wessen Armee ich kämpfe! Wenn Leomon gegen dich ist, bin ich für dich. Ganz einfach. Mach mir das Ganze noch ein bisschen schmackhaft, und ich bin dabei.“ Ken nickte. Genau das hatte er erwartet, und genau das war letztendlich auch das Ziel dieser Verhandlungen. Es ging um Ogremon, auf niemanden sonst hatte er gehofft. Ein williger Streiter mehr – und auch das war ein Veteran, der Tai und den anderen einst sehr geholfen hatte. Auch wenn er sich ein wenig unwohl dabei fühlte, dieses grüne, streitsüchtige Ungeheuer in seine Reihen aufzunehmen – er hatte das Wissen, dass in Ogremon ein guter Kern steckte. „Sehr gut“, sagte er daher. „Du sollst natürlich nicht umsonst für mich kämpfen. Du bekommst ein Stück Land, wenn du willst, Diener und Untergebene.“ „Behalte dein Land“, knurrte Ogremon. „Was soll ich damit? Aber gegen ein paar Speichellecker hab ich nichts. Und es muss genug zu essen und zu trinken geben.“ Ken lächelte. Ogremons Ansprüche waren geradezu banal. Ihm war eben noch eine weitere Idee gekommen. „In Ordnung. Und da du ja ein ehrbarer Krieger bist, werde ich dich zu meinem ersten Ritter machen.“ Wenn Deemon die DigiRitter aus der Geschichte der DigiWelt getilgt hat, ernenne ich einfach meine eigenen Ritter. Ogremon glotzte ihn verständnislos an. „Hä?“ „Das ist die höchste Ehre, die sich ein Krieger meines Imperiums erwarten darf“, erklärte Ken. „Nur die besten und treuesten Digimon werde ich zu meinen Rittern machen.“ „Ach so ist das, hehe“, machte Ogremon erfreut. „Will ich doch hoffen, dass ich sowas werde.“ Ken nickte. „Dann bist du ab heute Sir Ogremon der Feldritter, der erste Ritter meines Kaiserreichs. Sir ist eine Bezeichnung für Ritter in der Welt, aus der ich komme.“ Ogremon stampfte auf und schlug sich die Faust vor die Brust. „Dann bist du wohl jetzt mein Kaiser, was? Na, ob ich mich da dran gewöhnen kann …“ „Mach dich sofort auf den Weg in die Kaiserwüste“, befahl Ken unumwunden. „Sobald du hier bist, erteile ich dir deinen ersten Auftrag.“ Ehe er die Verbindung unterbrach, sah er, wie Ogremon sich grinsend erneut an die Brust patschte. „Sir Ogremon?“, fragte Deemon belustigt in Kens Gedanken. „Ich kenne die Sprachen und Geschichten deiner Welt. Willst du dir eine Tafelrunde zusammenbauen?“ Vielleicht. Bereitet dir etwas Sorgen, Deemon?, fragte Ken kühl. Deemon lachte. „Im Gegenteil. Du hast mich überrascht. Ich bin sehr gespannt, ob du mich ausreichend unterhalten kannst, damit mir die Zeit bis zu meiner Wiedergeburt nicht zu langwierig wird.“ „Können wir ihm denn trauen, Ken?“, drang Wormmons dünnes Stimmchen an seine Ohren. Er erschrak; beinahe hätte er vergessen, dass es auch da war. „Wahrscheinlich nicht. Aber vermutlich mehr als allen anderen hier.“ Wormmon krabbelte zu ihm. „Warum bist du dir da so sicher?“ Ken schwieg. Izzy hatte erzählt, dass Mimi und Joe Ogremon einst das Leben gerettet hatten. Fortan hatte es mit ihnen gegen die Meister der Dunkelheit gekämpft – doch das musste nicht unbedingt ein Beweis seines guten Herzens sein. So sagte er nur: „Ich habe es auf einem Foto gesehen, mit Tai und den anderen, in der wiedererstandenen Stadt des Ewigen Anfangs.“ Er bückte sich, um Wormmons Kopf zu streicheln. „Mach dir keine Sorgen. Ich lasse es nicht zu nahe an uns ran. Ich werde es ein wenig beobachten, bevor ich mit ihm spreche, dann weiß ich, wie es sich in unserer Festung benimmt. Wenn es ankommt, sind wir sowieso nicht hier.“ „Wieso? Wohin gehen wir denn?“ Kens Lächeln wurde verschlagen. „Wir holen uns die Stadt des Ewigen Anfangs.“     Allein die Existenz der Öllampe bewies, dass irgendjemand einmal hier gewesen sein musste. Die Lampe war fremder Machart, das Design verworren und komplex, aber die Hauptsache war, sie spendete Licht. Licht, aber auch Schatten, dachte T.K, als er, das Buch in der einen und die Lampe in der anderen Hand, die Bibliothek verließ. Am Meer der Dunkelheit herrschte ewig graues Dämmerlicht, erst diese Lampe ließ die Dinge wuselnde Schatten werfen. Die Bibliothek hatten sie in einem Untergeschoss des Schwarzen Leuchtturms entdeckt. Sie war ein runder Raum mit gewölbter Decke und verdiente diese Bezeichnung im Grunde gar nicht. Halb zerfallene Bücher lagen auf zwei halb verrotteten Holzregalen herum, achtlos im Staub liegen gelassen. Ein roher Tisch und ein altersschwacher Stuhl dienten als Leseunterlage. Für T.K. war es ein weiterer Beweis, dass hier einmal jemand für längere Zeit gelebt haben musste. Auf seinem Weg nach oben hörte er den Radau an der Tür, die auf die Landzunge hinausführte. Jemand pochte träge, aber bestimmt gegen die morschen Holzdielen. Unangenehm überrascht sah T.K, dass Patamon und Gatomon digitiert waren. So standen zwei Engel vor der Tür, bereit einzugreifen, sollten die Wesen da draußen die Tür einbrechen. „Sie wollen nicht weggehen, T.K.“, sagte Angemon, als es ihn sah. T.K. straffte die Schultern, eilte an ihnen vorbei und öffnete vorsichtig. Im grauen, nebligen Zwielicht vor dem Leuchtturm hatten sich gut drei Dutzend Schattenwesen zusammengerottet. Als ihm die salzige, leicht modrige Meeresluft entgegenschlug, erstarrten sie und starrten ihn aus ihren unheimlichen, klaren Augen an. „Was soll dieser Lärm?“, fragte T.K. scharf. „Solltet ihr nicht trainieren?“ Eine Weile schwiegen die Wesen, ehe das vorderste sich selbst zum Sprecher ernannte. „Wir wollen wissen, wann die Verbindung endlich vollendet ist.“ Das machte T.K. zornig. „Die Verbindung wird vollendet, wenn die Königin und ihr Gemahl das für richtig halten“, fuhr er den Schatten an. „Bis dahin übt ihr euch gefälligst in Geduld. Und in Kriegskunst.“ „Es wird lange dauern, ehe wir genügend Nachkommen haben, um unsere Art zu sichern“, erklärte das Wesen unbeeindruckt mit seiner schleppenden, brechenden Stimme. „Kari ist nicht eure Brutmaschine“, knurrte T.K. gereizt. „Wenn ihr euch solche Sorgen macht, dann tut besser, was ich sage, damit ihr den Wunsch der Königin so schnell wie möglich erfüllen könnt.“ Damit warf er die Tür zu und hoffte, die Sache wäre erledigt. Elende Biester, Kari leidet schon so genug. „Passt auf, dass sie hier nicht reinkommen“, sagte er überflüssigerweise zu den Engeldigimon. „Was sollen wir tun, wenn sie die Tür aufbrechen?“, fragte Angemon. T.K. zuckte die Achseln. „Ach, was weiß ich. Werft sie einfach wieder raus.“ Es war das Meer, da war er sich sicher. Das Rauschen dieser Finsternis schlug ihm aufs Gemüt. Seine Schritte klangen aggressiv auf den Steinstufen, als er die gewundene Treppe hinaufstieg. Es gab einige Räume im Inneren des Leuchtturms, um die sich die Treppe wie eine Schlange wand, die meisten davon standen leer. Als er endlich oben angekommen war, schmerzten seine Waden von dem raschen Aufstieg. T.K. löschte die Lampe und öffnete die Tür zur Lichtkammer. Hinter dem zwei Meter hohen Podest, auf dem das seltsame schwarze Licht ruhte, dessen Impulse der Leuchtturm regelmäßig in alle Richtungen verstreute, lag Kari auf einer groben Holzliege, die sie mit Decken gepolstert hatten. Es war eine gute Idee gewesen, ein paar Gebrauchsgegenstände aus der Menschenwelt mitzunehmen, denn am Meer der Dunkelheit gab es nichts außer schwarzem Wasser, etwas modrigem Holz und grauem Fels. T.K.s Miene verfinsterte sich weiter, als er Karis Gemahl sah, der auf dem Boden hockte und allem Anschein nach ihre Füße massierte. Die Schattenwesen hatten keine Namen, und wegen seines Aussehens nannte T.K. ihn kurzerhand Klecks. Kari war damit einverstanden, und Klecks schien es nicht zu kümmern. Kari hatte die Augen geschlossen gehabt und öffnete sie nun, um T.K. erwartungsvoll anzusehen. „Kann ich mit dir reden?“, brummte er. Ohne ein Wort stand Klecks auf und schlurfte an T.K. vorbei aus dem Raum. Seine gebeugte Haltung verlieh ihm zusätzlich etwas Demütiges, man hatte gar nicht den Eindruck, den neu gewählten König der Schattenwesen vor sich zu haben, viel eher einen Diener der Königin. T.K. war das nur recht so. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, ging er zu Kari, die sich auf ihrer Liege aufsetzte. „Was gibt es?“ „Ich mag es nicht, wenn er dich anfasst“, murmelte T.K. „Reg dich ab, er hat meine Füße massiert, weil ich müde war“, beschwichtigte ihn Kari. „Und es war angenehm. Er ist sehr freundlich.“ „Trotzdem.“ Klecks hatte Kari bisher nicht angerührt. Wenn die beiden Menschen wach waren, trieb er sich oft im Leuchtturm herum wie ein stiller Schatten, schlief selbst aber die meiste Zeit bei seinen Artgenossen im Wasser – oder wo auch immer Schattenwesen schliefen. Dennoch wäre es T.K. am liebsten gewesen, sie bekämen ihn gar nicht zu Gesicht. Er setzte sich neben Kari auf die Liege und legte das Buch in seinen Schoß. Die Lampe stellte er auf dem Boden ab, wo ein verwirrter schwarzer Lichtstrahl von dem polierten, messingartigen Material reflektiert wurde. Die Lichtkammer des Leuchtturms hatte die Form einer Kuppel und bestand aus schief ineinander verzahntem Gestein und morscher Holzverkleidung. Außer dem Podest mit der Lichtkugel und der Liege gab es nichts in dem Raum. Durch die breiten, rechteckigen Fenster konnte man das stete Rauschen des Meeres hören. Damals, zu Zeiten des DigimonKaisers, war im Inneren des Turms auch ein Schwarzer Turm gestanden, das Original, nach dessen Vorlage Ken die anderen Türme gebaut hatte. Als Kari und T.K. schon einmal am Meer der Dunkelheit gewesen waren, hatten sie ihn zerstört, da auch er die Macht des DigimonKaisers verbreitet hatte. Umso merkwürdiger hatten sie es gefunden, dass der Leuchtturm nun wieder völlig intakt und sein schwarzer Kern verschwunden war. „Hast du was gefunden?“, fragte Kari. Sie sah gar nicht gut aus, fand T.K. Ihr Gesicht war blass, und das lag nicht an dem negativen Licht. Die Dunkelheit machte ihr zu schaffen, ein schleichendes Gift, das ihr Herz und Licht zur Erschöpfung trieb. „Vielleicht“, sagte T.K. und schlug das Buch auf. „Ich hab mein DigiVice ins Wasser gehalten, aber es hat sich nicht verwandelt wie Kens damals, und es ist auch nicht schwarz geworden.“ Ken hatte mit seinem schwarzen DigiVice, dem ersten der D3-Generation, ein Tor zum Meer der Dunkelheit und zurück öffnen können. Wie es aussah, stand ihnen diese Option nicht offen. „Aber ich habe mir diese Bücher genauer angesehen.“ Er hielt inne, als er eine bestimmte Seite gefunden hatte. Kari lehnte sich ein wenig an seine Schulter, um besser sehen zu können. „Irgendjemand hat sie vor langer Zeit geschrieben, das steht fest. Vielleicht war es ein Mensch oder ein Digimon. Oder etwas ganz anderes.“ Von den Schattenwesen konnte kein einziges lesen oder schreiben, und dass Deemon oder Dragomon diese Bücher verfasst hatten, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. „Die Sprache in den meisten ist ganz eigenartig, und die Schriftzeichen kenne ich auch nicht. Aber ein paar der Bücher hat jemand auf Englisch übersetzt. Ich hab die Übersetzungen genauer studiert und weiß jetzt ungefähr, was in dieser Sprache welche Bedeutung hat. Das Buch hier scheint ein Sammelwerk zu sein. Jetzt, wo ich es einigermaßen verstehe, finde ich es sehr informativ.“ „Wahnsinn, du bist ein Genie, T.K.“, sagte Kari bewundernd. Er winkte ab. „Nicht der Rede wert. Es hat ewig gedauert. Wir könnten schon längst in der DigiWelt sein, wenn ich den Bogen schneller heraus gehabt hätte.“ „Mach dir keinen Kopf. Was steht drin?“ „Jemand hat einen Haufen Berichte über das Meer der Dunkelheit zusammengetragen. Wer immer hier einmal gelebt hat, hat es ziemlich genau erforscht. Allerdings sind sie zum gleichen Schluss gekommen wie wir. Das Meer der Dunkelheit ist einfach nur ein unendlich langer Strand mit einem unendlich großen Meer. Viel gibt es nicht, das sich zu erforschen lohnt.“ „Aber du hast etwas gefunden.“ T.K. nickte. „Hier auf dieser Seite wird ein Schlüssel erwähnt, der irgendwo im Meer ruht, weit von hier entfernt, so wie ich das verstanden habe.“ „Ein Schlüssel?“ „Angeblich kann man mit diesem Schlüssel das Meer der Dunkelheit verlassen.“ T.K. tippte auf einen Absatz der grauenhaft kleinen und so gut wie unentzifferbaren Schrift. „Allerdings hat man dabei recht düstere Aussichten. Das Tor, das der Schlüssel öffnet, führt in die Hölle. Oder auch einfach nur in den Tod. Da bin ich mir bei der Übersetzung nicht ganz sicher, es könnte auch Feuersbrunst oder etwas Ähnliches heißen.“ „Hm“, machte Kari nachdenklich. „Und glaubst du, dieser Schlüssel existiert?“ „Gute Frage“, seufzte T.K. und fuhr mit den Fingernägeln über das vergilbte, knisternde Papier. „Ich denke mir, warum sollte jemand, der das Meer der Dunkelheit erforscht, über einen Schlüssel schreiben, wenn er ihn nicht gefunden und einmal ausprobiert hat?“ Es war eine trügerische Hoffnung, das wusste er. Aber darin war er gut. Hoffnung in der Dunkelheit zu finden. „Deemon ist nicht mehr hier, das ist klar. Und mit diesem Schlüssel kann man das Meer verlassen, ohne DigiVice und ohne die Mithilfe der Schattenwesen. Es könnte doch sein, dass es ihn gefunden und benutzt hat.“ Vor fünf Jahren war Kari von den Schattenwesen ans Meer der Dunkelheit gerufen worden, die nach einem Licht gegriffen hatten, als die Finsternis aus einer anderen Welt auf sie übergeschwappt war. Es war ein Hilferuf gewesen, dem Karis Herz gefolgt war, aber kein Ruf aus jedweder Welt konnte sie wieder von hier fortbringen. Vielleicht war dieser Schlüssel tatsächlich das einzige Mittel, um von der Dunkelheit freizukommen. „Ich glaube, Deemon ist wieder in der DigiWelt“, sagte Kari. Sie zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen, bettete ihr Kinn auf ihre Knie. „Diese Träume … Ich habe sie sicher nicht zufällig. Irgendetwas Schreckliches geht da vor, irgendwas ist total aus dem Gleichgewicht geraten, das spüre ich ganz deutlich.“ Schaudernd erinnerte sich T.K. an den ersten Traum, den sie ihm erzählt hatte. An diese merkwürdige, blecherne Stimme, die sie verlacht hatte. „Was hast du hier verloren?“, hatte sie gekrächzt. „Verschwindet aus meiner Welt!“ „Das ist nicht deine Welt“, hatte Kari geantwortet. Die körperlose Stimme hatte gelacht. „Sie wird es bald sein.“ Kurz hatte Kari sich wie von einem schwarzen Mantel bedeckt gefühlt, hatte sie erzählt. Auch T.K. war in dem Traum vorgekommen. Er war mutig neben sie getreten. „Das werden wir verhindern. Wir sind die DigiRitter. Unsere Digimon werden digitieren und dich aufhalten, wer immer du bist!“ MagnaAngemon und Angewomon waren hinter ihnen erschienen und hatten die Schwärze zurückgedrängt. Eine verwüstete DigiWelt war darunter zum Vorschein gekommen. Auch für seine Worte hatte die Stimme nur ein Lachen übrig gehabt. „Denkt ihr, es geht nur um mich? Ich werde lediglich der Sieger sein. Ihr wollt ein Stück vom Kuchen haben? Dann braucht ihr schon mehr als zwei solche jämmerlichen Digimon, viel mehr. Mein Heer zählt jetzt schon mehrere hundert Soldaten. Kommt wieder, wenn ihr es wert seid, meine Zeit zu verschwenden!“ Der Traum war noch weitergegangen, doch Kari hatte T.K. bislang nicht davon erzählen wollen. Er war sich jedoch sicher, dass es um ihre Freunde gegangen war. „Dann sollten wir diesen Schlüssel suchen und Deemon aufhalten“, beschloss T.K. „Wenn Deemon wirklich wieder frei ist, haben wir ein Riesenproblem. Es kann Tore in die Menschenwelt öffnen, weißt du noch?“ „Aber wenn Deemon den Schlüssel gefunden hat und in die DigiWelt gereist ist, wieso sollte es ihn dann nicht einfach mitgenommen haben?“ „Warum hat ihn nicht der Erste, der ihn ausprobiert hat, mitgenommen?“ T.K. deutete wieder auf den Absatz. „Vielleicht ist Schlüssel nur eine Metapher. Zu jedem Ding hier in diesem Buch gibt es Zeichnungen.“ Da waren Illustrationen vom Leuchtturm, von einem gewissen, ungewöhnlichen Felsen im Wasser, dem der Autor sogar einen Namen gegeben hatte, von der Höhle am Strand, von dem Zaun, der auf der Böschung stand … „Nur von diesem Schlüssel nicht. Schau, hier hat man sogar Platz freigelassen.“ Der Text, der von ihm handelte, schmiegte sich um ein leeres Rechteck, als hätte man nicht gewusst, was man zeichnen sollte. „Im Ursprungstext gibt es gar keine Bilder. Derjenige, der das Sammelwerk verfasst hat, hat die einzelnen Sachen nachgeprüft und abgezeichnet.“ „Aber den Schlüssel konnte er nicht finden“, murmelte Kari. „Oder er konnte ihn einfach nicht zeichnerisch festhalten, verstehst du? Offenbar glaubte er, dass es ihn gibt. Und das war, bevor Deemon hierher kam. Also gibt es keine Garantie, dass es wirklich ein Schlüssel ist.“ Keine Garantie, dass er existiert. Das zu sagen, brachte er nicht über sich. „Es könnte einfach ein Mechanismus sein oder gleich ein Weltentor. Etwas wie das Tor in Myotismons Schloss. Dann kann man es nicht einfach mitnehmen. Wenn wir Glück haben, ist dieser Schlüssel immer noch an Ort und Stelle.“ T.K. merkte, dass Kari nicht mehr zuhörte. Sie hatte sich noch mehr zusammengekauert und wirkte noch unglücklicher als vorher. „Das ist doch aussichtslos“, murmelte sie. „Wie sollen wir etwas im Meer finden, von dem wir nicht mal wissen, wie es aussieht?“ Seufzend sah sie ins Leere. „Tai würde vielleicht wissen, was zu tun ist. Ich vermisse ihn.“ Ihr Blick war immer noch in die Ferne gerichtet, als sie ihm in die Augen sah. „Ich habe es im Traum gesehen, T.K.“, hauchte sie. „Es macht mir Angst. Tai … er war da, aber er hat mich nicht erkannt. Und Davis … Davis hat ihn getötet.“   Now, that darkness has arrived And the moon is only light I’m crossing the line To the land, which soon is mine (Celesty – The Charge) Kapitel 4: Dreschflegel ----------------------- Tag 18   „DigimonKaiser, Ihr werdet dringend auf der Brücke gebraucht. Ein Angriff auf eine unserer Stellungen“, tönte die schabende Stimme eines Hagurumons aus Kens Connector. Das kleine Gerät, das er um sein linkes Handgelenk geschlossen hatte, war ungemein praktisch und vom Prinzip und der Bauweise her einfach genug gewesen, um es auch ohne den Intelligenzschub, den ihm einst die Saat der Finsternis verliehen hatte, zusammenschrauben zu können. Ken verließ die Galerie im unteren Hangar, wo er die Vorbereitungen zur Invasion der File-Insel überwacht hatte. Die Pteramon wurden eben frisch getankt und das schwarze Granulat, aus dem er seine Türme baute, wurde in Kisten zusammengetragen. Wormmon, das auf seiner Schulter saß, fragte, als sie auf dem Weg zur Kommandobrücke waren: „Meinst du, sind das schon Leomon und die anderen?“ „Wir werden es gleich sehen.“ Vorstellen konnte er es sich allerdings nicht; dafür fand der Angriff zu bald nach ihrem Gespräch statt. Leomon und seine Gefährten konnten noch nicht weit vom Mori-Mori-Wald sein, und Andromons Videobunker hatte er südlich der Hitzestraße niedergelassen. Mit wehendem Umhang erreichte er die Kommandobrücke im oberen Teil der Festung, wo freiwillige Hagurumon die Aktivitäten der Schwarzring-Digimon koordinierten, die Signale der Schwarzen Türme beobachteten und die Radargeräte und Sensoren überwachten. „Was ist los?“ „Feindbewegung in Sektor S, Koordinaten sind auf dem Notschirm“, berichtete eines der zahnradartigen Digimon. Ken runzelte die Stirn. „Der Bohrturm?“ Er tippte auf das interaktive Hologramm einer Tastatur, das vor ihm erschien, und verlinkte einige der zahllosen Bildschirme auf der Brücke mit den Überwachungsmechanismen des Bohrturms. Ein kahles, wüstes Land wurde sichtbar, auf der anderen Seite glitzerndes, träumerisches Meer. Über der Felsebene im Westen war eine Staubwolke sichtbar. Ken ließ die Kameras näherzoomen, bis er einzelne Digimon ausmachen konnte. Erst dachte er, Wormmon hätte recht und Leomons Kameraden würden ihn angreifen, aber nicht nur ein einzelnes, sondern gleich eine ganze Horde Centarumon kam dem Ölbohrturm entgegen geritten. An beiden Flanken trampelten Sagittarimon, mindestens ein halbes Dutzend; gepanzerte Zentauren, deren Rüstungsteile ihn an Veemons beide Armor-Formen, Flamedramon und Raidramon, erinnerten. In den Händen hielten die Sagittarimon wuchtige Langbögen, an den menschlichen Hüften trugen sie neben einem Köcher mit Pfeilen an langen Stangen befestigte Banner, die eine schwarze Rosenblüte auf weißem Feld zeigten. Weiter hinten, vom Staub verschluckt, schien sich noch etwas Großes zu bewegen. Alles in allem waren es wohl an die sechzig Digimon, die er ausmachen konnte. „Die Schwarze Rose?“, murmelte Ken. „Was machen die denn hier? Die müssen den halben Kontinent durchquert haben, um zum Bohrturm zu kommen.“ Das war übertrieben, dennoch war es eine weite Strecke von der Felsenklaue bis an den Net Ocean. „Es scheint sich um ihre Kavallerie zu handeln“, sagte eines der Hagurumon. „Offensichtlich. Können wir sicher sein, dass sie den Ölbohrturm angreifen wollen?“ „Sie halten genau darauf zu. Sie haben nur ihre Banner gehisst, keine weißen Flaggen.“ Und das ausgerechnet jetzt, wo ich mich um die File-Insel kümmern will … „Was sollen wir machen, Ken?“, piepste Wormmon unbehaglich. Die vordersten Centarumon hoben ihre Hände im vollen Galopp. Die Solarstrahler in ihren Handschuhen leuchteten auf, und ein Hagel aus gelben Energiebällen ging auf den Bohrturm nieder. Zwei der Kameras wurden sofort getroffen und vernichtet, die Bildschirme erstarben. Auf den anderen sah man, wie die Tankmon aus dem Turm mit dem Gegenfeuer begannen. Die Kavallerie änderte die Richtung, galoppierte in weitem Bogen um den Bohrturm, um ihm nicht zu nahe zu kommen und ihn dennoch von der Breitseite der Trupps in Beschuss nehmen zu können. Die Sagittarimon schossen mit Pfeil und Bogen auf die verteidigenden Maschinendigimon, die sich ihnen entgegenstellten. Ken meinte das Kreischen des Metalls zu hören, das davon zerfetzt wurde. Die Kavallerie steckte kaum Verluste ein, doch seine eigenen Digimon standen still und waren ein leichtes Ziel. „Berechnungen haben ergeben, dass unsere Garnison im Bohrturm die Stellung gegen einen derartigen Angriff nicht halten kann“, berichtete ein Hagurumon. Etwa vier Dutzend Maschinendigimon besetzten den Bohrturm und pumpten das Öl aus der Tiefe; Mekanorimon und Guardromon und einige Tankmon zur Verteidigung, kein einziges Schwarzring-Digimon. Ken hatte einen Angriff auf den Bohrturm nicht erwartet; die umliegenden Gebiete gehörten ihm, nur im Westen grenzte das Gekomon-Shogunat daran, und das hatte bisher kein einziges Mal angegriffen, sondern sich nur verteidigt. „Was machen diese Digimon hier? Was bringt es der Schwarzen Rose, wenn sie den Ölbohrturm einnimmt?“ Deemons Stimme drängte sich in seinen Kopf. Das Digimon klang hämisch. „Na, bereust du es nun, MarineDevimon in den Strudel geworfen zu haben, Ken? Es wäre in der Lage gewesen, diese Truppe ganz allein auszulöschen.“ Ken bemühte sich, es auszublenden. „Gebt Befehl an alle Digimon im Bohrturm, sich sofort hierher zurückzuziehen. Wir geben den Turm auf.“ „Aber Ken“, murmelte Wormmon, während die Hagurumon die Befehle an den Hauptcomputer im Bohrturm sendeten, „sie sind sicher nicht schnell genug, um der Kavallerie der Rose zu entkommen …“ Das stimmte. Ken biss sich auf die Unterlippe. Die Mekanorimon konnten fliegen, die Guardromon ebenfalls, aber die Kavallerie bestand aus Fernkämpfern und war ebenfalls sehr schnell. Von den schwerfälligen Tankmon gar nicht zu reden … „Die Tankmon sollen den Rückzug decken. Alle anderen sollen fliehen und sich nötigenfalls so gut wehren, wie es geht.“ „Dann werden wir große Verluste einstecken, DigimonKaiser“, warnte Hagurumon. „Es geht nicht anders. Wir werden die Stadt des Ewigen Anfangs einnehmen, dann kehren sie wieder als DigiEier zurück.“ Gleichzeitig wusste er, was für eine schreckliche Ausrede das war. Die Stadt des Ewigen Anfangs vorzuschützen, um damit das Leiden und Sterben seiner freiwilligen Anhänger zu entschuldigen, war eine billige, grausame Ausflucht. Er hätte mehr Truppen dort stationieren müssen! In einem Winkel seines Verstands hörte er Deemon heiser lachen. Wormmon bemerkte seine zitternden Fäuste und berührte ihn sanft am Knöchel. „Ken, es ist besser so.“ Ken schwieg, während der Kampf tobte. Die Tankmon waren längst pulverisiert, die anderen Digimon versuchten über das Meer zu fliegen und von dort aus dem angreifenden Digimon-Mob zu entkommen. Die Reichweite der Sagittarimon war jedoch trügerisch: Selbst weit über der spiegelnden Oberfläche des Net Oceans verfolgten ihre Pfeile die Mekanorimon und Guardromon, die mit ihren Jetpacks flohen. Die meisten Kameras waren bereits defekt, und Ken konnte nur anhand der Erschütterung der anderen Bilder sehen, dass etwas Großes, Massiges gegen den Bohrturm krachte, dann verloren sie den Kontakt. Kurz darauf erstarb auch das Signal des Schwarzen Turms, den er in Küstennähe errichtet hatte. „Erfolgreicher Rückzug von vierzehn Digimon bestätigt“, berichtete Hagurumon. „Neun Mekanorimon, fünf Guardromon. „Verluste und verlorene Signale insgesamt bei sechsunddreißig.“ Ken atmete tief die Luft aus. So viele Digimon waren gestorben … wieder einmal wegen ihm. Nein, so darf ich nicht denken. Ich habe so viele gerettet, wie möglich war. Der Angriff kam unerwartet. Und ich kann dieses Spiel nicht ohne Opfer gewinnen. Und genau das bereitete ihm Sorgen. Er war zu leichtsinnig gewesen, hatte die Opfer viel zu schnell in Kauf genommen. Und er dachte bereits erneut von diesem Krieg als einem Spiel … Zärtlich hob er Wormmon hoch, während die Hagurumon die Flugroute der geretteten Maschinen nachverfolgten. „Wormmon“, flüsterte er müde. „Wenn ich zu sehr wie mein altes Ich werde … Greif mich bitte wieder an, so wie damals. Ich verspreche dir, diesmal werde ich schneller zu Vernunft kommen.“ Wormmon vergrub traurig sein Köpfchen in Kens Brust. „Was sollen wir wegen dem Bohrturm unternehmen, DigimonKaiser?“, fragte ein Hagurumon. Ken atmete tief durch, sah Wormmon noch einmal beschwörend in die Augen und straffte die Schultern, ehe er sich wieder umdrehte und entschlossen verkündete: „Nichts. Ich hatte das Öl als Kraftstoff für die Maschinendigimon gedacht, aber im Moment haben wir nur wenige davon. Erst wenn wir die Stadt des Ewigen Anfangs haben und genügend Maschinen unsere Reihen füllen, wird er für uns wichtig sein. Außerdem kann die Schwarze Rose noch weniger damit anfangen als wir. Ihre Hauptstreitmacht und ihr gesamtes Land befinden sich weit weg, im Süden. Die Kavallerie ist nicht dafür geschaffen, eine Stellung zu verteidigen. Sie wird den Bohrturm entweder aufgeben oder sich selbst ihren größten Vorteil nehmen bei dem Versuch, ihn zu halten. Und dazu sind sie jetzt von jedem Nachschub abgeschlossen.“ Er wandte sich einem bestimmten Hagurumon zu. „Sorg dafür, dass unsere Flotte die Küste überwacht. Ich wünsche eine Blockade, falls die Schwarze Rose Seeeinheiten entsenden will, um den Turm zu verstärken.“ Während sich das Hagurumon um die Koordination kümmerte, wandte sich Ken an das nächste. „Über den Landweg müssten sie durch unsere Gebiete ziehen, also verstärken wir die Grenzposten. Und schickt einen Botschafter nach Little Edo. Sagt ihnen, ich werde es nicht dulden, wenn sie Streitkräfte der Rose durch ihr Gebiet marschieren lassen, und mit weiteren Angriffen reagieren.“ ShogunGekomon war feige genug, dass es sich durch diese Drohung würde einschüchtern lassen. Zwar hatten die Frösche seinen jüngsten Übergriff auf eine Stadt am Rande ihres Shogunats zurückgeschlagen, dabei aber große Verluste erlitten. Sie hofften viel mehr als er, die momentane Pattsituation weiterführen zu können. Es macht mir trotz allem zu viel Spaß, Befehle zu geben und Strategien zu entwickeln. Wieder ballte er die Faust, senkte den Kopf und verließ die Kommandobrücke. Aber jetzt haben wir umso mehr Grund, die File-Insel zu erobern.     Das Bokutō des Kotemons landete klappernd im Staub, sein Besitzer auf dem Allerwertesten. Codys Holzschwert ruhte auf der Schulter des Digimons, und Jubel brandete auf der Tribüne auf. Cody atmete schwer, gequält gleichmäßig, um dem Seitenstechen keine Angriffsfläche zu bieten. Glänzender Schweiß lief in Bächen seinen nackten Oberkörper entlang, brauner Sand klebte sich hartnäckig daran fest. Der Boden glühte unter seinen Fußsohlen, der grobe Stoff seiner dunkelblauen Hose kratzte und juckte mehr als sonst und das eiserne Amulett, das an seiner Brust baumelte, brannte von der Sonne aufgeheizt bei jedem Atemzug auf seiner Haut. Er konnte die Angst des Kotemons förmlich riechen „Was für eine unerwartete Wendung!“, plärrte die blecherne Stimme Shoutmons aus den Lautsprechern. „Dieser beeindruckende Hieb von Dreschflegel hat Kotemon entwaffnet! Wer hätte gedacht, dass ein einfacher Mensch einen Rōnin aus der Bambusbucht schlagen kann? Der Kampf ist vorbei, und was für ein Kampf das war! Hier habt ihr den Sieger!“ Die Zuschauer in den Rängen brüllten und jubelten, wie Wellenrauschen drangen ihre Worte an Codys Ohren, „Dreschflegel! Dreschflegel!“ und „Du bist der Größte!“ und „Tod! Tod! Tod!“ Die Menge griff den Befehl auf, bis die ganze Tribüne ihm lauthals zuschrie: „Tod! Tod! Tod! Tod!“ Er konnte nicht in der Miene des Kotemons lesen, das immer noch auf dem Boden verharrte; die Kendō-Maske hinderte ihn daran. Cody nahm das Schwert von seiner Schulter. „Tod!“, verlangte das Publikum. „Töte es!“ „Sieht so aus, als dürsten die Zuseher nach Datenstaub“, stellte Shoutmon fest. „Töte es!“, brüllten die Digimon auf den Rängen lauthals. „Womit soll er es denn umbringen?“, schrie jemand höhnisch dazwischen. „Mit seinen kleinen Krallen?“ Etwas Blitzendes löste sich aus der Tribüne und flog in hohem Bogen in die Arena. Ein kostbares Zanbamon-Schwert, das golden die Sonne reflektierte, landete im Staub. „Tod! Tod! Tod!“, ging das Geschrei weiter. Das Kotemon rappelte sich ein wenig auf, kniete sich auf den Boden und senkte ergeben den Kopf. Cody ließ sein Bokutō fallen und ging zu dem Schwert. Es war eine edle Waffe, geradlinig und schwer, als er es aufhob. Das Fordern der Zuseher wurde immer lauter und die Stimmung aufgeheizter. Das lästige Shoutmon warf einen Witz in sein Mikrofon, doch nur die Hälfte des Publikums achtete darauf. Cody richtete das Schwert auf die Sonne, drehte sich zu Kotemon um, und rammte die Klinge mit aller Kraft in den Boden, dass eine kleine Staubwolke aufstob. Enttäuschung wurde aus Hunderten von Kehlen laut. „Hoppla, es sieht so aus, als wolle unser Champion den Wunsch des Publikums nicht erfüllen“, kommentierte Shoutmon. Buh-Rufe wurden in den Rängen laut. Cody achtete nicht darauf, er schüttelte sie ab wie den Staub der Arena und ging durch das kreisförmige Kampffeld zum westlichen Tor zurück, dessen Fallgatter hochgezogen worden war, als Shoutmon den Sieger verkündet hatte. Dicker brauner Stein dämpfte die Rufe der Digimon weitgehend ab. Von der prallen Sonne in den kühlen Schatten zu wechseln, war jedes Mal ein kleiner Schock, vor allem, wenn die Hitze des Kampfes noch in seinen Knochen steckte. Der fensterlose Vorbereitungsraum war leer; es war der letzte Zweikampf des Tages gewesen. Sein schmutziges Leinenhemd lag noch auf seinem Platz, ordentlich zusammengelegt, seine Feldflasche daneben. Jemand hatte eine Blechschüssel mit Wasser für ihn auf das kleine Steinpodest gestellt. Cody wusch sich eben den Schmutz von seinem Oberkörper, als er Chichos‘ kleine Gestalt die steinerne Treppe in den Vorbereitungsraum herunterkommen sah. Ihr Gesicht war so schmutzig, dass es fast die gleiche Farbe hatte wie ihre dicken Zöpfe; auch das einfache, ehemals weiße Kleid, das sie trug, wies unansehnliche dunkle Flecken auf. Cody fragte sich, was ihre Arbeit für heute gewesen war. „Ähm, ich soll dir ausrichten, du sollst gleich zu WaruMonzaemon kommen“, sagte sie. Ihre kindliche Stimme klang seltsam in seinen Ohren. Generell war vieles seltsam an Chichos. Sie war auch ein Mensch, und trotzdem sah sie völlig anders aus als er. Ihre Haut war um etliches dunkler, ihre Augen runder. Sie sprach dieselbe Sprache wie Cody, und doch betonte sie manchmal Wörter falsch, oder auch einfach nur … anders. „Ich komme schon“, sagte er, trocknete sich mit dem groben Tuch ab, das neben der Schüssel lag, und drückte prüfend auf den Bluterguss, der sich auf seinen Rippen abzubilden begann, wo Kotemons Schwert ihn getroffen hatte. Flink wie eine Maus lief Chichos wieder die Treppe hoch. WaruMonzaemon musste eine Stinkwut haben, wenn es sie extra geschickt hatte, um ihn zu sich zu rufen. Stinkwut war noch untertrieben, wie er schnell merkte. Er fand seinen Besitzer im ersten Stock des Arenagebäudes, in den Räumlichkeiten der Ehrengäste. Hier hielten sich vor und nach den Kämpfen die Reichsten der Reichen von Masla auf, die Territoriallords und, wie in WaruMonzaemons Fall, die Digimon, die die Kämpfer stellten. Die Wände bestanden aus dem gleichen gelben Sandstein wie der Rest des Bauwerks, doch waren sie mit kostbaren roten Teppichen behangen, und goldene Öllampen sorgten für die nötige Beleuchtung. Auch der Boden war mit einem weichen Teppich ausgelegt, der alle Geräusche schluckte. Das schwarze Bärendigimon, dessen Gelenke Nähte aufwiesen, lümmelte auf einem der kostbaren Hocker und schaufelte Weintrauben in sich hinein, als Cody eintrat. Um den Hals trug es ein Band mit zwei Lederbeuteln. „Da bist du ja!“, polterte des Puppendigimon los und sprang auf. „Du! Was bildest du dir eigentlich ein? Warum hast du diesen Wicht nicht getötet? Die Menge hat es verlangt!“ Cody zwang sich, ruhig zu bleiben. Das gelang ihm meistens in WaruMonzaemons Gegenwart. Es war sogar einfach, den Gegenpol zu seinem cholerischen Besitzer zu spielen. „Es wäre mein Schlag gewesen, der es getötet hätte. Deswegen war es auch meine Entscheidung“, sagte er. WaruMonzaemon schnaubte und fegte die Schüssel mit den Weintrauben von seiner Stuhllehne. Zwei der Trauben klatschten gegen Cody Gesicht, doch er blinzelte nur kurz. „Papperlapapp! Dir ist wohl der Sieg zu Kopf gestiegen!“ Der zwei Meter große Teddybär stapfte auf seinen lächerlichen Beinen auf ihn zu. Sein Atem stank nach faulem Obst. „Hast du vergessen, wer deine Ausbildung bezahlt hat? Wer hat dir denn die ganzen freien Tage gegeben, damit du trainieren kannst? Wer hat dich von der Straße aufgelesen und dich davor bewahrt, für den Rest deines Lebens als Putzsklave dieses stinkenden Gargabemons zu leben, hä?“ „Ihr wart das“, sagte Cody bemüht demütig. „Aber gekämpft habe trotzdem ich.“ „Ah, es ist zum Verrücktwerden mit dir! Du hast mich blamiert, die Menge hat den Tod dieses Winzlings sehen wollen! Ausgerechnet heute, wo die Fürsten der Goldenen Zone anwesend waren! Hast du sie gesehen, in ihrer Loge, hä? So wie die Dinge stehen, kannst du deinen Auftritt im Großen Kolosseum vergessen!“ Cody hatte nie in dieses Kolosseum gewollt. Es war nur ein beschwerlicher Marsch durch die Wüste, und wofür? Nur um seinem Herrn zu gefallen und fremde Digimon zu verprügeln. Der blaue Fleck auf seiner Brust begann erst jetzt schmerzlich zu ziehen. „Ich verstehe es, wenn Ihr mich nicht dorthin mitnehmen wollt.“ „Hmpf“, machte WaruMonzaemon, nun etwas ruhiger. Seine Wutausbrüche ebbten im Normalfall so schnell ab, wie sie aufbrandeten. „Was du vor allem nicht verstehst, ist, wo dein Platz ist“, brummte es. „Hau ab, geh mir aus den Augen. Nimm Chichos und geh in das Anwesen zurück. Morgen stehst du um Punkt fünf bei Gladimon auf der Matte.“ Das bedeutete, keine Rast für seine geschundenen Knochen. Morgen beim Aufstehen würden seine Muskeln in Flammen stehen, ohne Zweifel. Dennoch war es eine vergleichsweise milde Strafe. Wenn WaruMonzaemon sich bewegte, klimperte es in den Beuteln um seinen Hals verdächtig. Wahrscheinlich war das der Grund. Cody sollte wohl dankbar sein, dass sein Besitzer auf ihn wettete und nicht etwa auf seine Gegner. Er verbeugte sich tief und wollte das Zimmer, dessen Prunk ihm die Galle hochtrieb, so schnell wie möglich verlassen, als WaruMonzaemon ihm noch hinterher blaffte: „Und das nächste Mal, wenn das Publikum den Tod deines Gegners verlangt, dann tötest du ihn!“ Cody musste nicken, das gebot ihm die Höflichkeit. Dann erst schloss er die Tür hinter sich.     „Es wird einfach toll werden“, schwärmte Mimi, als Babamon die Schnüre an ihrem Kleid festzurrte. „Es gibt Musik und Tanz und jede Menge lustiger Digimon. Es wird das schönste Reisfest seit langem.“ Als das Kleid perfekt saß, drehte sie sich prüfend vor dem Spiegel. Es war hellgrün, die Farbe des Wappens von Little Edo, durchzogen mit hauchfeinen Silberfäden und mit weißer Spitze bestickt. Der weite Rock war mit Rüschen verziert und raschelte und bauschte sich bei jeder Bewegung. Mimi drehte sich zu Yolei um und hob die Arme ein wenig, damit Babamon ihr das weiße Seidentuch um die Hüfte binden konnte. „Und stell dir vor!“, sagte sie mit gesenkter Stimme, als dürfte niemand außer ihnen davon wissen, „ShogunGekomon hat gesagt, es hätte einen Bräutigam für mich und würde ihn mir heute Abend vorstellen!“ Ihre Freundin zog eine Augenbraue hoch. Auch sie war für das Fest hergerichtet, trug aber anstelle eines Kleides eine dunkelviolette Paradeuniform mit Zierdegen. Auf ihrer Brust glitzerte der goldene Orden mit dem Wappen der Aufrichtigkeit, die der Shogun ihr letzten Monat für ihre Dienste verliehen hatte. Das fliederfarbene Haar hatte sie sich zu einem Pferdeschwanz gebunden, der besser zu der Uniform passte, als wenn sie es offen tragen würde. Mimi wusste, dass diese Kleidung ihrem Stand gerecht wurde und ihr auch recht gut stand, trotzdem fand sie, einem Mann hätte sie besser gepasst. „Einen Bräutigam? Willst du etwa schon heiraten?“, fragte Yolei entgeistert. „Ach, wer spricht denn vom Heiraten“, winkte Mimi ab und setzte sich vorsichtig auf ihren Schemel, damit ihre kleine Zofe ihrem Haar den letzten Feinschliff geben konnte. „Wozu ist ein Bräutigam sonst da?“ „Na, um mich zu umgarnen. Wer das Herz einer Prinzessin gewinnen will, muss schon etwas dafür tun, und das wird er auch, da bin ich mir sicher.“ Mimi schloss seufzend die Augen. „ShogunGekomon sagt, er wäre ein stattlicher und ehrbarer Krieger, ein Held. Er wird wie ein Prinz zu mir sein und mich auf Händen tragen …“ Sie sah den Mann förmlich vor sich, ein einer schimmernden Rüstung, edel, hochgewachsen und gertenschlank, sah sein warmes Lächeln, aber der Rest seines Gesichts blieb im Dunklen. „Ich frage mich, wer es wohl ist!“ „Naja, ich weiß nicht“, murmelte Yolei. „Krieger gibt es viele im Krieg. Und sie kämpfen oft gegen Digimon, die viel stärker sind als Menschen. Bist du sicher, dass er kein hässliches Narbengesicht und einen amputierten Arm hat?“ Jetzt war ihr Bild zerstört. „Ach wo, er wurde kaum noch in der Schlacht besiegt, hat ShogunGekomon gesagt“, sagte Mimi gereizt. „Ein Held … Ob es wohl der Drachenritter ist? Oh, ich hoffe, er ist es! Die Beschreibung passt genau, er ist edel und ehrbar und wurde nie im Kampf besiegt. Oder es ist der Anführer dieser Wolfsarmee, von dem wir in letzter Zeit so viel hören?“ „Hm …“ Yolei machte ein verträumtes Gesicht. „Der soll ja jeden Barden in den Schatten stellen, heißt es. Obwohl er ein Feldherr ist, kann er traumhaft musizieren, wenn die Gerüchte stimmen.“ Mimi seufzte erneut. „Dann wird er bestimmt für mich singen und spielen. Er wird nachts unter meinem Fenster ein Lied nur für mich spielen, und dann werde ich ihm eine Rose zuwerfen, und er wird daran schnuppern und davonreiten …“ „Auf einem Wolf?“, schlug Yolei vor. „Ach, du bist so unromantisch.“ Mimi warf spielerisch eines der Kissen von ihrem Bett auf Yolei. „Auf einem Unimon natürlich.“ Babamon trat einen Schritt zurück und verbeugte sich und Mimi stand auf und begutachtete sich im Spiegel. Ihre Haare waren gelockt, mehr als üblich, und ein silbernes, mit Smaragden besetztes Diadem zierte ihre Stirn. Sie ließ sich von ihrer zotteligen, alten Zofe die armlangen, reinweißen Handschuhe überziehen. Das Grün passt nicht zu meinen Augen, fand sie und überlegte, ob sie Babamon um ein anderes Kleid schicken sollte, aber das Fest würde bald beginnen. „Ich bin schon so aufgeregt, Yolei. Der Drachenritter oder der Wolf, der Drachenritter oder der Wolf … Wer wird es wohl sein? Oder einer der Ritter aus dem Süden? Die sollen ja so galant sein!“ „Dafür, dass du ihn nicht heiraten willst, bist du ganz schön aus dem Häuschen“, grinste Yolei. Babamon kam mit einer Flasche Blütenwasser. Der Duft von Seerosen hüllte Mimi ein, als die Zofe ihr Kleid damit betupfte. „Vielleicht heirate ich ihn ja doch“, meinte sie leichtfertig. „Wenn er mir lange genug den Hof gemacht und mich mit Geschenken überhäuft hat, warum nicht?“ „Vergiss die Halskette nicht“, erinnerte sie Yolei, nahm das Schmuckstück von Mimis Schminktischchen und legte es ihrer Freundin an. Während sie die Haken in ihrem Nacken schloss, ließ Mimi den tropfenförmigen Jadeanhänger über ihre Finger klimpern. „Wenn er mich heute beim Fest beeindruckt, werde ich ihm die schenken, was meinst du?“ Yolei grinste frech. „Vermutlich wäre er mit einem Kuss glücklicher.“ „Da muss er mich erst wirklich beeindrucken“, meinte Mimi schnippisch und Yolei lachte. Die Tür wurde aufgedrückt und Palmon schlich in ihr Gemach. „Bist du bald fertig, Mimi?“ „Jaja.“ Mimi entließ Babamon mit einer einfachen Handbewegung, was die alte Zofe mit einem demütigen Nicken quittierte, und durchquerte mit raschem Schritt das ausladende, in Weiß und Rosa gehaltene Zimmer. Ihre Röcke bauschten sich. Sie hoffte, dass es elegant und würdevoll wirkte. Yoleis hochgeschlossenen Stiefel gaben klackende Geräusche von sich, als sie ihr folgte.     Zum Schlafen bekamen WaruMonzaemons Sklaven nur rohe Pritschen, die mit stacheligem Stroh und schmutzigen Leintüchern bedeckt waren. Sie schliefen im Keller von WaruMonzaemons eigenem Haus, das groß genug war, um die zehnfache Menge an Menschen und Digimon unterzubringen. Das Bärendigimon handelte mit Süßspeisen, die es bis in die Gebiete um den Mori-Mori-Wald exportierte, und mit Honeybeemon-Honig. Die fleißigen, gelb gepanzerten Bienendigimon hatten östlich von Chinatown ganze Honigfabriken besessen, und WaruMonzaemon liebte den Honig so sehr, wie seine Kunden ihn liebten. Allerdings hatten sich mehr und mehr der Honeybeemon der Wissens-Armee im Süden angeschlossen und waren über die Hitzestraße in die unwirtliche Staubwüste geflogen, warum, wusste keiner. Ihr Honig war somit eine Rarität geworden, und wann immer WaruMonzaemon etwas davon auftreiben konnte, war es guter Dinge. Die Hälfte aß es stets selbst, die andere wurde zu so horrenden Preisen weiterverkauft, dass es dabei sogar noch Gewinn machte. Oft streckte es die Ware mit dem minderwertigen Honig der Fanbeemon, von denen es noch genug in diesem Teil der DigiWelt gab, es sei denn, die Lieferung ging an einen besonderen Feinschmecker. Ein Restaurant in Chinatown gehörte zu seinen besten Kunden; dort brauchten sie den Honig, um ihm ihrem Curry-Spezialrezept beizumengen. Und so reich WaruMonzaemon auch war, so viele Entbehrungen mussten seine drei Haussklaven ertragen. Cody teilte sich den Raum, der wenig mehr war als eine Kerkerzelle, mit einem Floramon, das so etwas wie WaruMonzaemons Mundschenk war, weil es nicht sonderlich kräftig war, und der kleinen Chichos. Und Letztere war es, die ihn in dieser Nacht mit ihrem Schluchzen weckte. Cody blinzelte den Schlaf aus seinen Augen. Er hatte unruhig geschlafen und war beim kleinsten Laut aufgewacht. Ein Kohlebecken tauchte den unterirdischen Raum, der aus gelbbraunem Stein bestand, in düsterrotes Licht. Er sah sich um. Chichos lag zusammengerollt auf ihrer Pritsche und weinte zitternd. Auf der anderen Seite des Raumes grummelte Floramon etwas und drehte sich zur Seite. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass Chichos weinte. Meistens ging dem ein harter Arbeitstag voran, oder der Traum von Freiheit, oder WaruMonzaemon hatte sie geschlagen. Sie war schon länger im Besitz des Bärendigimons als er selbst; Cody war vor vier Jahren von WaruMonzaemon gekauft worden. Richtig erinnern konnte er sich nur an die Zeit nach dem Kriegsbeginn. Dazwischen gab es in seinen Erinnerungen irgendwo einen Bruch, es war alles unscharf, aber er wusste, dass er Zeit seines Lebens der Sklave verschiedener Digimon gewesen war. Seufzend stand er auf, schlich mit nackten Füßen an Chichos‘ Bett und rüttelte sie sanft an der Schulter. „Was ist los? Hast du schlecht geträumt?“ Sie sah ihn aus verquollenen, schokoladenfarbenen Augen an. „Cody“, murmelte sie und schüttelte dann den Kopf. Zehn oder elf, älter konnte sie nicht sein. „Nein, nicht schlecht … Gotsumon. Ich habe von Gotsumon geträumt.“ Wieder schluchzte sie und Tränen erschienen in ihren Augenwinkeln. Cody streichelte ihr zaghaft über das strähnige Haar. Er hatte Gotsumon nie kennen gelernt, aber Chichos hatte einmal gesagt, dass es früher ihr einziger Freund gewesen war. Dann war sie von WaruMonzaemon gekauft worden, Gotsumon aber nicht. Es war mit den Sklavenhändlern weitergezogen. Auch Cody erinnerte sich an einen Kindheitsfreund, ein gelbes, kleines Digimon mit goldglänzendem Panzer, dessen Namen er bereits vergessen hatte. Auch sie waren getrennt worden – das war das Los der Sklaven. „Schlaf weiter“, flüsterte er. Mehr tröstende Worte fielen ihm nicht ein. „Ich will Gotsumon so gern wiedersehen“, wimmerte das Mädchen. „Ich will nicht immer für WaruMonzaemon arbeiten. Es ist so groß und so gemein, und … und es muss gar nichts arbeiten, und die anderen Digimon müssen auch nichts arbeiten.“ Was sie noch sagte, ging in ihrem Schluchzen unter. Cody wusste nicht, was er sagen wollte. Er wollte ihr so gern Trost spenden, aber wie konnte er das? Sie waren Sklaven, und sie würden es immer bleiben. Sie hatten gegen WaruMonzaemon keine Chance. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er trotzdem. „Es wird alles gut. Irgendwie wird es gut werden.“ „Versprich es mir“, murmelte sie. Er schluckte. Er konnte es ihr nicht versprechen. Er konnte und wollte nicht lügen … Oder war es in Ordnung, zu lügen, wenn er in dieses traurige Gesicht sah? „Ich verspreche es“, sagte er schließlich. „Ich tue alles, damit wir eines Tages frei sind. Dann kannst du Gotsumon suchen und es auch befreien.“ Chichos lächelte, noch während ihr Tränen über das kindliche Gesicht liefen. Dann umarmte sie ihn stürmisch, und Cody hatte bereits ein schlechtes Gewissen, ihr Hoffnungen gemacht zu haben. Aber er konnte nun nicht mehr zurück, er musste tatsächlich versuchen, sie zu befreien. Sonst wäre alles nur eine Lüge gewesen – und außerdem war er neugierig, was sich in der Welt jenseits der Mauern von Masla verbarg. Unbewusst umfasste er das Amulett, das er auch im Schlaf trug. Chichos bemerkte die Geste; da es in Masla stets warm war, auch in der Nacht und in diesem mit glühenden Kohlen beleuchteten Kellerraum, schlief er nur in seinen weißen Leinenhosen. „Was ist das da eigentlich?“, fragte sie und berührte das Amulett mit den Fingerspitzen. Ihre Augen sahen nicht mehr so trüb aus wie noch vor einem Moment, aber Cody sah nun die dunklen Ringe darunter. Chichos schlief nie gut. Er hob das Schmuckstück an, damit sie es in dem Dämmerlicht besser sehen konnte. „Ich hab es auf der Straße gefunden. Es ist mein Glücksbringer.“ Nach seinem ersten Gladiatorenkampf, als er verängstigt und entsetzt war und haushoch gegen ein ritterähnliches PawnChessmon verloren hatte, das ihm gütigerweise Gnade geschenkt hatte, hatte er eine Ecke des Symbols im Schmutz der Straße glitzern sehen. Es war aus schmuddeligem Eisen, wertlos in WaruMonzaemons Augen, weshalb es ihm gestattet hatte, es an einer Schnur um den Hals zu tragen, und stellte ein Kreuz dar, hinter dem sich ein X versteckte. Seitdem trug er es, obwohl er wusste, dass es so etwas wie Glücksbringer und Talismane nicht gab, und seitdem hatte er nie wieder verloren. Ein fahrender Händler hatte ihn einmal darauf angesprochen; offenbar war dies das Symbol des Zuverlässigen Ordens, von dem Cody schon gehört hatte. Anscheinend hatte es eines seiner Mitglieder in Masla verloren. Cody bewahrte es trotzdem als seinen kostbarsten Schatz auf. „Glücksbringer?“, fragte Chichos. „Ja.“ Er sah sie ernst an. „Wenn du willst, such ich dir auch einen Glücksbringer. Dann gehen diese Tage schneller vorbei.“ Die nächste Lüge. Hör auf damit. Es gehört sich nicht, zu lügen. Selbst für einen Sklaven nicht. Er fühlte sich so schlecht wie schon lange nicht mehr. Im Gegensatz zu Chichos. Das Mädchen lächelte glücklich. Cody deckte sie zu und lauschte, wie sie bald darauf in einen ruhigeren Schlaf sank. Er selbst lag noch lange wach und dachte über seine wahnwitzigen Versprechungen nach. Es hat keinen Sinn. Wir kommen niemals frei. Wir können nicht fliehen. Ich habe gelogen. Mit diesen Gedanken schlief er dann ein.   There is a chance for everyone Takes time, but can be done Fight the darkness Don't be afraid, my friends (Helloween – My Life For One More Day) Kapitel 5: Die Schöne und das Biest ----------------------------------- Tag 18   Mit dem Reisfest feierte das Shogunat von Little Edo jährlich die gelungene Ernte. Entsprechend war auch die Wahl der Speisen: Es gab Reisbällchen und gebratenen Reis im Überfluss, dazu Sake und stärkeren Reisschnaps, aber auch Fisch aus der Bambusbucht, filetiert oder als Auflauf, Meeresfrüchte und Schildkrötensuppe. Ein Leibgericht der Gekomon waren außerdem dicke, schwarze Fliegen auf Reis, über die Mimi nur die Nase rümpfen konnte. In der großen Pagode, die normalerweise nur ShogunGekomon und seinen persönlichen Dienern vorbehalten war, war das ganze Erdgeschoss mit kniehohen Tischen und Kissen vollgeräumt worden. Der Duft nach Reis erfüllte die Luft, die Teller und Schalen waren reich gefüllt. Gekomon und Otamamon saßen zu Hundert in der zentralen Halle und aßen und schwatzten fröhlich. Der Shogun selbst saß am Kopfende der Tafel auf dem Boden, sein massiger Leib überragte alle Anwesenden und reichte fast bis zur Decke. Wenn er dröhnend lachte, was oft geschah, bebte die ganze Halle und Schalen und Teller klirrten. Mimi kniete zu seiner Rechten auf einem blauen Samtkissen mit Goldborten und ließ ihren Blick über die Versammelten schweifen. Noch war ihr mysteriöser Angetrauter nicht erschienen. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen hinunterbekam und nur mit ihren Stäbchen in ihrem Essen stocherte. Weit rechts von ihr, wo die Reihe der Ehrengäste, Händler und Großgrundbesitzer endete – die meisten waren wohlhabende Gekomon oder Kongoumon, auch ein spindeldürres, hässliches Vademon war darunter – und die Sitzplätze der gewöhnlichen Gäste begannen, sah sie Yolei und ihren Partner Hawkmon, die eifrig Curryreis in sich hineinschaufelten. Zwischen den Tischen führten Otamamon den Froschtanz auf, später in der Nacht würde eine Floramon-Truppe auftreten. Gesang und Trompetenklänge gab es von einigen Gekomon, bei deren Getröte sich Mimi am liebsten die Ohren zugehalten hätte, doch den Gästen schien es zu gefallen. Als kleine Showeinlage trommelte ein Gekomon mit gepolsterten Stöcken auf der Pilzkappe eines Mushroomons herum, was einen dumpfen, trommelartigen Ton erzeugte. Als es das sah, lachte ShogunGekomon so laut, dass es die Sakeschale fallen ließ, die es eben zum Mund führen wollte, und zwei Otamamon-Bedienstete eilig den nassen Fleck auf dem Boden fortwischen mussten. Und immer noch kein Prinz in Sicht … Der Lärm, der von draußen durch die dünnen Wände drang, nahm zu, als die Hauptgänge vorbei waren und es dunkel wurde. Das Fest setzte sich in der ganzen Stadt fort, nicht nur in der Pagode, und würde bis in die Nacht hinein andauern. Das gemeine Volk bekam kostenlos Reis zugeteilt, auf den Straßen wurde getanzt und gesungen. Als Mimi gerade dem fröhlichen Gelächter lauschte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie ein Ninjamon-Soldat auf ShogunGekomons Schulter auftauchte und ihm etwas zuflüsterte. „Wunderbar!“, rief der riesige Frosch und schwenkte seine Trinkschale. „Unser Ehrengast ist endlich eingetroffen!“ Mimis Herz begann zu klopfen. Sie verrenkte sich fast den Hals, als die breite Schiebetür am anderen Ende des Saals zur Seite glitt. Auch Yolei blickte interessiert auf. In ordentlichem Gleichschritt und mit einer Haltung, die man unter Gekomon und Otamamon nie und nimmer fand, marschierte eine Doppelreihe Kotemon, deren Augen unter dem Schutzgitter ihrer Kendohelme gelblich glühten. Und hinter ihnen, begleitet vom Geräusch klappernder Rüstungsplatten, stampfte ein menschengroßes, wie ein Samurai gekleidetes Digimon in die Halle. Die kleinen Augen über dem hervorspringenden, grausamen Kiefer suchten ihren Blick und Mimi fühlte sich wie mit kaltem Wasser übergossen. Sollte … das etwa … „Musyamon, wir haben Euch schon sehnsüchtig erwartet, geko“, begrüßte ShogunGekomon das grauhäutige Digimon. „Nehmt Platz und esst mit uns! Eure Garde ist uns natürlich auch willkommen, geko. Macht Platz für unsere neuen Gäste!“ Musyamon schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Ich danke Euch, mein Shogun.“ Es blieb allerdings vor der Tür stehen, als wartete es auf etwas. Mimi sah ein riesiges Krummschwert an seiner Hüfte, das für das muskelbepackte Digimon wie ein Spielzeug zu halten sein musste. ShogunGekomon erhob sich schwerfällig von seinem Sitzplatz. „Verehrte Gäste“, sagte es dröhnend, dass die Wände wackelten, „vor Euch steht Daimyo Musyamon, der Herr der Reisfelder, der treueste Vasall von Little Edo und Held der Schlacht um die Voxel-Stadt.“ Vereinzelt brandete Jubel auf. Mimi hatte von dieser Schlacht durch Yolei erfahren. Die Streitkräfte des DigimonKaisers hatten sie als leichte Beute betrachtet, aber ein paar Digimon hatten eine Verteidigung organisiert und die Übernahme gestoppt. „Ihr bringt mich in Verlegenheit, Shogun.“ Musyamon hatte eine volltönende, rauchige Stimme. Es deutete eine Verbeugung an, die Faust immer noch vor der Brust. „Eine Selbstverständlichkeit für jeden pflichtbewussten Samurai.“ „Pflichtbewusst, das will ich meinen, geko!“, donnerte ShogunGekomon. „Eure Anwesenheit ist in vielerlei Hinsicht ein Grund zum Feiern, geko! Verehrte Gäste, dieser tapfere Held hat mir die Ehre erwiesen, um die Hand meines Mündels Prinzessin Mimi anzuhalten!“ Also doch! Mimis Finger krallten sich in die Tischplatte. Sie spürte Yoleis mitleidigen Blick an ihr kleben. Alle Versammelten wandten sich ihr nun zu, gespannt auf ihre Reaktion. Warum nur? Warum so ein Ding? Musyamon trat zwischen den Tischreihen auf sie zu und sank vor ihr auf ein Knie herab. „Ihr seid noch schöner, als man mir beschrieben hat, meine Prinzessin.“ „Ich … bin nicht Eure Prinzessin“, fauchte sie. „Aber Mimi …“, murmelte ShogunGekomon, diesmal weit leiser. Musyamon sah sie fragend an. „Ist das dein Ernst?“, machte sie ihrem Ärger Luft. „Den da soll ich heiraten? Ein raubeiniges, hässliches, abstoßendes Digimon?“ „Ich … Also …“, murmelte der Shogun nur. Musyamon fand schneller seine Sprache wieder und neigte den Kopf. „Ihr mögt Recht haben, dass mein Äußeres hart und rau erscheint, doch es sind die Entbehrungen des Krieges und das Leben als Samurai, die mich in diese Form haben digitieren lassen. Ich versichere Euch, mein Herz ist rein wie ein Juwel und schlägt nur für Euch. Erlaubt mir, euch meine Worte zu beweisen.“ „Ich erlaube es nicht!“, schnappte Mimi und wandte sich an ihren Vormund. „Warum willst du mich mit einem Digimon verkuppeln? Es gibt genug ehrenhafte Krieger und Helden, die Menschen sind, sogar bekanntere als dieses … dieses …“ „Ich bin nicht der Drachenritter, holde Prinzessin, das ist wahr, aber ich würde ihn im Kampf besiegen, wenn ich dafür Eure Gunst erlangen würde.“ Das wollte sie nun überhaupt nicht hören. Dass Musyamon sich anmaßte, in ihr Bild des legendären Drachenritters zu treten, wälzte einen riesigen Klumpen Abscheu durch ihr Herz. „Wenn Ihr auch nur das Schwert vor ihm zieht, werde ich Euch das nie verzeihen!“ „Aber Mimi, Liebes, Musyamon ist ein angesehener Samurai unseres Shogunats, der fähigste, den du je finden wirst …“ ShogunGekomon klang weinerlich. „Der hässlichste, den ich je finden werde“, giftete Mimi. „Ich heirate auf keinen Fall ein Digimon! Niemals! Ich will gar nicht daran denken!“ Angewidert sah sie ihn Musyamons ungeschlachtes Gesicht, das unerschütterlich seine schiefen Zähne in einem Lächeln entblößte. Sie rümpfte die Nase, sprang auf und stapfte mit wehenden Röcken aus der Seitentür des Saales. „Mimi, warte!“ Palmon sprang auf und versuchte ihr auf seinen kurzen Stummelbeinen nachzueilen. Mimi hörte Musyamon laut etwas sagen und der ganze Saal lachte. Sollte es ruhig versuchen, seine Verlegenheit zu überspielen. Und sollte ihr Vormund vor Scham im Boden versinken. Die konnten ihr alle gestohlen blieben. Fuchsteufelswild lief sie den Gang entlang und dann die Treppe hoch. Ihr Leibwächter trat hastig zur Seite, als sie in ihr Gemach rauschte und sich wütend auf das breite Himmelbett war. Warum konnte sie nicht einmal Glück haben? Sie war eine Prinzessin, warum musste sie sich mit Kröten und Kaulquappen und hässlichen Samurais abgeben? Plötzlich fühlte sie sich weinerlich. Ihre Festlaune war gründlich verflogen, nein, in den Boden gestampft worden von den ungleichen Füßen Musyamons. Sollte es sich doch zurück zu seinen Reisfeldern scheren!     In kleinen, mit Öl gefüllten Schalen, die an den Wänden befestigt waren, flackerten Flämmchen, die in regelmäßigen Abständen ihren Schatten vor- und zurückspringen ließen. An das Klackern ihrer Stiefel auf den Holzdielen hatte sich Yolei längst gewöhnt, außerdem mochte sie die Stille ohnehin nicht. Nicht, dass es diese Nacht im Shogunat still geworden wäre, immer noch lachte und spielte und tanzte man in den Straßen von Little Edo. Einzig ihr Degen war Yolei stets unangenehm, er schlenkerte zu sehr herum und schlug ihr beim Laufen immer gegen die Beine – aber zu diesem festlichen Anlass gehörte er einfach dazu. Sie hatte sich ihre Uniform von einem renommierten Veggiemon-Schneider im Fürstentum von Karatenmon maßfertigen lassen, nachdem ShogunGekomon sie offiziell als Vertraute seines Mündels anerkannt und an seinen Hof gebeten hatte. Zuallererst hatte sie ja ein Kleid haben wollen, das möglichst einem der vielen von Mimi nachempfunden war – ihr Partner Hawkmon hatte ihr dann klargemacht, wie unpraktisch das auf Reisen wäre. Und auf Reisen war sie als freie Söldnerin – oder als Rōnin, wie die Digimon aus dem Shogunat sie oft nannten – eigentlich ständig. Seit Mimi verschwunden war, waren zwei Stunden vergangen. In der großen Halle wurde wohl noch fröhlich gefeiert; sie hatte Hawkmon dort gelassen, damit es nichts verpasste, was der Shogun und seine Fürsten und Samurai noch sprechen mochten. Wobei Fürsten übertrieben war … Yasyamon stand breitbeinig vor der Tür zum Prinzessinnengemach. Es war ein muskulöses, hochgewachsenes Digimon, dessen weiße, gehörnte Maske nie offenbarte, war es gerade dachte. Es trug weite, einfache Hosen und war mit zwei hölzernen Bokutō-Schwertern und Armschützern bewaffnet. Auf Stirnhöhe prangte das Wappen der Aufrichtigkeit auf der Maske, das Zeichen der persönlichen Leibgarde der königlichen Familie. Yolei blieb vor ihm stehen, als es keine Anstalten machte, zur Seite zu gehen, und stemmte die Hände in die Hüften. „Ist was? Ich will zu Mimi.“ „Die Prinzessin ist nicht in der Stimmung, jemanden zu sprechen.“ Die Worte klangen dumpf unter der Maske. Die klaren Augen sahen Yolei aufmerksam an. „Hat sie das gesagt?“ „Sie ließ keinen Raum für Zweifel“, behauptete Yasyamon. „Oh, komm schon“, versuchte Yolei es übertrieben freundlich und lächelte den Leibwächter mit schräg gehaltenem Kopf an. „Ich darf doch wohl zu ihr, oder? Wenn nicht ich, wer dann?“ Yasyamon verschränkte die Arme, wobei die Spitzen seiner Schwerter fast herausfordernd durch die Luft schwenkten. „Bedaure.“ Yolei wurde langsam zornig. Yasyamon bildete sich etwas darauf ein, genau die Gemütslagen seines Schützlings erkennen zu können und dementsprechend in ihrem Interesse auf ihre Privatsphäre zu achten, aber jetzt ging es zu weit. „Du lässt mich jetzt sofort zu Mimi, oder ich …“ „Oder was?“ Die Tür hinter ihm glitt einen Spalt auf. „Lass sie rein, Yasyamon“, hörten sie Mimi. Sie klang müde, erschöpft. Yasyamon sah Yolei noch kurz an und wirkte dabei irgendwie trotzig, dann trat es gehorsam aus dem Weg. Yolei schenkte ihm ein überlegenes Grinsen und stolzierte an ihm vorbei. In Mimis Gemach war es dunkel, nur eine Laterne auf ihrem Nachtkästchen spendete warmes, karges Licht. Mimi hatte sich, noch in ihren Festkleidern, bäuchlings auf ihr Himmelbett geworfen und die Decken zerwühlt. Palmon saß auf einem Stuhl daneben und schwieg. „Hallo“, nuschelte Mimi schwer verständlich. Yolei zog die Tür hinter sich zu. „Wie geht’s dir?“ „Bestens.“ „Und wirklich?“ Mit einem lauten Seufzer wälzte sich Mimi auf den Rücken, als wäre es das Anstrengendste auf der Welt. „Schön langsam müsste es wissen, was ich mag. Als ob irgendein normaler Mensch ein Digimon heiraten würde!“ Sie meinte ShogunGekomon. Musyamon war nicht der einzige Bewerber gewesen. Laufend kamen Digimon, teils von weit her, um Mimis Schönheit zu huldigen. Reiche Händler und verwegene Barden hatten schon versucht, ihr Herz zu gewinnen, wobei die Prinzessin anscheinend vornehmlich Sukamon, Numemon und dergleichen anzog. Allesamt waren sie Digimon gewesen, die Mimi wohl zu keinem anderen Zweck haben wollten, als sie wie eine Skulptur in die Ecke zu stellen und sich tagtäglich an ihrer vielgerühmten Schönheit zu erfreuen. Ursprünglich hatten Digimon mit Hochzeiten nichts am Hut, hatte Yolei sich sagen lassen. Es war ein Brauch der Menschen, die sich damit aneinander binden und als Familie angesehen werden wollten. Die Digimon hatten das Konzept der Verbundenheit übernommen – allerdings nur in Fällen, in denen es ihnen etwas nutzte. Digimon schlüpften aus Eiern und wurden auf irgendeiner Insel weit im Osten geboren, sie konnten keine Familien gründen wie die Menschen, aber in unruhigen Zeiten wie diesen reichte allen der Gedanke, zusammenzuhalten. Und wer sich rühmen konnte, das Mündel des Gekomon-Reiches geheiratet zu haben, dem würde es fortan an nichts fehlen. Yolei hatte sich schon oft gefragt, ob die ganzen Numemon Mimi anhimmelten, weil sie sich tatsächlich in ihr Äußeres verliebt hatten, oder ob sie mit diesem Getue ein komplexeres Ziel verfolgten. Mimis Abweisungen waren oft auch recht harsch, aber das schien die Entschlossenheit ihrer Freier nur zu verstärken. Auch ein Mensch hatte einmal ein Auge auf sie geworfen, wie Yolei wusste. Ein Junge, arm wie eine Kirchenmaus, anscheinend war er Fischer in der Bambusbucht. Er hatte orangerote, wuschelige Haare und ein Crabmon als Partner gehabt, als er einen seltenen Fang auf dem Wochenmarkt von Little Edo feilgeboten und Mimi bei einem Spaziergang erblickt hatte. Eine Weile hatte er ihr nachgestellt, bis es ihr so lästig geworden war, dass sie Yasyamon angewiesen hatte, ihn zu vertreiben. Der Junge wäre auch nichts für Mimi gewesen, zu schüchtern, um ihr die Stirn zu bieten, und außerdem jünger als sie. „Vielleicht hat es auch nur gedacht, ein adeliger Verehrer würde dir besser gefallen“, nahm Yolei ShogunGekomon in Schutz. „Dann ist es noch blöder, als es aussieht“, brummte Mimi und starrte in die Düsternis in Richtung Decke. Den Jadeanhänger trug sie nicht mehr, bemerkte Yolei; sie sah ihn in einer Ecke auf dem Boden glitzern und hob ihn auf. „Wie läuft’s beim Fest?“ „Ganz gut, würde ich sagen.“ Yolei erinnerte sich an den Grund, aus dem sie hier war. „Der Shogun war ganz verlegen, aber Musyamon hat sich zu ihm gesetzt, mit ihm über den Vorfall gescherzt und dann haben sie auf dich angestoßen.“ „Sicher haben sie über mich gelästert“, murmelte Mimi, zog ihr Kissen heran und drückte es fest an sich. „Nein, gar nicht“, sagte Yolei schnell. „Musyamon war da sehr edel. Wenn überhaupt, hat es deine Willensstärke gelobt.“ „Hm“, machte Mimi nachdenklich. Yolei fiel auf, wie zerzaust ihr Haar nun war. Ihr Haar, das in die passende Frisur zu bringen Babamon über eine Stunde gebraucht hatte. „Allerdings ist Musyamon dann auch recht schnell wieder mit seinen Kotemon abgezogen. Sie waren kaum länger als für einen Gang da. Von den anderen Gästen hab ich gehört, dass es sehr stolz sein soll. Es hat es nicht gezeigt, aber wahrscheinlich ist es trotzdem tief beleidigt. Der Shogun wirkt auch besorgt.“ „Soll er“, murmelte Mimi in ihr Kissen. „Ist ja seine Schuld, wenn er sich solche Vasallen aussucht.“ „Mimi, so solltest du nicht reden“, mischte sich Palmon ein, das bisher schweigend zugehört hatte. „Ach, sei still.“ Yolei zögerte einen Moment. „Es gibt da noch etwas, das ich erfahren habe. Also, wie sie auf die Idee mit der Heirat gekommen sind, meine ich.“ Mimi setzte sich halb auf. „Wieso? Ich dachte, Musyamon hat den Shogun einfach gefragt.“ „Ich weiß nicht, wer als Erstes die Idee hatte“, räumte Yolei ein, „aber angeblich hat der Shogun Musyamon deine Hand versprochen, weil es die Voxel-Stadt so gut verteidigt und die Grenzen gesichert hat.“ „Was?“ Mimi fuhr hoch. „Das ist ja wohl die Höhe! Es wollte mich als Belohnung für eine Schlacht verscherbeln?“ Das Kissen flog durch den Raum und prallte von der Wand ab. „Bitte, dann hoffe ich, dass Musyamon schön zornig auf den Shogun ist und ihn am besten in der nächsten Schlacht im Wald stehen lässt!“ „Mimi, reg dich doch nicht so auf“, versuchte Palmon sie zu beschwichtigen. „ShogunGekomon würde dich nie mit jemandem verheiraten, den du nicht auch willst.“ „Das will ich hoffen!“, sagte Mimi schnippisch. ShogunGekomon liebte Mimi fast so, wie ein menschlicher Vater seine Tochter geliebt hätte. Es hatte sie und Palmon nicht nur als Mündel aufgenommen, sondern ließ sie sich auch eine Prinzessin nennen und hatte verfügt, dass sie auch so zu behandeln wäre. Zweifellos stand es dem Shogunat auch gut zu Gesicht, mit einer hübschen jungen Prinzessin aufwarten zu können, und es mochte gut sein, dass der Krötenkönig daraus auch den Vorteil eines politischen Bündnisses ziehen wollte. Musyamon war bereits Daimyo eines riesigen Fürstentums, das die nördliche Bambusbucht, die lebensnotwendigen Reisfelder, den Bambuswald und neuerdings auch die Voxel-Stadt und einen Teil des Edo-Gebirges umschloss. Wenn dieses Digimon durch eine Hochzeit mit dem Mündel des Shoguns in die königliche Familie eingegliedert werden würde, wäre es der Nachfolger ShogunGekomons und diese Gebiete würden sich ohne viel Aufhebens an kleinere, abhängigere Vasallen verteilen lassen. Das war zumindest Yoleis Theorie, sie hütete sich aber, Mimi davon zu erzählen. „Ich habe für die nächsten Tage einen Auftrag im Edo-Gebirge angenommen“, berichtete sie der Prinzessin. „Irgendein Tierdigimon terrorisiert die Dörfer in der Gegend und ich hab mich bereiterklärt, es zu fangen. Wenn du willst, kann ich im Anschluss ja mal bei den Reisfeldern vorbeischauen.“ „Wozu denn? Lass Musyamon doch einfach. Ich will gar nichts mehr von ihm hören.“ „Aber es wäre doch schade, wenn ShogunGekomon es als Vasallen verliert, oder? Für das Reich, meine ich.“ Mimi stieß nur abfällig die Luft aus und machte Yolei damit klar, dass es sinnlos war, dieses Gespräch zu führen. Yolei verstand ihre Reaktion gut, sie wäre wohl ebenfalls aufgesprungen und vielleicht noch mit ein paar unüberlegten Worten als Abschiedsgeschenk davongelaufen; der Unterschied war, dass Mimi um einiges sturer sein konnte. So verabschiedete sie sich nur von der Prinzessin, was diese kaum zu bemerken schien, und von Palmon und ließ die beiden allein.   Die Nächte in Little Edo waren wunderbar, vor allem während des Reisfests. Bunte Lampions schmückten die Straßen und schillerten warm in Rot, Gelb, Orange und Grün. Fahrende Händler verkauften Süßigkeiten; Zimtstangen und gesüßten Reis, mit Honig versetzten Wein und Lebkuchen, Reiswaffeln mit Honig oder Schmelzkäse, winzige Fische in Tüten, von denen man sich gleich ein Dutzend auf einmal in den Mund befördern konnte. Sogar Eis gab es, riesige Blöcke waren aus der Eisregion antransportiert und zu kleinen Portionen in Tonschalen zerstoßen und mit süßen Soßen versetzt worden. Dazu gab es Musik und Straßenkünstler, Opossummon, die Tricks aufführten, eine Gruppe feuerspeiende Digimon, die gefährliche Flammenshows veranstalteten, und natürlich Gäste und Touristen von überall her. Little Edo summte geradezu vor Leben in dieser Nacht. Yolei atmete tief die laue Nachtluft ein und stieß sie seufzend wieder aus. Sie duftete nach Backwaren, Räucherstäbchen und Zimt. „Auf geht’s, Hawkmon!“, rief sie gut gelaunt und stieß die Faust in die Luft. „Lass uns feiern und uns amüsieren, bis die Sonne aufgeht!“ „Übertreib es nicht, Yolei“, warnte sie Hawkmon halbherzig, das sich bemühen musste, neben ihr herzuflattern, als sie die Straßen stürmte. Dasselbe sagte es noch einmal impulsiver, als sie an dem Karren eines Deramons einen Becher heißen, gewürzten Feuerwein aus den Keltereien der Brennenden Küste hinunterstürzte. Das warme Getränk war einmal etwas anderes als der ewige Reiswein und Reisschnaps, die die Gekomon brauten. „Stell dich nicht so an, probier lieber auch einen Schluck“, wehrte Yolei ab. „Heute Nacht darf man ruhig über die Stränge schlagen.“ Hawkmon verweigerte vehement. Man sah heute sogar verhältnismäßig viele Menschen in Little Edo. Die meisten waren in Yoleis Alter oder jünger. Während sie an einem Stand auf ihre Dango wartete, überlegte sie, ob sie nicht Mimi überreden sollte, aus der Pagode zu kommen. Vielleicht würde sie sich dann eher unter Ihresgleichen fühlen. Als ihre Bestellung fertig war, verwarf sie die Idee wieder. Mimi würde wohl für die nächsten zwei Tage niemanden sehen wollen, der auch nur annähernd das Potential hatte, sie um ihre Hand zu bitten. Genüsslich ihre Reisklößchen zerkauend, wurde sie, als sie ziellos in den Gassen umherschlenderte, Zeuge einer Unterhaltung eines recht hoch gewachsenen Menschen mit einem fahrenden Sukamon-Händler. „Das ist kein Verbandszeug, das ist einfach nur Wolle“, sagte der junge Mann eben. „Das ist das Beste, was ich hab“, behauptete das plumpe, gelbe Digimon, dessen Zunge ihm bei jedem Wort aus dem riesigen Rundum-Maul hing. „Das Beste“, fügte das kleine, mausartige Chipmon hinzu, das auf Sukamons Kopf saß. Yolei schlich neugierig näher. „Das kann doch nicht euer Ernst sein. Damit kann man doch keine Verletzungen behandeln, das eignet sich höchstens als Schal“, erwiderte der Mensch. „Was anderes wirst du in der ganzen Stadt nicht finden“, sagte Sukamon. „Wirst du nicht finden“, bestätigte Chipmon. „Doch, wenn du weißt, wo du suchen musst“, mischte sich Yolei ein und trat näher. Der junge Mann sah sie fragend an. Sie musste zugeben, dass er recht gutaussehend war, sein dunkles, bläuliches Haar war ordentlich gekämmt und reichte ihm bis zu den Schultern und die Brille auf seiner Nase verlieh ihm etwas Intelligentes. Er trug einen einfachen, grauen Flickenmantel, auf dessen Rücken und auf die rechte vordere Seitentasche je ein verziertes, dunkelgraues Kreuz gestickt war. Sukamon und Chipmon sahen sie gleichzeitig abwertend an. „Was willst du, Schätzchen?“ „Ja, was willst du?“ Yolei achtete nicht auf die beiden. „Wenn du nicht nur Ramsch haben willst, darfst du nicht bei den fahrenden Händlern kaufen, sondern auf dem Markt“, erklärte sie dem Menschen. „Ich zeig dir, wo du ihn findest, er hat heute rund um die Uhr geöffnet.“ „Blöde Göre, mach uns nicht unsere Kundschaft abspenstig!“, schimpfte Sukamon. „Blöde Göre!“ Chipmon sprang wütend auf und ab. „Hör nicht auf die, die hat keine Ahnung von Qualität!“ „Keine Ahnung!“ Yolei streckte den beiden die Zunge raus und bedeutete dem Mann, ihr zu folgen. „Ich dachte, das wäre schon der Markt“, murmelte er, während sie ihn durch die bunt erleuchteten Gassen führte. Die Lichter überstrahlten das Funkeln der Sterne, somit war der Himmel samtig schwarz. „Weit gefehlt“, grinste Yolei. „Diese Gestalten nützen nur das Fest aus, um ihren Müll loszuwerden. Der richtige Markt ist auf dem Platz hinter der Pagode. Ich bin übrigens Yolei. Also eigentlich heiße ich ja Miyako, aber meine Freunde nennen mich so. Weiß auch nicht, warum, das war schon immer so. Und das ist Hawkmon“, schwatzte sie. „Ja, äh, hallo. Ich heiße Joe.“ Seine Stimme hatte einen warmen Klang. Yolei warf demonstrativ einen Blick auf den kreuzförmigen Aufnäher auf seinem Mantel. „Du bist vom Späten Nachschub, oder? Ach, wie unhöflich von mir, ich meine natürlich von den … Wie nennt ihr euch noch gleich? Tut mir leid, der Volksmund nennt euch den Späten Nachschub. Aber das weißt du, oder? Ich wollte dich nicht kränken oder so.“ Was plapperte sie da eigentlich? Sie hatte doch zu viel Feuerwein getrunken, wie sie spürte. Ihr Magen fühlte sich warm und wohlig an, ihr Kopf aber viel zu leicht. „Ist schon in Ordnung“, sagte Joe leicht überrumpelt, nachdem er ihren Wortschwall verdaut hatte. „Wir sind der Orden der Zuverlässigen.“ „Genau, die Zuverlässigen! Wie konnte ich das vergessen? Ihr seid fast sowas wie ein Ritterorden, nicht wahr?“ „Nun ja, nicht ganz.“ Er rückte seine Brille zurecht. „Wir ziehen immer dorthin, wo es Kämpfe gegeben hat. Nach der Schlacht versorgen wir die verwundeten Digimon. Egal, zu welcher Seite sie gehören.“ „Auch, wenn sie zum DigimonKaiser gehören?“ „Meistens schon, ja. Nur die mit den Schwarzen Ringen lassen sich nicht behandeln. Die greifen uns an, auch wenn sie verletzt sind.“ Yolei nickte. Der Späte Nachschub. Es war nicht schwer sich auszumalen, woher dieser Spitzname kam. Die Seite mit den meisten Verlusten im Kampf hätte wohl am dringendsten Nachschub gebraucht, und auf ihre Seite schlugen sich dann vornehmlich die Zuverlässigen, um die Verletzten zu verarzten. In gewisser Weise wären sie damit die Verstärkung, die diese eigentlich während der Schlacht gebraucht hatten. Aber die Zuverlässigen kämpften nicht gern. „Yolei, hast du das auch gesehen?“, fragte Hawkmon, das ein wenig höher geflogen war. „Was denn?“ „Ich dachte, da wäre gerade etwas an euch vorbeigeflogen. Hast du nichts bemerkt?“ Yolei sah sich um und schenkte Hawkmon dann ein entschuldigendes Lächeln. „Nein, nichts.“ Hawkmons Seufzen sprach Bände. „Hast du schon mal Feuerwein probiert?“, fragte sie Joe unvermittelt, als sie auf eine belebtere Straße kamen. Hier war genügend Platz, dass sogar ein Mammothmon durchmarschieren könnte, nur war auch hier jedes freie Fleckchen mit Festgästen, Akrobaten oder Ramschhändlern vollgestopft. „Äh, nein. Ich trinke eigentlich gar keinen Alkohol“, sagte Joe unbehaglich. „Ach so. Ich kann ihn dir aber empfehlen. Bist du das erste Mal in Little Edo?“ Joe nickte. „Wir waren vorher in der Voxel-Stadt. Dort hat es ja üble Kämpfe gegeben.“ „Aus denen ein übler Verehrer der Prinzessin hervorgegangen ist“, sagte Yolei. Joe blinzelte verständnislos, und sie winkte ab. „Ach, ist nicht weiter wichtig.“ „Nun ja, wir hatten so viele Verwundete zu versorgen, dass uns das Material knapp wird“, fuhr er fort. „Da sie in der Voxel-Stadt alle Ressourcen für die Samurai und den Wiederaufbau und die Grenzsicherung brauchen, sind wir um das Gebirge herum hierher gezogen. Westwärts, weil das Gebiet um die Ölbohrinsel momentan mehr als unsicher ist.“ „Verstehe. Gibt es bei den Zuverlässigen noch mehr Menschen wie dich?“ Vielleicht würde er ja Mimi gefallen … „Nein, ich bin der einzige. Früher einmal, als es noch mehr Menschen in der DigiWelt gab, und als noch wegen anderen Dingen Schlachten stattfanden, waren die meisten Zuverlässigen menschlich. Man braucht fast menschliche Finger, um Wunden gut zu verarzten. Aber es wurden wohl immer weniger; ich bin seit langem der einzige.“ Noch bevor Yolei darüber nachgrübeln konnte, rief Hawkmon, das jetzt noch wachsamer war als zuvor: „Da! Da oben! Sieh mal, Yolei!“ Sie hatten den Rand des großen Marktes erreicht. Als sie in die Richtung sah, in der sein Schnabel deutete, meinte sie tatsächlich kurz etwas über den gestreiften Markisen eines Töpferwarenhändlers aufblitzen zu sehen. Hawkmon hatte recht, irgendwas versteckte sich dort in der Dunkelheit der Nacht … Eine Gruppe Gotsumon trampelte vorbei, mit kleinen Laternen, die Yoleis Augen kurz blendeten, und das Glitzern verschwand. Was war das gewesen? Etwa ein … „Hast du es auch gesehen, Joe?“, fragte sie. „Ich bin nicht sicher, ich glaube, etwas hat sich bewegt.“ Auch der Zuverlässige kniff die Augen zusammen. Dann tauchte abermals etwas am Rand von Yoleis Blickfeld auf, wie ein winziges, lästiges Insektendigimon, das sie umschwirrte, aber kaum zu sehen war. Ohne zu zögern lief sie los. „Yolei!“ Hawkmon folgte ihr, als sie sich zwischen den Gotsumon hindurchschlängelte. Diesmal klackerten ihre Stiefel besonders laut auf dem Kopfsteinpflaster. Yolei schirmte ihre Augen gegen die Lichter links und rechts der Straße ab und diesmal konnte sie ihn sehen. Sie hatte sich nicht geirrt, es war ein Schwarzer Ring. Das Markenzeichen des DigimonKaisers. Scheinbar schwerelos schwebte er über dem Schindeldach eines niedrigen, rechteckigen Hauses und drehte sich unschlüssig auf der Stelle, schwarz und glänzend und unheilverkündend. Yolei sprang auf ein Fass Reiswein, die wütenden Rufe des BigMamemon-Händlers ignorierend, schwang sich von dort auf den Dachvorsprung und lief zum Giebel hinauf. Als hätte der Ring sie bemerkt, drehte er ab und floh in weitem Bogen vor ihr. Yolei setzte ihm nach. Ihre Stiefel fanden auf dem nächsten Dach guten Halt, und von dort aus sprang sie weiter auf die schulterhohe Mauer, die den Hinterhof eines ansässigen Händlers umgab. Zum Glück hatte das Veggiemon ihr die Paradeuniform eingeredet. Mit einem Kleid wäre das alles unmöglich gewesen. Kurz strauchelte sie, während sie den Ring genau im Auge behielt und über die Mauerkrone lief. Dieser verdammte Feuerwein! Sie hätte die Finger davon lassen sollen. Als sie kurz in die Knie gehen und sich an den Stein klammern musste, um nicht abzustürzen, verlor sie den Schwarzen Ring aus den Augen. Fluchend lief sie in die ungefähre Richtung weiter, bis sie ihn über einem zweistöckigen Brauhaus schwirren sah. „Yolei!“ Hawkmon hatte zu ihr aufgeschlossen und flog schräg über ihr. „Da vorn ist er!“, rief sie atemlos, setzte auf das nächste Dach über und erreichte mit einem halsbrecherischen Sprung die obere Dachkante der Brauerei. Als sie sich hochzog, schwindelte sie kurz. Die Anstrengung trieb schwarze Flecken vor ihre Augen und beinahe hätte sie übersehen, dass der Ring knapp neben ihr in einer Kurve in die Höhe flog. Ohne lange zu überlegen, stieß sie sich ab und bekam den Ring mit einer Hand zu fassen. Er versuchte, sie nach oben zu zerren, aber Yolei war zu schwer für ihn. Langsam, wie mit einem Fallschirm, sanken sie auf der Straße zu Boden. Auf einem halben Meter Höhe schien der Ring seine Flucht aufzugeben – und ging stattdessen zum Angriff über. Er zappelte regelrecht in Yoleis Hand, drehte sich und zog sich zusammen wie ein Gummiband. Mit einem Geräusch, als würde eine Türklinke einrasten, klammerte er sich wie angegossen um ihr Handgelenk. Yolei stieß einen abgehackten Schrei aus, als die Flugkraft weg war und sie den letzten halben Meter abrupt zu Boden plumpste. „Ist alles in Ordnung, Yolei?“ Hawkmon flatterte heran, als sie sich ächzend erhob und den Straßenstaub von ihrer Uniform klopfte. Ihr Hinterteil schmerzte höllisch. „Nichts passiert.“ Sie streckte grinsend die Hand mit dem Ring wie eine Trophäe aus. „O weh“, machte Hawkmon. „Den müssen wir losmachen.“ Es zog seine Feder aus seinem Stirnband. „Aber sei vorsichtig.“ Hawkmon schleuderte die Feder wie einen Bumerang auf Yoleis Handgelenk. Ein metallisches Geräusch ertönte, als sie gegen den Ring prallte, aber das schwarze Band wies keinen Kratzer auf. „So geht es also nicht“, stellte Hawkmon fest, als es die Feder zurücksteckte. „Fühlst du dich irgendwie komisch, Yolei?“ Nur etwas beschwipst. „Nein, wieso denn? Ich bin doch kein Digimon. Und außerdem gibt es hier nirgends einen Schwarzen Turm. Mach endlich den Ring ab, der sitzt nämlich ganz schön fest.“ Das kühle Metall drückte schmerzhaft gegen ihre Haut, sodass sie kaum die Hand bewegen konnte. Wahrscheinlich sperrte der Ring auch ihre Adern wirkungsvoll ab. Hawkmon begann, mit dem Schnabel an dem Metall zu picken. „Autsch! Nicht so fest!“ „Entschuldige.“ Der Ring saß fest und klammerte sich unerschütterlich an Yolei. „So wird das nie was“, brummte eine missmutige Stimme. Yolei blickte sich um und sah drei Ninjamon vor sich stehen. Die Ordnungshüter der Stadt waren wohl auf sie aufmerksam geworden, als sie auf den Dächern geturnt hatte. „Ein Ring hält mehr aus als das“, sagte das mittlere besserwisserisch und fuhr ungerührt fort: „Wir müssen den Arm abschneiden. Und zwar schnell, ehe zu viele Digimon den Ring sehen.“ Es deutete auf die zahlreichen Schaulustigen, die auf der Straße angehalten hatten. Schon hielten die Ninjamon ihre Katana in Händen. „Das meint ihr doch nicht ernst!“ Hawkmon flatterte erbost auf. „Ihr spinnt wohl!“, rief Yolei und versuchte, den Ring mit ihren Fingernägeln zu lösen. Es half nichts, er saß fest wie angewachsen. „Yolei! Hawkmon!“ Joe kam mit wehendem Mantel aus der anderen Richtung gelaufen. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet und er keuchte schwer. Offenbar war er nicht der Sportlichste. „Wunderbar, da haben wir gleich einen vom Späten Nachschub. Da kann er dich ja dann gleich verbinden“, sagte ein anderes Ninjamon fröhlich. Täuschte sich Yolei, oder lallte es? Joe sah nicht so aus, als wüsste er, worum es gerade ging. „Haut ab, wir machen das selber“, fuhr Yolei die Ninjamon an. „Und seht besser nach, ob nicht noch irgendwo ein Ring umherschwirrt. Oder wollt ihr, dass ich der Prinzessin petze, wie vorbildlich nüchtern die Pagodenwache in ihrem Dienst ist?“ Das griesgrämige Ninjamon stieß seinen vorlauten Kollegen verärgert an und gab dann ein Zeichen. In einem Wirbel aus dunklen Blättern verschwanden sie. Yolei wusste, dass die Ninjamon einen gewissen Groll gegen sie hegten, weil ihre Prinzessin ihr, einer zugereisten Söldnerin, mehr Vertrauen schenkte als ihren eigenen Wachen. Deswegen glaubte sie nicht, dass die drei ihre Worte ernst gemeint hatten. Das Problem mit dem Ring blieb. Joe besah ihn sich kritisch, wusste aber auch keinen Rat. „Hawkmon, wenn du digitierst, könntest du ihn vielleicht dann zerstören?“ Hawkmon scharrte unbehaglich mit den Krallen über den Boden. „Vielleicht. Ich könnte dich aber verletzen.“ „Du schaffst das schon. Versuchen wir’s.“ Hawkmon sah sie forschend an, nickte dann aber. „Aber halt bloß still“, sagte es. Dann hüllte es goldenes Licht ein, sein Gefieder wurde länger, während sein Körper wuchs, bis ein riesiger gehörnter Adler seine Schwingen entfaltete und die Straße, als er sich in die Lüfte erhob, gänzlich vom Staub befreite. Die anderen Digimon stießen erstaunte Rufe aus, während Aquilamon einen Bogen flog und wieder auf Yolei zukam, die die Hand in die Luft gestreckt hielt. Aquilamons Hörner glühten auf wie Kohlen, und es flog so dicht über Yolei vorbei, dass der Windstoß sie fast von den Füßen riss. Eines seiner Hörner streifte den Schwarzen Ring, gerade so, dass sie die Berührung spürte. Noch während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte, fühlte sie das schwarze Metall zerbröseln, dann fiel der Ring von ihr ab und löste sich knirschend auf dem Boden in Datenmüll auf. „Puh“, machte sie und schüttelte ihr schmerzendes Handgelenk aus. „Endlich wieder frei.“ Aquilamon digitierte zurück, wobei es eins mit den Lichtern des Reisfests wurde, und landete vor Yolei. „Ich habe dir doch hoffentlich nicht wehgetan?“, erkundigte sich Hawkmon. „Nicht die Spur“, sagte Yolei leichthin. „Mich wundert es, dass der Ring sich nicht schon eher ein Ziel geschnappt hat“, murmelte Joe und sah in den samtenen Nachthimmel hoch, als erwarte er, dass gleich ein ganzer Schwarm weiterer Ringe auftauchte. „Ja, seltsam. Es war, als wollte er zuerst vor mir fliehen, und dann erst, als es keinen Ausweg mehr gab, hat er sich um meine Hand geschlossen. Komisches Ding.“ „Ich vermute, es war eine Art Späher“, überlegte Hawkmon. „Ein Späher des DigimonKaisers?“ „Ich habe gehört, er benutzt die Ringe auch zur Spionage. In seiner Festung sieht er dann die Bilder, die der Ring aufnimmt.“ „Ach, hätte ich das doch nur vorher gewusst!“, seufzte Yolei. „Dann hätte ich ihm im Großformat noch schnell den Mittelfinger zeigen können.“     Die gute Yolei. Das sieht ihr ähnlich, einfach so einem Schwarzen Ring hinterherzujagen. Wenigstens etwas. Ken tippte auf seiner gestaltlosen Konsole herum und spulte die Aufnahme zurück bis zu dem Gespräch, das sie und Joe geführt hatten. „Nein, ich bin der einzige. Früher einmal, als es noch mehr Menschen in der DigiWelt gab, und als noch wegen anderen Dingen Schlachten stattfanden, waren die meisten Zuverlässigen menschlich. Man braucht fast menschliche Finger, um Wunden gut zu verarzten. Aber es wurden wohl immer weniger; ich bin seit langem der einzige.“ Das waren Joes Worte gewesen. Ken nagte an seiner Daumenkuppe. Das ergab keinen Sinn! Die Wirklichkeit dünnte aus und Deemon wurde als gedanklicher Umriss in der Ecke des Kontrollraums sichtbar. Was hat das zu bedeuten?, fragte er es. Es hat sicher noch nie so viele Menschen in der DigiWelt gegeben wie jetzt. Die anderen Menschen auf dem Fest sind garantiert internationale DigiRitter, denen du untergeordnete Rollen verpasst hast, aber welche Leute hat Joe gemeint? Solche Menschen können nie existiert haben! Es ist gerade so, als findet es jedermann ganz normal, dass Menschen in der DigiWelt herumlaufen. Deemons Stimme erscholl in seinen Gedanken, scharf und rasch wie ein Pfeil. „Natürlich gab es diese Menschen nie. Den Orden der Zuverlässigen gibt es schließlich auch erst, seit wir unser Spiel begonnen haben. Wenn du ein Spiel reibungslos spielen willst, musst du erst die Spielsteine schleifen, Ken. Früher gab es Menschen in der DigiWelt, genauso wie Digimon. Die Digimon digitierten, während die Menschen nur alterten und starben. Das ist Evolution, Ken. Die Starken setzen sich durch, die Schwachen verschwinden nach und nach. Diesen Aspekt habe ich in unser Spiel eingebaut. Nur so konnte ich so viele deiner Mitmenschen einbringen, wie ich wollte.“ Deemon ließ ihn sein knochentrockenes Lachen hören, ehe Ken sich wieder auf die Realität konzentrierte und die Illusion verschwand. Plötzlich konnte er sich das Video nicht mehr zuende ansehen. Er stand auf, straffte sein Cape und verließ den Kontrollraum. Ziellos marschierte er durch die Gänge der Festung. Yolei ist eine Söldnerin. Joe ist Arzt. Sie kannten sich bis eben nicht. Die Prinzessin muss Mimi sein, und anscheinend will der Held der Schlacht um die Voxel-Stadt ihr Herz erobern. Dieses Spiel wurde immer verworrener. Die ganzen Regeln würde er nie überschauen können … Wie tief hatte Deemon wohl in der Vergangenheit seiner Freunde gewühlt? Er wollte es nicht fragen, nicht wieder sein überlegenes Lachen hören. Mit Sicherheit wusste er momentan nur, dass es kaum Hoffnung gab, diesen Krieg zu gewinnen, ohne irgendwie das dünne Netz, das seine Freunde in dieser DigiWelt darstellten, zu zerreißen. Und wenn alles so lief, wie Deemon es höchstwahrscheinlich plante, und er sich zu lange Zeit ließ, würden seine Freunde es selbst zerreißen – als Feinde, die sich nie kennen gelernt hatten und an unterschiedlichen Fronten dieses Krieges standen.   There is nothing left in you There is nothing left for broken heart’s rivers Down low, you’re the fallen one So close, so far away from love You’re shadow in the sun (My Reflection – Shadow In The Sun) Kapitel 6: Drachenzorn ---------------------- Tag 19 „Danke für diese Audienz, mein Kaiser.“ Das plüschige, weiße Digimon verbeugte sich tief. Seine blaue Rüstung schimmerte im bleichgelben Neonlicht des Aufsichtsraums von Hangar 2; Brustharnisch, Stirnhelm, Arm- und Beinschienen. Seine buschige, silberweiße Mähne und der Schwanz verliehen ihm etwas Löwenhaftes. Ken hatte sich Spadamon etwas … eindrucksvoller vorgestellt, aber es war immer noch um Längen besser, als ein weiteres Digimon mit einer Fratze wie Ogremon zu beschäftigen. Spadamon sah zwar niedlich aus, aber es wirkte selbstsicher und erhaben, selbst, als es sich verneigte. „Setz dich, ich habe nicht sehr viel Zeit.“ Mit der dampfenden Kaffetasse, die Ken noch in der Hand hielt und mithilfe derer er jetzt, kurz vor Sonnenaufgang, richtig wach zu werden versuchte, deutete er auf einen kleinen Container vor dem Verwaltungstisch, an dem er saß. Die Invasion der File-Insel stand an und Ken hatte eigentlich in ein paar Minuten mit dem Geschwader losfliegen wollen, als er die Nachricht erhalten hatte, dass Spadamon seinem Ruf aus der Arkadenstadt in die Festung gefolgt war. Ken erinnerte sich gut an die Arkadenstadt, die ihren Namen von den zahllosen, steinernen Arkaden und Wandelgängen hatte – und es waren keine schöne Erinnerungen, für keinen der Beteiligten. Damals war es die letzte Stadt an der Knöchelküste gewesen, die Kimeramon auf sein Geheiß zerstört hatte, ehe seine Fliegende Festung auf dem Weg durch die Kaiserwüste abgestürzt war. Die Stadt war wieder aufgebaut worden, wenn auch nicht ganz so prächtig wie früher, nur hatten die Einwohner der Stadt verständlicherweise nichts mit dem neuen DigimonKaiser zu tun haben wollen – der zufällig sogar derselbe wie damals war. An eine friedliche Übernahme wäre daher zunächst nicht zu denken gewesen; Kens Boten waren sogar mit Schimpf und Schande verjagt worden. Ken hatte sich schweren Herzens damit abgefunden, die Stadt im Sturm zu nehmen und die Bewohner mit Schwarzen Ringen ruhigzustellen, als das Wunder geschah. Wie er hörte, wurde die Stadt zu der Zeit immer wieder von Banditen überfallen. Es gab keine Todesfälle und nur wenig Zerstörung in der Stadt, aber jede Menge Verschleppungen und Plünderungen. Spadamon, das sich als gewitzter Berater der Stadt erwiesen hatte, brachte den Bürgermeister, ein stures Rockmon, schließlich dazu, sich dem Kaiserreich anzuschließen, um Schutz vor weiteren Überfällen zu haben. Rockmon bat Ken letztendlich, genau dafür zu sorgen, doch kaum dass er einen Turm in der Stadt gebaut und sich das Gebiet offiziell einverleibt hatte, hörten die Überfälle auf. Geraubtes Gut wurde zurückgebracht und fast unauffällig unter Kens Entschädigungslieferungen gemischt. Die entführten Digimon waren freigelassen worden und erzählten, die Banditen hätten es schlicht mit der Angst zu tun bekommen, weil die Arkadenstadt nun Teil eines größeren Reiches war. Ken hatte sich damit zufrieden gegeben – denn für Zufriedenheit hatte er allen Grund gehabt. Bis gewisse Gerüchte seine Ohren erreichten, wo er nicht anders konnte, als sie genauer untersuchen zu lassen. Seine Spione fanden heraus, dass Spadamon selbst hinter den Überfällen steckte. Es hatte die Banditen bezahlt und abgesprochen, im Falle der Übernahme durch Ken den Schaden wiedergutzumachen. Obwohl Ken es noch nie in seinem Leben gesehen hatte, hatte dieses Digimon alleine bewirkt, dass ihn eine ganze Stadt, die ihn wie die Pest gehasst hatte, nun als Erlöser sah und froh war, sich ihm angeschlossen zu haben. Also hatte er es ausfindig gemacht und nach ihm schicken lassen, und Spadamon war anscheinend sehr erfreut darüber gewesen. „Deine Heldentat verwirrt mich, muss ich zugeben“, bekannte Ken und trank einen Schluck Kaffee. Er war schwarz und bitter, und genau das brauchte er. Bis dieses Spiel zu Ende war, war bitter genau richtig. „Warum hast du das getan? Wenn du aufgeflogen wärst …“ „Ihr ehrt mich, es als Heldentat zu bezeichnen.“ Spadamon setzte sich auf den Plastikcontainer; eine andere Sitzgelegenheit gab es hier nicht für es. „Es war eher ein Akt der Vernunft.“ „Rockmon würde es wohl eher Wahnsinn nennen, wüsste es davon.“ Spadamon kicherte. „Eindeutig. Aber Rockmon ist blind wegen dem, was damals passiert ist. Ich bin noch nicht so alt, ich kann mich nicht an den letzten DigimonKaiser erinnern oder sein fliegendes Untier. Ich sehe nur die Gegenwart.“ Endlich ein Digimon, das mich nicht hasst, auch wenn es gerechtfertigt wäre. „Sei so gut und sag mir deine Gründe.“ „Gerne, mein Kaiser. Es ist eigentlich ein banaler Grund. Ihr wisst vielleicht, dass ich so etwas wie ein Berater für Rockmon und die hohen Persönlichkeiten der Arkadenstadt bin – nein, ihr wisst es sogar mit Sicherheit. Das Problem …“ Spadamon unterbrach sich, als jemand an die Tür klopfte. „Herein“, sagte Ken, und ein Gotsumon trat ein, mit zwei Tellern Nusskuchen, die es auf dem Tisch abstellte. Ken hatte für Spadamon sein Frühstück verdoppelt – eine Geste, die der alte DigimonKaiser verabscheut hätte, und genau darum wollte er gastfreundlich sein. Nachdem der Diener gegangen war, machte Ken eine entsprechende Geste auf den Kuchen. „Oh, danke“, sagte Spadamon und strahlte. „Ich liebe Süßes, müsst Ihr wissen.“ Dass es sich noch nicht einmal vergewissert, dass es kein süßes Gift ist, überlegte Ken. Vielleicht war Spadamon doch nicht das Digimon, nach dem er suchte. „Also das Problem ist, dass die Arkadenstadt einfach keinen Einfluss hat. Nirgendwo. Wir leben zwischen einer Wüste aus Sand und einer aus Felsen, die wie Fingerstümpfe aussehen. Wir verbringen einfach so unser Leben dort, genießen es, wenn möglich, aber wir tun einfach nichts. Das wollte ich ändern. Nun sind wir Teil von etwas Größerem.“ Spadamons Augen funkelten, während es herzhaft eine Gabel voll Kuchen verschlang. „Ich bin jetzt Teil von etwas Größerem. Ihr habt mich nicht nur gerufen, weil Ihr mich nach meinem Grund fragen wollt. Mein Grund war einfach, mich zu profilieren. Ihr habt mich gerufen, weil ich schlau bin, und Ihr braucht schlaue Digimon. Und es wäre mir eine Ehre, für Euch zu arbeiten. Dann kann ich von mir sagen, ich habe dem mächtigen DigimonKaiser tüchtig unter die Arme gegriffen. Der Kuchen ist übrigens sehr gut.“ Ken stellte seine Tasse ab und hob die große Walnusshälfte auf der Spitze des Kuchens mit seiner Gabel auf. „Du bist also schlau und ehrgeizig … oder nur hochmütig. Warum glaubst du, sollte ich dir trauen?“ Spadamon grinste ein katzisches Grinsen, während es beobachtete, wie Ken die Walnuss aß. Sie schmeckte abartig süß und ... schleimig. „Wenn es nicht reicht, dass ich Euch eine Stadt zum Billigpreis verschafft habe, dann überzeugt es Euch vielleicht, dass ich den Kuchen nur mit Zuckersirup bestrichen habe und nicht mit Gift.“ Ken stutzte, die Gabel noch im Mund. Im selben Moment hörte er lautes Getrampel, Steinfüße auf dem metallenen Boden, dann wurde die Tür aufgerissen. „DigimonKaiser! DigimonKaiser! Esst nicht den Kuchen!“, rief Gotsumon atemlos. „Es ist schrecklich! Die Küche! Jemand war in der Küche!“ Es wedelte mit einer Serviette, auf der mit blauer Kreide etwas geschrieben stand. Ken erstarrte, sah in Spadamons Augen, das zustimmend nickte und lächelte. Langsam kaute er die Nuss zu Ende und schluckte. Er fühlte sich ausgetrickst, beschämt, und wollte seine Würde wenigstens dadurch bewahren, dass er kaltblütig weiteraß. „Danke, Gotsumon“, sagte er ruhig. „Leg die Nachricht hier ab und dann verschwinde.“ „A-aber Herr …“, murmelte das Felsengesicht. „Hast du mich nicht verstanden?“ „Verzeiht, Herr!“ Gotsumon legte die Serviette auf den Tisch und floh aus dem Aufsichtsraum. Ken drehte sie zu sich herum. Eine kindliche Kritzelei war darauf zu sehen; ein sehr, sehr abstraktes Bild von Spadamons Gesicht, das ihn angrinste, und darunter eine krakelige Nachricht im Digi-Alphabet, sodass er ein wenig brauchte, um sie zu entziffern. Süße Träume stand da. Die Zweideutigkeit entging Ken nicht. Er horchte in sich hinein, ob er sich irgendwie seltsam fühlte, doch da war nichts. Er probierte erneut von dem Kuchen, der so süß war, dass er ihm Sodbrennen bescheren würde – aber das war alles, was er ihm antun konnte. „Mach das nie wieder“, brummte er missmutig. Spadamon grinste wie ein kleines Kind, dem ein Streich geglückt war. „Ihr seht, eine Kostprobe meiner Fähigkeiten. Und meiner Treue. Und des Zuckersirups, das wir in der Arkadenstadt herstellen. Geruchlos, durchsichtig, unwiderstehlich.“ Spadamon hatte also doch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass der Kuchen, den er ihm servierte, vergiftet war und er sich eines potentiellen politisch geschickten Gegenspielers entledigen wollte. Nicht nur das, es hatte beschlossen, ihm zu vertrauen, und gleichzeitig die Möglichkeit verstreichen lassen, ihn seinerseits zu vergiften. Spadamon war tatsächlich das Digimon, das er brauchte. Sie aßen schweigend den Kuchen und Ken spülte die widerwärtige Übersüßung mit dem Rest seines Kaffees hinunter. Dann tupfte er sich den Mund mit der Rückseite von Spadamons Serviette ab. „Du bist beängstigend gut“, sagte er. „Ich habe vielleicht wirklich Verwendung für dich. In die Küche zu schleichen ist nicht leicht, zumal du ja noch nie hier warst und die Gänge nicht kennst. Du scheinst mir ein guter Schleicher zu sein, und du bist gut im Auffinden von Dingen. Stimmt das?“ Spadamon grinste und schlug sich an die Brust, und in dem Moment erinnerte dieser kuschelige Winzling Ken an Ogremon. „Schlau, treu, hochmütig. Geschickt, flink, unbemerkt, diskret, genau und mit sehr guten Augen. Spadamon, zu Diensten.“ Ken beugte sich vor und verschränkte die Finger ineinander. Wenn das hier ein Bewerbungsgespräch war, würde jemand Spadamon ernst nehmen? „Ich habe da einen Auftrag, der geschickt, flink und diskret ausgeführt werden muss. Traust du dir zu, einige Menschen für mich auszukundschaften? Ich gebe dir genaue Beschreibungen, und du sagst mir, wo sie sind und was sie machen. Bring alles über sie in Erfahrung, was du kannst, ohne dass jemand erfährt, dass du für mich arbeitest. Sie sind womöglich über den ganzen Kontinent verstreut, und ich erwarte regelmäßig genaue Berichte von dir. Traust du dir das zu?“ „Oh, das ist ja mehr als einfach.“ Spadamon schaukelte vergnügt auf seinem Container herum. „Menschen zu finden, meine ich. Die stechen ja genug hervor.“ „Gut. Warte vor der Festung, ein Hagurumon wird dir die Beschreibungen vorbeibringen. Und keine Streiche mehr“, schärfte er ihm ein. „In Ordnung, mein Kaiser.“ Plötzlich hatte Spadamon seine Höflichkeit zurück. Es sprang auf, verbeugte sich und wandte sich zum Gehen. „Eine Sache noch. Wie gut kannst du Menschen einschätzen?“ Ken lehnte sich zurück und bemühte sich, entspannt zu wirken. In Wirklichkeit zog sich sein Magen vor Nervosität vor Spadamons nächsten Worten zusammen. „Sie sind doch nicht viel anders als Digimon. Ich beurteile Digimon anhand ihrer Ziele.“ „Dann sag mir, denkst du, ich bin ein böser Mensch, weil ich die DigiWelt erobern will?“ Er bemühte sich um ein gemäßigtes, diabolisches Lächeln. Spadamon zuckte mit den Schultern. „Nein. Ich glaube, Ihr seid nur ehrgeizig. Ihr wollt etwas Großes vollbringen, im Endeffekt geht es ja nur darum. So wie ich.“ Es lächelte verschmitzt. „Darum mag ich Euch.“ Ken hoffte, dass seine Brille seine Miene ausreichend verschleierte. Er nickte. „Du kannst gehen.“ Das Zeltlager war fast vollständig abgebrochen. Joe ging mit Gomamon soeben die Vorräte seiner Einheit durch. Sie hatten einen erstaunlichen Lagerumschlag, vor allem bei simplen Verbandsbeständen. Beim Ausbruch des Krieges war es noch schlimmer gewesen; er konnte sich an Fälle erinnern, die er mit Toilettenpapier behandelt hatte, ganz einfach, weil sonst nichts verfügbar gewesen war. Das konnte er weder Menschen noch Digimon zumuten. Zumindest seine Einheit, eine von vieren im Orden, hatte wieder genügend Verbandszeug, Heilkräuter und sogar wertvolle, moderne Medizin aus der Voxel-Stadt, um mindestens für eine weitere Schlacht gewappnet zu sein – wenn es denn keine allzu große war. „Seid ihr bald fertig? Wir wollen noch vor Sonnenuntergang marschieren.“ Ein Orcamon war auf sie zugetreten. Diese Digimon machten den Hauptbestandteil des Ordens der Zuverlässigen aus; sie waren schwarzgraue Wale, die auf ihren zwei Flossen erstaunlich flink watscheln konnten. Um die Brust trugen sie eine Schwimmweste und um den weißen Bauch einen Rettungsring. Darüber war das Wappen der Zuverlässigkeit zu sehen. Mit ihren Flossenhänden konnten sie Verbände nicht so gut wickeln wie Joe, aber sie besaßen überraschend viel Feingefühl und bereiteten ihren Patienten wesentlich weniger Schmerzen als er. Außerdem konnten sie dank ihrer Haut sofort schätzen, wie viel Fieber jemand hatte, und unter ihrem plumpen Äußeren versteckten sich noch viele andere nützliche Eigenschaften. Der Orden hatte seinen Anfang in der großen Bucht unterhalb des Stiefels gefunden, hatte Joe sich sagen lassen, daher waren die Gründungsmitglieder vor allem Wasserdigimon gewesen. Umso weniger konnte er sich vorstellen, dass sie jetzt in ein so trockenes Gebiet ziehen wollten. „Gleich. Wir müssen nur noch die Inventur abschließen, dann ist die Liste vollständig und wir können los.“ Joe rückte sich seine Brille zurecht. „Gewissenhaft wie eh und je“, seufzte Orcamon. „Beeilt euch einfach, ja?“ Als er seinen Rucksack schulterte, warf Joe einen Blick in den Himmel. Wie ein glühendes Auge starrte die Sonne auf die Große Ebene herab. Ein Wunder, dass das Gras noch nicht ausgedörrt war. Sie würden es wahrscheinlich bald sein, wenn sie wirklich bis zur Felsenklaue marschieren wollten. Sie hatten viele Wasservorräte mitgenommen, auch Salzwasser, mit dem die Orcamon ihre empfindliche Haut feucht halten konnten, aber trotzdem fand er es unvernünftig. Aber der Grundsatz des Ordens lautete, andere über sich selbst zu stellen. Hier auf der Ebene war es vergleichsweise ruhig geworden. Der DigimonKaiser hatte schon östlich von Little Edo ein Patt erfahren müssen, das Nördliche Königreich hatte seine Aufmerksamkeit auf seine innerpolitischen Probleme gerichtet und setzte nun mehr auf Diplomatie als auf Schlagkraft. Hart gekämpft wurde aber noch im Süden zwischen den Truppen der Schwarzen Rose und den Digimon, die unter dem Einhornbanner aus der Wüste zogen. Von Westen fielen angeblich ebenfalls Truppen in das Land der Rose ein; die Vasallen des Einhorns hatten sich Gerüchten zufolge unter einem menschlichen Marschall namens Keiko in Locomotown versammelt. Dort, in der unwirtlichen Landschaft der Felsenklaue, am Rande der Wüste, fand der Krieg statt. Dort würde es die meisten Verwundeten geben, und dort brauchte man ihren Orden am dringendsten. „Lass uns gehen, Gomamon“, sagte Joe entschlossen. „Du bist ja heute so voller Tatkraft“, neckte ihn sein langjähriger Partner. „Wie kommt das?“ „Wir müssen immer voller Tatkraft sein, das ist wichtig für unsere Moral und unsere Patienten“, meinte er. Dabei dachte er an das Mädchen und das Hawkmon, die er auf diesem Fest in Little Edo getroffen hatte. Es war schade, wieder in die völlige Fremde zu ziehen, wo er niemanden kannte. Ihm wäre wohler gewesen, wenn sie hiergeblieben wären, wo alles ruhiger und nicht so unbekannt war. Seufzend folgte er den Orcamon und den anderen Mitgliedern des Ordens, die sich in Bewegung setzten. Es half alles nichts, die Pflicht rief. Innerlich noch ein wenig aufgewühlt, traf sich Ken schließlich im Hangar 2 mit Wormmon und dem Invasionsgeschwader. Er hatte ursprünglich auf einem Airdramon fliegen wollen – er hatte ja genügend dabei. Die Airdramon nahmen es ihm wenig übel, dass er sie und ihre Artgenossen mit Schwarzen Ringen versklavt hatte, hatten sie als seine persönlichen Transportmittel doch eine Art Sonderstatus genossen. Schließlich hatte er sich aber besonnen und entschieden, den größten Teil der Strecke stattdessen mit Stingmon zu fliegen. Der alte DigimonKaiser hatte von Wormmons Fähigkeiten nie Gebrauch gemacht, und das war ein weiterer Anker für sein wahres, gutherziges Ich. Wormmon konnte hier inmitten der Türme zwar auch nicht digitieren, doch als das Geschwader die Küste erreichte, bildete Stingmon mit Ken auf seiner Schulter die Spitze. Die Airdramon flankierten ihn als Leibgarde, besetzt mit Gotsumon-Arbeitern, den Schweif der Lufteinheit bildeten drei Dutzend Pteramon, die Container mit Ausrüstung, Verpflegung und Granulat schleppten. Sie kamen viel langsamer voran, als Ken geplant hatte. Er vertrieb sich die Zeit damit, sich Statusberichte von den Hagurumon über seinen Connector anzuhören, dessen Reichweite bald abbrach, weil es keine Schwarzen Türme gab, die das Signal hätten weiterleiten können. Immerhin erfuhr er, dass die Kavallerie der Schwarzen Rose den Bohrturm vollständig besetzt hatte und die Messgeräte sogar ein Ultra-Digimon aufzeichneten. Zu Gesicht bekommen hatte es aber noch niemand. Dann gab es noch Gerüchte über eine Räuberbande, die um die Kesselstadt herum ihr Unwesen trieb, was Ken wieder an Spadamon denken ließ, und irgendwo im Westen hatte ein Saatkind eine sogenannte Goldene Zone festgelegt, die es unter seiner Herrschafft in mehrere Lehen aufgeteilt hatte, wenn Ken die Hinweise richtig deutete. Erst am Nachmittag kam die File-Insel in Sicht, winzig klein erst von der Ferne, der Berg der Unendlichkeit wie ein mahnender Finger in die Höhe gereckt. Das Landeziel stand bereits fest. Bürgermeister Monzaemon war alles andere als erfreut, als plötzlich die Truppen des DigimonKaisers in seiner Spielzeugstadt landeten und die Gotsumon begannen, einen kleinen Außenposten zu errichten – der vornehmlich aus einem Nahrungslager, einem Zelt für Ken und natürlich einem riesigen Schwarzen Turm bestand, dessen Reichweite die halbe Insel überdecken würde. Das Granulat wurde auf einen Haufen geschüttet und, bestrahlt von Kens D3-DigiVice, begann es zu brodeln, schwappte in die Höhe und bildete eine feste, obeliskenartige Form. Es ging auch anders, aber das war der schnellste Weg, das Granulat umzuformen. Monzaemon äußerte seinen Unmut, aber der gutmütige Teddybär war viel zu weichherzig, um sich auf einen Kampf mit Ken einzulassen – zum Glück. Ein Ultra-Digimon als Feind hätte große Probleme bereiten können. Die Stadt war recht hübsch, wenn auch ziemlich klein. Ken wusste, dass Mimis Palmon hier zum ersten Mal digitiert war. Die Häuser waren mit Ziegelsteinen gedeckt, die bunte, kitschige Türmchen bildeten, die Gebäudegrundrisse entweder kreisrund oder viereckig. Die Fassaden schienen aus Fachwerk zu sein, waren aber ebenfalls in grellen Farben gehalten. Die Straßen waren mit Pflastersteinen ausgelegt, so glatt wie Glas, die manchmal lustige Mosaike bildeten. Während Ken unter der aufgespannten Plane seines Zelts im Schatten seine zweite Tasse heißen Kaffee an diesem Tag genoss – der lange Flug hatte ihn ermüdet – rodeten die Airdramon mit ihren Feuerstrahlen den Wald, der die Spielzeugstadt umklammert hielt, bis sie eine freie Fläche geschaffen hatten, die fünf Kilometer weit keinerlei Deckung verhieß. Die höchsten Türmchen der Stadt wurden als Beobachtungsposten hergenommen. Ken stellte sicher, dass keiner seiner Digimon vergaß, dass die File-Insel trotz allem feindlichen Boden darstellte. Die Arbeiten dauerten bis zum Abend. Die Sonne ging hinter dem Berg der Unendlichkeit unter und tauchte die Stadt in verträumtes, rötliches Licht. Ken wollte den Angriff nicht gegen das Sonnenlicht führen, und so entschloss er sich schweren Herzens eine Nacht zu warten. Er schlief sehr unruhig, stets darauf vorbereitet, die Alarmsirenen zu hören – oder noch schlimmer, plötzlich ein fremdes Digimon in seinem Zelt vorzufinden. „Warum greift es uns nicht an?“, murmelte er in die Dunkelheit. „Es muss doch mitbekommen haben, dass wir gelandet sind.“ „Vielleicht nimmt es uns nicht ernst“, meinte Wormmon, das neben ihm auf seinem Kissen ebenfalls keinen Schlaf fand. „Izzy hat mir erzählt, seine Zahnräder konnten auch Ultra-Digimon beherrschen. Sie sind mächtiger als meine Schwarzen Ringe.“ Wormmon schmiegte sich an seine Wange. „Mach dir keine Sorgen. Am Ende wird alles gut ausgehen.“ Sie begannen den Angriff beim ersten Tageslicht, als sie die Sonne im Rücken hatten. Die Airdramon und Pteramon stimmten zu, sich zur Sicherheit Schwarze Ringe umzulegen, um einigermaßen vor der Übernahme durch Devimons Zahnräder geschützt zu sein. Dann flogen sie los und bombardierten den Berg der Unendlichkeit, die Airdramon mit ihrem Feuer, die Pteramon mit viel effektiveren Raketenwerfern. Sie feuerten und feuerten, kehrten einzeln zwischendurch zurück, um sich an Essen und Öl zu stärken, und flogen erneut los. Das Krachen der Geschütze beruhigte Ken auf eine abstruse Art und Weise. Es verlieh ihm das Gefühl, eine gewaltige Streitmacht zu befehligen, so mächtige Digimon, dass sich ihm niemand entgegenstellen konnte. Insgeheim hoffte er, dass er nicht zu viele Verluste würde einstecken müssen, wenn sie Devimon erst herausgelockt hatten. Am besten gar keine. Monzaemon hatte sich in den hintersten Winkel seines Rathauses verkrochen und hielt sich die Ohren zu, wie Ken durch ein Fenster sehen konnte. Ich komme zur File-Insel wie ein Tyrann und Vernichter, dachte er finster. Aber anders kann ich ihr den Dämon nicht austreiben. Als wieder es Abend wurde, rief er das Geschwader zurück. Todmüde und erschöpft legten sich die Flugdigimon zum Schlafen nieder. Ken ging ihre Reihen durch und lobte sie und dankte ihnen. Der Berg der Unendlichkeit schien aus der Ferne kaum etwas abbekommen zu haben, stolz wie immer ragte er auf, die ganze Insel überblickend, doch Ken wusste, dass seine Felshänge nun mit Kratern und Brandflecken übersät waren. Einen Berg zu zerstören dauerte seine Zeit, doch das wollte er ja gar nicht. Es reichte, ihn zu erschüttern. In dieser Nacht hielt Ken schließlich selbst Wache auf einem der hübschen, rosafarbenen Türmchen, als laute Rufe und das Schrillen der Alarmsirenen ertönten. Er schluckte. Es war so weit. Kurz darauf konnte er sie sehen – die Silhouette eines schlanken, finsteren Digimons vor dem fast vollen Mond, dessen lederne Fledermausschwingen es auf die Spielzeugstadt zutrieben. Ken erwartete Devimon auf dem Hauptplatz der Stadt, deren Pflastersteine Monzaemons Gesicht nachbildeten. Das dämonische Digimon glitt völlig ruhig durch die Luft heran, einzig seine Stiefel ließen ein leises Klacken hören, als es landete und die überlangen Arme auf eigenartige Weise vor dem orangegelben Fledermaussymbol auf seiner Brust verschränkte. „Sieh an“, sagte es und Ken schauderte ob seiner Stimme. „Ich muss wohl meine Pläne etwas verschieben und erst wieder für Ruhe sorgen. Du bist wohl von dem Kontinent jenseits des Ozeans hierhergekommen, um zu sterben?“ Nur die Ruhe. Du hast ihm schon Ogremon abspenstig gemacht. Und Deemon und Myotismon waren beide furchterregender. Ken war stolz auf seine feste Stimme, als er sagte: „Hast du etwa gedacht, du kannst meinem Griff entkommen, wenn du dich hier auf deiner Insel versteckst?“ „Dummer Mensch. Ich wäre schon noch zu dir gekommen.“ „Dort nützt du mir aber nichts. Ich brauche dich hier als meinen Gouverneur.“ Devimon wirkte kurz überrascht, dann warf es den Kopf in den Nacken und lachte. „Der gefürchtete DigimonKaiser. Du bist sehr unterhaltsam, es wird mir eine Freude sein, dich zu vernichten.“ Es breitete die langen Arme aus und aus der Nacht hinter ihm schälten sich surrende, runde Gegenstände. Die Schwarzen Zahnräder fielen wie ein Wespenschwarm über der Spielzeugstadt her, fuhren in Pteramon und Airdramon und Gotsumon, gruben sich in ihre Körper und ließen sie brüllen und sich aufbäumen. Wormmon klammerte sich in den Umhang auf Kens Rücken und wurde nicht erwischt, aber die Zahnräder sausten knapp neben ihm vorbei und ließen sein Cape und seine Haare flattern. Ken verzog keine Miene. „Du hättest dich niemals mit der Macht der Dunkelheit anlegen sollen“, verkündete Devimon. Ich weiß. Aber ich habe es getan und die Angst davor verloren. Keines seiner Digimon griff Ken an, sie versuchten nur, aus eigener Kraft oder gegenseitig die Zahnräder zu entfernen, die in ihren Körpern steckten. „Was geht hier vor?“, donnerte Devimon. Ken war nach seinen Sorgen in der letzten Nacht tagsüber nicht untätig gewesen. Ein kleiner Erkundungstrupp hatte ein Numemon ausfindig gemacht, das sich ein Schwarzes Zahnrad eingefangen hatte – und das hatte gar nicht lange gedauert; ohne die DigiRitter verbreiteten sich die Dinger wohl rasend schnell und nur wenige Digimon waren nicht von ihnen betroffen, der Rest blieb aber zum Glück dümmlich an Ort und Stelle. Ken hatte ein Experiment mit einem Schwarzen Ring durchgeführt. Zwar konnte er keine Ultra-Digimon beherrschen, Myotismons Programm zum bloßen Loyalitätsumschwung überschrieb allerdings das von Devimon, das die Digimon einfach nur bösartig werden ließ. Das Signal hatte eine höhere Wellenlänge und war somit effektiver, und Devimons Zahnräder verloren ihre Wirkung. Devimon konnte ihm gar nicht seine Digimon nehmen, wenn, dann war es umgekehrt. „Unmöglich“, murmelte Devimon, das diesen Umstand auch zu erkennen schien. „Ein Mensch soll mir überlegen sein?“ „Wäre nicht das erste Mal“, sagte Ken leise. Devimon breitete erneut Flügel und Arme aus und rief seine Zahnräder herbei – nur dass sie ihm diesmal in den eigenen Rücken fuhren. Mit einem unterdrückten Schrei zuckte Devimon und wuchs über sich hinaus, bis es Kens Schwarzen Turm, das jetzt höchste Gebäude der Stadt, überragte. „Du bist ein verdammter Narr. Denkst du wirklich, du könntest mich so einfach besiegen?“ Es streckte seine Hände nach Ken aus, langsam und drohend. Ken lächelte. „Noch viel einfacher. Du bist schließlich auch nur ein Champion-Digimon.“ Aus dem Schatten des Schwarzen Turms löste sich ein weiterer, dunkler Schwarm, nur waren es diesmal Schwarze Ringe. Sie flogen an Devimons riesiger Gestalt hoch und schlossen sich um seinen Körper, wo sie Gelegenheit fanden; um seine Finger, seine Arme, Beine, seine Hörner. Devimon schien zu ahnen, was mit ihm geschah, denn es taumelte ächzend rückwärts und zappelte, als wolle es lästige Insekten verscheuchen. Dann breitete es seine Flügel aus ¬– die Airdramon und Pteramon waren in den Himmel gestiegen und deckten das dunkle Digimon mit Schüssen und Feuerbällen ein, wobei sie darauf achtete, seine Brust oder seinen Rücken zu erwischen, um keinen der Ringe zu zerstören. Devimons Flucht aus der Reichweite des Schwarzen Turms endete abrupt. Ken hatte nicht gezählt, wie viele Zahnräder es sich einverleibt hatte, doch das spielte auch keine Rolle mehr. Als wäre es tatsächlich von einem wuselnden Insektenschwarm überzogen, bedeckten Schwarze Ringe seine Arme, Beine und Hörner dicht an dicht und hüllten es in eine neue, noch tiefere Schicht Schwarz, aus der es immer wieder kurz rot aufglühte, wenn sich ein neuer Ring festgesetzt hatte. Devimon stieß noch ein Stöhnen aus und wehrte sich schließlich nicht mehr. Seine roten Augen waren von einem unheimlichen Glühen erfüllt, und als sich Wolken vor den Mond schoben, waren sie das Einzige von ihm, was man klar erkennen konnte: rote, riesige Kohlen, die irgendwo in diesem schwarzen Giganten schwebten. „So bist du mir zu groß, Devimon“, rief Ken zu ihm hoch. Das Digimon senkte den Kopf und verbannte die Zahnräder aus seinem Körper. Mit jedem, das in die Nacht davonflog, schrumpfte es, bis es wieder seine Normalgröße hatte. Ken legte den Kopf schief. Er verzichtete zur Sicherheit darauf, seine Ringe abzuziehen, auch wenn er ohne die Zahnräder nicht so viele brauchte, um es unter Kontrolle zu halten. „Was denkst du, werden wir uns einig?“ Devimon faltete die Flügel zusammen und fiel demütig auf ein Knie nieder. „Ich lebe, um Euch zu dienen“, sagte dieselbe Stimme, die Tai und den anderen damals und nun ihm selbst den Tod geschworen und Angst und Schrecken in ihnen hervorgerufen hatte. Ken atmete tief durch. Das wäre geschafft. „Ich halte mein Wort. Du hast die Insel bereits mehr oder weniger erobert, also setze ich dich als meinen Gouverneur ein. Du wirst für mich weitere Schwarze Türme bauen und die Insel in meinem Namen nach meinen Wertvorstellungen regieren – es wird sich also einiges ändern. Und vor allem wirst du die Stadt des Ewigen Anfangs beschützen. Die geschlüpften Digimon werden trainiert und nach Server geschickt, damit sie meine Armee unterstützen.“ Er hasste es, den Kleinen keine Wahl geben zu können. Wenn ich eure Welt gerettet habe, dann. Dann könnt ihr euer eigenes Leben leben, nur für euch selbst. Er würde auf jeden Fall weitere Soldaten schicken müssen. Die Stadt des Ewigen Anfangs war ein wichtiger Brennpunkt für alle Fraktionen in diesem Krieg – er hatte nur das Glück, sie als Erster einzunehmen. Nun musste er sie halten. Aber das hatte Zeit bis morgen. Heute Nacht war ein voller Erfolg geworden. Ich sammle böse Digimon, fiel ihm auf. Er hielt Devimon die Plane zu seinem Zelt hoch. „Komm, wir besprechen die Einzelheiten deiner Aufgaben, Pflichten und Befugnisse.“ Und Devimon verneigte sich gehorsam. Tag 20 „Wenn du noch einen Mucks machst, stopf ich dir deine dämliche Perlenkette ins Maul“, schnauzte Sagittarimon das gefesselte Kongoumon an. Das Käferdigimon, dessen goldener Panzer alleine eine Frechheit war und das sich eben wegen der Hitze beschwert hatte, verstummte und endlich herrschte wieder Frieden in dem kleinen Zug, der zwischen den felsigen Steilwänden der Schlucht trottete. Sie waren vor allem wegen der Goatmon so langsam. Die ziegenartigen Digimon mit den riesigen Hörnen und den Stirnpanzerungen waren Kongoumons Packtiere und zwar äußerst fügsam, aber auch träge – und ihre Ladung war auch nicht zu verachten. Der Überfall war ein voller Erfolg gewesen, kaum viel Gewalt war ins Spiel gekommen. BomberNanimon hatte Kongoumon schnell überwältigt gehabt und die beiden kümmerlichen Kokuwamon-Lehrlinge, die es dabei gehabt hatte, hatten beim Anblick der Getreuen das Weite gesucht. Lange hatte ihnen eine Karawane so wenige Probleme bereitet. Kongoumon hatte Eisenbarren und Rohstahl bei sich gehabt, kostbares Geschmeide und feine Kleidung, die auf Menschen zugeschnitten war, außerdem Orangen, File-Bananen und Säcke voller Körner, gesalzenen Fisch, Schmieröl für Maschinen, teuren Wein, elektrisches Zeug wie Computer und Ortungsgeräte, Kabel, Munition für Revolvermon und allerlei kleines Kriegsmaterial. Letzteres hatten sie an Ort und Stelle vernichtet und die Waren dann so umgeladen, dass zwei der sechs Goatmon frei wurden. Auf einem ritten nun Davis und Veemon, auf dem andere hatten sie ihre beiden Gefangenen aneinandergebunden. Es dauerte allerdings nur Minuten, bis Kongoumon wieder etwas zu meckern hatte. Seine Kieferzangen mahlten, als es sagte: „Ich hoffe doch, ihr wisst, dass ihr euch großen Ärger eingehandelt habt! Ich bin ein vielerorts respektierter Händler, und man wird mich und meine Ware vermissen! Ich werde in zwei Tagen in der Kesselstadt erwartet, wenn ich nicht auftauche, wird man mich suchen, jawohl!“ Sagittarimon, das direkt neben ihm trabte, lachte wiehernd. „Respektierter Händler, sagt er. Du bist ein verdammter Kriegsgewinnler, so sieht’s aus. Es wird deiner Kundschaft gut tun, mal ein wenig Entbehrung zu schmecken. Halt jetzt den Rand, oder ich sage den Garbagemon, sie sollen dich wieder mit Dreck beschmeißen.“ Die drei Garbagemon-Brüder, die an der Spitze der Kolonne hoppelten, drehten sich in ihren Mülltonnen herum und grinsten schmutzig. Doch Kongoumon wollte nicht aufhören zu quengeln. Unruhig rutschte es auf dem behelfsmäßigen Sattel seines eigenen Packtieres herum. „Ihr habt doch meine Ware. Lasst mich gehen, was bringe ich euch schon?“ „Stimmt. Eigentlich sollten wir deinen Panzer knacken und deine fetten Innereien auf der Straße verteilen“, grunzte BomberNanimon. Es war wenig mehr als eine Kugel auf zwei Beinen. Seine Haut war aschgrau und seine Arme und Beine mit sehnigen Muskeln bepackt. Die Sonnenbrille, über der feurig rote Augenbrauen hervorlugten, sollte es wohl cool wirken lassen, in Davis‘ Augen war sie nur die Krönung von BomberNanimons Lächerlichkeit. Aber er wollte sich nicht beschweren. Sein Bruder war ganz in Ordnung und hatte buchstäblich einen ordentlichen Wumms drauf. Davis trieb sein Goatmon an, um auf eine Höhe mit den Gefangenen zu kommen. Das Käferdigimon starrte wütend auf den flammenbestickten Mantel, den er sich aus der Beute genommen hatte. „Wenn die Reichen in der Kesselstadt dich so gern haben, werden wir dich einfach für ein saftiges Lösegeld freilassen. Dein Zeug verhökern wir natürlich trotzdem.“ „Ihr … Ihr verdammten Banditen!“, entfuhr es Kongoumon. Sagittarimon packte einen seiner metallenen Fühler und beutelte es wie einen nassen Sack. „Nicht Banditen. Getreue des Staubes, verstanden?“ Kongoumon wimmerte, als der Zentaur nicht losließ. „Ruhig, Bruder“, krähte eines der beiden Kokatorimon, die ganz hinten liefen, klang aber eher amüsiert. „Mach seinen Fühler nicht kaputt, der ist Gold wert.“ Die anderen lachten. „Entschuldigt …“ Der Hexenhut in Kongoumons Rücken bewegte sich. Wizardmon, das mit festen Seilen an das Käferdigimon gebunden war, wagte es zu sprechen. „Auch wenn ihr auf Lösegeld aus seid, was ich verstehen kann …“ „Ach.“ „… vielleicht ist es doch besser, wenn ihr wenigstens mich gehen lasst. Ich würde niemandem von euch erzählen. Ich bin in diplomatischer Mission unterwegs und daher ist es von höchster Wichtigkeit, dass ich so schnell wie möglich weiterreise. Auch für euch; mein Auftrag betrifft die ganze Große Ebene.“ „Maul halten, oder ich näh es dir enger“, sagte Sagittarimon nur und erntete wieder raues Gelächter. Davis musterte das Hexerdigimon nachdenklich. Es hatte einfach das Pech gehabt, mit Kongoumon gereist zu sein. Sie hatten überlegt, es freizulassen, ehe es schon dort mit dieser Diplomaten-Geschichte angefangen hatte. Wenn es also ein wichtiger Botschafter für die Ehernen Wölfe oder den Löwenkönig oder den DigimonKaiser oder den Krötenshogun war, egal für wen, es würde ihnen mehr Geld einbringen als Kongoumon mitsamt seinem schmutzigen Kram. Veemon, das vor Davis auf Goatmon saß, sah plötzlich auf. „Davis“, flüsterte es, „da kommt was, da vorne!“ Davis blinzelte gegen die Sonne und beschattete die Hand mit den Augen. „Tatsächlich, ich sehe es auch“, sagte Sagittarimon. „Wo?“, fragte Davis. „Im Himmel.“ „Im …“ Jetzt sah er es auch. Die Sonne stand direkt über ihnen, also war es schwierig, am strahlend blauen Himmel etwas auszumachen, aber irgendetwas war dort oben unterwegs. Er erhaschte den Eindruck von langen, geschmeidigen Körpern, die ungefähr in ihre Richtung flogen. „Was ist das?“ „Könnten das Airdramon sein?“, überlegte Sagittarimon. „Hab von denen gehört, sind sozusagen die Laufburschen des DigimonKaisers. Aber sie werden kaum was Wertvolles bei sich haben.“ Davis sah sie nicht als potentielle Beute, sondern fand die Digimon eher beunruhigend. Er konnte nicht genau erkennen, wie viele es waren, aber sicher mindestens ein halbes Dutzend. „Das gefällt mir nicht. Ob die uns suchen?“ „Ich habe doch gesagt, dass man mich vermissen wird!“, rief Kongoumon inbrünstig. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du die Klappe halten sollst?“, fuhr Sagittarimon es gereizt an. „Außerdem liegt die Kesselstadt von hier aus im Süden, und die da kommen von Nordwesten, du Idiot.“ „Das gefällt mir trotzdem nicht“, beharrte Davis. „Mir auch nicht“, stimmte Veemon zu. „Wenn sie nichts für uns haben, lassen wir sie doch einfach vorbei.“ Die anderen willigten brummend ein, einzig BomberNanimon hätte die Digimon gern vom Himmel geholt. So brachten die Getreuen des Staubes die Karawane in den Schatten eines vorspringenden Felsens, wo sie für Digimon, die einfach nur schnell über das Land flogen, nicht so einfach zu entdecken waren, und verharrten dort. Nach den Stunden in praller Sonne war die Kühle eine willkommene Abwechslung für Davis; sein neuer Mantel war schon ganz verschwitzt. Als die fliegenden Schlangen näher kamen – was beängstigend rasch geschah –, sahen sie, wie sehr sie sich getäuscht hatten. Es waren nicht etwa die großen, aber immer noch recht kümmerlichen Airdramon des DigimonKaisers. Es waren viel größere Megadramon, sieben an der Zahl, die mit langen peitschenden Schwänzen direkt in ihre Richtung flogen. Davis schluckte. Er hatte die Geschichten gehört. Die Megadramon … das war die Garde des Drachenritters. Sie konnten nur hoffen, dass sie nichts von ihnen wollten. Als der erste riesige Schatten schnell wie der Wind über die Felsen ihres Verstecks glitt, gestattete Davis sich, aufzuatmen. Die Drachenstaffel reiste stets schnell, und sie hatten sie nicht bemerkt. Kurz darauf waren auch die anderen vorüber. Was auch immer die Biester hier verloren hatten, sie hatten sie nicht behelligt. Gerade, als Davis das gedacht hatte, stieß Kongoumon plötzlich ein schrilles Geräusch aus, das wohl nur Insektendigimon zustande brachten, es war so laut und hoch, dass es sich anfühlte, als würde sich etwas Dünnes, schnell Rotierendes in Davis‘ Trommelfelle bohren. Stöhnend presste er die Hände gegen die Ohren. Sagittarimon fluchte, zog seinen Bogen und schoss einen Pfeil auf das Käferdigimon, der sich in seinen Goldpanzer bohrte und darin stecken blieb. Kongoumon verstummte, riss die Augen auf und fiel von seinem Goatmon, wobei es Wizardmon einfach mit zu Boden riss. Gleich nach dem Aufprall zerbarst der Händler in eine Datenwolke. „Weil dieser Schwachkopf auch nie ruhig sein kann!“, schimpfte Sagittarimon und wirkte mit einem Mal hektischer als bei einem Überfall. Davis spähte an der Felsenkante vorbei. Man hatte sie gehört. Die Megadramon waren schon weit weggewesen, aber ihre Drachenohren hatten Kongoumons Fiepen gehört, denn sie zogen einen weiten Bogen am Himmel und kehrten zurück. „Verdammt!“, schrie Davis. „Sie haben uns! Lauft!“ Sagittarimon stürmte als Erstes los, im vollen Galopp drehte es sich halb um und schoss einen Pfeil nach den herannahenden Drachen, deren Flügelschläge sie nun schon hören konnten. Ob es traf, konnte Davis nicht erkennen, aber im nächsten Moment sauste eine Rakete, eine weiße Schwefelwolke hinter sich herziehend, in die Klippe vor ihnen. Mit lautem Getöse krachten hausgroße Brocken aus dem Fels und polterten in die Schlucht. Sie wollten ihnen den Fluchtweg abschneiden! „Ergebt euch!“, donnerte eine Stimme von oben. „In euren Träumen“, gackerte eines der Kokatorimon. Seine beiden Artgenossen unterstrichen seine Aussage mit hellen Blitzen, die aus ihren Augen schossen. Vielleicht hätten sie sich ergeben sollen. Zur Antwort prasselten weitere Drachenraketen auf die Getreuen nieder. Alle drei Kokatorimon vergingen in einer einzigen Explosion mit einem lauten, eher überraschten denn schmerzvollen Krächzen. Die Goatmon gingen durch und suchten sich selbst einen Weg aus der Misere – plötzlich waren sie erstaunlich gut zu Fuß. Die Garbagemon standen Rücken an Rücken und schossen ihre Fäkalien in den Himmel. Aus der Nähe hatten diese die Wucht, einen Feind zumindest umzuwerfen, aber auf die Entfernung war das eine Verzweiflungstat. Die Megadramon hatten sie bereits wieder überholt und setzten zur nächsten Kurve, zur nächsten Salve an. „Davis!“ BomberNanimon kam auf seinen Stummelbeinen durch die von Steinmehl und Hitzegeruch verpesteten Staubwolken auf ihn zugerannt, Wizardmon vor sich her schubsend. „Da vorne, links!“ Davis sah sofort, was es meinte. Eine Nische im Gestein, und dahinter hatte der Angriff der Drachen Felsen aufgeschüttet, sodass sie den Rand der Klippen wie über eine Treppe erreichen konnten. „Lass die Goatmon hier und komm!“ Mit dem gefügigen Wizardmon als Geisel taumelte BomberNanimon über die Felsbrocken. „Was ist mit den anderen?“, schrie Davis über das Krachen von Geschossen und Felsen, das rings um sie erscholl und sie in eine weitere Staubwolke tauchte, sodass er qualvoll husten musste. Es kam keine Antwort mehr, aber Veemon packte seine Hand und zerrte ihn mit sich. Natürlich, Flucht war die einzige Möglichkeit, sie hatten keine Chance gegen die Flugstaffel des Drachenritters. Auf freiem Feld waren sie zwar auch ein leichtes Ziel, aber das waren sie hier in der Schlucht nicht weniger, und dort konnten sie wenigstens keine gesprengten Felsen erschlagen. Hinter sich hörte er irgendwo eines der Garbagemon schreien. Ein wahres Sperrfeuer ging auf die Schlucht nieder, aber es war nicht so ziellos, wie es den Anschein hatte. Vielmehr schossen die Megadramon mit Kanonen auf Spatzen. „Wir schaffen es nicht, Veemon!“ Davis keuchte, sein neuer Mantel zog schwer an ihm. Warum griffen diese Drachen sie nun an? Warum heute, warum jetzt? Das DigiVice an seinem Gürtel glühte auf und Veemon wurde in goldenes Licht gebadet, wuchs, und Flügel sprossen aus seinen Schulterblättern. Ex-Veemon packte Davis und flog mit ihm zu BomberNanimon, das eben die obere Kante des Geröllhaufens erreichte. Und hinter ihnen rauschten die Drachen über die Ebene. Davis konnte sie brüllen hören. Als sie über sie hinwegfegten, wehte der Windstoß Ex-Veemon aus seiner Flugbahn und er und Davis schlugen hart auf dem Boden auf. Schmerz flammte in Davis‘ Brustkorb auf und alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Als er die Tränen aus seinen Augen geblinzelt hatte, sah er, dass alle Megadramon abgedreht hatten, bis auf eines, das in weitem Bogen wieder auf sie zuhielt. Auf dem gigantischen Kopf des beinlosen Drachen konnte er eine einzelne Gestalt ausmachen. Davis hielt die Luft an. Der Drachenritter! „Komm nur her!“, rief BomberNanimon und hielt plötzlich zwei Bomben in den Händen, deren Lunten bereits brannten. Mit ungeheurer Kraft schleuderte er sie auf das herannahende Megadramon, zielte auf den Menschen auf seinem Kopf. Hinter dem Drachenritter löste sich eine in der Sonne blitzende Gestalt von dem Leib des Drachen und schoss den Bomben entgegen, einen Schild vor sich haltend, auf dem Davis kurz das Wappen des Drachenritters erkennen konnte, dasselbe sonnenförmige Symbol, das auch die Drachenstaffel auf der Brust trug. Die Bomben tauchten das neu erschienene Digimon in eine schwarze Pulverwolke, als sie knallend an dem Schild explodierten, doch es tauchte wie ein orangeroter Blitz aus der Rauchwolke hervor, holte aus und schleuderte eine orangeweiß glühende, melonengroße Kugel auf BomberNanimon. Der Getreue verging in einem Schrei. Davis rief verzweifelt seinen Namen, als seine Datenreste auch schon himmelwärts stoben. Mit geballten Fäusten drehte er sich um und starrte grimmig dem Drachen entgegen, der brüllend mit gebleckten Zähnen auf ihn zuraste. „Das wirst du büßen!“, schrie er. Ex-Veemon baute sich vor ihm auf, das X auf seiner Brust erglühte und ein Laserstrahl fuhr in das geöffnete Maul des Megadramons. Fauchend erbebte das Digimon, es verlor kurz sein Ziel aus den Augen … Davis warf sich zu Boden und schützte den Kopf mit den Händen, als er das Digimon über sich hinwegrauschen fühlte. Diesmal war der Flugwind so heftig, dass kleine Steine fortgeschleudert wurden und die spärlichen Grasbüschel direkt vor Davis‘ Augen wie verrückt flatterten. Rauch stieg aus Megadramons Rachen auf, ansonsten schien ihm die Attacke nichts ausgemacht zu haben … Verdammt! „Davis!“ Ex-Veemon war links von ihm und hielt auf ihn zu, und rechts landete das andere Digimon. Jetzt erst konnte Davis es genau erkennen. Es war in etwa so groß wie sein Partner, das meiste seiner dunkelorangen, schuppigen Haut war von einer verchromten, gelben bis grau schimmernden Rüstung bedeckt, die die Krallen seiner Arme noch vergrößerten. Rotes, strähniges Haar fiel vom Helm des Digimons bis in seinen Nacken. Ex-Veemon setzte über Davis hinweg, der sich aufgerappelt hatte. „Ich bin dein Gegner!“, rief es. „Ist mir recht.“ Das gepanzerte Digimon rannte los. Es konnte nicht viel stärker sein als Ex-Veemon – oder? Das blaue Drachendigimon schoss einen weiteren Vee-Laser ab, doch sein Gegner machte sich nicht einmal die Mühe, auszuweichen. Blitzschnell brach es durch die Mauer aus Licht und rammte Ex-Veemon die gepanzerten Krallen in den Leib. Davis‘ Bruder brüllte laut auf, als er rückwärts geschleudert wurde. Bluttropfen flogen aus seinem aufgerissenen Maul. Ehe er landete, war er zu Veemon zurückdigitiert, regte sich aber nicht. Eine halbe Sekunde später war das andere Digimon vor Davis gelandet und setzte ihm die Krallen an die Kehle. Sie waren nicht mal blutig, so schnell war der Angriff abgelaufen. „Veemon! Verdammt!“ Die Stärke ihrer Gegner war einfach unfair! Davis beachtete die Todesdrohung, die die stählernen Krallen darstellten, gar nicht. Er sah zu dem Fleck, wo BomberNanimon sein Leben ausgehaucht hatte. Unten aus der Schlucht stieg immer noch Rauch auf. Dort war der Rest seiner Brüder gestorben … Mit einem Schlag, einfach so, alle waren ausgelöscht worden! „Das reicht, WarGreymon.“ Träge drehte Davis den Kopf. Er fühlte Tränen in seinen Augen brennen, als er sah, wie das Megadramon von vorhin landete und der Drachenritter abstieg. Er war ein Mensch wie Davis, wenn auch ein wenig älter, und er hatte braunes Haar, das in allen Richtungen von seinem Kopf abstand. Er trug einen schwarzen Mantel und einen gleichfarbigen Umhang, beides war mit kostbaren Goldfäden durchwirkt. Allein für diesen Prunk hasste Davis ihn. Die Fäden vereinten sich auf seinem Umhang zu dem Wappen, dass er sich erwählt und das auch das Nördliche Königreich übernommen hatte. Seine Hände steckten in schwarzen, unterarmlangen Lederhandschuhen, seine Füße in dazu passenden Stiefeln mit schweren Schnallen. Davis‘ Blick flackerte zu Veemon, das sich stöhnend regte. Ein Glück. Er sah auch Wizardmon, das mit verkohlter Kleidung herangeeilt kam. „Sir Taichi“, rief es atemlos aus. „Euch schickt der Himmel.“ „Ich war nur zufällig in der Nähe. Wir haben von dem Überfall gehört und wollten die Gesetzlosen stellen. Reines Glück, dass wir Euch so schnell gefunden haben.“ Die nussbraunen Augen des Drachenritters musterten Davis. „Also haben wir jetzt wohl zwei Gefangene“, stellte er fest. Why don’t I fear l all these games that you play? Maybe it’s time to feed the words of the day Believe what you want, but understand what you say I’ve tried to teach you, but why won’t you obey? (Celesty – Dark Emotions) Kapitel 7: Asche zu Asche, Staub zu Feuer ----------------------------------------- Tag 20   Die Megadramon waren an der Flussbiegung niedergegangen und ruhten sich nun im Schatten der Bäume aus. Tai führte Davis, Veemon und Wizardmon allein mit WarGreymon über die Brücke und die Stufen zur Stadt hinauf. Seit sich der Löwenkönig hier niedergelassen hatte, wurde Santa Caria von Tag zu Tag mehr zur Festung. Die äußeren Häuser wurden mit Lehm und Stein zu einem Wall erhöht, die Fenster so weit zugemauert, dass nur Schießscharten frei blieben. Piximon brieten in der Sonne auf der Oberseite des Walls. Tai sah, wie ihre eisernen Stäbe das Sonnenlicht reflektierten. Ein staubiger, trockener Geruch lag in der Luft, von heißen Pflastersteinen und festgestampfter Erde. Seine Gefangenen sahen sich genau um, aber sie waren nicht so dumm, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Tai hatte ihre Hände mit Stricken gefesselt und Davis‘ DigiVice beschlagnahmt. Und gegen WarGreymon konnten sie ohnehin nichts ausrichten. Die massigen Tyrannomon, die das Stadttor bewachten – das nicht mehr war als eine Straße, die nicht zugemauert worden war –, wichen sofort zur Seite, als sie ihn sahen. Ihre mächtigen, roten Füße wirbelten Staub auf. Die Gassen der Stadt waren ein noch größeres Labyrinth als damals, als sie hierhergekommen waren. Wer nicht wusste, welche Wege offen und welche blockiert waren, lief schnell in die Falle. Tai führte seine Gruppe in Schlangenlinien durch die Stadt. Santa Caria schmiegte sich an den Berg wie eine klebrige Flechte, und den Hauptplatz am obersten Ende zu erreichen, trieb ihm den Schweiß aus den Poren – vor allem an einem heißen Tag wie diesem, wo sein Cape ihm unangenehm den Hals abschnürte und seine Stiefel mit jedem Schritt schwerer wurden. Die Sonne stand fast genau über ihnen, und nirgendwo auf ihrem Weg gab es einen rettenden Schatten. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelangten sie schließlich auf den Hauptplatz. Die Bewohner und Soldaten mieden die Hitze und blieben in den Häusern, Tai sah nur einige Gazimon-Bedienstete hin- und herhuschen, Körbe mit Trockenobst oder Wasserkrüge transportierend, und Leomon, das sich an der Gazimon-Statue im Zentrum des mit Pflastersteinen ausgelegten Platzes mit Meramon unterhielt. Tai hatte keine Lust, angesichts dieser Hitze näher als nötig an das Flammendigimon heranzugehen, daher wartete er, bis die beiden ihr Gespräch beendet hatten und Meramon sich nach Norden in Richtung Kaserne trollte. Nun wandte Leomon seine Aufmerksamkeit den Neuankömmlingen zu. Tai deutete eine Verbeugung an. „Mein König.“ „Sir Taichi, Ihr wart schneller, als ich erwartet habe. Wizardmon, es freut mich, Euch unbeschadet zu sehen.“ Wizardmon verbeugte sich ebenfalls. „Ich danke Euch für die schnelle Unterstützung, Euer Majestät. Diese Barbaren wollten mich und ihren anderen Gefangenen für ein Lösegeld verscherbeln, das wohl auch gern der DigimonKaiser bezahlt hätte.“ „Dann sollten wir froh sein, dass Sir Taichi Euch gefunden hat. Ihr werdet Euch sicher ausruhen wollen. Ich würde mich freuen, wenn Ihr unserer Ratssitzung beiwohnt.“ Wizardmon nickte heftig. „Natürlich, Euer Majestät.“ Leomon winkte zwei Gazimon heran. „Sorgt dafür, dass mein Freund eine angemessene Unterkunft erhält.“ Die hundeartigen, graufelligen Digimon nickten ergeben und führten Wizardmon vom Platz. „Ihn hier habe ich bei den Banditen aufgelesen“, sagte Tai und legte Davis die Hand zwischen die Schulterblätter, um ihn daran zu erinnern, dass auch er sich zu verbeugen hatte. Wiederwillig ließ der Junge sich nach unten drücken. „Und dieses Digimon auch.“ Veemon besaß immerhin genügend Verstand, ebenfalls den Kopf zu senken. „Hm.“ Leomon ging vor Davis in die Hocke, um mit ihm auf einer Höhe zu sein. Er sah richtig mickrig vor den breiten Schultern des Löwen aus. „Er macht keinen sehr gefährlichen Eindruck“, stellte es fest. „Das habe ich auch gedacht“, erwiderte Tai. „He!“, beschwerte sich Davis. „Ich bin gefährlich – oder warum sind meine Hände gefesselt?“ Leomon achtete nicht auf seine Worte. „Und er sieht auch nicht aus wie Bandit.“ „Nicht die Spur. Ich vermute, die haben ihn … adoptiert oder so. Oder dazu gezwungen, bei ihnen mitzumachen.“ „Was soll das Gefasel?“ Davis schüttelte Tais Hand ab und richtete sich wütend auf. Mit zornblitzenden Augen starrte er die beiden an. „Ich bin ein Mitglied der Getreuen des Staubes, und ich bin es mit Stolz! Veemon und ich sind aus freien Stücken beigetreten, stimmt’s, Veemon?“ „Eine Gehirnwäsche, eindeutig“, meinte Tai sarkastisch. „Red‘ keinen Müll, verdammt!“, brauste der Junge auf. „Man hat mich nicht mal überreden müssen! Ich bin beigetreten, weil ich es wollte!“ Tai packte ihn hart an der Schulter und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. „Bist du eigentlich so blöd? Kapierst du nicht, dass wir dich retten wollen?“ Nein, er kapierte es nicht, das las Tai in seinem verunsicherten Blick. „Räuber und Banditen werden nach unseren Gesetzen streng bestraft. Willst du unbedingt für den Rest deines Lebens im Kerker versauern?“ Er verstärkte den Griff, bis sein schwarzer Handschuh knirschte. Endlich schien Davis zu verstehen. „Hör zu, ich werde demnächst eine Anhörung für dich führen. Ich werde dich genau fragen, wer du bist, woher du kommst, wie du zu dieser Bande gekommen bist, was ihr alles angestellt habt und wie du dazu stehst. Also überleg dir deine Antworten gut!“ Er gab WarGreymon einen Wink. „Bring sie in eine Zelle, WarGreymon.“ Davis sah aus, als ob er etwas erwidern wollte, aber dann beließ er es bei einem trotzigen Blick und trottete gehorsam neben Veemon her in Richtung der Kerker. „Und denk das nächste Mal, wenn du mit dem König sprichst, an deine Manieren!“, rief Tai ihm hinterher. Als sie in der flimmernden Hitze des Platzes verschwunden waren, fragte er Leomon: „Glaubt Ihr, dass er der Auserwählte ist? Ich kann’s mir nicht vorstellen.“ „Einen Versuch ist es wert.“ Leomon legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel zu sehen. Seine Mähne kräuselte sich. „Ich werde mich jetzt ausruhen. Ich erwarte Euren Bericht noch vor der Ratssitzung, Sir.“ Tai verneigte sich. „Wie Ihr wünscht, Euer Majestät.“   Die Sitzung fand im Rathaus von Santa Caria statt – dem wohl ansehnlichsten Raum in der ganzen, kargen Stadt. Eine hölzerne Galerie rahmte den oberen Teil des zweistöckigen Saales ein und ein breiter Luster aus Messing glotzte auf einen mit hübschen Verzierungen bedeckten Rundtisch herab, dessen Platte zerkratzt und dort, wo Meramon für gewöhnlich saß, etwas verrußt war. Tai saß in dem hochlehnigen Stuhl zur Rechten Leomons, Meramon ihm gegenüber. Wizardmon hatte den Ehrenplatz zur Linken des Königs erhalten. Wäre Centarumon nicht mit auf Kundschaft, hätte es ebenfalls an der Sitzung teilgenommen. „Im Namen des Rates möchte ich noch einmal die Erleichterung aussprechen, die wir empfinden, Wizardmon. Wir sind froh, dass Ihr wohlauf und wieder unter uns seid“, begann Leomon. Der König saß auf einem Stuhl, der seinem Status gerecht wurde; massiv und mit Schnitzereien verziert, mit samtgepolsterten, verschnörkelten Armlehnen, die unter seinen gewaltigen Pranken ächzten. „Wir werden Euch sogleich das Wort erteilen. Bitte berichtet von Eurer Mission.“ „Ihr seid zu freundlich, Euer Majestät.“ Wizardmon räusperte sich und blickte die Versammelten nacheinander an. Es strahlte, trotz seiner schäbigen Kleidung und geringen Körpergröße, eine gewisse Würde aus – vielleicht reflektierte es aber auch nur die der anderen Versammelten. „Es freut Euch sicher zu hören, dass meine Mission im Grunde ein Erfolg war.“ „Im Grunde?“, hakte Meramon misstrauisch nach. „Der Eherne Wolf ist zwar nicht an einem direkten Bündnis mit uns interessiert. Da er aber, wie er sagt, ohnehin nicht daran gedacht hätte, uns anzugreifen, wäre ein Nichtangriffspakt für all unsere Gebiete in Ordnung.“ „Überhaupt nicht arrogant“, schnaubte Tai. „Das ist ein Anfang“, befand König Leomon. „Was könnt Ihr über die Wölfe berichten? Wären sie ernstzunehmende Feinde?“ „Das will ich meinen. Sie sind keine zusammengewürfelte Armee, wie man manchmal hört. Es sind um die vierhundert, und sie nehmen nur Digimon auf, die in ihr Regiment passen, und setzen vor allem auf Mobilität.“ Müssen sie wohl auch, wenn sie ständig nur von Ort zu Ort reisen, dachte Tai. „Ich habe in ihren Reihen auch kein einziges Digimon getroffen, das mit ihren Siegen geprahlt hätte. Sie sind sehr streng gedrillt.“ „Das liegt vielleicht daran, dass es keine Siege gibt, über die sie reden könnten“, griente Meramon. „Man hört vielerorts, dass sie schon etliche Scharmützel gegen den DigimonKaiser bestritten und viele seiner Türme eingerissen haben“, berichtigte es Leomon. „Es gibt also Siege. Sie sind nicht zu unterschätzen.“ „Momentan sind sie nach Süden unterwegs, so wie ich das verstanden habe“, fuhr Wizardmon fort. „In Richtung Little Edo.“ „Little Edo? Was wollen sie denn dort?“, fragte Meramon, ehe es anscheinend selbst zu einer Antwort kam. „Sagt mir nicht, dass … Will der Wolf etwa um die Hand der Prinzessin anhalten?“ „Wie kommt Ihr darauf?“, fragte Tai. Meramon sah ihn geringschätzig an. Die Flammen um seinen Mund zuckten. „Was gäbe es dort sonst zu holen? Little Edo ist friedlich, und an Sake und Reis werden die Wölfe kein Interesse haben.“ „Trotzdem, sie könnten doch nach Little Edo genausogut weiterreisen, zum Meer oder zum Stiefel …“ „Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich“, sagte Wizardmon und schien sich gar nicht des Frevels bewusst zu werden, einen Ritter des Königs zu unterbrechen. Tai warf ihm einen sauren Blick zu, unter dem es zusammenschrumpfte. „Verzeiht, Sir.“ Es räusperte sich. „Aber der Wolf scheint mir, wie soll ich sagen, genau den Idealvorstellungen der Prinzessin zu entsprechen.“ „Wieso das?“ Tai verschränkte herausfordernd die Arme. „Was hat der, was die ganzen anderen Verehrer nicht haben, die ShogunGekomon einen nach dem anderen wieder wegschicken durfte?“ „Nun, zuallererst etwas ganz Wesentliches“, sagte Wizardmon unbehaglich. „Er ist ein Mensch.“ Darauf fiel Tai nichts mehr ein, was er erwidern könnte. Meramon rutschte auf seinem steinernen Stuhl nach vorn, um sich über den Tisch zu beugen. „Ich denke, wir stimmen darin überein, dass es nicht zu einer Verbindung der Ehernen Wölfe mit dem Gekomon-Reich kommen darf. Es ist klar, dass sich die Wölfe irgendwann irgendwo niederlassen müssen. Man kann einen Krieg als Nomaden führen, aber nicht gewinnen. Aber ein Bündnis mit ShogunGekomon … ein derartiger Machtzuwachs kann uns nur Schwierigkeiten bereiten.“ Leomons Tatzen trommelten auf seinen Armlehnen. „Der Wolf hat vielleicht wirklich die besten Chancen, die Prinzessin zu heiraten. Es wäre einfach für ihn – und wir stehen mit nichts als einem Nichtangriffspakt zum Schutz da. Ich stimmte Euch zu, diese Hochzeit soll nach Möglichkeit nicht stattfinden. Dennoch werde ich, wenn sich die Prinzessin für ihn entscheidet, sicher nicht mit dem Schwert dazwischenschlagen.“ „Was bleibt uns anderes übrig?“, fragte Tai und erntete damit seltsame Blicke von allen Ratsmitgliedern. „Was seht Ihr mich alle so an? Hab ich was im Gesicht?“ „Es gibt eine andere Möglichkeit, die Prinzessin stattdessen auf unsere Seite zu ziehen“, sagte Leomon bedeutungsschwer. Tai fühlte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Ihr meint nicht … nein, oder?“ „Sir Taichi, es wäre doch denkbar, dass sie sich statt für ihn für Euch entscheidet.“ Wunderbar. Auch wenn Leomon das so sagte, es kam einem Befehl gleich. Er sollte nach Little Edo fliegen und selbst um die Hand der Prinzessin werben. Etwas, auf das er nicht die geringste Lust hatte. „Ihr braucht mich sicher nicht, damit sie den Wolf abweist. Das wird sie ganz allein machen, wie mit allen anderen auch.“ „Was sträubt Ihr euch so?“ Meramon schien sehr belustigt. „Die Prinzessin soll jung und bildschön sein, nach allem, was man hört.“ „Nach allem, was man hört, ist sie vor allem eine verwöhnte Zicke“, gab Tai zurück. „Ihr müsst sie ja nicht wirklich heiraten“, beschwichtigte ihn Leomon. „Sobald sie den Wolf abgewiesen hat, könnt Ihr Euren Antrag zurückzuziehen.“ „Wenn Ihr dann noch wollt“, grinste Meramon vielsagend. Tai sank seufzend in seinem Stuhl zurück. Er durfte sich also auf ein Minneduell mit diesem ominösen Anführer der Ehernen Wölfe einlassen. Toll, ganz toll. Er hätte Wizardmon in der Gewalt der Banditen lassen sollen … „Erst will ich die Anhörung mit dem Gefangenen durchführen. Immerhin ist er mein Gefangener.“ „In Ordnung“, willigte Leomon ein. „Es reicht, wenn Ihr nachts aufbrecht. Auf Euren Megadramon könnt ihr den Vorsprung, den die Wölfe haben, schnell aufholen.“ Damit war das beschlossen und der Tag, der so schön mit Tais Sieg begonnen hatte, endete in einem Desaster. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, als Wizardmon das nächste Thema ansprach. „Euer Majestät, es wird Euch vielleicht schwer treffen, das zu hören, aber … mir ist noch etwas zu Ohren gekommen, als ich auf Reisen war …“ „Sprecht.“ „Nun … es sieht so aus, als wäre der DigimonKaiser mit seinem Geschwader zur File-Insel aufgebrochen. Bedenkt man seine Truppenstärke, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie in den nächsten Tagen an ihn fallen wird – falls es nicht schon geschehen ist.“ Ein Laut, halb Knurren, halb Seufzen, verließ König Leomons Maul. „Das war zu erwarten. Auch wenn ich nicht dachte, dass er so schnell handeln würde. Ein Grund mehr, warum wir den DigimonKaiser mit allem, was wir haben, bekämpfen müssen.“ „Gewiss“, katzbuckelte Wizardmon. „Dennoch werden wir auch von anderen Seiten bedroht, wie Ihr wisst … Wenn ich ein persönliches Anliegen vortragen dürfte …?“ Leomon gewährte ihm mit einer Armbewegung die Erlaubnis und der Diplomat fuhr dankbar fort: „Mein Land, das Ihr mir in Eurer Güte gewährt habt. Ich war gerade auf dem Rückweg von meiner Mission, als ich davon hörte. Der Dornenwall wird belagert, viele Digimon mussten vor der Armee des Blutenden Herzens fliehen.“ Tai horchte nun doch auf. Das Werk der Schwarzen Königin? Sie hatte noch nicht viel von sich hören lassen – aber was aus den Nadelbergen an die Ohren des Königs drang, verhieß stets Unheil. „Das sind schlimme Nachrichten“, sagte Leomon, doch hinter dieser Floskel verbarg sich mehr. Tai spürte, dass auch ihn interessierte, was für ein Ziel die Schwarze Königin verfolgte – immerhin saßen sie hier in Santa Caria fast an der Quelle. „Wir werden uns darum kümmern, darauf habt Ihr mein Wort, Wizardmon.“ „Euer Majestät“, sagte Tai und stand auf. „Ich werde mit den Megadramon zum Dornenwall fliegen und die Bedrohung noch heute Nacht beseitigen.“ Ein fairer Kampf war um Längen besser als mit einer zickigen Prinzessin liebäugeln zu müssen. Leomon maß ihn mit einem seltsamen Blick. „Ich brauche Euch auch in Little Edo, Sir. Wir werden sehen. Noch heute Nacht.“ Tai schluckte. Er wusste genau, was Leomon meinte. Ich hätte sie beide nicht herbringen sollen. Weder Wizardmon noch Davis.     Es war dunkel in der Zelle. Nur durch ein schmales Oberlicht fiel bleiches Mondlicht und malte einen hellen Fleck auf den steinernen Boden. Die Luft war trocken, selbst hier drin, und roch nach Staub und Erde. Wenigstens hatten sie darauf verzichtet, sie anzuketten. Die Gitterstäbe, die die Zelle mit dem Wachraum des Kerkers verbanden, standen eng und stahlweiß beieinander. „Tut mir leid“, murmelte Davis irgendwann. „Was“, hörte er tonlos von Veemon. Sein Digimon saß in den Schatten einer Ecke, nur die hellen Stellen seiner Haut waren einigermaßen zu erkennen. „Alles.“ Eine Weile schwieg er. „Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist. Wir stecken da beide drin.“ „Ja. Ich weiß.“ Davis streckte sich aus. Als sie ihn hier hereingesteckt hatten, hätte er am liebsten die Steinwände mit den bloßen Fäusten eingerissen. Kraft durch Wut. Mittlerweile war sie abgeflaut, so wie die Hitze draußen nachgelassen hatte. „Elende Nordländer“, grummelte er. Sie hatten mehr getan, als ihn nur gefangen zu nehmen. Das war ja mehr oder weniger ihr gutes Recht gewesen. Aber sie schändeten das Vermächtnis der Getreuen. Er sollte sie verleugnen, damit er freikam. Er sollte diesem verdammten Löwenkönig und seinem zweimal verdammten Drachenritter eine Lüge vorspielen und so tun, als hätten ihn seine Kameraden gezwungen, bei ihren Überfällen mitzumachen. Wozu sollte das gut sein, außer um die Getreuen des Staubes auch noch im Grab mit Schmutz zu überziehen? „Wenn ich mich weigere, ihr Spiel mitzuspielen“, sagte Davis, „würdest du es mir übel nehmen?“ Eine Weile blieb sein Digimon still. Davis hörte seine Krallen über den Boden scharren, als es sich bewegte. „Ich hab zwar keine Lust, hier drin zu verrotten, aber …“ Veemon seufzte. „Ich kenn dich zu gut. Und ich denke genauso wie du darüber.“ Davis nickte dankbar, auch wenn sein Partner es vermutlich nicht sehen konnte. Als er eben wieder etwas sagen wollte, kam Bewegung in die Rockmon-Wächter, die so starr standen wie leibhaftige Statuen, sodass er deren Existenz praktisch vergessen hatte. Eine kleiner Trupp Gotsumon marschierte vor der Zelle auf. Eines davon rasselte mit einem schweren Schlüsselring und zog kurz darauf die vergitterte Tür auf. „Kommt.“   Auf dem Weg zum Rathaus erfuhr Davis, dass die Anhörung vorverlegt worden war. Ursprünglich hätte man sie noch bis mindestens morgen schmoren lassen wollen, das erzählten die Gazimon, die sich der Gruppe auf dem Weg anschlossen. Sie waren Schaulustige, die eigentlichen Einwohner von Santa Caria, keine Soldaten. Davis kniff die Lippen zusammen. Natürlich, sie hatten sich bei Leomon eingeschmeichelt und liefen aufgeregt herum. Ihre Vorräte gingen trotzdem zum Großteil an die Armee des Löwen. Irgendwann würden sie über ihn fluchen, wenn sie es nicht schon hinter verschlossenen Türen taten, dessen war sich Davis ganz sicher. Sie betraten das Rathaus nicht, wie er erwartet hatte, sondern umrundeten es zur Hälfte. An der Rückseite waren in den sandfarbenen Stein Stufen eingelassen, die im Zickzack bis auf das flache Dach des vierstöckigen Gebäudes führten. Mit gefesselten Händen war Davis‘ Gleichgewichtssinn etwas beeinträchtigt und er musste bei jedem Schritt Vorsicht walten lassen, um nicht den Halt auf den schmalen, steilen Stufen zu verlieren. Oben angekommen, fand er sich auf der breiten Fläche des Daches wieder, das im Mondlicht weiß leuchtete. Eine schwache Brise wehte Staub und Sand über die glatte Oberfläche. Kurz vor der vordersten Kante gab es eine kleine Erhöhung, wie ein Podest, auf dem bereits die Würdenträger des Nördlichen Königreichs auf ihn warteten. König Leomon stand da mit verschränkten Armen, flankiert von einem Meramon und einem Centarumon, das sich beim Aufstieg schier die Pferdebeine gebrochen haben musste – der Gedanke belustigte Davis nicht so sehr, wie er gehofft hatte. Der Drachenritter stand ein paar Schritte vor den anderen und sein edler dunkler Umhang wehte sanft im Wind, die eingearbeiteten Goldfäden schienen inmitten schwarzer Luft zum Leben erwacht zu sein. Links und rechts standen Soldaten und Stadtbewohner, erschreckend viele, sodass nur ein Kreis von etwa zehn Schritten Durchmesser für Davis, Veemon und ihre Wachen freiblieb. Als sie dort ankamen, wurde das Gemurmel lauter, summte unverständlich durch die laue Nacht und bescherte Davis Kopfschmerzen. Taichi hob die behandschuhte Hand, und allein diese Geste brachte die Umstehenden zum Schweigen. „Wie ist dein Name?“, schallte seine Stimme durch die entstehende Stille, zerschnitt sie wie ein Messer. Davis schluckte. Also war das hier alles hochoffiziell. Er hatte immer gedacht, Leute wie er würden im stillen Kämmerchen unter die Guillotine gedrückt. „Daisuke“, sagte er und verwünschte seine Stimme, die seine Nervosität allzu deutlich preisgab. „Damit alle hier Versammelten im Bilde sind“, fuhr der Ritter fort, „werde ich kurz die Tatsachen erläutern. Du wurdest heute Morgen bei einer Bande von Räubern nördlich der Kesselstadt erwischt. Einer unserer Peckmon-Späher hat einen Überfall beobachtet und uns sofort davon berichtet. Die Banditen hatten einen Händler, seine Vorräte und einen Vasallen unseres Reiches in ihre Gewalt gebracht. Als ich mit meiner Drachenstaffel angriff, hast du dich auf die Seite der Banditen geschlagen. Nur du, dein Digimon und Wizardmon, der treue Vasall unseres Königs, haben überlebt. Ich habe dich gefangen genommen und hierher gebracht. Ist das alles soweit korrekt, Daisuke?“ „Getreue des Staubes“, knurrte Davis. „Nennt sie gefälligst die Getreuen des Staubes, nicht Banditen.“ Trotz des schlechten Lichts sah er genau, wie sich Taichis Miene verfinsterte. „Wie bist du zu diesen Getreuen des Staubes gekommen?“ Allein für die Art, wie er den Namen aussprach, hätte Davis ihn am liebsten geschlagen. „Ich war lange Zeit allein in der DigiWelt, seit meiner Kindheit. Veemon und ich hatten immer nur einander. Als der Krieg ausgebrochen ist, haben uns die Getreuen aufgenommen. Das ist die ganze Geschichte.“ „Verstehe“, sagte Taichi. „Sie haben also ein halbes Kind in ihre Reihen aufgenommen, das bereitwillig alles getan hat, damit sie es nicht töten.“ „So war das nicht!“, rief Davis wütend und meinte eine neuerliche Zornfalte in Taichis Gesicht auftauchen zu sehen. „Ich habe ihnen aus freien Stücken geholfen!“ „Niemand hilft einem Räubertrupp aus freien Stücken.“ „Wir sind kein Räubertrupp!“ Davis ballte die Fäuste. „Ihr Hochgeborenen habt ja keine Ahnung. Klar, hier in der Stadt ist alles in Ordnung, bis auf die Tatsache, dass ihr den Leuten das Essen wegfresst. Ihr breitet euch hier einfach aus, und ich wette, ihr habt die Gazimon nicht mal gefragt.“ Taichi verschränkte herausfordernd die Arme. „Die Gazimon teilen ihr Hab und Gut mit uns, weil wir sie beschützen. Versuch nicht vom Thema abzulenken, es geht hier um dich.“ „Ihr beschützt sie, ja. Und was ist mit all den anderen Digimon, die von niemandem beschützt werden? Die kleinen Dörfer und Siedlungen, die man nicht so schön in eine Festung umbauen kann wie dieses Bergnest hier? Die werden nur geplündert, damit die Großen ihre Armeen durchfüttern können.“ Davis schob trotzig das Kinn vor. „Abertausende Digimon haben in diesem Krieg ihre Heimat verloren, oder auch ihr Leben – in diesem Krieg, den ihr angefangen habt. Sie sind unschuldig und wollen nicht kämpfen, aber sie wollen auch nicht sterben. Deswegen treten sie irgendwann einer Armee bei, wenn sie dort aufgenommen werden, wo sie dann für irgendeinen wahnsinnigen König kämpfen, den sie nicht kennen, und letzten Endes trotzdem sterben. Und die ganzen Armeen fressen das Land kahl, wo immer sie stehen. Deswegen haben wir euch bestohlen. Wir geben den Unschuldigen nur das zurück, was ohnehin ihnen gehört!“ „Und dieser Händler, war er nicht unschuldig? Ihm habt ihr sein Hab und Gut gestohlen.“ Davis rümpfte die Nase. „Dieser … Käfer hat den Armen ihren letzten Besitz für fast gar nichts abgenommen und ihn an das nächste Heer weiterverkauft. Er war ein Kriegsgewinnler von der schlimmsten Sorte, er hat von der ganzen Not nur profitiert!“ Taichi atmete tief durch. „Verehrte Ratsmitglieder“, verkündete er, „überzeugt Euch selbst. Die Räuber haben ihm mit ihrem noblen Gerede den Kopf verdreht.“ „Haben sie nicht!“, brüllte Davis. „Wir haben das Richtige getan! Wir waren gerecht! Legt mich meinetwegen in Ketten, so lange ihr wollt, aber beschmutzt nicht das Vermächtnis der Getreuen des Staubes!“ „Genau!“, rief jetzt auch Veemon. „Wir haben mehr Digimon geholfen als ihr! Wir haben auch die Armen satt gemacht, nicht nur einen König und seine verwöhnten Vasallen!“ Wieder wurde Gemurmel laut, doch Tai übertönte es. „Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?“, schrie er die beiden an. „Wollt ihr so dringend wieder in eure Zelle zurück?“ Leomon trat auf ihn zu und legte ihm die Pranke auf die Schulter. „Wir werden uns beraten“, verkündete es laut und grollend. Taichi warf Davis noch einen zornigen Blick zu, dann machte er auf dem Absatz kehrt, dass sich sein Umhang bauschte. Die vier auf dem Podium stiegen die Stufen zu ihrer linken hinunter auf das Dach. Dort dürfte eine Tür oder etwas in der Art sein, denn sie verschwanden im Inneren des Podiums, das auch gut der oberste Halbstock des Rathauses sein konnte. Kaum dass sie außer Sicht waren, gab es für die Schaulustigen kein Halten mehr. Sie tratschten und plapperten alle durcheinander, kein auf- und abbrandendes Murmeln mehr, sondern brodelnde Diskussionen. Davis hörte heraus, dass sogar jemand auf seiner Seite war; ein Gazimon jammerte über enge Freunde, die am Rand der Kaiserwüste für den DigimonKaiser gekämpft hatten und die von einem General aus Little Edo getötet worden waren. Ein anderes stimmte zu, dass rein hypothetisch die Digimon, deren Dörfer auf der Großen Ebene lagen, am schlimmsten vom Krieg betroffen waren, ohne dass sie auf den Schutz einer Fraktion hoffen konnten. Dennoch war die Mehrheit der Digimon eindeutig gegen ihn. Ein Mushroomon brüllte ihm etwas zu und als Davis in seine Richtung sah, warf es einen stinkenden Pilz nach ihm, der knapp vor seinen Füßen explodierte, sodass er einen hastigen Sprung machen musste. Sofort stampften seine Gotsumon-Wächter in die Schusslinie. „Das Urteil wurde noch nicht verkündet!“, rief eines von ihnen. Die Löwengarde des Königs, hochgewachsene Digimon in schwarzen Rüstungen, die Davis noch nie gesehen hatte und die während der Anhörung stramm unterhalb des Podiums gestanden waren, schlossen nun locker Wetten ab, welche Strafe Davis und Veemon wohl erhalten würden. Die Zeit zog sich zur Ewigkeit, ehe der Rat wiederkehrte. Taichi war verändert, sichtlich widerwillig setzte er die Anhörung fort. „Daisuke. Der Rat hat deine verworrene Situation auf einige wenige, handfeste Fakten zusammengefasst. Erstens: Dir liegen das Schicksal der unschuldigen Digimon und ein baldiges Ende des Krieges am Herzen. Zweitens: Du hast getan, was du konntest, um diesen Digimon zu helfen, und dafür auch gekämpft. Drittens: Selbstlose, noble Ansichten haben dich dazu getrieben; es sei dahingestellt, wie du zu diesen gekommen bist. Und viertens: Du bereust diese Taten nicht, sondern willst deinen Ansichten treu bleiben, auch wenn du dafür bestraft wirst. Stimmst du mit diesen Punkten überein?“ Davis wollte schon fast trotzig schweigen. Wenn man es so auslegte, stimmte alles, was Taichi sagte. „Ja“, murmelte er. „Wunderbar“, sagte der Drachenritter, klang dabei aber, als würde er die Worte eines anderen wiederholen, leblos und gleichgültig. „In diesem Fall spricht dich der Rat von deinen Vergehen frei. Dich und deinen Digimon-Partner.“ War das ein schlechter Scherz? Davis machte den Mund auf, aber Veemon stieß ihm den Ellbogen in die Seite. „F-frei?“, wiederholte er daher nur ungläubig. „Das Nördliche Königreich verurteilt keine Krieger der Gerechtigkeit“, verkündete der ach so gerechte Taichi. „Allerdings werden wir die Wahrheit deiner Worte auf die Probe stellen.“ Du meinst die Wahrheit deiner Worte, dachte Davis. „Alles Weitere ist Sache des Militärs, nicht der Justiz. Die Anhörung ist beendet.“ Vereinzelt wurden enttäuschte Stimmen laut, als der Drachenritter von dem Podest trat, gefolgt von den anderen Ratsmitgliedern. Nur Leomon, der König, blieb stehen und sah Davis in die Augen. Er spürte eine Art zufriedene Aura in diesem Blick. Die Versammelten lösten sich verstimmt auf, aber niemand wagte es, den Entschluss des Rates infrage zu stellen. Davis und Veemon wurden von ihren Handfesseln befreit, allerdings ließen die Gotsumon keinen Zweifel daran, dass sie weiterhin einer Eskorte bedurften. Immerhin bekam er von ihnen sein DigiVice zurück. Davis überlegte, auf Ex-Veemon davonzufliegen, aber er war im Hoheitsgebiet des Löwen und durfte im Übrigen nicht hoffen, Taichis Drachenstaffel abhängen zu können. So fügte er sich gehorsam und ließ sich von den Gotsumon wieder nach unten und anschließend in den Keller des Rathauses führen. Die Atmosphäre dort war ganz anders als im Kerker, viel feindseliger und wachsamer. Die Soldaten des Königs flankierten einen gewissen Tunnel, der den Berg unterhalb der Stadt durchzog und in dem Fackeln ein tiefes Orangerot verströmten. Ein riesiges Triceramon hielt Wache vor einem massiven Eisengatter. Der Anblick des gehörnten Dinosauriers brachte etwas in Davis zum Schwingen, aber konnte nicht sagen, was es war. Die Gotsumon marschierten unter den Beinen des Monsters hindurch und unbehaglich und geduckt folgten ihnen Davis und Veemon. Das Triceramon ließ ihn keine Sekunde aus den Augen und stieß drohende Knurrlaute aus. Was immer es bewachte, es war wertvoll. Im Eisengatter stand ein schmales Tor sperrangelweit offen und dahinter sahen ihnen Taichi und Leomon erwartungsvoll entgegen. „Was wollt Ihr noch?“, fragte Davis unbehaglich. War das vielleicht seine neue Kerkerzelle? Er hatte Geschichten gehört von Digimon, die offiziell freigesprochen und weitergereist, in Wirklichkeit aber in düsteren Kellern von unheimlichen Henkerdigimon zu Tode gefoltert worden waren. „Einen Beweis deiner Aufrichtigkeit. Und deines Mutes.“ Tai hielt ihm einen Gegenstand hin, der wie Ei mit Flammenverzierungen aussah, aus dem eine blitzende Klinge ragte. Darauf war dasselbe Symbol abgebildet wie auf den Bannern, die über den Dächern der Stadt wehten, dasselbe, dass auf Taichis Umhang und auf der Brust seiner direkten Untergebenen zu sehen war, eine strahlende Sonne in Gelborange. Allein deswegen widerstrebte es Davis, es zu berühren. „Was ist das?“, fragte er misstrauisch. „Eine Waffe. Möglicherweise eine mächtige. Eine Waffe, um die Unschuldigen zu beschützen und den Krieg schnell zu beenden. Das wolltest du doch, oder?“ „Und was hab ich damit zu tun?“ „Frag nicht so dumm und nimm es einfach.“ Als Davis das Ei zögerlich entgegennahm, erklärte Leomon: „Es sind einige dieser DigiArmorEier in der DigiWelt aufgetaucht. Menschen können sie verwenden, um die Digimon, die ihnen am nächsten stehen, digitieren zu lassen. Sir Taichi war nicht der Richtige, um die uralte Macht zu wecken, daher hofften wir, bei dir mehr Glück zu haben.“ Davis warf Taichi einen Blick zu, der verstimmt zur Seite sah. Deswegen also diese Scharade. Um mich freizubekommen und das Ei an mir auszuprobieren. „Und was soll ich jetzt damit machen?“ „Befiehl ihm zu erstrahlen“, brummte Taichi. „Dann werden wir sehen, ob du wirklich der Auserwählte bist oder ob wir uns umsonst all die Mühe gemacht haben.“ Davis sah Veemon fragend an, das eifrig nickte. „Versuchen wir es einfach.“ „Okay …“ Davis hob das Ei hoch. Die Feuermaserung schien im Fackellicht lebendig zu werden. Er nahm das als gutes Zeichen. „Erstrahle!“, befahl er. Und das Ei erstrahlte. Das Wappen glühte in feurigem Licht auf, das auf Veemon übergriff. Berstende Hitzesäulen hüllten das Digimon ein und Davis musste sein Gesicht vor den Flammen schützen. Er wich zurück, bis er kalten Stein hinter sich fühlte, während Veemon sich verwandelte. Es wurde nicht etwa zu Ex-Veemon, wie er halb erwartet hatte. Das Digimon, das aus einer Feuersäule brach, sah ihm zwar ähnlich, doch es trug eine flammengestaltete, rote Rüstung. Aus dem Helm ragte die gleiche Sichel wie aus dem ArmorEi. „W-wow“, brachte Davis hervor. Selbst das Triceramon grunzte überrascht und warf einen Blick hinter das Eisengatter. „Davis, es hat funktioniert!“ Veemon betrachtete erstaunt die Klauen, die aus seinen Armschonern ragten. „Ich fühle ein Feuer, ich fühle … Ich bin Flamedramon!“ „Unsere Hoffnungen haben uns nicht betrogen“, sagte Leomon zufrieden. „Wir haben die legendäre Armor-Digitation wiedererweckt.“ „Sieht so aus.“ Taichi schien ein wenig geknickt. „Die Entscheidung liegt jetzt bei dir, Daisuke.“ Da Taichi schwieg, richtete der König persönlich das Wort an ihn. „Du kannst diese Macht nutzen, um der DigiWelt den Frieden zurückzugeben und den Notleidenden einen Platz zum Leben. Allerdings gehört das ArmorEi immer noch dem Nördlichen Königreich. Wenn du es benutzen willst, wirst du für unsere Armee arbeiten müssen.“ Davis warf ihm einen schiefen Blick zu. Er hatte eigentlich nicht darum gebeten, diese Macht zu bekommen. Realistisch betrachtet wäre er dennoch allein, wenn er einfach so ginge. Nur mit Veemon Nachschubrouten zu überfallen und die Beute an die Armen zu verteilen war praktisch unmöglich. „Sei nicht kindisch“, sagte Taichi, der seine Gedanken erraten zu haben schien. „Ein Mensch und sein Digimon allein können nichts bewirken. Auch keine engstirnige Banditenbande.“ Er sprach schnell weiter, als Davis protestieren wollte. „Der Krieg wird vorbei sein, wenn jemand gewonnen hat. Genau genommen, wenn wir gewonnen haben. Leomon ist ein gerechter König. Es wird dafür sorgen, dass es auch den Enteigneten an nichts mangelt. Den Frieden müssen wir uns erkämpfen, nicht ergaunern.“ Davis sah ihn nachdenklich an. „Selbst wenn ich euch beitreten sollte, werde ich sicher nicht unter dir dienen.“ Taichi schnaubte. „Das wäre ja noch schöner. Ich breche noch heute Nacht nach Little Edo auf. Jemanden wie dich brauche ich da am allerwenigsten.“ „Und wohin soll ich dann euren Frieden tragen?“ „Warst du schon einmal am Dornenwall?“, fragte Taichi.   We stand, we fighte Withe the Lion of the northe The saviour from up highe above hath come (Stormwarrior – Lion Of The Northe) Kapitel 8: Das Attentat ----------------------- Tag 21   Es war die perfekte Welt, wunderschön und friedlich. Jahre waren ins Land gezogen, nichts erinnerte mehr an MaloMyotismons Untaten. Die Schuld der Finsteren Saat war lange getilgt worden, vom Licht aller DigiRitter auf Erden überschwemmt und gereinigt und auf ewig verbannt. Nun saßen sie an diesem heißen Sommertag unter den Bäumen im Park, ließen Sonnensprenkel, die das Blätterdach durchließ, auf ihrer Haut spielen. Davis rollte den Ball über den Rasen, rief ihnen spielerisch etwas zu, und Tai sprang auf und dribbelte mit. „Will jemand eines?“ Yoleis Gesicht tauchte grinsend vor ihm auf; sie hielt eisgekühlte Getränkedosen in der Hand. Mit ihrem langen Haar spielte der Wind und ihr weißes T-Shirt strahlte in der Sonne. „Ja, gerne“, sagte Ken lächelnd und streckte die Hand danach aus, doch sie ignorierte ihn, lächelte weiter, aber reagierte nicht. War sie aus irgendeinem Grund sauer? „Danke, Yolei“, sagte T.K. und nahm eine der Dosen. „Hey, Yolei, wirf rüber!“ Davis fuchtelte mit den Armen, während Tai kunstvoll den Ball gaberlte. Yolei warf ihm im hohen Bogen die Coladose zu, und als Davis sie öffnete, wurde er fauchend und zischend von einer Schaumfontäne durchnässt. Alle lachten, selbst Ken musste kichern. Das war typisch Davis. „Hast du für mich auch eine? Ich weiß nicht, wo ich sie sonst bekommen soll.“ Joe saß neben Ken im Gras.  „Klar“, sagte Yolei, obwohl sie keine mehr in Händen hielt. Sie lächelte unerschütterlich weiter, sah ihn aber schief an. „Kennen wir uns?“ Ken lachte leise über ihren Scherz. Es fühlte sich toll an, so frei zu lachen. Er wusste noch, dass er damals fast ein halbes Jahr gebraucht hatte, um wieder das Lachen zu lernen. Nun steckte er sogar die anderen damit an. „Yolei, sei nicht so fies zu ihm“, sagte Kari glucksend. Joe rückte seine Brille zurecht. „Entschuldige, wie unhöflich von mir. Ich heiße Joe. Ich bin einer vom Zuverlässigen Orden.“ Kens Lächeln entgleiste. Während seine Freunde weiterlachten, rückten sie mehr und mehr von ihm weg. Egal, was er sagte, egal, was er tat, sie reagierten nicht auf ihn. Yolei lachte über einen Scherz von Cody, schlug die Stiefelabsätze zusammen und salutierte. Sie trug eine tiefviolette Paradeuniform, an ihrer Seite hing ein Schwert und um ihren Hals saß eng und fest ein Schwarzer Ring. Ein Geräusch zerfetzte den Himmel, riss alles auseinander, das fröhliche Beisammensein, die Bäume und die Blätter, das ruhige Grasfeld, alles. Nur von seinem Schrecken blieb ein Nachhall, der schmerzhaft durch seinen Körper pochte. Kurz meinte er Karis Blick auf sich zu spüren, den einzigen Blick, den einer seiner Freunde ihm zugeworfen hatte, dann löste sich ihr Gesicht in Schwärze auf, genau wie alles andere, nur der schrille Lärm war noch da, jagte rote Adern über den Himmel und ließ sein Herz hämmern wie verrückt. Dann spürte er, dass er auf etwas Weichem lag, alle Muskeln angespannt und verkrampft. Tobende Dunkelheit umhüllte ihn. Kalter Schweiß auf seiner Stirn ließ ihn frösteln. Für einen Moment war es ihm unmöglich, sich zu orientieren, dann erkannte er, dass er in seinem Bett in seiner Schlafkoje lag. Immer noch pochten rote Linien über seine Netzhaut und der markdurchdringende, an- und abschwellende Ton ließ sein Blut gewaltsam durch seine Adern rauschen. Für einen Moment war er dankbar, so rabiat aus seinem Traum gerissen worden zu sein. „Ken, das ist ein Alarm!“, hörte er Wormmon piepsen. Ken schwang die Beine aus dem Bett und sprang, von dem plötzlichen Adrenalinschub getrieben, auf. Mit den roten, verästelten Blitzen vereinigten sich bunte Flecken vor seinen Augen zu einem schwindelerregenden Bildnis abstrakter Kunst, und er musste sich an der Wand abstützen, um nicht einfach umzufallen. Wormmon vergewisserte sich, dass er seine Hilfe nicht brauchte, und krabbelte voraus auf den Flur. Auf seinem wankenden Weg zur Tür las er seinen Umhang auf, den er letzte Nacht über den Schreibtischsessel geworfen hatte, und legte ihn um, als er zur Kommandobrücke hastete. Der neue Tag konnte noch nicht angebrochen sein, aber vielleicht war seine innere Uhr auch völlig gestört. Selbst das schale Licht, in das die gedämpften Deckenlampen den Flur badeten, tat in seinen Augen weh, und so war es eine Wohltat, dass die Kommandobrücke wie gewohnt völlig in Düsternis versank. Die dunkelroten Alarmlichter und die nervtötende Sirene verschwanden, als er die Brücke betrat. Nur die breiten Bildschirme verströmten mattes Licht; um Energie zu sparen jedoch nur so viel, dass die Hagurumon, die die Brücke überwachten, die Bilder erkennen konnten. Ken selbst sah nur graue Mosaike. „Was ist los?“, fragte er. Seine Stimme klang rau, sein Hals war so trocken, dass selbst Schlucken nichts brachte. „Eine Störung im Sektor M“, berichtete eines der zahnradartigen Digimon. „Schaden wurde gemeldet. Ein Angriff.“ „Was?“ Sektor M, das war kein Turm und keine Verteidigungsanlage draußen in der Wüste. Sektor M war die Festung selbst. „Wie konnten sie bis hierher kommen? Was ist mit dem Radar?“ „Zeigt keine feindlichen Aktivitäten an“, berichtete ein anderes Hagurumon. „Die einzigen Digimonsignaturen stammen von registrierten Wachen. Und den Schwarzring-Digimon.“ „Zeigt mir die Stelle“, verlangte Ken. So abrupt geweckt zu werden, verlieh ihm ein Gefühl der Verwundbarkeit, und plötzlich fühlte er Panik in sich aufsteigen. Ruhig, noch ist nichts passiert. Was kann dir hier in deiner Festung schon etwas anhaben? Die Hagurumon hellten einen der Monitore auf. Das Bild einer Außenkamera wurde sichtbar, ein Stück des Festungskörpers und der Himmel waren zu sehen. Kens innere Uhr hatte ihn tatsächlich im Stich gelassen; der Morgen graute soeben, der Nachthimmel wich blassem Blau. Kurz wurde in dem Videoausschnitt etwas sichtbar, ein grauer, rechteckiger Körper, nur für einen Moment, dann zerriss ein Blitz das Bild, wie die Sirene seinen Traum zerrissen hatte, und körniger Ameisenkrieg erschien an dessen Stelle auf dem Monitor. Dennoch hatte Ken das Digimon erkannt. „Verfolgt sofort die Signaturen aller Mekanorimon, die in unserem Sektor sind.“ Die Hagurumon bedienten die Maschinen, ohne sie zu berühren. Es reichte ein kurzer Blick oder eine angestrengte Miene in ihren metallenen Gesichtern. Ein dreidimensionales Hologramm tauchte vor Ken auf und zeigte die Festung von außen, in kleine Würfel unterteilt. Fünf gelbe Punkte blinkten rundherum auf. „Fünf Mekanorimon registriert. Die Sensoren bestätigen, dass alle mit Schwarzen Ringen bestückt sind. Sie stehen unter unserer Kontrolle.“ Ein rotes Lämpchen begann an einem der Kontrollpulte zu blinken. „Schaden gemeldet. Außenklappe B-X beschädigt. Metallvorhang automatisch aktiviert“, berichtete das zuständige Hagurumon. Ken vollführte eine Geste und die Bewegungssensoren des Computersystems ließen ein Eingabefeld in der Luft erscheinen. Mit wenigen Handgriffen befahl er den Mekanorimon, sich vor der Festung in einer Linie aufzustellen; da sie ihn nicht hören konnten, musste er das Befehlssignal über die Schwarzen Türme senden. Er erhielt die Bestätigung, dass das Signal die Digimon erreicht hatte, doch sie gehorchten nicht. Das ist unmöglich! Ein Schweißtropfen lief Ken über die Stirn. „Kalibriert das System neu! Die Mekanorimon sind als Feinde einzustufen, die Abwehrsysteme sollen sie vernichten!“ Es war ein großer Schritt zurück zu seinem Ich als DigimonKaiser, das wusste er, aber die Mekanorimon würden in der Stadt des Ewigen Anfangs wiedergeboren werden. Wormmon klammerte sich nervös an sein Hosenbein. Die Außenkameras wurden ebenfalls auf die Mekanorimon gerichtet und er sah die fünf nun. Sie flogen mit ihren Jetpacks tatsächlich um die Festung herum und schmolzen mit ihren Lasern Sichtfenster und Sensoren, und ganz zweifellos suchten sie nach einem Weg, in die Feste zu gelangen. Während die Plattformen mit den Tankmon ausgefahren wurden und die panzerartigen Digimon die Maschinen unter Beschuss nahmen, feuerten Kens nunmehr hellwache Neuronen auf Hochtouren. Was ging hier vor? Natürlich, es gab Digimon mit der Fähigkeit, andere Digimon unter ihre Kontrolle zu bringen, soviel wusste er; die heimtückischen Parasimon zum Beispiel oder seine Hagurumon. Auch Devimon hatte ja eine Möglichkeit entwickelt, gutartige Digimon unter seine Knute zu bekommen. Devimon war allerdings in der Hinsicht aus dem Verkehr gezogen, und Kens Schwarzen Ringe sollten eigentlich jedes andere Kontrollprogramm überschreiben. Es war unmöglich, ihm Champion-Digimon, die den Schwarzen Ringen unterstanden, in einem Gebiet, das vor Schwarzen Türmen nur so wimmelte, abspenstig zu machen! „Das Signal ist korrekt? Die Schwarzen Ringe sind wirklich aktiv?“, fragte er. „Sie sind aktiv und reagieren auf Eingaben. Allerdings handeln die Digimon nicht nach unseren Befehlen.“ Auch die stoischen Hagurumon waren etwas hektisch geworden. Die Vernichtung der Mekanorimon schritt zum Glück gut voran. Sie waren trotz ihrer Jetpacks nicht wendig genug, um den Hyperkanonen der Tankmon auf Dauer auszuweichen. Soeben zerbarst eines der Digimon bei dem Versuch, einen Panzer aufs Korn zu nehmen, in einer glitzernden Datenwolke, ein zweites nur Sekunden später. Die verbliebenen Mekanorimon zogen himmelwärts und nahmen die Festung von oben in Beschuss. In dem Moment flogen Kens Airdramon herbei, über ein Dutzend, und die Kameras zeigten, wie sie die Metalldigimon mit ihren Zähnen zermalmten. Ihr Angriff erinnerte ihn an Raubfische, die in ihren Beuteschwarm fuhren und sich ihre Opfer herauspickten; nur, dass hier die Raubfische der größere Schwarm waren. Ken ließ sich seufzend auf seinen Stuhl sinken, als das letzte der Mekanorimon vernichtet worden war und seine Datenreste gen Himmel trieben. So ein Alarm am Morgen wirkt heftiger als jeder Kaffee. „Wissen wir schon, warum sie uns nicht gehorcht haben?“, fragte er matt. „Negativ“, berichtete eines der Hagurumon. Die Bildschirme zeigten Statistiken, Diagramme und Messdaten, so schnell hintereinander, dass ein menschliches Auge gar nicht mithalten konnte. „Die Ringe waren in Ordnung, ebenso die Türme und unsere Signale. Funktionalität in jedem Fall gewährleistet.“ Das Hagurumon verharrte kurz. „Die einzige Möglichkeit könnte sein, dass …“ Ken erfuhr nie, was es hatte sagen wollen. In einem elektrischen Blitz zersprang der scheibenförmige Kopf des Zahnraddigimons, so plötzlich, dass er erschrocken vom Stuhl sprang. Nur den Bruchteil einer Sekunde später erlitt ein zweites Hagurumon dasselbe Schicksal; sein Metallkopf wurde von einer unsichtbaren Macht gesprengt, blauweiße Blitze liefen über den Rest seines Körpers, der leise scheppernd in sich zusammenbrach, ehe er sich in Daten auflöste. Die letzten beiden Hagurumon erwischte es gleichzeitig. Eines versuchte noch, der Attacke auszuweichen, und diesmal konnte Ken einen Blitz sehen, der aus dem hinteren Teil des Raumes, nahe der Tür, kam. Er erwischte das Maschinendigimon trotz seiner schnellen Reaktion und durchschlug es sauber, während ein zweiter Blitz seinen letzten Kameraden pulverisierte. „Wormmon, bleib hinter mir“, rief Ken atemlos. Er wirbelte zur Tür herum und versuchte, in der Düsternis des Raumes den Angreifer auszumachen. Unbewusst griff er zu seiner Hüfte, doch seine Peitsche war nicht da. Die hätte der andere DigimonKaiser gehabt, schoss es ihm durch den Kopf. Will ich in der Gefahr etwa wieder wie er werden? „Ken, ich muss digitieren!“, piepste Wormmon. „Nein“, murmelte Ken, während sie beide immer weiter zu den Instrumenten zurückwichen. „Du hast hier drin keinen Platz zum Kämpfen … als Stingmon bist du ein leichtes Ziel!“ „Aber auch widerstandsfähiger!“ Ohne seine Einwilligung abzuwarten, sprang Wormmon nach vorn auf die Schatten zu. „Wormmon, nicht!“ Es ist mutiger als früher. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass Wormmon gar nicht digitieren konnte. Die Schwarzen Türme würden es daran hindern. Während seiner ersten Ära war das zwischen ihnen nie ein Thema gewesen, und so durchzuckte ihn die verteufelte Wahrheit erst, als er verzweifelt wie vergeblich versuchte, Wormmon zurückzureißen. Es springt in sein Verderben! Es wird … Das Licht der Digitation hätte den Angreifer aus den Schatten gerissen, aber es war so grell, dass es Ken blendete. Unmöglich. Irgendetwas stimmt hier nicht … Bunte Muster blitzten vor seinen Augen, als er sah, wie Stingmon schemenhaft mit glühendem Stachel auf den unsichtbaren Feind zuflog … … und in allen Winkeln des Raumes gleichzeitig grellblaue Blitze aufzuckten und Stingmon einhüllten, als hätte es sie wie ein Magnet angezogen. Das Insektendigimon schrie gequält auf und Ken Schrei mischte sich ebenfalls in den Lärm, den das elektrische Rauschen verursachte. Und als Stingmon in einem Kokon aus blitzenden Fäden zurückdigitierte, sah Ken erstmals auch die Angreifer. Winzig klein waren sie, nicht größer als Schmeißfliegen, und hätte das Geblitze nicht ihre Schatten vielfach vergrößert an die Wände geworfen, hätte Ken nicht einmal die zuckenden Tentakel erkannt, die aus ihren gepanzerten Körpern peitschten. Kurisarimon – eine ganze Horde kleiner, fieser Kurisarimon. Er wusste aus der Enzyklopädie, die er gemeinsam mit Spadamon erstellt hatte, wie diese Digimon aussahen, und Spadamon hatte von einem vier Meter großen Ungetüm dieser Art berichtet, das es einmal an der Felsenklaue gesehen hatte, aber dass sie auch so irrwitzig klein sein konnten, hatte Ken nicht geahnt. Wie ein Heuschreckenschwarm fielen sie über die Geräte her, überlasteten die Sensoren mit ihren Blitzen und vernichteten Bildschirme und Armaturen, und arbeiteten sich dabei immer weiter zu Ken vor. Er stieß mit dem Rücken gegen eine Konsole und schluckte. Der Schweiß lief ihm mittlerweile aus allen Poren, und er atmete schwer. Es gab keine Rückzugsmöglichkeit mehr. Die Digimon auf der Brücke waren tot, seine Truppen draußen zu weit weg, seine Türme offenbar beschädigt. In der Mitte des Raumes sah er im stroboskopischen Licht der immer wieder aufflammenden Blitze Wormmon liegen. Es war vorbei, alles aus. Ken biss die Zähne zusammen, um seinen Kiefer am Zittern zu hindern. Er trat einen Schritt auf den Kurisarimon-Schwarm zu. Na kommt schon, foltert mich nicht, indem ihr mich warten lasst. Bringen wir es hinter uns, und vielleicht kann ich dann in meinen Traum zurückkehren … Etwas anderes leuchtete plötzlich in dem Raum auf, dunkler als die Blitze und kaum auszumachen, und dann traf etwas eine Maschine, pulverisierte die Kurisarimon-Winzlinge, die daran werkten, und den Röhrenmonitor gleich mit. „Verflucht nochmal, das ist ja eine richtige Plage!“ Ken atmete zittrig durch, als er die Tür in den Flur offen stehen und durch das Blitzgewitter den knochigen, grünen Schädel von Ogremon sah. Das Digimon war auch in der Festung, richtig. Eine zweite Kaiserfaust raste die Computerkonsole zu Kens Rechten entlang, riss Hebel und Knöpfe heraus und verarbeitete weitere Kurisarimon zu Staub. Die rechte Flanke des Schwarms konzentrierte ihre Blitzschleudern auf den neuen Feind, als hinter Ogremon wie ein dunkler Schwall eine Horde seiner Getreuen auf die Brücke schwemmte, seine Cerberusmon-Bluthunde und der zusammengewürfelte Haufen Mushroomon, Gazimon und Woodmon. In Windeseile wurde jedes einzelne Kurisarimon zielgenau von grünen Flammen, mahlenden Zähnen, explosiven Pilzen, Betäubungsblitzen oder peitschenden Astschlägen vernichtet. Die blauen Blitze wurden immer weniger – auch wenn die kleinen Biester eine erstaunliche Durchschlagskraft hatten und die Gazimon und Mushroomon, die sie erwischten, in Sekundenbruchteilen töteten –, bis das einzige elektrische Flimmern auf der Brücke irgendwann nur noch von den defekten oder kurzgeschlossenen Apparaturen kamen. Immer noch hatte ein eisiges Gefühl Kens Magengegend im Griff und er schämte sich, vor seinen Untertanen so zittrige Knie zu haben. Es ist immerhin sechs Jahre her, sagte er sich. Sechs Jahre, seit mich wirklich ein Digimon bedroht hat. Trotzdem war es ihm peinlich, sich von einem Aufgebot an Champion-Digimon so sehr einschüchtern zu lassen, wo er doch Giganten wie MaloMyotismon getrotzt hatte und eben ein Spiel gegen Deemon spielte. „Dachte, ich träume, als ich euch schreien gehört habe“, grunzte Ogremon, klang dabei aber kein bisschen hämisch. „Alles noch dran? Der Wurm scheint ja ordentlich was auszuhalten.“ Kens Blick flackerte zu Wormmon, das sich eben schwerfällig aufrichtete. Nun war ein wenig Schwäche zu zeigen auch schon egal, er nahm es in die Arme und streichelte über den kleinen, noch von den Stromstößen zuckenden Körper. „Tut mir leid, Ken“, murmelte das Digimon mit brüchiger Stimme. „Ich hätte auf dich hören sollen.“ „Ist schon gut“, sagte er beruhigend. „Ogremon!“ „Hier.“ Sein erster Digimon-Ritter stapfte mit der Keule in der Hand zu ihm. „Lass deine Digimon alle Ein- und Ausgänge der Festung überprüfen. Falls etwas undicht ist, erstattet mir sofort Meldung. Wenn ihr ein Digimon seht, das sich verdächtig benimmt, nehmt es gefangen; wenn es sich wehrt, tötet es. Jedes Digimon mit einem Schwarzen Ring tötet ihr ebenfalls, wenn es nicht auf dem Weg nach draußen ist.“ Ein weiterer Schritt zum Tyrannen. Nein, es ist nur dieses eine Mal. „Und niemand geht allein, teil sie in Gruppen von mindestens drei ein, und alle sollen auf dem gleichen Level sein.“ Ehe er nicht wusste, was den Sinneswandel der Schwarzring-Digimon verursacht hatte – er glaubte nicht, dass die paar Mekanorimon alle seine Türme in diesem Sektor zerstört hatten –, wollte er nicht riskieren, dass ein Champion-Digimon seine Rookie-Eskorte eliminierte und dann allein im Inneren der Festung Amok lief. „Wird gemacht, DigimonKaiser.“ Während Ogremon seine Digimon mit barschen Worten in Dreierteams einteilte, tippte Ken auf der Holo-Konsole herum, die noch funktionierte, und kommandierte andere Maschinendigimon dazu ab, auf der Brücke Ordnung zu schaffen. Auch wenn er Ogremon für sein brachiales Eingreifen zutiefst dankbar war: Der Großteil der Gerätschaften war zerstört. Dann befehligte er alle Schwarzring-Digimon in dem Sektor in die Dünenlandschaft vor der Festung. Für heute wollte er keinem von ihnen mehr trauen. Was für ein Morgen … Kens Blick traf noch einmal den von Ogremon. Er erinnerte sich an seinen Traum, daran, wie seine Freunde ihn einfach ignoriert hatten. Und Ogremon hatte ihm das Leben gerettet, dasselbe Ogremon, das Tai und den anderen einst auf der File-Insel ans Leder wollte. Anscheinend ist die ganze Welt verrückt geworden.     „Die Blechbüchsen sind alle hinüber, und von den Stechmücken ist auch keine zurückgekehrt. Ich sag doch, es wäre besser gewesen, wenn du uns drei auch mitgeschickt hättest.“ Izzy sah nur kurz von seinem PC auf. Es war ein High-Tech-Gerät, allerneueste Technik, mit einer Prozessorleistung von jenseits dieser Welt, wie es ihm oft vorkam. Allein der Blick auf die Anzeige der durchgeführten Berechnungen pro Sekunde war um einiges angenehmer, als in Willis‘ gelangweiltes Gesicht zu sehen. „Hast du gehört? Es hat nicht geklappt.“ Die beiden Digimon des blonden Jungen mit den eisblauen Augen tappten neugierig an Izzys Sechsundvierzig-Zöller heran und schauten ihm über die Schulter. „Ich hab’s nicht nur gehört, ich habe die genauen Daten hier.“ „Und deine Antwort auf Warum-hast-du-nicht-mich-geschickt?“ „Ich habe sowieso nicht erwartet, dass wir den DigimonKaiser so einfach kleinkriegen.“ Izzy beantwortete seine Frage nicht direkt, sondern ließ seine Finger über die Tastatur rattern. „Aber immerhin haben wir jetzt seinen Schwachpunkt.“ „Ja … was immer es uns bringt“, murmelte Willis. Er wusste genau, was Izzy meinte, nur war er nicht beeindruckt. Willis war ebenso bewandert in den technischen Möglichkeiten dieser Riesenanlage wie Izzy, wenn nicht noch mehr, und dennoch fand er die Methode, die Izzy anwenden wollte, um den DigimonKaiser zu besiegen, langweilig. „Es bringt uns eine Menge.“ „Wir werden ja sehen. Er ist sicher kein Idiot, irgendwann wird er schnallen, dass wir ganz einfach sein ach so tolles System gehackt haben.“ Izzy nickte. Er wusste, dass Willis jetzt ein paar ganz bestimmte Worte von ihm erwartete. Er lieferte sie ihm. „Und deswegen müssen wir so schnell wie möglich einen vernichtenden Schlag gegen ihn führen. Willst du die Operation mit Terriermon und Lopmon anführen?“ Willis lächelte nur sein charmantes Lächeln. „Ich würde mich sehr darüber freuen.“     Mimi hatte die Alarmglocken gehört, die über Little Edo erschollen waren, und hatte sich unruhig auf ihr Bett gekauert. Yasyamon hatte sie streng angewiesen, ihr Gemach nicht zu verlassen, bis die Gefahr vorüber war. So wartete sie bangen Herzens mit angezogenen Knien. War der DigimonKaiser in Little Edo eingefallen? Oder stand eine der Armeen aus dem Süden vor den Toren? Als sie Palmons Pflanzenfüße ungelenk über die Dielen im Flur trampeln hörte, machte ihr Herz einen Sprung, aber als das Digimon hereinplatzte, sah sie sofort, dass keine Gefahr drohte. Palmon war aus einem anderen Grund aufgeregt, das hörte sie aus seinen Worten heraus: „Mimi, schnell, du wirst es nicht glauben!“ Ihre Röcke – heute weiß wie Zuckerguss und lachsfarben – gerafft, eilte sie, gefolgt von ihrem Leibwächter, aus der Pagode bis zu dem großen Vorplatz, wo bis vor kurzem noch das Reisfest getobt hatte. Heute war er fast leer; bis auf ShogunGekomon, das riesig groß vor der Pagode hockte, deren Tor es nicht einmal vollständig überragte, ein paar Ninjamon, die einen Spalier bildeten – und einen jungen Mann und ein Agumon vor dem gewaltigen Schädel eines Megadramons, das ausgestreckt auf dem Platz lag und dem Menschen etwas Majestätisches, ungemein Wichtiges verlieh. Mimi blieb der Mund offen stehen. Konnte es sein …? Der junge Mann bemerkte sie und drehte sich zu ihr um. Das Auge des Drachen hinter ihm folgte seiner Bewegung. „Palmon“, hauchte sie, „ist er das wirklich?“ „Ich glaube, ja“, flüsterte Palmon zurück. „Mimi, Liebes“, rief ShogunGekomon dröhnend aus. „Sieh, wer uns besuchen kommt, und das so unerwartet und prächtig, dass die Monitormon sogar Alarm geschlagen haben!“ Mimi wagte es immer noch nicht näherzukommen, es war wie ein Traum, der platzen könnte, wenn man ihn mit den Händen packen wollte. „Wer … wer ist das?“ Sie musste ganz sichergehen. ShogunGekomon schien mehr gekränkt als der junge Mann, als es mit seinen Schwimmhäuten energisch auf ihn deutete. „Aber Liebes! Das hier ist Sir Taichi der Drachenritter, treuer Recke von König Leomon und erster heldenhafter Ritter des Nördlichen Königreichs, geko!“ Taichi deutete eine Verbeugung an. Es war es tatsächlich! Ihre Gebete waren erhört worden, war das zu glauben? Oder war er nur hier, um etwas im Auftrag seines Königs zu besprechen? Sie beschloss achtsam zu sein. ShogunGekomon hatte sie nach dem Reisfest aufgesucht, sein riesiger Kopf hatte durch ihr Fenster gespäht und auf sie eingeredet. Am Ende hatte der Shogun sich dafür entschuldigt, dass er Musyamon ihre Hand versprochen hatte, und beteuert, wie sehr er sie doch liebe, aber auch, dass er nicht verstehe, warum sie den Samurai eigentlich abgewiesen hatte. Also trat sie näher und knickste vorerst nur höflich. „Es ist mir eine Ehre“, sagte sie formell. „Die Ehre ist auf meiner Seite, Prinzessin.“ Er hatte eine angenehme, warme Stimme und ein ebenso warmes Lächeln. Allerdings fiel ihr auf, wie zerzaust sein Haar war. Auch wenn es von seinem Flug stammen mochte, zu einem so edlen schwarzen Mantel und dem Gewand, in das Goldfäden gestickt waren, passte diese Struwwelfrisur nicht. Außerdem hatte sie sich den Drachenritter größer und muskulöser vorgestellt, und auf eine romantische Art und Weise grimmiger. „Was führt Euch nach Little Edo, Sir? Geschäfte?“ Sie beschloss, so höflich zu sein, wie der Shogun es ihr beizubringen versucht hatte. „Naja, äh …“ Er räusperte sich. „Weniger Geschäfte, sondern mehr … Also, ich bin hier, um Euch zu heiraten. Ich würde Euch mit nach Santa Caria nehmen, es sei denn, Ihr wünscht die Zeremonie hier in Little Edo durchzuführen.“ Obwohl sie heilfroh sein sollte, war Mimi enttäuscht. Er hatte es viel zu direkt gesagt. Er hätte sagen sollen: Ich möchte um Eure Hand bitten, oder Erweist mir die Ehre, zu versuchen, Eure Gunst zu gewinnen, etwas in der Art. So war es keineswegs romantisch. „Was für eine Ehre, Sir“, katzbuckelte der Shogun, als wäre er vom Rang her nicht höher als Sir Taichi. „Was sagst du, Mimi, Liebes?“ „Hm“, machte sie nur schnippisch und verschränkte die Arme. „Kein Interesse. So leicht bin ich nicht zu haben. Ihr müsst mir schon den Hof machen.“ Der Drachenritter hüstelte unbehaglich. „Naja, vielleicht …“ Das Agumon neben ihm verpasste ihm einen Schubser, den er mit einem ärgerlichen Blick quittierte. „Ich würde Euch natürlich gern anbieten, mich erst näher kennen zu lernen.“ „Eine gute Idee“, pflichtete ihm ShogunGekomon bei. Selbstgefällig lächelnd deutete er auf sein Megadramon. „Würdet Ihr mir bei einem Ritt auf einem meiner Drachen Gesellschaft leisten?“ „Auf diesem stinkenden Ding?“ Mimi rümpfte die Nase. „Der Wind würde nur meine Frisur zerstören.“ „Ich bin sicher, das würde Eure Schönheit nicht beeinträchtigen“, sagte er, klang aber ein klein wenig genervt. Gut so. „Die Antwort ist Nein.“ „Mimi, nun sei doch nicht gleich so“, sagte der Shogun hilflos. „Vielleicht … würde es für den Anfang reichen, wenn Mimi Euch die Pagode zeigt, was meint Ihr, Sir?“ „Aber mit Freuden. Wenn sie einverstanden ist?“ Da konnte Mimi schon eher zustimmen. „Gut, das werde ich machen. Und Ihr könnt mir gleich etwas über Euch erzählen.“ „Mit Freuden. Kann ich meine Staffel in Eurer Obhut lassen?“, fragte er ShogunGekomon. „Natürlich, natürlich. Eure Megadramon sind so sehr unsere Gäste wie Ihr. Ich werde mich um eine Unterkunft kümmern, geko.“ „Kommt Ihr dann, Sir?“, fragte Mimi. Als er ihr in die Pagode folgte, kam sie nicht umhin zu bemerken, dass sein Umhang schon sehr beeindruckend aussah, wie er sich bei jedem Schritt bauschte. Nun ja, sie würde ja sehen, ob er wirklich so edel und ritterlich war, wie sie es sich immer ausgemalt hatte. Innerlich vor Glück jauchzend, dass endlich einmal ein Mensch um ihre Hand anhielt, hoffte sie nur, dass er sie nicht enttäuschen, sondern ihr wirklich gewissenhaft den Hof machen würde.     „Da vorne ist es!“, hörte Davis Löwemons Stimme den Flugwind übertönen. Das AeroVeedramon flog in schwindelerregender Höhe eine Kurve und als verwaschener Fleck wurde im dichten Grün des Waldes der Dornenwall sichtbar. Eigentlich war es mehr eine Kuppel denn ein bloßer Wall, fand Davis. Ein Gebiet von vielleicht zehn Hektar wurde davon umschlossen, und je näher sie ihr kamen, desto eindrucksvoller wirkte die Barriere. Das mussten baumstammdicke Ranken sein, in verschiedenen Braun- und Grüntönen, mit Dornen, so groß wie Hände – und zwar die Hände von Leomon. Davis hatte den Rest der Nacht nach seiner Anhörung kaum geschlafen. Entsprechend unwirklich fand er deswegen auch seine Reise auf AeroVeedramon, einfach weil er sterbensmüde war. Der Verstärkungstrupp, den König Leomon den Digimon am Dornenwall schickte, bestand neben Davis, Veemon und dessen drei größeren, fliegenden Verwandten aus zwei Mitgliedern der Löwengarde, von denen Davis erst seit heute wusste, dass man sie Löwemon nannte, und zwei Dutzend maschinenartig anmutender Arbormon, von denen die meisten auf Unimon flogen. Sie sollten sich mit den in der Blütenstadt stationierten Truppen vereinigen und die Geister, die aus den Nadelbergen herabströmten, in ihre Schranken weisen, soweit der Auftrag. „Ich dachte, der Dornenwall wird belagert?“, brüllte Davis gegen den Flugwind an. Er und Veemon klammerten sich an das eine Horn des AeroVeedramons, Löwemon an das andere. „Ich sehe hier aber weit und breit keine feindlichen Digimon!“ „Die kommen schon noch“, meinte Löwemon unheilverkündend. Als hätte Davis sie heraufbeschworen, ging der Tanz im nächsten Moment los. Urplötzlich sauste etwas haarscharf an Davis‘ Kopf vorbei, das er nicht einmal erkennen konnte. Löwemon stand plötzlich breitbeinig auf AeroVeedramons Rücken, ohne auch nur ein bisschen zu schwanken, und hielt seinen Stab in der Hand. „Da sind sie. Halt dich gut fest, Auserwählter.“ Vor ihnen flimmerte die Luft und ihr AeroVeedramon ging brüllend in einen Sturzflug über. Davis und Veemon schrien beide laut auf, Veemon schlenkerte hilflos mit den Beinen hin und her und konnte sich nur mit den Händen festhalten. Überall in der Luft tauchten plötzlich Digimon auf, Davis erhaschte nur einen Blick auf rote Kapuzen und graue Mäntel und blitzendes Metall. Sie fegten wie der Wind an ihnen vorbei und verschwanden wieder. Löwemon ließ seinen Stab rotieren und wehrte einen Hieb ab, den Davis gar nicht bemerkt hätte. Leomons Löwengarde war schon eine Sache für sich. Den nächsten Angreifer fischte Löwemon direkt aus der Luft, indem es seinen Stab mit der Sense des Digimons kreuzte und es so mitriss. Davis sah die vermummten Geistwesen nun aus der Nähe; aus Erzählungen wusste er, dass das Phantomon waren. Der Löwenkopf, der in den Bauchteil von Löwemons Rüstung eingearbeitet war, öffnete sich und eine gelbschwarze Energiekugel brach daraus hervor, traf Phantomon aus nächster Nähe und verarbeitete es zu Datenmehl. Als Davis sich umsah, sah er den Luftkampf überall toben. Die Unimon waren nicht so flink wie die AeroVeedramon, also hatten sie und die auf ihnen reitenden Arbormon alle Hände voll zu tun, die fliegenden Sensenmänner abzuwehren. Davis sah, wie Lichtkugeln und als Raketen abgeschossene Hände und Füße der Arbormon scheinbar ziellos durch die Luft sausten, dann flog AeroVeedramon eine so scharfe Kurve, dass er sich wieder darauf konzentrieren musste, nicht den Halt zu verlieren. Die Phantomon wollen uns vom Kurs abbringen, wurde ihm klar. Löwemon duckte sich kurz und ein weiterer Feind rauschte über ihm mit blitzender Sense hinweg, dem nächsten trieb es die Spitze seines Stabes in den Leib; die Fluggeschwindigkeit erledigte den Rest und ließ das Phantomon in tausende funkelnde Datenreste zerbersten. Auch ihre Fluggelegenheit selbst war nicht untätig – einige Phantomon zielten klar auf AeroVeedramon, das sie entweder einfach rammte oder sie wuchtig mit seinen Fäusten davonschlug. Davis wünschte sich mit einem Blick auf das regelrecht im Wind flatternde Veemon, sie beide könnten auch irgendwie mithelfen. Aus den Augenwinkeln sah er das AeroVeedramon mit dem zweiten Löwemon ein halsbrecherisches Manöver fliegen, das mit einem Menschen auf seinem Rücken wohl nie und nimmer geklappt hätte. Das Löwemon schlug grimmig Angreifer zur Seite oder erledigte sie mit den Energiekugeln aus seiner Rüstung. Und dann erblickte Davis das dritte AeroVeedramon, das noch ein gutes Stück höher flog und mit zwei Arbormon bemannt war, von denen eines das Banner des Löwenkönigs trug, die orangerote Sonne auf weizengelbem Feld. Die Digimon wurden von vier Phantomon auf einmal aufs Korn genommen. Davis sah schwarze Energie spritzen, wo die Sensen sich in die Haut des Drachendigimons bissen. Das AeroVeedramon röhrte auf, als sein linker Flügel glatt gekappt wurde, und sackte infolgedessen zur Seite. Ein Arbormon schoss wie verrückt seine Gliedmaßen auf die Geister, von denen immer wieder neue in ihrer Flugbahn auftauchten, bis die Sense eines besonders geübten Schnitters es am Rumpf in zwei Teile hackte. Etwas prallte gegen den Bauch des AeroVeedramons und warf es vollends aus dem Flug. Wie ein schlecht gefalteter Papierflieger trudelte es in die Tiefe, das Banner flatterte nebenher. „He!“, schrie Davis. „Umkehren! Wir müssen ihnen helfen!“ „Das hat keinen Sinn“, sagte Löwemon und mit einem metallischen Geräusch prallte erneut sein Stab gegen die Sense eines Phantomons. „Wir müssen versuchen, selbst durchzukommen!“ Davis knirschte mit den Zähnen, aber er wusste, dass der Gardist recht hatte. Endlich kam der Dornenwall in Reichweite, von nahem wirkte er sogar noch größer, an manchen Stellen aber auch ziemlich welk und ungepflegt. Die AeroVeedramon flogen den Wall dicht über dem Boden an, die Unimon folgten in einigem Abstand, immer noch Lichtbälle verschießend. Davis wollte schon die Augen zusammenkneifen, als er den Zusammenprall mit der Rankenmauer kommen sah, ehe sich knapp vor ihnen einige der helleren Ranken bewegten und einen schmalen Durchlass schufen, durch den die AeroVeedramon wie Pfeile schossen. Als Davis sich herumdrehte, sah er, wie riesige, blumenähnliche Blossomon die Löcher wieder füllten und beim Herannahen der langsameren Unimon ihre Ranken wieder wegzogen. Nachdem auf diese Weise der Rest des Trupps sicher hinter dem Dornenwall gelandet war, verschmolzen die Blossomon wieder mit dem Wall. Davis war noch nie so froh gewesen, festen Boden unter den Füßen zu spüren. Mit wackeligen Knien half er Veemon vom Rücken seines großen Artverwandten. Das andere Löwemon gesellte sich zu ihnen. Davis hatte gelernt, die beiden zu unterscheiden. Das eine, mit dem er geflogen war, war recht umgänglich und hatte bei seiner Anhörung sogar gewettet, dass er freigesprochen werden würde. Das andere schlug gern einen raueren Ton an und hatte auch eine tiefere Stimme und außerdem einen langen Kratzer in seiner Rüstung, über dem rechten Auge. Es schien ganz entschieden etwas gegen gewisse auserwählte ArmorEi-Besitzer zu haben und Davis hatte vor, sich von ihm fernzuhalten, so gut es eben ging. Die beiden ließen ihren Trupp durchzählen und kamen zu dem Ergebnis, dass außer dem abgestürzten AeroVeedramon vier Unimon mitsamt ihren Reitern fehlten. Zwei weitere Einhorndigimon waren reiterlos durch den Dornenwall gekommen. Davis sah sich indessen um. Das hier war ohne Zweifel die Blütenstadt, auch wenn die Bezeichnung Stadt sie ein wenig zu sehr ehrte. Die meisten Häuser waren direkt in die Bäume oder in haushohe Blumen geschnitzt und recht hübsch verziert, aber allzu viele waren es nicht, und es gab weder gerade Straßen noch eine Struktur in der Bebauung, auch nicht was die Lehmhütten anging, die sich eng an die natürlicheren Gebilde drängten. Digimon sah er kaum. Bis auf die Blossomon, einige Woodmon und Floramon schien die Stadt wie ausgestorben. Die Löwemon hielten einen Woodmon-Arbeiter an, der eben Baumstämme zum Wall brachte, die bei den Ausbesserungsarbeiten benötigt wurden. „Wie ist die Lage?“, fragte das gutmütige Löwemon. Woodmon sah sie gelangweilt aus seinem groben, hölzernen Gesicht an. „Kommt drauf an, wer das wissen will.“ „Begrüßt man so die Leibgarde des Königs?“, blaffte Kratzer-Löwemon. „Oh“, machte Woodmon. „‘tschuldigung. Ich hab kein Banner gesehen.“ Davis fragte sich, wer überhaupt entschieden hatte, sie hier hereinzulassen. Vermutlich jemand, der den Kampf schon in der Ferne gesehen hatte. „Unsere Standartenträger sind abgestürzt, als wir die Belagerung durchbrochen haben. Wo ist die Besatzung?“ „Schläft. Tagsüber ist die einzige Zeit, wo man überhaupt ein bisschen schlafen kann. Nachts gehen die Geister um und heulen und jaulen und kratzen mit ihren Sicheln und Krallen am Wall … Keiner kann schlafen, wenn es Nacht ist.“ Die Löwemon beratschlagten sich kurz mit Blicken. „Dann sag fürs Erste du uns, was du über die momentane Lage weißt.“ „Die momentane Lage?“ Woodmon zuckte mit den Schultern. „Was gibt’s da groß zu wissen? Wir sind bald erledigt. Der Wall wird nicht mehr lange halten. Letzte Nacht sind ein paar von den Bakemon durchgeschlüpft. Wir haben sie erledigt und die undichten Stellen repariert, aber es hilft ja doch nichts. Wir sind alle erschöpft, und mit jedem Tag werden’s mehr Geister, die an unsere Tür klopfen. Am Anfang hat Euer Sir Petaldramon noch versucht, sie offen zu bekämpfen. Ist rausgegangen mit Euren Echsendigimon. Es hat die Geister ein bisschen verschreckt, und das war’s. In der nächsten Nacht waren es doppelt so viele. Seitdem verschanzen wir uns nur hier und warten auf unser Ende.“ „Klingt ja gar nicht gut“, meinte Davis. „Stimmt. Haltet mich ruhig noch ein wenig von der Arbeit ab. Noch eine Nacht überstehen wir eh nicht, egal wie viel Holz die Rockmon aufschichten.“ „Kannst du uns zu Cherrymon führen?“, fragte das nette Löwemon. „Könnte ich wohl, aber Ihr hättet genau so viel davon, wenn wir uns bei einem gemütlichen Kartenspiel und einer Schüssel Wurzelbrei zusammensetzen.“ „Wieso? Stimmt etwas nicht mit ihm?“ „Kann man sagen.“ „Was hat es denn?“ Woodmon zuckte erneut mit den hölzernen Achseln, eine Bewegung, die es scheinbar gern und oft vollführte. „Ihr könntet es fragen, aber es würde nicht antworten. Den Vergleich mit dem Wurzelbrei hab ich schon gebracht, oder?“ „Ist es tot?“ Die Löwemon sahen sich beunruhigt an. Der Teil ihrer Gesichter, der nicht von ihrer Maske bedeckt war, war sorgenumwölkt, während Davis keine Ahnung hatte, um wen es eigentlich ging. „Das nicht, aber es wird wohl nicht mehr viel fehlen.“ „Für uns zu ihm“, befahl das grantige Löwemon. Woodmon zuckte mit den Achseln, legte seine Last einfach auf dem Boden ab und watschelte auf seinen Stummelbeinchen davon. Da sie nichts Besseres zu tun hatten, folgte Davis und Veemon den Digimon. Je tiefer sie in die Stadt kamen, desto dichter wurden die Baumkronen hoch über ihren Köpfen. Darüber wölbten sich die schweren Ranken des Dornenwalls und ließen nur schmale Streifen Sonnenlicht durch. An den Baumstämmen und an manchen Häuserwänden wuchs phosphoreszierendes Moos, somit war es nicht wirklich dunkel, aber Davis hatte das Gefühl, trotzdem unter Tage in einer feuchten Höhle zu sein. Im Herzen der Blütenstadt, wo die Baumhäuser und Hausbäume so dicht standen, dass es fast kein Vorwärtskommen mehr gab, gab es eine gerodete Lichtung, wo nur Gras, Moos und kniehohe Sträucher den Boden bedeckten, diese dafür im Überfluss. Trotzdem nannte Woodmon den Ort Cherrymons Hain, und obwohl Cherrymon augenscheinlich der einzige richtige Baum hier war, reichten seine schiere Größe und zahllosen Äste tatsächlich, um den Eindruck eines kleinen Wäldchens zu erwecken. Der Stamm des großen Kirschbaumes hatte die Andeutung eines Gesichts, das allerdings schlief; die knotige Borke um die geschlitzten Augen war zusammengekniffen, die Miene wirkte sogar gequält. Der buschige Schnauzbart, der aus Blattwerk bestand, war eingetrocknet und gelblich. Davis konnte Cherrymon nur als … krank bezeichnen. Weiße Flechten zogen sich wie Schimmel über seine Rinde, welke, abgefallene Blätter bildeten einen orangeroten Teppich zu ihren Füßen, und die verbliebenen Kirschen in der Baumkrone waren schwarz und verrunzelt. Die Äste, die die Arme des haushohen Digimons darstellten, waren verdorrt und verkrüppelt. „Bei König Leomons Mähne!“, entfuhr es dem übellaunigen Löwemon. „Was ist mit ihm passiert? Cherrymon, könnt Ihr mich hören?“ „Gebt Euch keine Mühe. Cherrymon schläft. Hat sich in sein Innerstes zurückgezogen und hofft, dass seine Rinde es schützt“, sagte Woodmon. „Was ist passiert?“ Wieder das Achselzucken. „Gar nichts. Meine ich halt. Cherrymon ist nie viel rumspaziert, das ist wohl war. Aber seit die Geister da sind, hat es sich nicht mehr von der Stelle gerührt. Hat nur da Wurzeln geschlagen und macht sonst gar nichts. Dafür sieht es jeden Tag unansehnlicher aus. Tja, als Beschützer taugt es nicht viel. Wartet sicher ab, bis die Geister uns alle geholt haben, der Feigling.“ „Sprich nicht so respektlos von Cherrymon“, fuhr das Löwemon es an. „Es heißt, in Zeiten der Not hält es den Dornenwall aufrecht. Das Wasser und die Nährstoffe, die es aus dem Boden zieht, gibt es zum größten Teil an die Dornenranken weiter, damit sie kräftig und frisch blieben.“ „Der Dornenwall verdorrt auch schön langsam“, meinte Woodmon achselzuckend. „Die Ranken dünnen aus und zerbröseln. Was glaubt Ihr, warum die Geister es so leicht haben, durchzuschlüpfen? Anfangs waren ja wir noch froh. Diese Digimon können ja angeblich durch Wände fliegen. Die lebenden Dornen haben sie aber aufgehalten. Tja, die lebenden, wenn Ihr versteht, was ich meine.“ „Wenn Cherrymon nicht ansprechbar ist“, überlegten die Löwemon, „bleibt uns nichts anderes übrig, als Sir Petaldramon zu wecken.“ Woodmon lachte. Es klang, als schabten Holzplatten gegeneinander. „Viel Spaß dabei. Euren Sir wird niemand mehr wecken. Außer der DigimonKaiser, wenn ihm die File-Insel mittlerweile gehört. Die Phantomon haben es in Stücke gehackt, als es mal wieder versucht hat, die Geister vor dem Wall zu stellen, um die Schäden gering zu halten.“ Nun sahen die Löwemon wirklich besorgt aus. „Wenn Sir Petaldramon tot ist und Cherrymon schläft, wer hat dann das Kommando?“ Achselzucken. „Wozu brauchen wir ein Kommando? Wir sehen zu, dass der Wall dicht bleibt, und bringen alle um, die durchschlüpfen. Viel mehr können wir ja eh nicht tun.“ Woodmon machte kehrt und marschierte zum Stadtrand zurück. Kratzer-Löwemon stellte Vermutungen auf, dass jemand das Grundwasser oder den Boden vergiftet haben könnte, aber Woodmon meinte, dass das auch die anderen Pflanzendigimon spüren müssten. Während die beiden diskutierten, fragte Davis das andere Löwemon, das neben ihm und Veemon ging: „Hat Cherrymon sonst noch eine Rolle in der Stadt, außer den Wall zu beschützen? Ihr habt getan, als wäre es wichtig.“ „Wizardmon ist zwar der Fürst der Lehen unter dem Dornenwall, aber die Blütenstadt wurde ursprünglich von Cherrymon geleitet“, erklärte Löwemon. „Es ist auch das weiseste und älteste Digimon hier im Dornenwald. Cherrymon war so etwas wie ein … Wie sagt ihr Südländer dazu, Bürgermeister? In seiner Weisheit hat es König Leomon die Treue geschworen und ihm die Blütenstadt ausgehändigt. Obwohl der König Wizardmon das Fürstentum zugeteilt hat, hat es Cherrymon dafür die Ehre zugestanden, Wizardmon als Hochvogt der Blütenstadt zu vertreten. Dass es in dieser Situation nicht ansprechbar ist, ist schlecht.“ „Und Petaldramon war ein Ritter des Königs, der den Dornenwall bewachen sollte?“, fragte Veemon. „Genauer gesagt ein Ritter in Wizardmons Diensten, aber in diesem Fall macht das wohl keinen Unterschied. Wir als Mitglieder der königlichen Garde sind jetzt die Hochrangigsten unter den Soldaten. Irgendwie müssen wir Ordnung in diesen entmutigten Haufen bringen.“ Löwemon sah Woodmon aus zusammengekniffenen Augen an, das vor ihm herwatschelte. „Ich hoffe nur, dieses Digimon ist nicht repräsentativ für die Moral der Besatzung.“   Now you will, pay we'll charge you our way Sooner or later we'll get you Don't try to hide in your holes underground Just like an insect we'll smoke you right out (Sabaton – Reign of Terror) Kapitel 9: Die Nacht der Schnitter ---------------------------------- Tag 21   Löwemons Befürchtungen bewahrheiteten sich leider. Als der Verstärkungstrupp die Besatzung der Blütenstadt in der Abenddämmerung für eine Ansprache zusammentrommelte, erwiesen sich die Tuskmon, Apemon und Monochromon zwar als disziplinierter als der Woodmon-Arbeiter, dennoch war die Moral der Stadt am Boden. Verschlafen und grummelnd lauschten sie den Löwengardisten, die die Verteidigungslinien neu aufzogen und versuchten, die Digimon mit ihren Worten zu ermutigen. Veemon hatte von einem Floramon erfahren, dass selbst der Schlaf bei Tag kein erholsamer war; die Digimon erlitten Albträume, wann immer sie einnickten, und zwar alle. Davis selbst war zwar ebenfalls müde, immerhin hatte er die letzte Nacht auch kaum geschlafen, aber eine gewisse Nervosität hatte ihre zittrigen Klauen in ihn geschlagen und ließ ihn rastlos in der Stadt umherwandern. Als die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen im Dornendach des Walls sickerten, immer weniger wurden, nahmen die Digimon Aufstellung; Wizardmons Besatzung, die königliche Verstärkung und die Stadtmiliz. Alles, was sich erhoffte, auch nur den Hauch einer Chance gegen die Geister zu haben. „Bist du bereit für die Schlacht, Auserwählter?“, brummte das Löwemon neben ihm. Davis erkannte die Stimme des kratzbürstigen. „Immer, wenn du es auch bist.“ Veemon schlug sich mit der Faust in die Handfläche. „Sollen sie nur kommen. Denen werden wir Saures geben.“ „Schön, dass ihr so entschlossen für uns sterben wollt“, hörte Davis Woodmons grummelnde Stimme und drehte sich um. „Du kämpfst auch mit?“ Er hatte eher erwartet, das missmutige Digimon würde sich in einem Erdloch verkriechen und über die Feuchtigkeit schimpfen. „Ist doch besser, als gar nichts zu tun. So kann ich vielleicht eines von den Bakemon mit in den Tod reißen.“ „Dann, äh, viel Glück.“ Sie standen in den hinteren Reihen der Schlachtformation bei den Apemon. Die viel größeren Monochromon und Tuskmon hatten direkt hinter dem Wall Aufstellung genommen, um eine zweite, lebendige Schutzmauer zu bilden. Unter ihnen befanden sich Blossomon und Woodmon, die mit ihren Ranken und Ästen den Wall so gut es ging verstärken und reparieren sollten. Zuhinterst hatte man die Unimon und Arbormon aufgestellt, Fernkämpfer, die über die Köpfe der vorderen Digimon hinwegschießen sollten. So wie es aussah, machte sich niemand mehr die Mühe, offensiv gegen die Geister zu kämpfen. Sie wollten einfach nur warten, bis die Feinde durch die Dornenhecke brachen, und sie dann empfangen. Vielleicht würde es ja klappen, überlegte Davis. Wenn nur ein Geist nach dem anderen hereinkam, war es egal, wie vielen sie letztendlich gegenüberstanden. Als der letzte Sonnenstrahl versiegte und samtiges Blau sich über die Blütenstadt legte, nur noch durchbrochen von dem leuchtenden Moos, kamen sie. Als das ganze Heer verstummte, drang ein Schaben und Kratzen an Davis Ohren, begleitet von einem schauerlichen, dumpfen Heulen, nein, es war eher ein Lachen, das ihn schaudern ließ. Die Geister konnten am Tag kämpfen, hatte er gehört, doch in der Nacht waren sie am stärksten. Licht schwächte sie. „Sie versuchen, die Ranken zu zertrennen“, brummte Löwemon. „Hoffentlich sind sie nicht so schlau, es an mehreren Stellen gleichzeitig zu versuchen.“ Noch sah man nichts, aber Davis erinnerte sich unangenehm an die Sensen der Phantomon. Ehe ein einziges Digimon sichtbar wurde, bebte jedoch kurz die Erde, ein langgezogenes, gequält klingendes Grollen rollte heran, so tief, dass es mehr zu spüren als wirklich zu hören war. Im selben Moment zuckten die Ranken des Dornenwalls. Davis‘ Blick suchte Löwemons. „Was war das?“ Der Gardist schien ebenfalls beunruhigt. Seine Hand schloss sich knirschend um seinen Stab. Davis hörte Schritte und sah das andere Löwemon heraneilen, das er mittlerweile als Freund ansah. „Das Geräusch kam vom Hain. Etwas stimmt dort nicht. Ich gehe nachsehen.“ „Wir kommen mit!“ Davis tat lieber irgendetwas, anstatt nur hier darauf zu warten, dass der Wall brach und die Geister hereinschwemmten, außerdem tat das Geheule in seinen Ohren weh. So verließen er und Veemon die Reihen und folgten Löwemon zu Cherrymons Hain. Schon von Weitem sahen sie, dass etwas nicht in Ordnung war. „Schneller!“, kommandierte Löwemon. Die Klappe in seiner Rüstung öffnete sich. Ein halbes Dutzend Phantomon umschwirrte den schlafenden Kirschbaum. Ihre Sensen schlugen schwarz sprühende Kerben in sein Holz, versuchten die Äste und Wurzeln abzutrennen und Cherrymon zu fällen. „Wie kommen die hier rein?“, keuchte Davis. „Bei König Leomons Mähne!“, ächzte Löwemon. „Sind sie etwa hereingeschlüpft, als die Blossomon uns das Tor geöffnet haben, und haben sich bis jetzt unsichtbar gehalten?“ Während sie auf den gewaltigen, vom Gespenstern umdrängten Baum zurannten, sah Davis, dass Cherrymon immer noch schlief, wohl als einziges Digimon in dieser Stadt. Sein knorriges Gesicht zuckte wie unter einem Albtraum – oder auch vor Schmerz. Für einen Augenblick meinte Davis, etwas wie einen großen, transparenten Schatten über seiner Krone schweben zu sehen. „Dann zeig, was du kannst, Auserwählter.“ Löwemon verschoss einen glühenden Meteor aus seiner Rüstung, der eines der Phantomon aus der Luft fegte. Im Laufen Griff Davis nach dem ArmorEi, das er in einer Tasche an seinem Gürtel trug. „Erstrahle!“ Veemon stieß sich vom Boden ab und prallte als feuriges Flamedramon gegen ein Phantomon, das eifrig gegen die Wurzeln des Baumes hackte. Es stieß den Geist aus dem Weg und schoss ihm einen Feuerball hinterher, doch das reichte nicht aus, um ihn zu vernichten. „Mehr, Flamedramon, mehr!“, brüllte Davis. Flamedramons ganzer Körper wurde in Flammen gehüllt und es warf sich erneut gegen Phantomon. Der graue Kapuzenmantel des Sensenmannes begann lichterloh zu brennen, doch das Digimon starb nicht, sondern drängte Flamedramon mit seiner Sichel zurück. „Verdammt, sind die zäh!“, fluchte das Echsendigimon, als es wieder neben Davis landete. „Nicht nachlassen!“ Löwemon parierte die Sensenhiebe von zwei Phantomon gleichzeitig, schlug eines zur Seite und pulverisierte das andere mit seinem Schattenmeteor. Auch Flamedramon warf sich wieder ins Getümmel. Davis suchte nach einer Waffe, aber hier gab es nichts außer Sträuchern und Farnen. Die meisten Phantomon ließen sich indes nicht stören und hieben grimmig und schweigend auf Cherrymons Stamm ein. Tiefe Wunden, aus denen schwarzes Harz sickerte, ließen das Digimon noch erbärmlicher aussehen, als es ohnehin schon tat. Flamedramon gab sein Bestes, aber es konnte nicht mehr tun, als die Geister mit Feuer auf Distanz zu halten, bis Löwemon ihnen den Rest gab. Selbst das brennende Phantomon hackte munter weiter, ehe Löwemon ihm den Stab so tief in die Brust trieb, dass er auf der Rückseite seines Mantels in den Flammen wieder auftauchte, und der Geist sich endgültig in Nichts auflöste. Eine schöne Waffe, dachte Davis zornig und biss sich auf die Unterlippe. Nicht einmal gegen Geister können wir etwas ausrichten. Löwemon, das eine der verschlungenen Wurzeln hochlief, blies soeben das vorletzte dämonische Schnitterwesen aus der Luft – gleichzeitig biss sich die Sense des letzten tief in das zugekniffene Auge Cherrymons. Der ganze Baum erzitterte, sogar der Boden, auf dem Davis stand, und Cherrymons Wurzeln wanden sich und zappelten wie die Tentakel eines sterbenden Gesomons, wölbten sich und verließen fliehend die Erde. Erst dann bombardierten Flamedramons Feuerbälle das Phantomon so sehr, dass es auf Abstand ging und von Löwemons Stab erschlagen wurde. „Sie hatten es nur auf Cherrymon abgesehen“, sagte der Gardist schwer atmend, als er wieder bei Davis war. „Sie haben sich kaum gegen uns gewehrt.“ Sie sahen zu Cherrymon hoch, das in sich zusammengesunken schien. Die klaffenden Schnitte hätten fast gereicht, um den gewaltigen Stamm mittendurch brechen zu lassen. Aus der Stadt erscholl nun ebenfalls Kampfeslärm. „Verdammt, die Wurzeln!“, fiel Davis auf. „Schnell, zurück zum Wall!“ Als sie am Stadtrand ankamen, war der Kampf bereits in vollem Gange. Davis‘ Befürchtungen bewahrheiteten sich und die Geisterarmee entpuppte sich als weit schlauer, als sie den Anschein erweckte. Blaue, riesige Krallen von Bakemon hatten die Dornenranken gepackt und zerrten sie auseinander, und unter ihren Griffen verwelkte das Leben darin. Ohne Cherrymons Unterstützung fiel es ihnen zu leicht, die Dornen mit ihrer untoten Existenz zu vergiften, sie verdorrten und bröckelten, wurden staubtrocken und zogen sich zusammen. Nun gab es allerorts genügend Ritzen im Wall, durch die die Geister eindringen konnten. Davis sah vor allem die Lakenkörper der Bakemon und die hinterhältig starken Phantomon. Sie bereiteten der Besatzung eine schwere Zeit; sowohl Tuskmon als auch Monochromon waren zu schwerfällig, um mit ihren Hörnern oder Schwänzen die Geistdigimon zu erwischen. Die Reihen der Verteidiger waren aufgebrochen, und immer mehr Bakemon und Phantomon quollen in die Stadt. Schwarze Schnitte zerteilten auch die frischen, dünneren Ranken, mit denen die Blossomon den Wall zusammenhalten wollte, dann die Blossomon selbst. Ein fauliger Geruch lag in der Luft, vermischte sich mit dem heißen Schweiß der Kämpfenden. Die Arbormon waren wendig genug, sich mit wirbelnden Gliedmaßen mehrere Bakemon gleichzeitig vom Leib zu halten, doch sie wurden von der Übermacht schier erdrückt. Unimon wieherten panisch, trampelten über die festgestampfte Erde, schlugen aus und verschossen Lichtkugeln, die die Geister auf Abstand hielten. Davis sah das alles wie in einem Traum. Die Stadt war verloren, das erkannte er auf den ersten Blick. Er sah nur den brodelnden Bereich vor ihm, diesen Hexenkessel aus Geisterfetzen und warmen Körpern und grollenden Attacken, obwohl rechts und links von ihm die Schlacht am gesamten Wall mit unverminderter Härte tobte. Weiter vorne, zu weit abseits vom kläglichen Rest ihrer ungeordneten Linien, wurde ein Unimon von zwei Bakemon mit blauen Fäusten niedergeschlagen, daneben vernichtete ein Arbormon einen der Geister mit einem Schlag, so heftig, dass es gegen eine hölzerne Hauswand prallte, dann tauchte mit einem schwarzen Fauchen eine Sichel zwischen den Augen des Holzdigimons auf und es brach zusammen. Flamedramons Feuer flackerte auf dem polierten, messingfarbenen Material einer Sense, die herrenlos vor ihm auf dem Boden lag. Davis stürmte darauf zu, packte den kalten Griff und stürzte sich brüllend in den Kampf. Er würde auch kämpfen! Für die Freiheit der DigiWelt! Er meinte nun zu erahnen, was der Drachenritter gemeint hatte. Diese Armee war nicht sein Freund, auch nicht die Geister, aber die Bewohner der Blütenstadt durfte er nicht im Stich lassen! Er hieb mit der Sense auf ein Bakemon ein, das sich in den Hals eines Unimon gekrallt hatte. Als der Geist losließ, senkte das geflügelte Digimon den Kopf und spießte ihn mit seinem Horn auf, ehe es Davis ein dankbares Schnauben schenkte. Als Davis sich nach einem weiteren Gegner umsah, entdeckte er das Löwemon mit dem Kratzer in der Gewalt vierer Bakemon, die je einen Arm oder ein Bein gepackt hielten und daran zogen, als wollten sie das Digimon vierteilen. Löwemon zappelte hilflos in der Luft und verschoss seine Meteore, die irgendwo im zerbröckelnden Wall einschlugen. Dann rauschte ein Phantomon mit blitzender Sense heran, die Bakemon zerrten, der Schnitter schlug zu … Löwemon wurde senkrecht entzweigehackt, konnte nicht einmal einen Schrei ausstoßen. Dafür schrie Davis. Übelkeit kroch in ihm hoch, er wich zurück … und spürte, wie sich mit einem Ruck eine Kette um seinen Hals wickelte und ihm die Luft abschnürte. Das Phantomon flog einen Kreis um ihn, band seine Arme an seinen Körper; die Kette hing an seiner Sense. „Davis!“ Flamedramons Stimme! Die brennende Echse schoss von der Seite heran und rammte das Phantomon. Davis wurde von den Füßen gerissen und prallte so hart mit dem Kopf gegen den festgetrampelten Boden, dass ein gleißende Schmerzblitz von seinem Hinterkopf bis in seine Stirn zuckte. Er schmeckte einen metallischen Geschmack im Mund, spürte, wie die Kette um seinen Hals sich in Daten auflöste, und dann türmten sich schwarze Wolken vor seinen Augen auf und löschten sein Bewusstsein aus. Selbst diese Ohnmacht verhieß keine Erlösung. Er fand sich stehend auf dem Schlachtfeld wieder, nach jeweils zehn Metern endete sein Sichtfeld und verschwand in absoluten, scharfzackigen Schatten, doch innerhalb seines Sichtradius‘ wurde heftig weitergekämpft. Jede Bewegung warf einen langen, visuellen Nachhall, als bestünde alles aus langen, bunten Fetzen, die bei jedem Ruck im Wind wehten. Er spürte etwas Kaltes, das seinen Nacken berührte, und sah wieder Löwemon, das von den Geistern in Stücke gerissen wurde, ein Bild, grausamer noch, als die Realität es gewesen war. Er träumte. Davis wandte sich fort von dem grauenhaften Anblick und fand sich wieder Auge in Auge mit Löwemon, kurz vor seinem Tod. Panisch lief er los. Wohin er auch rannte, wohin er sich auch drehte, überall sah er Löwemon erneut sterben, und wieder und wieder … Etwas rasselte über ihm, etwas folgte ihm … Davis hob den Kopf in den pechschwarzen Himmel. Da war er, der Schatten, den er auch über Cherrymon gesehen zu haben meinte. Ein metallisch blitzender Totenkopf glotzte auf ihn herab, bewegte die eisernen Zähne und schien zu lachen. Davis fühlte, wie das Wesen ihn mit einer kalten Klaue festhielt, die es fester und fester um seine Brust schloss. Ein Albtraum. Sie träumten hier alle nur Albträume. Dann sah er inmitten der kämpfenden, wieder und wieder sterbenden Digimon eine andere Gestalt, die einfach nicht in diesen Traum passen wollte. Sie hatte die falsche Farbe, das Licht schien sie zu meiden, sie war grau und strahlte dennoch eine eigene Art von Licht aus, fast wie das Moos in der Blütenstadt. Davis hielt den Atem an. Es war ein Mensch, ein Mädchen. Sie trug eine grau schimmernde, seltsam anmutende Jacke und maß ihn aus traurigen, leeren Augen. Sie war nicht wie die anderen Gestalten in diesem Traum, sie nicht. Sie allein schien ihn zu erkennen. Und er glaubte, auch sie zu erkennen, auch wenn er sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Das zarte, wehmütige Gesicht, die rehbraunen, matten Augen, die blasse Haut … alles an ihr war so echt und dann gleichzeitig auch wieder nicht. Dann wusste er es mit Sicherheit. Er träumte, ja, aber sie träumte mit. Sie war in seinem Traum, träumte von denselben Dingen. Wer war sie? Für einen Moment gab es nur sie beide in diesem Traum, der Rest versank in Dunkelheit, doch von ihnen strahlten Lichtkegel aus, die sich zwischen ihnen trafen. Der kalte Griff in seinem Nacken schwand, und er spürte, wie auch der metallische Schatten sich auflöste. Das Mädchen bewegte die Lippen, doch er hörte die Worte nicht. Dann noch einmal, langsamer … Sein Name. Ihre Lippen formten seinen Namen! Sie kannte ihn? „Davis!“ Nun hörte er auch eine Stimme … doch es war die Veemons. Der Traum zerbarst in tausende schillernde Schmetterlinge und Davis spürte, wie jemand an seiner Schulter rüttelte. „Davis! Alles in Ordnung?“ Flamedramons behelmtes Gesicht wurde über ihm sichtbar. Er kniff die Augen vor dem Schmerz zusammen, der in seinem Kopf pochte. Blut in seinem Mund; er hatte sich auf die Zunge gebissen. Als er sich mühsam aufrichtete, sah er, dass der Kampf nicht etwa vorbei war. Sie waren im Gegenteil nahe dran, zu verlieren. Die Digimon der Nördlichen Armee traten einen geordneten Rückzug an, wichen immer weiter vor dem mittlerweile völlig verdorrten Wall zurück, durch dessen Löcher immer noch weitere Geistdigimon strömten. Es nahm einfach kein Ende. „Kannst du gehen?“, fragte Flamedramon besorgt. „Schnell, Löwemon hat befohlen, dass wir uns zu den Häusern zurückziehen und zwischen den Bäumen kämpfen.“ Davis bekam das Gesicht aus seinem Traum nicht aus dem Kopf. Die Worte, die das Mädchen gesagt hatte, die er nicht gehört hatte … Er sah sie noch genau vor sich. „Davis! Was ist mit dir?“ Erinnere dich …Hatte sie so etwas gesagt? Was hatte sie gemeint? Er schüttelte vehement den Kopf. Sie war eine Traumfigur, nichts weiter. Es hatte keine Bedeutung. Momentan gab es Wichtigeres – sie tanzten einen Tanz mit den Geistern. Davis sprang auf. „Komm, wir laufen zu den anderen“, drängte Flamedramon. Noch wehrten die Lichtstrahlen der Unimon die Geister ab. Während Leomons Digimon sich zurückzogen, verfolgten die Geister sie kaum; stattdessen rissen sie an den verdorrten Dornen oder schnitten weitere Löcher in den nutzlosen Wall, als wollten sie ihn erst komplett einreißen, um dann mit ihrer ganzen Macht über die Blütenstadt herzufallen. „Das bringt nichts … Wir werden verlieren“, murmelte Davis. Erinnere dich … Töte … „Wir können nichts tun, als Löwemon zu gehorchen, komm! Der Wall ist verloren.“ „Nein.“ Davis stand wieder fest auf seinen Beinen und ballte die Fäuste. „Wir haben noch eine Chance. Vielleicht.“ „Was meinst du?“ Löwemon, das sich augenscheinlich als Letztes zurückziehen wollte, kam zu ihnen gelaufen. „Was ist los? Macht, dass ihr zu den Häusern kommt.“ Davis sah ihm fest in die Augen. Eine Hoffnungslosigkeit war darin erschienen, die er zutiefst verabscheute. Es war der gleiche Ausdruck, den auch Woodmon gehabt hatte. „Löwemon“, sagte er, „ich habe eine Idee. Der Wall kann uns nicht mehr verteidigen, aber wir können ihn vielleicht zum Angriff nutzen.“ Der Gardist starrte ihn entgeistert an, dann Flamedramon, und er verstand. „Du meinst doch nicht … Das ist ein zu großer Schritt, wir können nicht einfach …“ „Wenn wir es nicht tun, überrennen die Geister die Stadt! Sie werden die Digimon abschlachten, die sich in ihren Häusern verstecken, und wir sind dann auch nicht besser dran!“ Löwemon schluckte. „Du hast mehr Mut, als ich dachte, Auserwählter. Nun gut, versuchen wir es. Ich erteile euch die Freigabe. Tun werdet ihr es selbst.“ „Das machen wir. Bist du bereit, Flamedramon?“ Erinnere dich … Töte ihn … nicht … „Was soll ich tun?“ Davis sagte es ihm. Flamedramon starrte ihn ebenso unsicher an wie Löwemon, nickte dann aber. Es breitete die Arme aus und wurde von einer Flamme eingehüllt, die hart auf Davis‘ Haut brannte. Dann schoss es los. Wie ein Komet sauste es in die Geister, die den Wall bearbeiteten. Davis drückte ihm die Daumen, dass es klappte. Das feurige Flackern vernichtete zwei Bakemon, die es packen wollten, doch sie waren nicht sein Ziel. Die ausgetrockneten Dornen fingen Feuer wie Papier. Zischend fraßen sich die Flammen durch die leichte Beute, als Flamedramon dicht vor dem Wall landete und brennend neben den Dornen herrannte. Hinter ihm loderte Feuer hoch, höher und höher, bis zur Decke der Kuppel. Funken und glühende Rankenstücke fielen auf Davis und die Digimon herab, sodass sie Deckung in den Häusern suchten. Je weiter Flamedramon lief, desto höllischer wurde das Inferno, breitete sich so rasch aus, dass sich die Kuppel in eine Hülle aus purem Feuer verwandelte. Die Geistdigimon, die eben noch an den Dornen gezerrt hatten, vergingen in den Flammen, in die diese sich plötzlich verwandelten und die zehnmal so heiß waren als Flamedramons gewöhnliche Attacken. Selbst am Rande der Stadt fühlte Davis es auf seiner Haut, die Hitze schmerzte in den Augen, selbst wenn er sie geschlossen hielt. Es war, als würden die Dornen selbst ihre letzten Reserven für die Verteidigung der Stadt hergeben. Ein tobender Feuersturm hüllte die Blütenstadt und die anderen Dörfer und Siedlungen unter dem Wall ein, in dem Flamedramons winzige Gestalt schon gar nicht mehr zu sehen war. Davis krallte die Finger in den hölzernen Türrahmen des Baumhauses, in dem er und Löwemon Deckung suchten, und hoffte nur mehr, dass nicht der ganze Wald Feuer fangen würde. Doch obgleich die Hitze bestialisch und unbarmherzig war, das Brennmaterial war schnell verbraucht. Kaum fünf Minuten stand die Kuppel in Flammen, dann hörte der Glutregen auf und schwarzer Nachthimmel breitete sich über ihnen aus. Der Dornenwall war nicht mehr. Ein knöchelhoher Ring aus Ruß war davon geblieben; Asche, die in die Luft geschleudert worden war, senkte sich nun wie graue Schneeflocken. Von der feindlichen Armee waren vielleicht drei Dutzend Phantomon geblieben, die nicht inmitten der Flammen gewesen waren, und noch weniger Bakemon. Löwemon riss seinen Stab hoch. „Zum Angriff! Lasst keinen von ihnen übrig!“ Wie ein Digimon stürmten die Unimon und Monochromon los. Die Phantomon stellten sich grimmig ihren Feinden, die Bakemon versuchten zu fliehen. Sie wurden als Erstes von den Lichtschleudern der Unimon erledigt, nur kurz darauf folgten die Phantomon ihnen, als sie niedergetrampelt und anschließend von den Attacken der Arbormon erledigt wurden. Dann endete der Lärm der Schlacht und Jubel brandete auf. Davis fühlte sich, als würde er immer noch träumen. Er musste sich zwingen, die Finger von dem Türrahmen zu lösen. Die Blütenstadt war gerettet – seine Idee hatte die Blütenstadt gerettet! Der letzte Schutz von Wizardmons Lehen hatte sich zwar in Asche verwandelt, aber wenigstens für diese eine Nacht waren sie sicher. Das war mehr, als sich noch vor zehn Minuten jemand erhofft hatte. Während die Bewohner der Stadt verängstigt aus den Fenstern sahen, viele auch mutlos, und die Soldaten lachten, jubelten und spöttisch über die Geister scherzten oder auch einfach nur kraftlos zu Boden fielen und sich ausruhten, glitt Davis‘ Blick in seine Erinnerung zurück. Zu diesem Gesicht, zu diesem Mädchen, zu diesem Mund, der sich stumm bewegte. Erinnere dich … Töte ihn nicht, ich flehe dich an … Wen hatte sie nur gemeint?     Tag 22   Die letzten beiden Tage hatte Tai sich alle Mühe gegeben, die Gunst dieser störrischen Prinzessin zu gewinnen. Sie hatten ihn durch die Gänge der Pagode geführt, ihm die Aussicht von den oberen Stockwerken gezeigt und ihn über seine Heldentaten ausgefragt. Irgendwie war es ja niedlich, wie sie auf der einen Seite so neugierig war, ihm auf der anderen aber betont die kalte Schulter zeigte und ihm klarmachte, dass sie erobert werden wollte. Am liebsten hätte er ihr ja ein Ultimatum gestellt: Heiratet mich bis heute Abend oder lasst es bleiben. Der Eherne Wolf konnte nicht mehr allzu lange brauchen, um die Stadt zu erreichen, und Tai hätte die Sache lieber in trockenen Tüchern. Wenn es ihm nur gelänge, sie aus der Stadt zu schaffen … das würde alles vereinfachen, löste aber nicht das Problem, dass sie schlicht und einfach nicht zufriedenzustellen war. Er machte ihr Komplimente, öffnete ihr Türen, wo keine Diener in der Nähe waren, und ließ sich selbst im besten Licht erscheinen, aber es schien ihr einfach nicht zu reichen. Nun war es wieder Abend geworden, und natürlich war er erneut der Ehrengast an ShogunGekomons Tafel – und heute der einzige. Nur Agumon, der Shogun selbst und Mimi und ihr Palmon besetzten den Tisch auf der Empore. Es gab Reis und Fisch und Meeresgetier, wenig gewürzt, aber gekonnt zubereitet, dazu Sake und südländischen Feuerwein und als Vorspeise Schildkrötensuppe, gefüllte Reisbällchen und geröstete Insekten. Agumon schaufelte das Essen so in sich hinein, dass er ihm eine Mahnung zuflüstern musste. Tai schwenkte seinen vergoldeten Kelch mit Feuerwein und berichtete von Leomon und seinen Errungenschaften. „Und darum wird es König Leomon sein, das den Krieg gewinnen und diesen verrückten DigimonKaiser besiegen wird. Wir haben die größte Armee in der Nordhälfte des Kontinents und schon die Eisregion aus seinen Klauen befreit. Das Volk hat sogar schon einen Namen für den König, sie nennen ihn den Löwen aus dem Norden.“ „Was ist an der Eisregion schon so toll? Das ist doch nur eine kalte, leere Einöde“, meinte die Prinzessin unbeeindruckt und bohrte mit ihren Stäbchen in ihrer Reisschale. „Das denken viele, aber es gibt dort eine ganze Menge Digimon, die uns ewige Dankbarkeit geschworen haben. Ich habe gehört, auch Euer Shogunat hat sich in den Kämpfen gegen den DigimonKaiser behauptet.“ Eigentlich hasste er es ja, so geschwollen daherreden zu müssen, aber er musste einen gehobenen Eindruck machen. Immerhin speiste er hier mit königlichem Blut. „Im Grunde war es nur Musyamon, mein Daimyo, das die Schlacht gegen ihn gewonnen hat, geko“, meinte ShogunGekomon unbehaglich und warf Prinzessin Mimi einen Seitenblick zu. „Da hat es zweifellos großen Mut bewiesen“, sagte Tai anerkennend und trank einen Schluck. Das Zeug war höllisch scharf, aber er kam sich ritterlicher dabei vor, Feuerwein zu trinken anstatt Sake. „Pf“, machte Mimi abfällig. „Dieses hässliche Wrack. Ein Wunder, dass es nicht gleich vom ersten Schwarzen Ring erwischt worden ist.“ Tai schenkte ihr ein Lächeln. „Sicherlich hat der Gedanke daran, eine Schönheit wie Euch zu beschützen, seinen Kampfeswillen verdoppelt.“ „Das auf jeden Fall“, sagte sie trocken und wich schnippisch seinem Blick aus. Tai war verwirrt. Hatte er etwas Falsches gesagt? „Mimi kann Musyamon nicht besonders gut leiden“, sagte Palmon. „Oh. Naja, ich habe noch nie von ihm gehört, also kann ich mir kein Urteil über es erlauben. Ich hingegen bin in der ganzen DigiWelt bekannt“, versuchte Tai das Thema zu wechseln. „Das seid Ihr in der Tat“, beteuerte der Shogun. „Wir haben viel von ihm gehört, nicht wahr, Mimi?“ „Ja“, sagte sie knapp. Tai räusperte sich. Nun gut, dann fing er eben mal damit an, ShogunGekomons Herz für sich zu erwärmen. „Wie gesagt, König Leomon hat die größte Armee, die es nördlich des Stiefels gibt. Euer Shogunat ist ebenfalls nicht klein; wenn ein Bündnis zwischen unseren Reichen zustandekäme, dann hätten wir die größte Armee in der DigiWelt. Und wir könnten diesen größenwahnsinnigen Menschen in der Kaiserwüste in die Zange nehmen und wie ein Insekt zerquetschen.“ Um seine Worte zu unterstreichen, fischte er sich eine der großen, schwarzen Fliegen aus der Vorspeisenschüssel und aß sie. Überraschenderweise war sie knusprig kross und schmeckte gar nicht so übel. „Gewiss, gewiss, geko.“ ShogunGekomon schien jede Antwort peinlich zu sein, die es auf irgendeine Weise geben musste. „Nur … meine Untertanen wünschen den Krieg nicht. Wir haben viele Bürger, das stimmt, aber die wenigsten davon sind Kämpfer.“ „Das lässt sich ändern. Mein Banner wird ihnen Mut machen, wenn sie merken, dass ich auf ihrer Seite bin.“ Mimi tupfte sich den Mund mit einer blütenweißen Serviette ab und legte geräuschvoll ihre Stäbchen vor sich ab. „Könnten wir vielleicht über etwas anderes reden als Strategie, Krieg und Politik?“, klagte sie. „Natürlich, was immer Ihr wollt.“ Tai hielt es für angebracht, ihr zuzuprosten, obwohl sein Kelch leer war. Ein Gekomon in weichen Stoffschuhen eilte herbei, sprang auf den Tisch und schenkte ihm aus einem Krug nach, ohne dass er darum gebeten hätte. „Welches Thema würde Euch denn interessieren, Prinzessin?“ „Erzählt mir von Euch, Sir“, verlangte sie. „Über Eure Vergangenheit und Eure Heldentaten.“ „Mit Heldentaten habe ich Euch doch schon genug gelangweilt“, meinte Tai und zwang sich zum Lächeln. Er sprach nicht gern über seine Vergangenheit, aber er würde eine Ausnahme machen. „Meine Vergangenheit ist schlicht. An meine Kindheit kann ich mich nicht erinnern, doch Agumon und ich sind als Waisen aufgewachsen. Solange ich denken kann, sind wir in der Großen Ebene von Dorf zu Dorf gezogen und haben uns durchgeschlagen. Irgendwann kam König Leomon in dieses Gebiet, auf dem Weg, den Norden zu befreien. Weil Agumon zu WarGreymon digitieren konnte und in etwa so stark war wie der König selbst, hat es uns gefragt, ob wir uns ihm nicht anschließen wollen. Der Kampf in der Eisregion war dann ein voller Triumph, wo wir beide geglänzt haben. Als Leomon kurz darauf sein Königreich ausrufen ließ, nahm es das Symbol auf WarGreymons Schild als sein Wappen, wie auch ich. Seitdem kämpfen wir unter dem Banner des Mutes.“ „Und habt Ihr auch einen Landsitz?“, fragte sie und klang nun schon ein wenig interessiert. Vielleicht konnte er sie doch beeindrucken. „Sobald ich verheiratet bin, will der König weiter nach Süden ziehen und mir Santa Caria und die dazugehörenden Ländereien als Sitz überlassen. Kennt Ihr diese Stadt, Prinzessin?“ „Ich habe davon gehört. Viel zu trocken für meinen Geschmack.“ Da war es wieder! Tai fühlte sich, als könnte er ihr bald den Hals umdrehen, viel fehlte dazu nicht. „Das Shogunat ist an Schönheit eben nicht zu überbieten, geko“, lachte ShogunGekomon laut. „Na dann“, meinte Tai mit einem gebrochenen Lächeln, „vielleicht, wenn unsere Verbindung auch unsere Reiche verbindet, wird der Shogun uns einen Sitz in der Nähe von Little Edo gewähren.“ „Oh, selbstverständlich, geko. Es würde mir die größte Ehre bedeuten, mir und dem Shogunat, geko.“ Mimi seufzte. „Wie schön zu hören, dass meine Hochzeit dir so viel einbringt. Und was soll sie mir bringen? Ich will schließlich auch etwas davon haben.“ „Das sollt Ihr auch. Ich gebe mir redlich Mühe, was fehlt Euch denn noch, Prinzessin?“, fragte Tai und konnte seinen Zorn nicht mehr ganz im Zaum halten. Sie bemerkte das gar nicht, sondern sagte sofort, den Blick nachdenklich zur Decke gerichtet: „Nun, Ihr habt mir noch keine Blumen gebracht, keine Geschenke gemacht, keine Lieder für mich gesungen und keine Gedichte für mich verfasst. Ihr habt mich nicht ausgeführt, Ihr habt Euch nicht für mich duelliert, Ihr seid noch nicht mit meinem Brusttuch in die Schlacht gezogen und überhaupt habt Ihr mir viel zu wenige Komplimente gemacht.“ Tai biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten. Agumon neben ihm kicherte leise, und er trat ihm unter dem Tisch gegen das Bein. Zum Duell mit dem Ehernen Wolf wird es bald kommen, wenn die so weitermacht. „Dann werde ich Euch heute Nacht mit einem Gedicht überraschen, das Euch die Sprache verschlagen wird“, versprach er. „Darauf freue ich mich schon“, meinte sie selbstzufrieden lächelnd. Tai hoffte, dass es keine Hasstirade wurde.   From the old world's demise See an empire rise From the north reaching far Here we are (Sabaton – Gott Mit Uns) Kapitel 10: Minneduell ---------------------- Tag 22 „Nicht nachlassen!“, schrie Davis und rannte atemlos neben Ex-Veemon her. Die Bakemon verglühten im Licht der Attacken, und hier in der engen Höhle konnten sie ihre Flinkheit nur begrenzt ausspielen. Ihnen allen war klar gewesen, dass sie die Blütenstadt ohne den Wall keine weitere Nacht halten konnten. Also hatten sie kurzerhand die Initiative ergriffen. Nach wenigen Stunden noch weniger erholsamen Schlafes war der größte Teil der Besatzung ausgeschwärmt, um die nahen Gebirgstäler zu durchkämmen. Bei Einbruch der Nacht traten wieder die Geister hervor, nur noch wenige diesmal – der endlose Strom der unheimlichen Digimon war endlich unterbrochen. Dank der AeroVeedramon und Unimon konnte der Rest der Truppe rasch von dem Ort informiert werden, aus dem die Bakemon und Phantomon quollen. Die Flugeinheiten fingen die Geister ab, sobald sie durch die Felswände sickerten, der Rest mit Davis, Ex-Veemon und Löwemon an der Spitze fand einen Höhleneingang in diesem Berg und kämpfte sich dort drin den Weg frei. Davis wusste, dass ihr Sieg zum Greifen nahe war. Sein Herz schlug schneller – er würde tatsächlich eine ganze Stadt retten! Das hatten die Getreuen des Staubes nie geschafft. Vor ihm tauchten fünf Phantomon an, die einander wie in einem wirren Karussell umkreisten. Löwemon schoss zwei von ihnen endgültig ins Jenseits, der Rest wurde von den Arbormon niedergepeitscht und fast überrannt. Dann erreichten sie eine letzte, sehr geräumige Höhle, in der glühendes Licht sie erwartet. Davis blieb stehen, während die Digimon durch den Gang hereinstürmten, die seltsamen Bakemon, die Hexenhüte trugen, vernichteten und unsicher einen Halbkreis um das letzte Digimon bildeten, das hier verweilte. „Eure Ausdauer ist bemerkenswert“, begrüßte es sie mit blecherner Stimme. Davis kannte es. Er hatte es in seinem Traum gesehen, und zuvor schon als Schatten. „Du bist das!“, rief er. „Du warst das, damals über Cherrymon!“ Er meinte zu spüren, wie es in der Höhle kälter wurde. Das Digimon lachte kehlig. Es schein von den es umzingelnden Soldaten keine Angst zu haben. Sein rissiger, dunkler Umhang flatterte lose über einer Wirbelsäule aus Metall, die in einer rot glühenden Kugel endete. Seine Hände, die nur über substanzlose, blitzende Arme mit den Schultern verbunden waren, öffneten und schlossen sich, als versuchten sie etwas zu ergreifen, und sein Gesicht war ein metallischer Totenschädel, von einer Kapuze verdeckt. „Ich war niemals über ihm“, verkündete es hämisch. „Nur in seinen Träumen. An dich erinnere ich mich auch, Junge. Ich habe dir einen Traum geschickt, in dem du deinen Kameraden hast sterben sehen, ehe du mich hinausgefegt hast.“ „Du bist das also, der den Digimon ständig diese Albträume schickt“, rief Ex-Veemon. „Jetzt ist Schluss damit!“ Das Eisenskelett lachte. „Glaubt ihr, ihr hättet uns besiegt? Auch wenn ihr meine Geisterarmee aufgehalten habt; in den Nadelbergen warten noch viel schrecklichere Kreaturen auf euch!“ „Im Namen von König Leomon“, verkündete Löwemon und richtete seinen Stab auf das Digimon, „dein Heer ist besiegt. Die Belagerung ist beendet. Beantworte unsere Frage, und wir machen dir einen fairen Prozess. Was hat die Schwarze Königin vor? Wo versteckt sie sich? Warum hat sie die Blütenstadt angegriffen?“ Das Digimon zischte durch seine stählernen Zähne. „Das wollt ihr wissen? Es ist einfach. Sie will euch nur eine Botschaft überbringen. Liebt uns, das ist es, was sie euch sagen will.“ Davis runzelte die Stirn. „Liebt uns?“ Das Skelett schwebte näher und seine glühende Kugel ließ Schatten im Raum tanzen. Die anderen Digimon wichen zurück. Davis meinte eisigen Atem zu spüren, als es sagte: „Liebt uns. Liebt die Geister. Liebt das Jenseits. Liebt den Tod. Umklammert ihn wie einen alten Freund, und lasst euch von ihm auf die Tiefe des Ozeans der Stille ziehen.“ „Aus dem bekommen wir nichts heraus“, beschloss Löwemon. „Am besten lassen wir uns von ihm vorzeigen, wie man den Tod am besten umarmt! Greift an!“ Es machte selbst den ersten Schritt, öffnete seine Bauchklappe und schoss einen violetten Schattenmeteor auf das unheimliche Digimon ab, das davon zurückgeworfen wurde, und gleich darauf prasselten weitere Attacken auf es ein, schlenkernde Hände von Arbormon prügelten es, Unimon, die nachgekommen waren, ließen Lichtbälle an ihm zerplatzen, Ex-Veemons Laser prägte ein glühendes Muster in seine Metallrüstung, Apemon schleuderten ihre Knochen. Als die gleißenden Blitze, die auf Davis‘ Netzhaut nachflimmerten, nachließen, stand das Digimon unberührt inmitten der Höhle und lachte langsam und fauchend. „Na?“, fragte es, als es die entsetzten Blicke des Trupps sah. „Freut ihr euch, endlich ein Geistdigimon zu treffen, das auch Substanz hat?“ „Nochmal!“, befahl Löwemon kurzatmig. „Versuchen wir es mit Feuer, Davis“, schlug Ex-Veemon vor und wurde in mildem Licht wieder zu Veemon. „Okay.“ Davis holte das ArmorEi hervor. „Erstrahle!“ Verbissen griffen die Digimon erneut an. Flamedramons Feuerbälle fraßen sich durch den Umhang des stählernen Feindes, und aus dem Gang hinter ihnen kam ein Rauschen, und ein AeroVeedramon schoss mit voller Geschwindigkeit in die Höhle und prallte frontal gegen das Geistdigimon, entlockte ihm ein Ächzen und stieß es gegen die Höhlenwand, dass der Fels Risse bekam und Staub von der Decke rieselte. „Unmöglich!“, stieß Davis hervor, als er sah, dass die Attacken allesamt nichts nutzten. „Es hat keinen Kratzer!“ Das Digimon lachte nur weiter. „Ihr könnt ebenso gut aufgeben. Keines von euch niederen Wesen kann mir, MetallPhantomon, etwas anhaben.“ „Und wie sollen wir es dann besiegen?“, rief jemand aus dem Trupp schrill. „Es hält viel aus“, sagte Flamedramon plötzlich, „aber es greift selbst nicht an.“ Davis stutzte. „Du hast recht!“ „Vielleicht sind die Albträume seine einzige Waffe“, mutmaßte sein Partner. Löwemon nickte. „Eine gefährliche Fähigkeit, in der Tat, aber nur, wenn man sie richtig einsetzen kann.“ MetallPhantomon schwebte reglos auf der Stelle. Selbst sein Umhang, der gebrannt hatte, war unbeschädigt, als die Flammen erloschen. „In diesem Fall ist die Sache einfach“, beschloss Löwemon. „Dass wir dich nicht töten können, arbeitet sogar für uns. Deine Armee ist geschlagen, und du kannst uns keinen Schaden mehr zufügen. Wir werden alles aus dir herausholen, was es über die Nadelberge zu wissen gibt. Bis dahin werden wir dich mit allem, was wir haben, angreifen, immer und immer wieder. Das sollte einer Folter gleichkommen, meinst du nicht?“ MetallPhantomon schnaubte. „Als ob es dazu kommen würde. Ich wollte mir nur die Gesichter derer einprägen, die meinen Auftrag vereitelt haben. Ein Löwemon aus König Leomons Löwengarde. Ein Digimon, das die Armor-Digitation vollführen kann. Und den Flammenjungen, der das ArmorEi besitzt. Das reicht für meinen Bericht.“ Unter seinem Eisenkörper leuchtete etwas wie ein roter Beschwörungskreis auf, in den es hineinglitt. „Nein! Lasst es nicht entkommen!“, befahl Löwemon. Ein drittes Mal wurde MetallPhantomon von Attacken überflutet, bis das Licht verhinderte, dass sie sahen, was mit ihm geschah. Als in der Höhle wieder Ruhe einkehrte, war es verschwunden. „Wir haben es diesmal auch nicht vernichtet, oder?“, fragte Davis unsicher und wagte es nicht, den Bereich der Höhle, wo der Kreis geleuchtet hatte, zu betreten. „Wahrscheinlich nicht“, murmelte Löwemon und schulterte seinen Stab. „Nichtsdestotrotz, es ist unser Sieg. Lasst uns in die Blütenstadt zurückkehren und mit den Aufräumarbeiten beginnen.“ Es nickte Davis zu. „Es wird Zeit, dass der König von deinen Heldentaten erfährt, Auserwählter.“     Mimi ließ sich eben von Babamon das Haar kämmen – Palmon war dazu zu ungeschickt –, als etwas gegen das Fenster prasselte, so als hätte jemand Kieselsteine dagegen geworfen. Wie von einem Dokugumon gebissen sprang sie auf. Das musste er sein! Der Drachenritter hatte ihr schließlich versprochen, sie mit einem Gedicht zu überraschen, und es war schon lange finster geworden. Sie war ja so aufgeregt! In ihrem Gemach war es taghell und warm, draußen war es finster und kühl, und sie würde an ihrem Fenster stehen und von ihrem Freier ein Liebesgedicht hören, der sehnsüchtig zu ihr emporsah, das alles natürlich heimlich und halb in den Büschen versteckt … wie romantisch das doch war! Sie huschte zum Fenster, dass ihre Röcke sich bauschte, und schob es auf. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen, ein leichter Wind ging. „Seid Ihr allein?“, hörte sie ihn flüstern. Mimi strengte die Augen an, aber selbst das Licht, das aus ihrem Zimmer fiel, ließ sie nicht erkennen, wo er war. „Du kannst gehen“, sagte sie knapp zu Babamon, das sich verbeugte und schlurfend den Raum verließ. Palmon, das auf dem Bett gesessen war, sah sie fragend an. „Du darfst bleiben“, sagte Mimi und flüsterte dann in die Dunkelheit: „Ja, ich bin allein.“ Etwas raschelte in den Büschen und sie meinte, die Umrisse seiner schlanken Gestalt zu sehen. Der Drachenritter hielt etwas in der Hand, das wie eine Laute oder ein Shamisen aussah. Ihr Herz klopfte schneller. Würde er ihr etwas vorsingen? Das war genau, wie sie es sich vorgestellt hatte! Sanft strichen seine Finger über die Saiten und verzückende Klänge drangen an ihr Ohr, nicht zu laut, gerade so wie ein warmer Hauch Sommer. Er begann leise zu singen. „Über meiner Steppe, ein neuer Stern geht auf Der Mond und die Sonne folgen seinem Lauf Mein Stern, mein Stern, seid Ihr, holde Maid An Euren Silbertränen klettre ich hinauf …“ Mimi seufzte. Er hatte eine so schöne Stimme, das war ihr gar nicht aufgefallen … sie stützte sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett und bettete ihr Kinn auf ihre Handflächen. Die Augen geschlossen, lauschte sie genießerisch. „Euch, meine Schöne, dieses Lied gebührt Seid Ihr doch der Stern, der meinen Nachthimmel ziert Nur Ihr, nur Ihr, das Dunkel erhellt und mich und mein Herz aus der Finsternis führt …“ Eindeutig, das war genau so ein Liebeslied, das sie immer hatte hören wollen. Es bedeutete nicht, dass sie sich nun Hals über Kopf in ihn verlieben musste, keineswegs. Aber er hatte zumindest eine Chance verdient. Sie und der Drachenritter … Singen und dichten konnte er also.     Tai überflog noch einmal hastig seinen Schummelzettel und stellte sicher, dass er sich die Verse eingeprägt hatte. Es war so anstrengend geworden, das Gedicht zu verfassen, dass er es schon fast auswendig kannte, und sonderlich lange war es schließlich auch nicht. Er würde es schon schaffen. Er legte sich den Umhang um die Schultern, immerhin wollte er auch in so einer Bettelposition unter ihrem Fenster seine Würde bewahren. Zur Vollständigkeit halber gürtete er sich sogar sein Schwert um, das er extra gekauft hatte, um vor Mimi damit anzugeben. Es war ein schönes Stück, eine Eigenanfertigung. Das Heft war vergoldet und mit einem prachtvollen Rubin besetzt, die Parierstange endete in zueinander gegengleichen Schnecken. Die Klinge war reinweiß. Er hatte sie noch nie für den Kampf gezogen. „Wünsch mir Glück, Agumon“, sagte er zu seinem Partner, der aber schon laut in seinem Bett schnarchte. Tai verließ im Eilschritt das Gasthaus, die teuerste Herberge, die es in ganz Little Edo gab und für deren Kosten selbstverständlich der Shogun aufkam. Er hatte es für besser gehalten, heute nicht in der Pagode zu nächtigen, wo Mimi ihm jederzeit über den Weg laufen und womöglich nach dem Stand des Gedichts fragen konnte. Sein Atem ging unregelmäßig. Konnte es sein, dass er nervös wurde? Als Tai sich um die Pagode schlich, damit er unter Mimis Fenster kam, drangen Gitarrentöne an sein Ohr. Jemand sang. Was zum …? War das etwa ein Ständchen? Für die Prinzessin?     „Und wenn dann am Morgen der Mond ganz versinkt Noch immer Euer Stern hoch über mir blinkt Der Glanz, der Glanz, den ihr dem Himmel schenkt den Sieg gegen die Sonne am Tag sogar erringt …“ Mimi sah, dass sogar Palmon den Kopf im Takt bewegte. Verträumte sah sie in die Nacht hinaus, konnte den Drachenritter aber immer noch nur als Schatten erkennen. Noch nie hatte man ihr ein derart schönes Lied geschrieben … „Nach Euch, meiner Holden, sich mein Herz verzehrt Ich reite durch die Steppe, doch bleibt Ihr mir verwehrt Der Wind, der Wind, weht sanft in meinem Haar Doch nur Euren Kuss mein Mund so sehr begehrt …“ Erst nach dieser Strophe hatte sie sich so an die Melodie gewöhnt, dass sie sich auf seine Stimme konzentrieren konnte. Sie stutzte und war plötzlich leicht verwirrt – war das wirklich der Drachenritter, der da sang? „Der Duft Eures Haares die Sinne verwirrt Der Klang Eurer Stimme die Seele berührt So schön, so schön, wie ein Stern in der Nacht Ein Mann in Eurer Nähe nur Liebe ver–“ Der Sänger wurde abrupt unterbrochen, als sich ein zweiter Schatten aus der Dunkelheit schälte, schwärzer noch als der erste. Das Saitenspiel endete mit einem Misston. Mimi runzelte die Stirn und hörte jemanden fluchen. „Verdammt, was soll das?“ „Das frage ich dich! Wer zur Hölle bist du? Weißt du überhaupt, wessen Fenster das ist?“ Das war jetzt die Stimme des Drachenritters. „Sir Taichi?“, rief Mimi fragend in die Nacht hinaus, aber niemand antwortete ihr. „Würde ich hier singen, wenn ich es nicht wüsste?“ „Hau ab, such dir ein anderes Fenster! Ich bin hier mit der Prinzessin verabredet!“ „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, sagte der Sänger. „Was fällt dir ein, mich zu unterbrechen?“ „Dein Gejaule will hier sowieso niemand hören“, knurrte der Drachenritter. „Wer ist da unten? Hört ihr mich?“, fragte Mimi lauter, aber die beiden Männer beachteten sie nicht. „Verschwinde, oder du kriegst meine Faust zu spüren“, drohte Sir Taichi. „Versuch’s doch. Ich habe es im Guten versucht, aber wenn du nicht hören willst …“ „Wenn ihr euch unbedingt schlagen wollt, dann tut es wie edle Ritter und nicht wie zwei Trunkenbolde!“, schrie Mimi nach unten und schob dann wütend ihr Fenster zu. „So was aber auch!“, zischte sie und warf sich auf ihr Bett.     Tai hatte den fremden Sänger am Kragen seines sandbraunen Mantels gepackt und der wiederum ihn, als sie das Fenster schloss. Die beiden sahen entgeistert hoch, als auch schon ihre Silhouette dahinter schwand. „Da siehst du, was du angerichtet hast“, knurrte der andere und riss Tais Hände fort. „Ich?“ Tai plusterte sich auf. „Du bist es, der hier nichts verloren hat! Ich will um die Hand der Prinzessin anhalten, da kann ich keine dahergelaufenen Barden brauchen, die …“ „Dann bin ich dein Nebenbuhler“, sagte der Kerl schlicht. Er hatte schmutzig blondes Haar und steckte in einem weiten Staubmantel, außerdem trug er Handschuhe und Reiterstiefel. Die Gitarre hatte er fallen gelassen, es war ein billiges Stück, wie man sie bei Trödlern in den großen Städten kaufen konnte. Neben diesem armen Schlucker kam sich Tai umso vornehmer vor. „Und wer bist du, dass du glaubst, die Prinzessin würde dich nehmen?“ Tai streckte die Brust raus. „Ich bin …“ „Sir Taichi, der Drachenritter des Nördlichen Königreichs. Sie hat es ja laut genug geschrien.“ Tai stieß die Luft aus. Wenn er es wusste, warum war er dann so völlig unbeeindruckt? „Und wer bist dann du, wenn ich fragen darf?“ Der Junge, der in etwa so alt war wie er, strich sich sein Haar zurück. „Ich bin Matt.“ Kein Titel, kein Ritter. Ein Niemand also. „Na dann, Matt“, spottete Tai. „Verkriech dich wieder in der Gosse und überlass die hochgeborene Prinzessin mir.“ „Lass das doch sie entscheiden. Ich bin mir sicher, sie zieht mich jemanden wie dir vor.“ Tai war sprachlos ob dieser Arroganz. Was glaubte er eigentlich, wer er war? Der DigimonKaiser persönlich? Das wiedergeborene Legendäre Goldene? Oder … nein. Niemals. Er legte den Kopf schief. „Warum willst du die Prinzessin? Hast du sie je richtig gesehen, wenn du so über ihre Schönheit säuselst? Ich hab noch nie so ein schmalziges Lied gehört.“ „Was hast du denn für sie vorbereitet?“ Tai wedelte mit dem zerknitterten Zettel. „Ein Gedicht.“ „Was du nicht sagst.“ „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum singst du meiner Braut so widerlich süße Lieder?“ Matt zuckte mit den Achseln. „Ich dachte, es wäre ganz gut, einen festen Platz zu haben, an den man nach einem Feldzug zurückkehren kann. Mit ausreichend Rückendeckung.“ Also doch! „Du bist der Eherne Wolf!“ Tai zeigte, wie anklagend, mit dem Finger auf ihn. „Hast ja lange genug gebraucht, das rauszubekommen.“ Matt wandte sich um. „Also, bis zum nächsten Versuch dann.“ „Moment! So einfach kommst du mir nicht davon!“ Tai packte ihn an der Schulter und riss ihn herum, um in seine zornigen Augen zu sehen. „Das hier wäre mein Moment gewesen, zu glänzen. Das büßt du mir.“ „Gern. Du hast mein Lied unterbrochen, zwei Strophen hätte ich noch gehabt.“ „Dann steht böses Blut zwischen uns“, sagte Tai, zufrieden damit, dass sie diese Rechnung offen hatten. „Wenn du meinst. Mir ist nur nicht so nach einem Schwerterduell oder wie immer ihr Ritter das normalerweiser regelt. Mit den Fäusten prügeln wäre schon eher was, aber der Prinzessin werden die blauen Flecken sicher nicht gefallen“, meinte er lässig. „Keine Sorge.“ Tai schlug einen drohenden Ton an. „Ich hatte da an was ganz anderes gedacht.“     In diesem Teil der DigiWelt war es offenbar üblich, Digimon aufgrund ihrer Körpergröße anzustänkern. Spadamon hatte eigentlich nicht vorgehabt, sich mit einem Rōnin zu prügeln, eigentlich wollte es sich mit niemandem prügeln, schon allein deswegen, weil es dann Aufsehen erregen würde, und das wiederum war schlecht fürs Geschäft. Da war es gut, dass das kleine Schwertduell in einer stillen Seitengasse stattgefunden hatte. Solche gab es in Little Edo nicht viele, weil die Häuser Wände wie aus Papier hatten und vor allem die Otamamon, die hier lebten, bis aufs Blut neugierig waren. Nach einem kurzen Schlagabtausch hatte Spadamon das herrenlose Kougamon – das aussah wie ein Ninjamon in violetter Kleidung und ironischerweise nicht mal größer, sondern nur schwerer als Spadamon war – in die Knie gezwungen, bewusstlos geschlagen und gefesselt und geknebelt auf einen der Karren geworfen, die Little Edo bei Abenddämmerung verließen. Mit etwas Glück würde Kougamon erst spät in der Nacht munter werden und erst in der Morgendämmerung auf sich aufmerksam machen, wenn der Marktkarren längst in einem anderen Reich war. Und Spadamon konnte sich einstweilen mit dem erwirtschafteten Geldbeutel den Bauch vollschlagen. Es saß gerade in einer der mittelmäßigen Kneipen im Stadtkern, die die Ninjamon-Wachen nicht so sehr auf dem Kieker hatten wie die gammeligen Spelunken weiter von der Pagode entfernt mit ihren teils zwielichtigen Stammrunden. und aß genüsslich eine frisch gebackene Teigtasche mit Nussfüllung und ordentlich Zuckerglasur, als es die beiden hereinkommen sah. Spadamon hatte diese Kneipe gewählt, weil man hier generell viele Gerüchte und Ninjagarn aufschnappte. Die Aufgabe, die sein Kaiser ihm gegeben hatte, war schließlich nicht ganz einfach; es hatte noch nicht alle Menschen, von denen es Steckbriefe erhalten hatte, ausfindig gemacht, und sollte nebenbei aber auch noch ein Auge auf die bereits gefundenen haben. Dann würde der DigimonKaiser mit der heutigen Ausbeute zufrieden sein. Spadamon sah zu, wie die zwei grimmig dreinschauenden Menschen das verrauchte Lokal betraten und sich einander gegenüber an einen der rohen Holztische setzten. Es kannte die Gesichter aus seinen Steckbriefen auswendig. Der eine war Matt der Eherne Wolf, seines Zeichens Anführer der Nomadentruppe aus der Großen Ebene, und der andere Sir Taichi, oder Tai, der Drachenritter, treuester Untergebener König Leomons und außerdem Kommandant der berühmt-berüchtigten Megadramon-Drachenstaffel. Zwei von den hochkarätigen Freunden, die der DigimonKaiser hatte. Dass er sie als Freunde ansah, hatte er nie gesagt, aber es war leicht, das herauszufinden, wenn man Spadamon hieß. Es verstand nur nicht, warum die Menschen vom Kaiser nicht auch als Freund dachten, aber das herauszufinden machte die ganze Sache nochmal so interessant. Auch untereinander schienen sie nicht wirklich durch dick und dünn zu gehen, so wie sie einander anfunkelten. Spadamon wusste, dass Menschen sich nicht untereinander auffraßen, aber diese beiden sahen aus, als stünden sie kurz davor. Der Drachenritter bestellte bei dem Monzaemon-Wirt, der relativ klein für seine Art war, und Spadamon rutschte auf seiner Bank so weit zur Seite, dass es über den Lärm im Schankraum hören konnte, was die beiden miteinander sprachen. Erst mal gar nichts. Als Monzaemon dann ein Tablett mit einer Sake-Flasche und zwei Trinkschälchen brachte, schnupperte der Wolf hinein. „Sake“, meinte er abfällig. „Hier bekommst du kaum was anderes.“ „Und warum genau sollte ich mir dir trinken?“ „Sieh‘s doch als Duell an. So machen das echte Männer. Und die Prinzessin braucht einen echten Mann. Keinen lauwarmen Sänger.“ Matt schnaubte, während Tai ihnen einschenkte. Es sah so aus, als hätte er die Trinkschale nie angerührt, wenn Tai ihm nicht Beleidigungen an den Kopf geworfen hätte. Fasziniert sah Spadamon den beiden Menschen beim Trinken zu. Die erste Flasche leerten sie in eisernem Schweigen. Als Tai Monzaemon nach einer zweiten schickte, stand Matt auf. „Das ist doch albern. Ich gehe.“ „Du bleibst.“ „Die Prinzessin erobert niemand, der keinen klaren Kopf behält“, behauptete Matt, aber er schien stärker zu schwitzen als zuvor. Ein wenig wackelig auf den Beinen war er auch, fand Spadamon. „Falsch. Du kennst die nicht. Bei der wirkt klarer Kopf nicht. Nur Härte und Durchhaltevermögen.“ Tais Zunge schien schon ein wenig schwer zu werde, wie Spadamon amüsiert zur Kenntnis nahm. Es bestellte sich ein Glas Milch und noch ein Dessert, gesüßten Reis mit Pflaumenmus und eine Extraportion Honig zum Darübergießen, und beobachtete die beiden weiterhin. Als die zweite Flasche kam, saß Matt wieder und versuchte, Tai über die Prinzessin auszufragen. „Du kennst sie also schon? Wie lange bist du schon hier?“ Er schien zu der Erkenntnis gekommen zu sein, dass er mittrinken musste, wenn er Tai Informationen entlocken wollte. Immerhin, planlos war er nicht. Und Tai war in Plauderstimmung, als müsste er seinem Ärger Luft machen. „Seit … vorgestern Vormittag. Hätte nicht gedacht, dass du so schnell hinterher kommst.“ „Dann wirst du kaum etwas über die Prinzessin wissen“, meinte Matt. Aha, dachte Spadamon. Psychologische Kriegsführung. Nicht übel. Das war tatsächlich eine Art Duell, das Matt hier führte. „Genug, genug“, murrte Tai, als sie anstießen. „Ich hab ja zwei ganze verdammte Tage mit ihr verbracht. Und wofür, was glaubst du?“ „Sag du’s mir.“ „Nicht mal ein Küsschen auf die Wange. Aber speisen habe ich mit ihnen dürfen, oh ja. Bevor diese kleine Hexe mich heiratet, heiratet mich noch der Shogun.“ „Jetzt sind wir also schon bei Hexe, ja?“ Matt lächelte kurz schief. „Was, wenn die Prinzessin hier Spione hat?“ Oder der DigimonKaiser, dachte Spadamon und schaukelte vergnügt auf seiner Bank. Tai machte eine wegwerfende Bewegung. „Is‘ ja alles egal“, lallte er. „Jetzt, wo du aufgetaucht bist, hast du sowieso alles vermasselt.“ „Dann gib doch auf.“ „Niemals! Prost.“ Sie stießen erneut an. Spadamon hatte das Gefühl, dass sie gar keine Feinde sein wollten. Es sah zumindest nicht so aus. Es war neugierig, wie der DigimonKaiser diese Neuigkeit auffasste. „Wir buhlen hier also um ein Herz aus Stein?“, fragte Matt. „Kannst du laut sagen. Sie will nur beachtet werden, was anderes will sie nicht. Und Blumen. Und Geschenke. Und Komplimente. Und was weiß ich noch alles. Wenn Leomon mir’s nicht befohlen hätte, wär ich schon längst wieder auf dem Heimweg.“ Ein Hicksen entkam ihm. Offenbar tat es ihm gut, sich seinen Frust von der Seele zu reden – oder zu trinken. „Soso.“ Matt schien sich noch ganz gut im Griff zu haben, aber Spadamon meinte zu sehen, dass seine Augen glasig geworden waren. „Also wenn ich du wäre, würd ich meine Wölfe schnappen und wieder abhauen.“ Tai schwenkte seine Sakeschale gefährlich, ehe er sie zum Mund führte. „Sie liebt Heldengeschichten und Ritter und das alles. Träumereien eben. Und was bist du? Du hast ein Wolfsrudel hinter dir und ziehst durch das Land. Das ist alles, was man über dich sagen kann.“ „Weil du ja so viel besser bist“, sagte Matt kühl. „Ich hab die Eisregion zurückerobert. WarGreymon ist mindestens so stark wie König Leomon in seiner höchsten Form. Wir beide haben den SkullGreymon-General ausmanövriert, der im Auftrag des Einhornkönigs den Dornenwald angegriffen hat, und den legendären Marodeur SkullMammothmon im Zweikampf besiegt. Hast du von ihm gehört? So ein knöcherner Elefant. Hat die Kriegslage ausgenutzt, um am Ufer des Nadelöhrs alles niederzutrampeln.“ „Und solche Geschichten beeindrucken Mimi?“ „Sicherlich mehr als dein dämliches Liebeslied. Wie kann man nur so was schreiben, wenn man gar nicht in sie verliebt ist?“ „Wie kann man um ihre Hand anhalten, wenn man nicht in sie verliebt ist?“ „Das sind zwei völlig verschiedene Dinge.“ Tai beugte sich vor und lallte so verschwörerisch leise, dass Spadamon die Ohren spitzen musste. „Sobald ich sie geheiratet habe, muss ich ja nicht mit ihr auskommen. Wir kriegen von ShogunGekomon ein schönes Anwesen, sie kann dort so weiterleben wie bisher, und ich zieh sowieso wieder in den Krieg. Nichts ändert sich, außer dass wir uns bei der Hochzeitsfeier küssen. Wahrscheinlich.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist jetzt auch nicht so schlimm.“ „Hm“, machte Matt. Er verschüttete einen Tropfen Sake, als er das Trinkschälchen aufhob. „Du findest mein Lied also lächerlich. Wovon handelt dann dein Gedicht? Von prahlerischen Lobeshymnen auf dich selbst? Sowas wie, Hört, wie die Feinde des Reiches schier greinen, seh‘n sie den Ritter der Drachen erscheinen. Heldenhaft und aufgeblasen, und sie laufen wie die Hasen?“ „Wie machst du das?“, rief Tai aus und starrte ihn mit großen Augen an. „Ich hab eine halbe Stunde gebraucht, bis ich einen einzigen Reim gefunden hab! Noch eine Flasche!“, rief er Monzaemon zu, obwohl nach Spadamons Erachten die alte noch nicht leer sein konnte. Matt zuckte mit den Schultern und trank seine Schale aus. „Was für Reime hast du denn?“ „Sie sind … ganz gut“, murmelte Tai und entfaltete einen Zettel braunes Papier. Offenbar hatte er sich die Verse dort aufgeschrieben. „Zeig her.“ Matt machte Anstalten, danach zu greifen. „Finger weg!“ Tai riss die Hand fort und fegte dabei die Sake-Flasche um. Es war tatsächlich noch was drin gewesen, das nun über die Tischplatte lief und zu Boden tropfte. Monzaemon brachte sofort Nachschub und hatte eine missmutige Miene aufgesetzt, aber es schien zumindest Tai zu erkennen und wagte es nicht, sich zu beschweren. Matt sank mit einem Seufzen zurück. „Noch eine?“, grummelte er. „Hältst du das für eine gute Idee?“ „Du willst doch den harten Mann für die Prinzessin markieren, oder?“, grinste Tai. „Hab dich nich‘ so.“ Er schenkte beiden ein. „Ich bewahre lieber einen kühlen Kopf.“ „Ganz schlecht, wenn du mal in die Hitze des Gefechts kommst“, behauptete Tai. „Im Gegenteil.“ „Woll’n wir wetten?“ Ihr Gespräch drehte sich im Kreis, während sie die nächste Flasche leerten. Irgendwann wirkten sie tatsächlich wie zwei langjährige Freunde und Tai jammerte sich über die Prinzessin aus. „Sie is‘ ja so verwöhnt! Ich schwör dir, lass die Finger von ihr, du verbrennst sie dir. Was glaubst du, warum die immer noch nich‘ unter die Haube gekommen is‘? Die will ja eh keiner.“ „Angeblich will sie keinen.“ „Ausreden“, behauptete Tai. „Die is‘ so, weil sie immer mit Samthandschuhen angefasst wird. Die müsste mal jemand richtig hart rannehmen, so sieht’s aus.“ „Das kann man jetzt zweideutig verstehen“, nuschelte Matt. „So war’s auch gemeint. Monzaemon, noch eine!“ Am Ende wurde Spadamon Zeuge, wie die beiden, die so feindselig die Kneipe betreten hatten, sie ohne zu zahlen Arm in Arm wieder verließen – oder besser gesagt, sie stützten sich gegenseitig. Spadamon hatte außerdem eine interessante Beobachtung gemacht: Tai hatte es zwar geschafft, wesentlich schneller betrunken zu werden, hatte diesen Zustand aber auch wesentlich länger als Matt durchgehalten. Zumindest war der Eherne Wolf kreideweiß und fast bewusstlos, als sie sich nach draußen schleppten. Kaum waren sie verschwunden, drehten sich die Gespräche in dem Lokal um ihr Benehmen. Es sah so aus, als hätte der Drachenritter heute Nacht einiges an Reputation eingebüßt. Spadamon wünschte den beiden gedanklich einen erholsamen Schlaf und ein nettes Erwachen, als draußen zaghaft die Sonne aufging und es herzhaft mit seiner Holzgabel in das nächste Stück Schokoladenkuchen stach.   Three words for my magic, my magic song A boat for love I’d carve Three words for my magic, my magic song A craft of life I’d build (Amorphis – Three Words) Kapitel 11: Fieberlohe ---------------------- Tag 23 Der Tag nach seinem Saufgelage mit dem Drachenritter war schrecklich. Matts Mundhöhle fühlte sich so trocken an wie die Kaiserwüste, und seine Zunge musste plötzlich auf das Doppelte ihrer Größe angeschwollen sein. Verdammter Drachenritter … Aber es hatte sich gelohnt. Ganz sicher hatte es sich das. Er erwachte in dem staubigen Bett in der Dachkammer des Wirtshauses am Stadtrand, wo er und Gabumon Quartier bezogen hatten. Die Wölfe hatten sich auf freiem Feld niedergelassen, nicht weit von hier. Das einzige Digimon, das sich noch die Kammer mit ihnen teilte, war Togemogumon. Das kleine Digimon sah aus wie ein Stachelschwein mit dunkelblauen Panzerplatten an den Armen und auf der Stirn, seine Stachelmähne funkelte wie Kristall in der Sonne. Er hatte es in der Großen Ebene gefunden, wo sein Bau vom Krieg zerstört worden war. Da das Digimon das Wappen der Freundschaft, das sich auch auf Matts Banner befand, in den Panzer an den Vorderfüßen eingraviert hatte, hatte Matt es für ein gutes Omen gehalten und das Digimon mitgenommen. Es konnte nicht mit der Flinkheit seiner Wölfe mithalten und scheute den Kampf, aber er hatte einen anderen Weg gefunden, es einzusetzen. Togemogumon war schon wach und wartete, bis Matt stöhnend die Füße auf den Boden setzte. Wann hatte er das letzte Mal so einen Kater gehabt? Hatte er das überhaupt schon mal? Der Sake hier war höllisch. „Auftrag ausgeführt“, lächelte Togemogumon stolz. Es hatte eine niedliche Quietschestimme. Matt sah davon ab, seine Stacheln zu tätscheln, und nickte nur dankbar. „Wie spät ist es?“ Seine Stimme war ein raues, schmerzendes Krächzen. „Es ist Nachmittag“, sagte Gabumon, das ihn vorwurfsvoll ansah. „Du hast es gestern echt übertrieben.“ „Was du nicht sagst.“ Im Moment war er froh, dass er sich nicht übergeben musste, so übel war ihm. „Wie bin ich nachhause gekommen?“ „Ein Junge mit einem edlen Umhang hat dich heimgebracht. Er war fast so betrunken wie du“, sagte Gabumon. „Matt, du bist sowas nicht gewöhnt. Warum hast du mit ihm ein Wetttrinken veranstaltet? Er hat irgendwas gemurmelt, dass er dich unter den Tisch gesoffen hätte, aber du hast überhaupt nur unverständliches Zeug gebrabbelt.“ „Hast du ihm nichts erzählt?“, fragte Matt Togemogumon. „Hätte ich sollen?“ Das Stachelschwein sah ihn aus großen, fragenden Augen an. Matt winkte ab. Er merkte, dass er in seiner staubigen Straßenkleidung geschlafen hatte und rümpfte die Nase. Er stank erbärmlich nach Schweiß. Wankenden Schrittes tappte er zur Tür. „Wo willst du jetzt hin?“, fragte Gabumon. „Zum Bach, mich waschen. Kannst du mir neue Kleidung besorgen? Irgendwas, das bei Hofe gut aussieht.“ Schließlich musste er seiner Prinzessin heute ja noch hochoffiziell eine Aufwartung machen. Er öffnete die Tür, wäre fast gegen den Rahmen geprallt, und stieg unsicher die Treppe hinunter. Irgendwie schaffte er es, obwohl er sich so wackelig und hundeelend fühlte, das Lager seiner Wölfe zu erreichen. Es war nur etwa vier Gehminuten von seiner Absteige entfernt und lag an einem schmalen Bach, der aus den Bergen kam. Eiskalt und sauber, genau das, was Matt nun brauchte. Er fand hinter dem Lager eine von Büschen geschützte Stelle am Bach, wo er sich mühsam aus seinen Kleidern schälte und dann ins knietiefe Wasser stieg und es sich ins Gesicht spritzte. Es war so kalt, dass er nicht mal nach Luft schnappen konnte, aber es half, seinen Kopf zu klären. Nachdem er sich ein wenig abgeschreckt hatte, legte er sich der Länge nach in den Bach, um sich von dem fließenden Wasser ordentlich abspülen zu lassen. Nach ein paar Minuten stieg er zitternd und bibbernd heraus, wickelte sich seinen Mantel um die Hüfte und wartete auf Gabumon, während eine sanfte Brise seine Haut trocknete. Sein Digimon-Partner brauchte ewig, wie es ihm vorkam, bis es mit einem „Matt, bist du da?“ und einem Stapel Menschenkleidung angetrottet kam. „Das sind Sachen, die ein Menschenjunge einem Crabmon-Schneider verkauft hat, und das hat sie bearbeitet, falls wieder mal ein Mensch der Prinzessin eine Aufwartung machen will. Ein toller Zufall, nicht?“ „Warum hat das so lange gedauert?“, fuhr Matt es an. „Was hast du denn, schneller ging es ja wohl wirklich nicht“, wehrte sich Gabumon, und er seufzte. „Tut mir leid. Mir tut nur der Kopf weh.“ Die Kleidung war ihm eine Nummer zu klein, aber mit etwas Glück fiel das keinem auf. Es waren ein simples, graues Hemd und dazu passende Hosen, beides mit Knöpfen, die billig mit Silberlack verziert waren. In den Kragen waren rote, blaue und grüne Fäden eingearbeitet, die ein komplexes Muster bildeten. Trotz allem war es nichts, was ein Prinz tragen würde, und nach allem, was er gestern von Taichi erfahren hatte, erwartete Prinzessin Mimi genau so jemanden. Er zuckte mit den Achseln. Was soll’s, es muss so gehen. Seine alte Kleidung wusch er gründlich im Fluss aus und hängte sie zum Trocknen ins Lager, wo ihn seine Wölfe nur wortlos anblickten. Die meisten dösten in der Sonne und sahen ihm nur mit einem Auge nach. Er nahm nur Gabumon mit, als er am Abend zur Pagode ging. Der Sonnenuntergang färbte Little Edo kupferrot, und der weite Platz vor dem herrschaftlichen Gebäude wirkte wie ein leerer, blitzendender Teller. Bei dem Gedanken begann Matts Magen leidenschaftlich zu knurren. Den ganzen Tag über hatte er keinen Bissen heruntergebracht. Am Tor zur Pagode wurden die beiden wie erwartet von einem Ninjamon-Aufgebot aufgehalten. „Ich habe eine Audienz beim Shogun und der Prinzessin.“ Das Krächzen war besser geworden, es begleitete seine Stimme aber immer noch, als hätte er einen kratzenden Kieselstein im Hals. Gabumon hatte die Audienz organisiert. „Der Eherne Wolf?“ Der Wortführer der Ninjamon steckte sein Katana weg. „Ihr werdet schon erwartet. Folgt mir.“ Es führte ihn und Gabumon die leeren Gänge der Pagode entlang bis in den großen Empfangssaal, wo ShogunGekomon und ein Dutzend seiner Froschdiener vor einer gedeckten Tafel warteten. Obgleich er hungrig war, fühlte Matt beim Anblick der Speisen schon wieder Übelkeit in sich aufsteigen. Das würde eine anstrengende Angelegenheit werden. „Willkommen in Little Edo, geko!“ ShogunGekomon breitete die Arme aus. „Es ehrt uns, solchen Besuch zu haben.“ „Es ehrt mich, empfangen zu werden“, sagte Matt höflich. „Seht Ihr, ich habe nicht einmal ordentliche Kleidung für den Anlass.“ „Aber das macht doch nichts, geko“, rief der Shogun versöhnlich. „Ihr seid uns stets willkommen, und es ist uns auch bewusst, dass Ihr ein Mann seid, der viel reist und viele Entbehrungen auf sich nimmt. Bitte, seht dieses Mahl als Möglichkeit, das auszugleichen. Wir haben Gerüchte gehört, dass Ihr durch unser bescheidenes Land reisen wollt, aber nicht so schnell mit Eurem Besuch gerechnet.“ Nach allem, was Matt wusste, hatte ShogunGekomon keine Ahnung von seinen Plänen. Das Krötendigimon wollte sich einfach nur mit jeder militärischen Macht, mit der es zu tun bekam, gutstellen. Deswegen hatte es ihm nicht nur eine Audienz erlaubt, sondern ihn mit Freuden zum Abendessen eingeladen. Es hielt Matts Truppe für eine wandernde Armee, die auf dem Weg nach Süden in der Zivilisation von Little Edo Halt machte, und wollte sich bei ihm beliebt machen. Weil es der Anstand gebot, kniete sich Matt auf das Kissen am anderen Ende der Tafel. Es gab sogar Fliegen zu essen … als wenn ihm nicht schon schlecht genug wäre. Auch Gabumon setzte sich. „Isst Euer Mündel, Prinzessin Mimi, nicht bei uns?“, erkundigte er sich. „Ach, Mimi …“, seufzte der Shogun. „Ich habe ihr gesagt, dass Ihr kommt. Ich hoffe, sie besinnt sich noch. Sie ist heute sehr launisch.“ Als es merkte, wie wenig Matt aß, wurde ShogunGekomon sichtlich besorgt und hielt ihn für schlecht gelaunt oder seine eigenen Gastgeberfähigkeiten für nicht gut genug. Fast verzweifelt versuchte es, ihm seinen guten Willen zu zeigen, es schwärmte von Matts Schlachten, von denen es gehört hatte, von der sprichwörtlichen Wildheit seiner Truppe, die er so perfekt unter Kontrolle hatte, und letztendlich sogar vom Wetter. Viel wusste es nicht mit ihm zu reden, wohl weil er kein Edelmann war. Politik ließen sie daher komplett außen vor. Nach einer schieren Ewigkeit, während der ShogunGekomons Gebaren das Peinliche längst überschritten hatte, glitt endlich eine seitliche Schiebetür auf und Matt hörte die Stimme der Prinzessin in den Saal wehen. „… aber damit das klar ist, ich gehe nicht hin, weil ich …“ Sie war offenbar in eine Diskussion mit ihrem Palmon, das ihr auf dem Fuß folgte, versunken gewesen und brach ab, als sie Matt sah. Die Prinzessin war in ein creme- und rosafarbenes Kleid gehüllt, mit Rüschen und aufgebauschten Schulterstücken. Hinter ihr betrat ein Yasyamon den Saal. Matt stand auf und spürte einmal mehr die Kraftlosigkeit in all seinen Gliedern. „Prinzessin, ihr seid heute noch schöner als gestern am Fenster.“ Komplimente, dachte er. Taichi hat gesagt, dass sie viele Komplimente will. „Oh, Ihr kennt Mimi schon?“, fragte ShogunGekomon, was unbeantwortet blieb. „Danke …“, murmelte sie. „Ihr seid also …“ „Ich habe mich nicht vorgestellt. Nennt mich einfach nur Matt. Ich bin der Anführer der Ehernen Wölfe, wenn Ihr von mir gehört habt.“ „Oh, äh, natürlich …“ War Mimis Gesicht vorher noch perplex gewesen – sicherlich ob seiner einfachen Kleidung –, so tauchte nun ein Lächeln darin auf. „Ihr wart das also, der mich mit diesem Lied überrascht hat.“ „Hat es Euch gefallen?“ Sie schürzte die Lippen. „Es war ganz nett“, sagte sie. „Schade, dass Ihr von diesem Rüpel unterbrochen wurdet.“ „Ich habe noch zwei Strophen in Reserve. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, sie Euch vorzuspielen, wenn wir allein sind?“ „Moment!“, erscholl da eine Stimme vom anderen Ende der Halle. Im Eingangsbereich stand plötzlich der Drachenritter vor der offenen Tür. Ein Ninjamon saß auf seinen Schultern und ein zweites hatte die Hände in seinen Umhang gekrallt, aber da keines es gewagt hatte, ihn mit seinem Schwert zu bedrohen, hatte er sie wohl einfach mitgeschleift. Ein schwer gepanzertes WarGreymon stand hinter ihm und hatte ihm wohl dabei geholfen, sich den Respekt der Wachen zu verschaffen. „Was ist das hier? Warum ist dieser … Warum isst er heute mit Euch, Shogun?“ ShogunGekomon wirkte äußerst unglücklich. „Sir Taichi, ich … Wie soll ich sagen … Ich wusste nicht, wie lange Sir Matt bleiben würde, also habe ich ihn eingeladen …“ Sir Matt. Das verlegene Krötendigimon hatte ihm sogar einen Titel verliehen. „Er ist kein Ritter“, rief Taichi. „Er ist gar nichts!“ Nur ein Bastard, der mir das Rampenlicht stiehlt, sprühte es förmlich aus seinen Augen. „Was fällt Euch eigentlich ein, hier so einzudringen?“, rief Mimi schrill. Taichi schüttelte das Ninjamon auf seinem Rücken ab und starrte sie entgeistert an, als hätte er gar nicht bemerkt, dass sie da war. „Prinzessin, lasst Euch nicht auf diesen Kerl ein. Er ist nichts für Euch – wenn, dann erringe ich Eure Hand!“ „Ach, bin ich denn eine Trophäe, die einer von Euch erringen kann?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Selbstverständlich nicht“, beteuerte Matt ruhig. „Meine Absichten sind ehrenhaft. Ein Wort von Euch, und ich ziehe weiter.“ „Welche Absichten?“, fragte ShogunGekomon. Matt sah seine Chance, bei der Prinzessin zu punkten. „Es ist nichts, worum Ihr Euch kümmern müsstet, Shogun. Es liegt ganz an Mimi.“ Sir Taichi hatte das Digimon plump um Mimis Hand gebeten, hatte er gehört. Er würde sie ganz alleine entscheiden lassen. „Hört nicht auf diesen Lügner, Prinzessin!“, rief Taichi aufgebracht. „Er will sich hier nur einschleichen!“ „Ihr seid jetzt sofort still!“ Mimi stapfte mit gerafften Röcken auf den Drachenritter zu und starrte ihn dabei fuchsteufelswild an, sodass er zurückzuckte. Ihr Leibwächter musste sich sogar beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. „Dringt hier einfach so ein, glaubt Ihr etwa, diese Pagode gehört Euch?“ „Aber ich …“ Taichi wurde kleinlaut. „Der Wolf ist ein zu rauer Geselle für Euch, Prinzessin. Alles, was ich will, ist Euer Wohlergehen.“ „Ach ja, ich vergaß“, meinte sie schnippisch und verschränkte einmal mehr die Arme. „Mein Wohlergehen. Wie war das, dazu muss ich nur einmal hart rangenommen werden, ja?“ Taichis Kinnlade klappte nach unten. Es war ein herrlicher Anblick. Seine Augen flackerten. „Ich … also … ich … Wer …?“ Sein Blick zuckte zu Matt, der betont gleichgültig die Schultern hob. „Woher ich das weiß?“, zischte Mimi. „Es gibt genug Digimon, die Euch in dieser Kneipe gehört haben. Also versucht gar nicht erst, es zu leugnen!“ Matts Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Zufrieden sah er zu, wie der Drachenritter unter dem Blick der Prinzessin zusammenschrumpfte. Togemogumon hatte seine Sache wahrlich gut gemacht. Es hatte ihn an dem Abend wie ein Schatten verfolgt, so auch in diese Kneipe. Nur deswegen war er überhaupt mit Taichi mitgegangen und hatte sich diesen höllischen Sake angetan. Es hatte sich an die Digimon gewandt, die bei Taichis verhängnisvollen Worten zugegen gewesen waren, und sie mit ein paar Goldmünzen dazu gebracht, Mimi davon zu erzählen. Auch Togemogumon selbst hatte der Prinzessin haarklein die Worte ihres angeblichen Verehrers geschildert. Am Nachmittag hatte es Matt von seiner Mission berichtet. Von den Digimon hatten sich die meisten als überaus stur erwiesen, sie wollten es sich nicht mit dem Drachenritter verscherzen. Ein Spadamon hatte sogar nur gelacht, als Togemogumon ihm den Vorschlag unterbreitet hatte, und gemeint, wenn es mit seinen Informationen so hausieren ginge, würde nie ein guter Spion aus ihm werden – was immer das bedeuten mochte. Einige hatten sich schließlich gefunden, die Taichi verpetzt hatten, und die Wirkung war phänomenal. „Geht mir aus den Augen“, zischte Mimi und wandte sich im gleichen Atemzug an Matt. „Mein Herr, es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mir heute Nacht Euer Lied spielen würdet. Diesmal ohne Störung.“ „Aber …“ „Tai“, sagte WarGreymon beschwörend. Der Blick, mit dem der Drachenritter sein Digimon maß, war fast verzweifelt. Er funkelte Matt an, und straffte dann die Schultern. Den Rest seiner Würde zusammenraffend, fuhr er auf dem Absatz herum und verließ den Saal ohne Verabschiedung. Das war ein Punkt für mich, Sir Taichi, dachte Matt. Hoffentlich würde seine Kehle ihm heute Nacht das Singen gestatten. Für ein Butterbrot würde Mimi wohl trotzdem nicht zu haben sein.     Die Wassertropfen, die von ihren Haarspitzen fielen, verloren sich im dichten Dampf. Das heiße Wasser fühlte sich nicht länger wohltuend auf ihrer Haut an, sie war bereits so lange in dem Becken, dass ihr schwindelte. Die Schwefelblasen, die rasch und in großer Zahl an die Oberfläche brodelten und die ihre Haut zu Beginn noch massiert hatten, schienen sie nun wundzuscheuern, schienen hart und rau daran zu zerplatzen. Ihre Finger, blass und kraftlos, waren um den Rand des Beckens geklammert, sie spürte die abgeflachten, vermauerten Steine unter ihren Fingerspitzen. Die Hitze umwallte sie unbarmherzig, hüllte ihren Körper in eine Blase aus reinigender Wärme. Erst wenn ihr Bad das Angenehme überschritt, schwiegen ihre Gedanken und sie konnte sich allein auf die Hitze konzentrieren. Das Atmen fiel ihr schwer, sodass sie selbst darauf ihre Gedankenkraft richten musste. Ein und aus, ein und aus … Die unförmigen, grauen bis schwarzen Steine, aus denen das ganze Schloss bestand, waren rutschig und feucht vom Kondenswasser. Der Dampf setzte sich in ihrem rötlichen Haar fest, bildete kleine, freche Wasserkügelchen. Das Becken war an dieser Stelle so tief, dass ihre Füße den Grund nicht erreichten, lose trieben sie im Aufwind der Schwefelblasen, die kitzelten, wenn sie über ihre Beine liefen, und nach faulen Eiern stanken, wenn sie an der Oberfläche zerplatzten. Hitze … flüssiges Feuer in ihren Adern … Hitze … schweigende Gedanken, Stille … Hitze, heißes Wasser und heißer Dampf … Schweigen … Die Augen geschlossen, die Finger die Rillen in der Mauer des Beckens abtastend, konzentrierte sie sich auf das Nichts, das sich in ihr ausbreitete. Als sie längst das Gefühl für Zeit verloren hatte, durchbrach ein Pochen die angenehme Leere. Sie öffnete träge die Augen, nur ein Stück, sagte kein Wort. Das Klopfen wiederholte sich nicht, stattdessen schob sich ein mit einem Gespensterlaken behängter Kopf durch das schwarze Eisen der geschlossenen Tür. Ein dunkler, schlapper Hexenhut saß auf der Stirn des Digimons, unter dem sie schmale Augen geistlos ansahen. „Eure Hoheit“, nuschelte Soulmon, „MetallPhantomon ist zurück und bittet um eine Audienz.“ Die Königin reagierte mit keinem Wort, aber sie zog sich träge am Beckenrand aus dem dampfenden, orangefarbenen Wasser. Schon spürte sie die drückende Schwere ihres Körpers wieder, die das Wasser so schön aufgehoben hatte. Soulmon blieb an Ort und Stelle schweben und beobachtete sie stumm, doch sie störte sich nicht daran. Langsam, um die angenehme Stille in ihrem Kopf nicht zu schnell zu vertreiben, tappte sie durch den Baderaum. Ihre nackten Füße hinterließen Abdrücke auf den feuchten, warmen Steinfliesen. Das Wasser, das von ihrer Haut und ihrem Haar tropfte, zog eine nasse Spur hinter ihr her. Ihre Haut war krebsrot und an Fingern und Zehen durchweicht und faltig geworden, fiel ihr auf. Das Schwindelgefühl wurde mit jedem Schritt stärker und sie überlegte, was sie tun würde, wenn sie ausglitt. Hätte sie die Kraft, aufzustehen? Das Soulmon öffnete ihr die Tür, und ein Schwall eisiger Luft rollte ihr entgegen und verursachte ihr eine Gänsehaut, doch noch steckte die Hitze in ihren Knochen, und die Grabesluft machte ihr nichts aus. Stattdessen genoss sie, dass der Gestank hinter ihr zurückblieb. Ja, das war etwas, was sie genießen konnte. Einfache Sinneseindrücke. Apathisch nahm sie ihren Morgenmantel von dem schmiedeeisernen Kleiderständer im Vorraum. Er war königlich, schwarz mit weiten, grau bestickten Ärmeln. Sie zog ihn sich über und band den Gürtel um ihre Hüfte. Selbst in diesen Mantel zu schlüpfen, war anstrengend. Die Königin warf einen Blick auf ihre Pantoffeln und entschied sich, barfuß zu gehen. Vielleicht wurden ihre Zehen kalt und froren. Schmerz war auch ein einfacher Sinneseindruck. Der Weg nach oben war langwierig und scheinbar endlos. Dieser Teil des Kellers lag weit unter den anderen Bereichen, tief im Herzen der Berge, wo bald flüssiges Feuer die Felsen wärmte. Die steinerne Wendeltreppe, wo Fackeln in eisernen Ringen für rußige Helligkeit sorgten, war heute noch mühsamer als sonst. Die Königin wünschte sich, einfach für immer im Badekeller bleiben zu können. Aber man ließ sie schließlich nicht. Die steinerne Tür, die in ihren Thronsaal führte, war für Uneingeweihte gar nicht zu sehen. Sie wurde von Geisterhand zur Seite geschoben, als die Königin keine Anstalten machte, davor stehen zu bleiben. Unweit des Großen Tores betrat sie den Thronsaal. Wie immer glitt ihr Blick über das haushohe Monstrum beschlagenen, grauen, kalten Eisens. Nicht einmal hatte sie sich gefragt, wo es hinführte oder wie man es aufbekam. Es interessierte sie nur, woher es kam, was seine Geschichte war. Flankiert von den riesigen Statuen grotesker Drachendigimon, stand ihr Thron in der Mitte des Raumes. Er bestand aus gegossenem, schwarzgrau meliertem Stein und entbehrte jedweder Annehmlichkeit. Die Sitzfläche war hart und unbequem, wenn sie auch die richtige Größe für einen Menschen hatte, und es gab keine Armlehnen, nur eine sechs Meter hoch aufragende, finstere Rückenlehne, aus der im obersten Teil steinerne Fledermausflügel sprossen. Die Königin fühlte sich winzig und alleingelassen, als sie den weiten Weg über den kalten Steinboden zu ihrem Thron zurücklegte. Als sie sich auf die Sitzfläche fallen ließ, die schmerzenden Beine überschlug und erschöpft gegen die Lehne sank, sah sie, wie weit die Wände und die Statuen an den Wänden von ihr entfernt waren, und fühlte sich mutlos. Sogar die Wände weichen vor mir zurück, dachte sie lethargisch. Kaum hatte sie Platz genommen, huschten aus den Schatten zwischen den Krallen einer der Statuen die PetitMamon heraus und tollten über den Fußboden, ihre beiden … Sie wusste nicht, was sie waren oder wie sie sie nennen sollte. Sie waren einfach da und störten sich nicht daran, dass sie ihre Königin war. Vielleicht war sie das für die beiden auch nicht. Die Kleinen hatten vage Ähnlichkeit mit Fledermäusen, ihre Haut war zum größten Teil violett und aus ihren Rücken sprossen kleine Hautflügel. Auf der Stirn trugen sie beide ein Fledermaussymbol, und beide fuchtelten und strampelten mit Vorliebe mit ihren kleinen Ärmchen und Beinchen. Die Königin konnte sie allein vom Aussehen nicht auseinanderhalten, sie wusste lediglich, dass eines ein Frechdachs und das andere ein Träumer war. Momentan jagte Frechdachs Träumer durch den Saal; es war immer Frechdachs, das sein Geschwisterchen jagte. Während die Königin den beiden geistesabwesend zusah, erschien ein knisternder Kreis im Boden der Halle, und durch einen Ring aus roter Elektrizität schob sich der Totenschädel MetallPhantomons. Mit einem Fauchen stoben die Blitze auseinander, als das Digimon vollständig erschienen war, und sein weiter, rotschwarzer Kapuzenmantel flatterte. Die Königin zeigte sich davon unbeeindruckt und schenkte ihm auch kein Wort der Begrüßung. „Eure Hoheit“, begann MetallPhantomon demütig. Die Königin hasste seine Stimme; sie kratzte immer unangenehm über ihre Hörnerven. Aber das war immerhin auch eine Empfindung. „Ich muss Euch leider mitteilen, dass mein Heer vernichtend geschlagen wurde.“ Die PetitMamon hörten mir ihrem Spiel auf und drehten sich neugierig zu MetallPhantomon um. „Dein Heer?“, murmelte die Königin. Klang so ihre eigene Stimme? Sie hörte sie nicht oft. Auch diese Stimme war unangenehm. „Ja, Herrin. Mein Auftrag lautete, die Blütenstadt einzunehmen.“ MetallPhantomon hielt den Kopf gesenkt. Fürchtete es sie? Wenn ja, warum? Sie wusste es nicht. Oder hatte sie es nur vergessen? „Der Dornenwall ist vernichtet, doch am nächsten Tag machte die Besatzung der Stadt einen Ausfall. Die Armee des Löwen hat Verstärkung erhalten. Sie haben sogar ein ArmorEi. Sie haben meine Geister in alle Winde zerstreut. Nur einige wenige sind mit mir zurückgekehrt. Der Großteil ist verloren.“ „Versager!“, warf Frechdachs ihm an den Kopf. „Feigling!“ „Du bist ein Schwächling!“, lief Träumer mit den Beschimpfungen mit. „Wer hat dir diesen Befehl gegeben?“, fragte die Königin, die brüchige Stimme wäre von den PetitMamon-Geschwistern übertönt worden, wären sie nicht sofort verstummt. MetallPhantomon sah sie nun doch an, sein metallischer Totenkopfkiefer öffnete und schloss sich. „Nun, das wart Ihr, Eure Hoheit.“ „Ach so.“ Die Königin schwieg. Ehe MetallPhantomon noch etwas vorbringen konnte, setzten Frechdachs und Träumer ihre Tirade fort. „Du bist geflohen!“ „Feigling!“ „Wieso bist du nicht für deine Königin gestorben?“ Die Königin rutschte auf ihrem Thron in eine bequemere Position. „Man muss Versagen bestrafen“, murmelte sie. „Versagen wird immer bestraft.“ MetallPhantomons Zähne knirschten. „Geh in die Höllenkammer. Bleib dort zwei Tage und zwei Nächte.“ Die Höllenkammer lag genau neben der Badekammer und stank noch mehr nach Schwefel. Heißer Dampf quoll durch Ritzen im Gestein und erfüllte die ganze Kammer mit feuchter Hitze. Die Königin verbrachte selbst regelmäßig Zeit dort, wie lange, konnte sie hinterher niemals sagen. Wenn der Schweiß heiß und brennend über die Haut lief, nahm er die quälenden Gedanken mit und äscherte sie ein. „Das ist doch keine Strafe!“, begehrte Frechdachs auf. „Das macht ihm doch nichts aus!“ „Das macht nichts. Das ist sogar besser“, murmelte die Königin. So schleppend, dass sie ab und zu selbst beinahe vergaß, was sie sagen wollte, erklärte sie: „Strafen sind sinnlos. Strafen müssen sinnlos sein. Will man sich an jemandem für sein Versagen rächen, müsste man ihn töten und es selbst besser machen. Deswegen müssen Strafen sinnlos sein.“ „Das verstehe ich nicht“, grummelte Träumer. „Eure Hoheit“, begann MetallPhantomon erneut, „wenn Ihr mir gestatten würdet, erneut meine Sense zu schwingen, dann würde ich die lästigen Löwen höchstpersönlich und ganz allein aus dieser Welt wischen.“ „Ach so“, murmelte die Königin teilnahmslos. MetallPhantomon wartete, doch sie fügte nichts hinzu. „Würdet Ihr mir in Eurer Güte meine Sense zurückgeben, damit ich als Euer demütiger Diener Eure Feinde zerschlagen kann?“ Die pulsierende Kugel am Ende seines Körpers leuchtete hoffnungsvoll auf. Die Königin überlegte, bis ihre Gedanken abschweiften und sie sich zwingen musste, bei der Sache zu bleiben. Es geht wieder los, merkte sie. Die quälenden Gedanken … Ich weiß, ihr wollt mich töten, nicht bestrafen … „Nein“, sagte sie so leise, dass sie es selbst kaum verstand. „Das wäre eine Belohnung. Du verdienst Bestrafung, keine Belohnung.“ Frechdachs machte einige unanständige Gesten in MetallPhantomons Richtung, während die Königin sich erhob und ihm damit zu verstehen gab, dass die Audienz beendet war. Zischend ließ ihr Kriegsherr die Luft zwischen den Zähnen entweichen und versank wieder in einem Kreis aus rotem Licht. Die PetitMamon folgten der Königin, als sie ziellos durch die Gänge des Schlosses wandelte. Sie folgte dem Irrlicht ihrer Gedanken, oder eher, sie wollte vor ihnen fliehen. Als ihre unsichtbaren Diener wieder einmal eine Tür vor ihr öffneten, sagte ihr das Rasseln von Ketten und das Rattern eines alten Wasserrades, dass sie im Kerker war. Träumer und Frechdachs quiekten erfreut und sprangen auf die hölzernen Speichen des Rades, das sich langsam an der Wand drehte. In diesem Raum gab es fließendes Wasser, es drang durch einen Spalt in der Wand ins Schloss und verließ es wieder durch ein bodenloses Loch. Momentan lief das Rad leer, doch konnte man es jederzeit mit den Geräten hier im Kerker verbinden und sie damit antreiben. Die Geräte wiederum riefen bei den Gefangenen Schmerzen hervor, wie sie wusste. Erinnerten sie daran, dass sie noch lebten. Irgendwann, so sagte sie sich, würde sie sich selbst auf eine dieser Maschinen spannen lassen müssen, um ihren folternden Gedanken entkommen zu können. Die Wirkung eines Bades im heißen Wasser hielt immer kürzer an. Während die Königin an den leeren, mit Eisenzähnen oder Stacheln versehenen Gerätschaften vorbeiging, von denen einige für die Körper besonders abstruser Digimon konzipiert waren, galt ihr Blick der schlanken, menschlichen Gestalt, die in einem stählernen Kugelkäfig hing, dessen spitze Stacheln nach innen gerichtet und von getrocknetem Blut verdunkelt waren. Immer, wenn die Königin an das Mädchen herantrat, musste sie sich neu in Erinnerung rufen, wer sie war, was sie hier machte und an welche Maschine sie gebunden war. Wenn sie sich von ihren Gedanken säuberte, riss sie damit auch oft gewisse, unerhebliche Erinnerungen mit ins Nichts. Das Mädchen war jünger als sie selbst, aber viel schöner, zumindest dachte das die Königin. Oder vielleicht wäre sie schöner gewesen, wäre ihr Körper nicht ein zerschundenes Sammelsurium aus Blut, Wundschorf und Schrammen. Lockiges, weizengoldenes Haar floss ihr zerzaust und unordentlich bis zu den Hüften, ihre blauen Augen waren trüb. Ihr Name war der Königin entfallen. Die Gefangene war einst in teure Kleidung gehüllt gewesen, die mittlerweile völlig zerrissen war, sodass weite Teile ihres porzellangleichen, bleichen Körpers nur noch von den dornengespickten Eisenketten bedeckt waren, die sie wie Würgeschlangen umfangen hielten. Die Ketten führten durch Ösen und Metallringe zu einem Holzpflock vor dem Käfig, aus dem an der Oberseite eine Stange ragte, was an die Vorspannvorrichtung von Mühlen erinnerte. Mit Gedanken, zäh wie Honig, entzifferte die Königin die Funktionsweise der Maschine. Dracmon, der albtraumhafte Folterknecht dieses Schlosses, der eben auf seiner Pritsche leise vor sich hin schnarchte, drehte je nach Lust und Laune den Pflock, sodass sich die Ketten darum wickelten, sich enger um die Haut der Gefangenen spannten und ihre Dornen tiefer in ihr weiches, weißes Fleisch trieben. Die Königin meinte, sie manchmal nachts schreien zu hören, wenn sie schlaflos durch das Schloss wanderte. Jetzt gab das Mädchen nur zittrige Atemgeräusche von sich und ein vages Gefühl von Erkennen schlich sich ihn ihre Augen. „Bitte …“, hauchte sie flehentlich. „Bitte lasst mich gehen …“ Die Königin trat näher heran, sah ihre eigenen Augen in denen des Mädchens spiegeln. Waren es ihre Augen, die so leer und glatt wie Spiegel waren, oder die ihrer Gefangenen? Sie erwiderte nichts, aber die jauchzenden Laute von Frechdachs und Träumer, die auf dem Wasserrad spielten, weckten Dracmon, das sich mit einem Grunzen aufrichtete und sogleich grummelnd von der Pritsche sprang. Es hatte sonst nichts zu tun, daher machte es sich schnurstracks auf den Weg zu seinem Pflock, nicht ohne eine Mischung aus Verbeugung und Achselzucken vor der Königin zu vollführen, ohne sie indes anzusehen. Dracmon schien eher der Boden unter seinen Füßen zu interessieren. Die Augen der Gefangenen weiteten sich für einen klitzekleinen Augenblick, als sie ihren Folterknecht herannahen sah, dann wandten sie sich wieder der Königin zu. Bitte, formten ihre Lippen tonlos. Dracmon erreichte den Pflock, rülpste ausgiebig, spuckte in seine krallenbewehrten Hände, an deren Innenseiten glotzende Augäpfel prangten, und drehte langsam den Pflock weiter. Das hölzerne Gelenk quietschte, die Ketten rasselten, und eine Sekunde später wurde beides von den Schreien der Gefangenen übertönt, die sich in ihren Fesseln aufbäumte, die Gliedmaßen von sich streckte und mit den Fingern vergeblich nach der Königin zu greifen versuchte, während frisches Blut aus einem Dutzend alter Wunden lief, in die sich die Stacheln tiefer gruben. „Bitte … bitte … lasst mich …“, flehte sie mit Tränen in den Augen. Sie weinte. Die Königin hatte nicht so lange gebraucht, ehe sie ihre Tränen abgelegt hatte. Die nächsten Worte gingen in ein qualvolles Stöhnen über. „Bitte sagt mir … was muss ich tun, damit Ihr mich … gehen lasst?“, brachte sie mühsam über die trockenen, rissigen Lippen. Sie glaubt, sie wird bestraft. Aber es ist keine Bestrafung. „Es ist ganz einfach“, murmelte die Königin tonlos, ohne den Blick abzuwenden, ohne irgendeine Regung zu zeigen. „Liebe mich.“ Die Gefangene starrte sie aus tränengefüllten, himmelblauen Augen an. Dann, als Dracmon sich anschickte, eine weitere Drehung zu machen, rief sie heiser: „Ich liebe Euch! Ja, wirklich, ich liebe Euch von ganzem Herzen!“ Dracmon machte ein fragendes Geräusch und hielt inne. Die Königin sah das Mädchen lange an. „Du lügst“, sagte sie schließlich. Dracmon grunzte erfreut und packte den Pflock erneut. Die Königin drehte sich um und überließ ihre schreiende Gefangene dem kleinen Ungeheuer, das ihr zeigte, dass sie noch am Leben war. Sie bemerkte, dass Träumer und Frechdachs fasziniert zusahen. Auf dem Weg aus dem Kerker begegnete die Königin dem Blick einer weiteren, traurigen Gestalt, die mit schmutzigem Gefieder in einem eisernen Vogelkäfig steckte, so weit in der Ecke des Raumes, um vergessen zu werden. Die Stimme des Geschöpfs war sehr leise, doch die Königin konnte sie hören. „Sora …“, krächzte das Digimon. „Wieso tust du das …? Was ist nur los mit dir …?“ Die Königin ignorierte es und verließ gemächlichen Schrittes den Kerker. Obwohl sie sich wirklich anstrengte, gelang es ihr nicht, sich zu erinnern, wer dieses Vogeldigimon war.     Deemon! Kens Gedanken brüllten eine Wut, die er nie ausgesprochen hätte. Zeig dich, sprich mit mir! In der Ecke seines Verstandes löste sich der Schatten des Digimons, das ihn zu diesem Spiel eingeladen hatte. „Du bist heute ja voller Energie, Ken. Was hast du auf dem Herzen?“ Was für eine Spielregel hast du hier schon wieder eingeführt? Ken warf ihm im Geiste Spadamons Bericht zu Füßen. Das kleine Digimon hatte ganze Arbeit geleistet und tatsächlich mehr von seinen alten Freunden erfahren, als er für möglich gehalten hätte. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Spiel nicht das Unschuldslamm! Das Blutende Herz? Die Schwarze Königin? Das kann nur Sora sein! Was hast du mit ihr angestellt? Deemon lachte leise in seinen grauen Gedanken. „Hast du vor, dich bei jeder unvorhergesehenen Wendung in diesem Spiel bei mir auszuweinen, Ken? Ich habe dem Mädchen einige Digimon zur Verfügung gestellt, die zu seinem Wappen passen, und ihm Myotismons altes Schloss gegeben, als ich die Spielsteine verteilt habe.“ Digimon, die zu ihrem Wappen passen? Etwa Geister? Ken zwang sich zur Ruhe, aber es half nichts. Äußerlich war er beherrscht, doch er kommunizierte in Gedanken mit Deemon, und seine Gedanken waren aufgewühlt und emotional. Die Geschichten, die Spadamon über sie erfahren hat … dass sie Digimon foltert, dass sie Menschen angreift, und dass sie ohne Sinn und Verstand Chaos stiftet – so ist Sora einfach nicht! „Ist sie das wirklich nicht?“, fragte Deemon nur lauernd. Ken war sich sicher. Niemals. Das Digimon zuckte mit den Achseln. „Dann kann ich dir nichts weiter sagen. Ich gebe dir einen Rat, Ken. In der DigiWelt passieren auch Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe. Lade also nicht alle Schuld bei mir ab.“ Damit zog es sich zurück, als wäre Ken es nicht wert, mit ihm zu diskutieren.   Look into the unknown mirror See the face that burns the land Eye to eye with this evil monster, hand in hand (Primal Fear – All for One) Kapitel 12: Ein Geschenk für die Prinzessin ------------------------------------------- Tag 26   Da die Kommandobrücke nach wie vor ein rauchender Haufen geschmolzenes Metall war, ließ Ken sämtliche Signale und elektrischen Leitungen, zusätzlich zu den bereits vorhandenen Steuerungsmechanismen, in seinen privaten Kontrollraum umleiten. Die Daten wurden regelmäßig gebackupped, sodass nur die direkt vor dem Angriff der Kurisarimon verloren gegangen waren. Für heute hatte er eine Sitzung einberufen und seinen Kontrollraum dementsprechend ausstaffiert; eine breite, holographische Karte spannte sich über den herbeigeschafften Tisch, billige Stühle mussten als Sitzgelegenheiten genügen. Wachen standen vor jedem der beiden Eingänge; noch einmal sollte sich das Attentat nicht wiederholen, schon gar nicht, wenn er seine wichtigsten Mitarbeiter zusammengetrommelt hatte. So saßen er, Wormmon, Spadamon, das für eine Weile zurückgekehrt war, Ogremon, sein erster und bislang einziger Ritter, und Zephyrmon, ein geflügeltes Digimon in Frauengestalt mit blauem, zum Teil federförmigem Haar und Mundmaske, um den ovalen Tisch herum. „Wir haben uns lange genug Zeit gelassen“, begann er sofort mit dem Wesentlichen. „Die Grenzen sind annähernd gesichert, und wir haben eine Armee, mit der wir bald losschlagen sollten.“ Noch blieben neue Rekruten von der File-Insel aus, aber die konnten das Reich sichern, wenn die Armee in Feindesland vorrücke. Ken hatte seine Truppen zusammengezogen, um eine geballte Schlagkraft zu besitzen, so, wie Matt oder Leomon es bereits getan hatten. Und eine stehende Armee zu versorgen, war ein horrender Aufwand und ungerecht den friedlichen Digimon seines Reiches gegenüber. „Gut!“, rief Ogremon sofort erfreut. „Du glaubst gar nicht, wie mir diese Herumsitzerei aufs Gemüt schlägt. Wenn ich nicht bald ein paar Kämpfe hinter mich bringe, roste ich wie so ein verdammtes Maschinendigimon.“ „Es war natürlich klar, dass dir egal ist, wohin es geht, solange du kämpfen kannst“, sagte Zephyrmon abfällig. „Natürlich!“, grunzte Ogremon. „Was ist schlecht daran?“ Zephyrmon stammte aus dem untersten Zipfel des Stiefels und somit vom südlichsten Ende von Kens Reich. Es hatte in den Kleinkriegen dort unten seine Führungsqualitäten bewiesen und Ken hatte es zu seinem neuen General gemacht. Oder Generalin, je nachdem, was es bevorzugte, hatte er dem Digimon angeboten, doch es hatte nur gemeint, das sei ihm gleichgültig. Den Titel Generalkommandeur wollte Ken nicht benutzen, er stammte von Deemon und hatte daher einen üblen Beigeschmack. General tat es auch. Zephyrmon war kühl und distanziert und ein kleines bisschen affektiert, vor allem Ogremon gegenüber. Ken vertraute diesem Digimon nicht hundertprozentig, aber eine bessere Wahl gab es nicht, und schlimmer als LadyDevimon konnte es kaum sein. Er räusperte sich und ergriff wieder das Wort. „Also, wir haben eine große Auswahl an Feinden, und ich will die Entscheidung nicht alleine treffen. Ich brauche Euren Rat – wohin sollen wir unsere Augen richten? Die Schwarze Rose hält noch immer den Bohrturm, aber das bedeutet mir zurzeit wenig. Neues Gebiet, darum geht es mir.“ Mehr Türme für Deemon. Gegen Deemon. „Leomon verkriecht sich im Norden, oder? Marschieren wir doch dorthin und locken wir es heraus.“ Es war klar, von wem das kam. „Du musst dich noch gedulden, Ogremon. Solange wir von Feinden umgeben sind, wäre es unklug, alles gegen das Nördliche Königreich zu werfen. Wenn möglich, möchte ich mir das bis zum Schluss aufheben.“ Ogremon grummelte beleidigt, aber Ken hatte ohnehin nicht erwartet, sonderlich intelligente Vorschläge von ihm zu erhalten. Es war eher ein Akt der Höflichkeit gewesen, es einzuladen. Ogremon durfte sich ruhig ein wenig wichtig und geehrt fühlen, umso treuer würde es sein. „Was ist mit Little Edo?“, fragte Zephyrmon. „Es liegt direkt vor unseren Toren. Ich traue mir zu, es zu erobern.“ „Das glaube ich, aber nur mit vielen Verlusten. Little Edo ist sehr defensiv, es wird uns kaum von sich aus angreifen. Ich bin sicher, wenn wir die Gebiete rund um das Shogunat erobern, wird sich ShogunGekomon uns freiwillig ergeben.“ „Wir dürfen auch nicht die Verluste vergessen, die wir bei der Voxel-Stadt einstecken durften“, erinnerte Spadamon. „Schlafende Drachen soll man nicht wecken.“ „Wie sieht die Lage auf der Großen Ebene aus? Spadamon?“, forderte Ken das kleine Löwendigimon auf. „Auch ein schlafender Drache. Oder eher, ein Pulverfass.“ Spadamon holte Kopien seiner Spionageberichte hervor und teilte sie aus. Ogremon warf als Einziges nicht einmal einen Blick darauf, aber Ken war sich nicht sicher, ob es überhaupt lesen konnte. „Der Eherne Wolf war zuletzt auf dem Weg nach Süden. Nun steht seine Truppe bei Little Edo.“ Spadamon hatte ihm bereits von Tais und Matts Buhlerei um Mimi berichtet. Ken war fassungslos gewesen, als er das gehört hatte. „Nördlich der Kesselstadt besitzt König Leomon jetzt auch schon die Küstenlinie. Unsere Türme wurden dort alle zerstört. Auch die meisten Städte im Dornenwald haben ihm die Treue geschworen, und es heißt, im Giga-Haus verstecken sich Deserteure. Und Marodeure. Mit Little Edo zusätzlich im Süden wären wir sehr schnell eingekesselt.“ „Ich hätte eine Frage.“ Zephyrmons eisblaue Augen fixierten Ken. „Was ist eigentlich Euer Ziel, Kaiser? Wir kämpfen und erobern, aber was soll am Ende stehen?“ Was Ken an Zephyrmon beunruhigte, war, dass man aus seinem Gesicht nicht ablesen konnte, was es dachte. „Die vollkommene Herrschaft über die DigiWelt.“ „Wozu?“ „Muss ich Euch das wirklich erklären?“ „Ich bitte darum. Es stärkt die Moral der Truppen, wenn sie wissen, wofür sie kämpfen.“ Ken ließ sich mit der Antwort Zeit. Er war immer noch der Kaiser! „Um den Krieg zu beenden, der schon lange dauert. Frieden, unter unserem Banner. Und“, er sagte es zum ersten Mal, „um die Macht der Dunkelheit zu besiegen. In diesem Punkt müsst Ihr mir vertrauen. Die Macht der Dunkelheit greift nach der DigiWelt, und wir werden sie davor retten.“ „Wie nobel“, stellte Zephyrmon fest, und Ken war sich nicht sicher, ob es ihn verspottete. „Ich bin kein Tyrann“, sagte Ken schlicht. „Ich will tatsächlich das Beste für die DigiWelt. Das ist die Wahrheit.“ Zephyrmon sah ihn noch lange nachdenklich an und Ken erwiderte den Blick mit all seiner Entschlossenheit. Davon hatte er in den letzten Tagen genug aufgebaut. Schließlich wandte sich sein General wieder an die Allgemeinheit. „Was bleibt noch übrig? Die Felsenklaue? Wenn wir die Schwarze Rose in ihrer Heimat besiegen, werden ihre Truppen beim Bohrturm gewiss den Kampfeswillen verlieren und sich uns ergeben.“ „Gut möglich“, stimmte Ken zu. „Sie sind uns lange genug auf der Nase herumgetanzt.“ „Darf ich etwas anmerken?“, fragte Spadamon. Ken nickte ihm auffordernd zu. „Der Stiefel ist momentan unser gesichertstes Gebiet, auch wenn Little Edo quasi ein Loch in unserem Reich darstellt. Er bietet sich perfekt für Nachschub von der File-Insel an. Ja, er öffnet uns den Weg nach Süden zur Felsenklaue, aber ich glaube, dieser Schritt wäre zu voreilig. Im Süden sind wir wieder von Nachschublieferungen abhängig, genau wie die Besatzung des Bohrturms zurzeit. Aber es gibt noch ein anderes mögliches Ziel. Wir wissen, dass ein Mensch die Kaktuswüste kontrolliert. Sein Banner zeigt ein orangerotes Einhorn auf schwarzem Feld.“ „Ein orangerotes Einhorn?“ Das war keines der bekannten DigiRitter-Wappen. Handelte es sich dabei um ein weiteres Saatkind? „Allen Bündnisangeboten hat er sich bisher taub gezeigt; ich glaube, wir müssen das nicht einmal versuchen“, meinte Spadamon. „Er könnte uns in den Rücken fallen, wenn wir zur Felsenklaue marschieren, oder unsere Versorgung abschneiden.“ „Was schlägst du also vor?“, fragte Ken. Spadamon schlug entschlossen mit einer Papierrolle in seine Handfläche. „Expandieren wir nach Westen. Drängen wir diesen Menschen aus der Wüste, erobern wir sie. Wir wissen bereits, wie wir Wüsten am besten verteidigen können. Wenn wir die Kaktuswüste einnehmen, haben wir zwei davon. Wir schneiden ein großes Stück aus dem Kontinent. Wenn dieser Landstrich uns gehört, können wir einen Zweifrontenkrieg gegen die Rose führen, oder auch gegen Little Edo, und uns stehen ganz neue Expansionsmöglichkeiten zur Verfügung.“ „Der Plan hat etwas für sich“, murmelte das sonst so eitle Zephyrmon. „Vielleicht ist es die beste Möglichkeit. Auch wenn mir der Gedanke widerstrebt, in die Wüste geschickt zu werden.“ „Sei kein Weichei“, prahlte Ogremon. „Das bisschen Hitze hat noch keinem geschadet.“ Zephyrmon funkelte es an. „Kommt doch mit und kämpft auch an der Front, Sir.“ „Darauf kannst du einen lassen!“ „Nicht so voreilig“, ermahnte Ken die beiden. „Ogremon, du bleibst vorerst hier, vielleicht brauche ich dich noch. Außerdem“, fügte er hinzu, als er in das finstere Gesicht des Ogerdigimons sah, „könnte es sein, dass sich Leomon bald in unserem Reich blicken lässt. Dann will ich dich bei mir haben.“ „Hm. Zu Befehl.“ Ogremon schlug sich auf die Brust. „Nach Westen also.“ Ken nickte. „Gut, damit ist unsere Sitzung beendet. Zephyrmon, ich lasse Euch die Angriffsbefehle in Kürze zukommen. Spadamon, setze bitte die Mission, die ich dir gegeben habe, wie gehabt fort.“ Tag 31 Es gab einen Grund, warum Izzy so selten seinen unterirdischen Computerraum verließ. Das lag nicht, wie Michael gern behauptete, daran, dass er sich so schwer von seinem technischen Spielzeug trennen konnte. Es war dort schlicht und einfach viel angenehmer. Über dem kühlen, klimatisierten Raum im Kellergeschoss des Regierungsgebäudes breitete sich die Fabrikstadt aus, und mit ihr der stickige Geruch nach heißem Metall, Ozon und Smog. Die meisten Gebäude waren aus glänzendem Chrom, das im Licht der Sonne in den Augen schmerzte, und die Glaskuppel über der Stadt sorgte zusätzlich dafür, dass die Abgase nur durch das Belüftungssystem entweichen konnte und man sich wie in einem riesigen Gewächshaus fühlte. Es half auch nichts, die Stadt zu verlassen, denn dann stand man buchstäblich in der Wüste, in einer aus Staub und schmutzigem Sand, übersät mit den Wracks von metallischen Gerätschaften. Dort oben existierte kein Leben, und es gab dort auch nichts zu holen. Das Leben spielte sich in der Stadt und darunter ab, wo es Ölquellen und Pilzplantagen gab, damit auch die Menschen und Digimon, die sich mit Öl nicht zufriedengeben konnten, etwas zu essen hatten. Sogar der Trailmon-Express, der nach Westen zu den wenigen besiedelten Gebieten der Lava-Region führte, lag unter Tage. Es hätte sich wohl erübrigt zu erwähnen, dass die verbrannten Pilze den menschlichen Bewohnern schon lange zum Hals heraushingen. In der Kantine des Militärstützpunktes herrschte selten gute Laune. Als Michael letzte Woche von einem Erkundungszug aus dem Norden zurückgekehrt war – einem der wenigen, die sie unternahmen, hatten sie doch viel bessere Methoden der Informationsbeschaffung –, hatte er hartes Brot und Maiskolben mitgebracht und mit Izzy, Willis und ihren Digimon geteilt. Es war mal etwas anderes gewesen, wenn auch kein Festschmaus; im Süden der Felsenklaue war der Boden ähnlich karg wie hier. Und so lohnte es sich schlicht und einfach nicht, nach draußen zu gehen. Es war viel nützlicher, hier im Halbdunkel zu arbeiten und Pläne zu schmieden, Sicherheitscodes zu knacken und die Stärken und Schwächen aller möglichen Digimon zu analysieren. Willis ging das alles ohnehin viel zu langsam. Er half zwar auch mit, aber seine eigenen Recherchen gingen nicht in die Richtung, in die Izzy forschte, und so arbeiteten sie nebeneinander her. Izzy bereute es bereits, Willis die Freigabe für seine Mission erteilt zu haben. Der Zwillingsritter wollte in die Schlacht ziehen; im Gegensatz zu ihm hielt er es nicht so lange an einem Ort aus. Er würde sogar auf einen genauen Schlachtplan verzichten, hatte er gesagt. Sobald sie den DigimonKaiser ausgetrickst hätten, würden sie ihn ohnehin erwischen. Das mochte so stimmte, aber der Gedanke, bei einem unüberlegten Angriff verbündete Digimon zu verlieren, behagte Izzy nicht. Zumindest diese Idee würde er Willis ausreden. Er hatte bald begriffen, dass Krieg eine furchtbar komplexe Angelegenheit war. Im Gegensatz zu Michael, der das alles wenig ernst nahm, und Willis, dem sowieso alles egal war, was nicht direkt ihn oder seine Digimon betraf, machte Izzy sich durchaus Sorgen, was geschehen mochte, wenn er nicht bei der Planung sein Bestes gab, um den Schaden zu minimieren. Das schloss auch das Töten von Sklaven des DigimonKaisers mit ein. Die Sicherheitstür gab ein Klicken von sich, dann glitten ihre Flügel auseinander. Tentomon watschelte in den Computerraum und flog dann kurzerhand über den Kabelsalat, der den Boden bedeckte, hinweg. Es hielt ein großes Paket in den Insektenhänden. „Was Neues?“, fragte Izzy. „Andromon hat gesagt, ich soll dir das hier geben.“ Das Käferdigimon lud das Päckchen auf der breiten, grauen Schreibtischplatte ab. „Schon wieder die Spähberichte von der Küste?“ Izzy seufzte. Die Küste zum Net Ocean war so sturmverseucht, dass das Salzwasser bis hoch über die vergleichsweise niedrigen Klippen spritzte. Die Maschinendigimon wurden dort unschön mit Staub und Salz verkrustet und rosteten, daher hatte Andromon unkompliziert zu wartende Batterien mit Überwachungskameras und Sensoren wie Infrarotsicht und Echolot installiert. Die lieferten ganz brauchbares Material, nur waren sie noch immer nicht an das Informationsnetzwerk der Aufklärungseinheit angeschlossen, und deshalb mussten die Daten immer manuell überspielt werden. Izzy öffnete das Paket und legte einen Stapel der Disks in das automatische Laufwerk seines Supercomputers ein, der sie nacheinander auslas und automatisch auf Anomalien prüfte. „Gibt es denn schon was Neues von dem Netzwerk in der Kaktuswüste?“, erkundigte sich Tentomon, während sie warteten. „Du meinst diesen Kabelwirrwarr?“ Dafür hatte er in den letzten Tagen keine Zeit gehabt. „Ich hab es noch nicht geschafft, mich hineinzuhacken, aber selbst wenn es mir gelingt, können wir es höchstens zum Überwachen benutzen. Sonst hängt da nichts mehr dran, weder Digimon noch Verteidigungsanlagen, gar nichts.“ Nach allem, was sie wussten, hatte der Einhornkönig in der Wüste nicht ganz so freie Hand gehabt, als er sich dort niedergelassen hatte. Ein Digimon auf dem Ultra-Level, das sich selbst auch König nannte, hatte ihm anfangs die Hölle heiß gemacht. Es hatte ein Netzwerk aus Kabeln in der Kaktuswüste verlegt, das vor allem der Aufklärung gedient hatte. Der Einhornkönig war aus den Kämpfen schließlich siegreich hervorgegangen und hatte, anscheinend mithilfe eines Datamons, seine eigene Flagge in den Sand gesteckt. Was aus dem anderen Digimon geworden war, wusste niemand, aber das Netzwerk war zu großen Teilen noch vorhanden, wenn auch nutzlos. Willis hatte sein Signal aufgenommen, aber es war natürlich einbruchsgeschützt, wenn auch nicht sehr gut. Ein Symbol blinkte auf seinem Sechsundvierzig-Zöller auf. Die automatische Auswertung hatte etwas Unerwartetes entdeckt. Izzy holte das entsprechende Bild auf den Schirm. „Was ist das?“, murmelte er. „Eine Insel, wenn du mich fragst.“ „An der Stelle sollte aber keine Insel sein.“ Die Aufnahme zeigte irgendeinen rauen Küstenstreifen und dahinter das Meer. Das Wasser glitzerte in der Nachmittagssonne, und weit draußen, wo er fast im Dunst versank, stach etwas wie ein riesiger Felsen aus den Fluten. „Wir sollten das mal von unserer Flotte untersuchen lassen“, murmelte Izzy. „Weißt du zufällig, wo die gerade steckt?“ Er könnte auch die Missionsberichte durchblättern, aber Tentomon wusste es womöglich auswendig. „Als ich das letzte Mal von ihnen gehört habe, haben sie in der Hitzestraße gegen die Gesomon gekämpft. Ich glaube, Shaujinmon sucht jetzt ihr Versteck.“ Izzy erinnerte sich. Die Gesomon gehörten wahrscheinlich zu einer Art Piratenbande, die in der Hitzestraße Überfälle auf Handelsschiffe oder auf die Küstenstädte und -dörfer ausführten. Besonders auf den Feuerwein, der dort gebraut wurde, hatten sie es abgesehen. Admiral Shaujinmon war mit seiner Flotte aus rochenartigen Mantaraymon und den Tylomon-Drachenmaschinen die Meerenge hineingefahren, um diese Brut auszuräuchern. „Ich schreibe Andromon einen Nachricht deswegen“, beschloss er. „Vielleicht ist es sogar besser, wenn wir diese komische Insel aus der Luft untersuchen.“ Gerade, als er die Mail abgeschickt hatte, erschien eine neue Nachricht in seiner Inbox. Stirnrunzelnd betrachtete er das Top-Secret-Symbol und den Betreff. Eine Materiallieferung? Warum kam so was zur Aufklärungseinheit? Als er die Mail durchlas, verstand er es immer weniger. „Was hast du da, Izzy?“ „Sie wollen unsere Industrieabfälle“, murmelte Izzy. „Den ganzen Giftmüll und das alles. Und sie wollen dafür bezahlen? Hier steht, die Lieferung soll im Geheimen über den Seeweg stattfinden. Die stellen sich das ja sehr leicht vor, wenn überall im Meer die Digimon des DigimonKaisers rumschwimmen.“ „Wohin soll die Lieferung denn gehen?“, fragte Tentomon. Izzy las die Nachricht erneut durch, für den Fall, dass er sich verlesen hatte. Dann zog er den Cursor über den Text und markierte die Stelle, damit Tentomon es selbst lesen konnte.     Auf dem großen Plasmaschirm in seinem Kommandoraum beobachtete Ken, wie seine erste, große Armee abzog. Monochromon und Tortomon deckten die Flanken, ein wenig innerhalb marschierten blaue, gestreifte Allomon und grüne, gestreifte Tuskmon. Schwerfällige Rockmon verzögerten die Armee, doch wurde ihre Schlagkraft dringend gebraucht. Ein Geschwader aus Flymon und Snimon flog voraus und sicherte den Weg, den sie einschlugen. Kiwimon, die als Boten in der Schlacht dienen würden, liefen etwas abseits der Hauptarmee durch den Sand. Weiter hinten stapften Gorillamon, Kokatorimon und andere Digimon, die durch Schwarze Ringe kontrolliert wurden. Sie würden Zephyrmon vonnutzen sein, wenn es darum ging, eine eroberte Stellung zu halten; für Invasionen konnte man Schwarzring-Digimon nicht gebrauchen, da für gewöhnlich keine Türme ihren Ringen Signale liefern konnten. Ken hatte es ausprobiert: Die Türme der anderen Saatkinder hatten keine Auswirkungen auf seine Ringe; umgekehrt besaßen diese selbst gar keinen Weg, Digimon auf ähnliche Weise wie er ihrem Willen zu unterjochen. Einige Ultra-Digimon wanderten verstreut in der Armee mit, die meisten so groß, dass sie wie Giganten hervorstachen; zumeist Mammothmon und fürchterliche Cyberdramon aus den Bergen vor der Kaiserwüste. Am Rand der Wüste würden noch eine ganze Horde freiwilliger Gazimon und Mushroomon aus den Dörfern zu der Armee stoßen. Trosse mit Nahrung und vor allem Wasser wurden von kräftigen Digimon gezogen, genug, um dieses Heer hoffentlich lange genug ernähren zu können, bis die Kaktuswüste ihm gehörte. Über allen glitt General Zephyrmon durch die Lüfte, sodass sein Schatten immer über den Digimon zu sehen war, und überwachte den Abmarsch. Ihr Ziel war die Kaktuswüste, wo Tai und die anderen damals gegen Etemon gekämpft hatte, der erste geplante Angriffspunkt das Kolosseum, wo Greymon zu dem Ken auch schon bekannten SkullGreymon digitiert war. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis endlich Bewegung in die Digimon gekommen war, aber es war ein erhebender Anblick, all diese Digimon in den feurigen Ball der untergehenden Sonne marschieren zu sehen, wobei sie lange, schwarze Schatten warfen und selbst zu dunklen Flecken wurden. Nun, es stimmte nicht ganz. Hätte er sie nicht eben in die größten Schlachten geschickt, die er bisher geschlagen hatte, dann wäre es ein erhebender Anblick gewesen. So war Ken mulmiger zumute, als er sich eingestehen wollte. Wormmon war bei ihm und spürte seine Sorgen. „Es wird alles gut gehen, Ken. Die Wüste anzugreifen war die beste Entscheidung, die du treffen konntest.“ „Sie war trotzdem falsch.“ „Du weißt, dass du den Krieg nicht ohne Opfer führen kannst“, murmelte Wormmon unbehaglich. Ja, er wusste es, und sie hatten oft darüber gesprochen, wenn es ihm schwerfiel, einzuschlafen. Er tätschelte Wormmon den Kopf. Ohne es hätte er niemanden, der ihm Mut zusprach. Er war froh, dass Deemon ihm seine Erinnerungen gelassen hatte. „Du ergreifst also nach langem Warten endlich die Offensive, Ken“, meldete sich ebendieses in seinen Gedanken, kaum dass die Armee so weit weg war, dass er den Bildschirm herunterfuhr. Du sagst doch immer, dass das hier ein Spiel ist. Beim Schach zum Beispiel muss man erst seine Reihen stärken, ehe man selbst angreift. Deemon lachte sein unangenehmes Lachen. „Du lernst schnell. Aber ich gebe dir einen guten Rat. Auch wenn du deinen Blick jetzt auf die Ferne richtest, solltest du achtgeben, was in deiner Nähe passiert.“ Ken gefiel Deemons Ton nicht. Was willst du damit sagen? „Du hast vorher einen Vergleich mit Schach gebracht. Ich kenne dieses Spiel, Ken. Ich weiß viel über euch Menschen, auch wenn es dich vielleicht überrascht. Was unterscheidet westliches Schach von eurem Shōgi, Ken?“ Man kann Spielsteine des Gegners für sich selbst nutzen? „Exakt.“ Deemons Lachen verhieß nichts Gutes. Was soll das heißen? Rede mit mir! Doch Deemon schwieg böswillig. Ken biss sich auf die Unterlippe. Er drückte auf eine Taste seiner Konsole und nahm Kontakt zu den neuen Hagurumon auf, die in einem neuen Computerraum behelfsmäßig die Arbeiten der Kommandobrücke übernahmen. „Lasst sofort überall in unserem Gebiet die Schwarzen Ringe ausschwärmen und die Umgebung aufnehmen. Überprüft die Videos live auf Ungewöhnlichkeiten und schickt alles, was auch nur ein bisschen fragwürdig aussieht, auf meinen Bildschirm.“ Er überwachte sein Reich nicht ständig. Das würde selbst für seine Supercomputer eine Datenmenge bedeuten, die zu verarbeiten die Mühe nicht wert war. Jetzt war er froh, so viele Ringe in Reserve zu haben, die schnell all seine Gebiete checken konnten. Er musste auch nicht lange warten, bis ein Bild auf seinem Hauptschirm aufblitzte. Der Ring filmte ein schattiges Waldstück; den Detailinformationen daneben zufolge befand es sich in der Nähe der Stiefelbucht. Eine menschliche Gestalt in einer dunklen Uniform lief rasch durch das Unterholz. Yolei, erkannte Ken erschrocken. „Der Ring soll ihr folgen, aber außer Reichweite bleiben. Schickt andere Ringe, um ihr Digimon zu fangen“, befahl er, wusste aber, dass es wahrscheinlich sinnlos war. Hawkmon war zu Shurimon digitiert und hackte Äste und Dornenranken entzwei, um Yolei das Vorankommen zu erleichtern. Der Winkel, in dem er sie sah, änderte sich, als der Ring seinen Kurs änderte und ihr nun folgte. Auch Ton wurde jetzt dazugeschaltet, aber er hörte nichts außer dem Rauschen des Windes und dem Knacken von Ästen. Sie erreichte eine Steilklippe, die zum Strand hinab führte, und kletterte auf Shurimons Rücken. Das Digimon vollführte mit seinen Rankenbeinen einen gewagten Sprung fünfzehn Meter in die Tiefe und verschwand kurz vom Bildschirm. Dann flog der Ring über die Kante und man sah, wie Shurimon mit Yolei auf die flachen Steine sprang, die die Bucht säumten, weiter und weiter auf das Wasser hinaus. Ken wusste, was sie vorhatten. „Schnell! Haltet sie auf!“, befahl er den Hagurumon. Sie würden schon eine schnelle Möglichkeit finden, einzugreifen. „Dem Mädchen darf nichts passieren“, fügte Ken hinzu. Andere Ringe tauchten von drei Seiten auf und kreisten Shurimon ein. Es ließ Yolei absteigen und Kens Herz machte einen erschrockenen Sprung, als es aussah, als würde sie auf dem rutschigen Felsen ausgleiten und ins Wasser fallen. Das Meer war stürmisch und aufgewühlt, und die vielen Felsen und Riffe machten es zusätzlich gefährlich. Sie ist meine Feindin, aber ich hoffe trotzdem, dass ihr nichts passiert, dachte Ken ironisch. Shurimon holte aus, zerschmetterte Ringe mit den Klingen in seinen Händen. Drei näherten sich ihm von hinten, Ken sah Yolei etwas schreien, was im Tosen der Wellen unterging, und Shurimon warf seinen wirbelnden Wurfstern, der in einer Kurve alle drei Schwarzen Ringe vernichtete. Dann schloss das Ninja-Digimon Yolei in die Arme, setzte noch ein paar Felsen weiter – und wurde glühend wieder zu Hawkmon. „Haben wir nichts, um sie aufzuhalten?“, verlangte Ken zu wissen. „Wir haben acht Kuwagamon losgeschickt“, berichtete ein Hagurumon über den Kommunikationskanal. „Schwarzring-Digimon oder freiwillige?“ „Schwarzring-Digimon.“ „Verdammt!“ Bis dort in die Bucht hinaus reichten die Schwarzen Türme nicht. Er sah die roten Hirschkäferdigimon in der Ferne heranflattern. „Ruft sie zurück, es hat keinen Sinn mehr.“ „Befehl verstanden.“ Ken sah, wie die Kuwagamon abdrehten, während Hawkmon die Champion-Digitation zu Aquilamon vollzog. Yolei kletterte auf seinen Rücken und die beiden flogen in weitem Bogen in Richtung offenes Meer. Garantiert würden sie eine Schleife fliegen und nach Little Edo zurückkehren, auf einer Route, wo sie kein Schwarzer Turm behindern würde. Ken nagte an seiner Daumenkuppe. Das schien seine neue Angewohnheit zu werden. „Was haben sie dort gemacht?“, fragte sich Wormmon. „Ich weiß nicht. Findet es heraus. Findet heraus, wo sie waren, mit wem sie gesprochen haben, und tragt alles zusammen. Das hat oberste Priorität“, befahl er den Hagurumon. Es war weniger die Tatsache, dass er vielleicht einen seiner Freunde hätte gefangen nehmen und damit aus dem Weg und in Sicherheit schaffen können. Yolei war dort in seinem Gebiet auf etwas gestoßen, etwas, das eigentlich Ken gehörte und das sich jemand anders krallen würde, wenn er nicht aufpasste. Genau wie ein Shōgi-Stück.   Es dauerte bis zum Mittag des nächsten Tages, ehe alle Daten zusammengetragen waren, und Ken hielt das Ergebnis zunächst für einen schlechten Scherz. Es war höchst alarmierend, aber auch kaum vorstellbar, dass Yolei so etwas in Erfahrung hatte bringen können, wenn er selbst es noch gar nicht gewusst hatte. In großen Schlucken schlürfte er seine zweite Tasse schwarzen Kaffee; er hatte schlecht geschlafen in dieser Nacht. Deemon, das mit Sicherheit wusste, worum es bei dieser Sache ging, hatte sich nicht erweichen lassen, es ihm zu sagen, so als wollte es Zeit schinden. Als er den Bericht endlich fertig in Händen hielt, wusste er, wieso. Die Hagurumon hatten in seinem Namen bestochen und Erkundigungen eingeholt, was das Zeug hielt, und Yoleis Weg bis zu den Reisfeldern der Gekomon in der Bambusbucht zurückverfolgt. Gemeinsam mit einem Revolvermon hatte sie ein Boot gemietet, das sie auf den Stiefel gebracht hatte. Die Digimon dort hatten gesehen, wie sie in Richtung der Maya-Pyramide gegangen waren. Ken erinnerte sich noch sehr gut an dieses Gebiet. Als er vor so vielen Jahren schon einmal der DigimonKaiser gewesen war, hatten seine späteren Freunde ihn dort bekämpft. Auch heute standen dort zwar überall Schwarze Türme, aber es war ein kaum besiedelter Bereich und die Überwachung ließ zu wünschen übrig. Yolei hatte anscheinend den Stiefel komplett überquert, was an sich keine weite Strecke war, aber sie war schließlich mit Shurimon allein wieder aus dem Wald hervorgekommen, ohne Revolvermon im Schlepptau. Was dazwischen passiert war, erfuhr Ken erst, als er einen Bericht von Spadamon las. Nachdem sie in Erfahrung gebracht hatten, dass Yolei von der Stiefelbucht wieder unterwegs nach Little Edo war, hatten die Hagurumon seinem Spion eigenmächtig eine Nachricht zugefunkt, die ihn zu einer riskanten Aktion veranlasst hatte. Spadamon war wieder in Little Edo gewesen, um Nachforschungen über Kens Freunde dort anzustellen, und hatte sich bis auf den Hauptplatz der Pagode geschlichen. Dort hatte es ein Gespräch belauscht und mit dem tragbaren Mailgerät, das Ken ihm gegeben hatte, Wort für Wort wieder in die Festung gesendet. Das Ende des Berichts überflog Ken nur noch. Höchste Eile war geboten. „Ich brauche eine Liste von Digimon, die möglichst sofort zur Maya-Pyramide aufbrechen können!“ Tag 32   Was Taichi über die Prinzessin gesagt hatte, stimmte leider zu großen Teilen. Sie sah tatsächlich nicht so aus, als hätte sie irgendein Interesse daran, sich zu vermählen – dafür umso größeres daran, umschwärmt zu werden. Die letzten Tage hatte Matt fast ausschließlich in ihrer Gesellschaft verbracht. Seine Wölfe wurden langsam rastlos und ungeduldig, jagten in der Ebene und verschreckten die braven Gekomon der Stadt mit ihrer bloßen Anwesenheit, aber es sah aus, als würde dieses Minneduell zwischen ihm und dem Drachenritter noch lange andauern. Sir Taichi hatte höflich und förmlich vor dem ganzen Hof um Entschuldigung gebeten. Er wäre betrunken und verärgert gewesen, und, und, und. Zum Schluss sah es nicht so aus, als hätte die Prinzessin ihm verziehen, aber er durfte sich immerhin wieder in ihre Nähe wagen, ohne dass sie ihrem Yasyamon-Leibwächter gleich befahl, ihn zu verjagen. Matt schätzte seine Karten als die besseren ein, er aß mit Mimi, führte sie in die wenigen Reisfelder, die Little Edo direkt umgaben, wobei sie beide und ihre Digimon in einem hübschen Palankin von Gekomon getragen wurde. Er sang für sie und spielte auf Shamisen, Gitarre und Mundharmonika und gab sich so galant wie möglich. Immerhin entlockte er ihr oft genug ein Lächeln, dass man von einem Fortschritt sprechen konnte, aber Matt wollte sich nichts vormachen. Die Prinzessin wollte nicht lieben. Sie wollte nur geliebt werden. Und langsam hatte er die Nase voll von dieser Farce. Und ShogunGekomon? Das mächtigste Digimon in diesem Teil der DigiWelt schien innerlich zerrissen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Mimi den Drachenritter geheiratet, das wusste er. Vielleicht auch nur, weil Matt ihm seine Absichten nicht so offenkundig dargelegt hatte. Nun lebte das riesige Digimon in einem Zwist zwischen seinen eigenen Idealen, den Wünschen Mimis und der ständigen Gefahr, sich einen Feind zu schaffen, wenn es einen seiner beiden hochrangigen Besucher zu sehr bevorzugte. Ein neuer, strahlend schöner Tag war angebrochen, der versprach, heißer als die vorhergehenden zu werden. Das weiße Pflaster auf dem Pagodenvorplatz gleißte in der Sonne. Matt hoffte, Mimi dort anzutreffen – laut Togemogumon schlief sie gerne lange, aber für heute Morgen war der Besuch einer Delegation vom westlichen Fuß des Edo-Gebirges geplant, wo das Fürstentum von Daimyo Karatenmon lag. Der Shogun und die Prinzessin würden ihnen die Ehre erweisen, sie persönlich zu empfangen und mit ihr zu frühstücken. Zwei säuberliche Reihen Falcomon mit sauberem Gefieder hockten bereits vor der Pagode und wurden eben von Mimi und Palmon begrüßt. ShogunGekomon dürfte im Inneren warten. Matt war also zu spät gekommen. Mimi sah schon von der Ferne wenig glücklich aus, die Ninjavögel willkommen heißen zu müssen, und sie würde während dieser Pflicht kaum Zeit finden, auch noch seinen Vorschlag, wie sie den heutigen Nachmittag verbringen könnten, anzuhören. Die Prinzessin schwebte in die Pagode und die Falcomon folgten ihr. Palmon sah kurz zu Matt und lief dann auf seinen Pflanzenbeinchen auf ihn zu. „Sieht aus, als wäre sie schwer beschäftigt“, sagte Matt nach einer kurzen Begrüßung. „Oh ja. Sie hat ja schon einen von ShogunGekomons Vasallen beleidigt, daher verlangt es von ihr, bei den anderen doppelt so freundlich zu sein.“ Matt hatte schon gehört, wie sie Musyamon brüskiert hatte. „Wird die Delegation lange bleiben?“ „Ich weiß nicht genau, was sie besprechen“, gestand Palmon. „Aber ShogunGekomon hat das Mittagessen um vierzehn Gäste erweitern lassen.“ Also dauert es mindestens bis Mittag. Bis dahin konnte er Mimi wohl kaum sprechen. Er überlegte, ob er stattdessen Gabumon aufsuchen sollte, das die Ordnung im Lager erhielt. Ein paar Worte an seine Wölfe zu richten wäre vermutlich auch nicht falsch … Harte Stiefelabsätze klackerten hinter ihnen über den Boden und Matt wandte sich um. Ein Mädchen kam angelaufen, in einer violetten Uniform und mit wehendem, fliederfarbenem Zopf. Auf der Nase trug sie eine Brille, und ihre Wangen waren vor Anstrengung gerötet. Sie winkte ihnen zu. „Wer ist das?“, fragte Matt. „Das ist Yolei!“ Palmon ging ihr entgegen, und jetzt erst fiel Matt das Hawkmon auf, das dem Mädchen hinterherflatterte. „Dämliche Ninjamon!“, japste Yolei und stützte die Hände auf die Oberschenkel, um zu Atem zu kommen. „Wenn die mir nicht verboten hätten, auf Aquilamon zu fliegen … Glauben die wirklich, es würde die Bürger so sehr erschrecken?“ Sie bemerkte Matt und strich sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. „Oh, hallo. Guten Morgen.“ „Guten Morgen“, sagte Matt. „Ihr kennt euch?“ „Yolei ist eine gute Freundin von Mimi“, erklärte Palmon und das Mädchen lächelte schwach. „Yolei, das ist Matt. Der Eherne Wolf.“ Yoleis Augen wurden groß. „Der Wolf? Das ist … großartig. Ich hab viel von dir gehört. Also, nichts Konkretes, aber Gerüchte hier und da. Du sollst ein richtiger Freiheitskämpfer sein. Ist es wahr, dass dein Digimon zu vier verschiedenen Formen weiterdigitieren kann? Hast du etwa auch ein DigiArmorEi?“ Von ihrer Kurzatmigkeit schien nicht viel übrig geblieben zu sein, aber Matt kam nicht dazu, auch nur eine ihrer Fragen zu beantworten, denn sie sagte sofort: „Oh, tut mir leid, dass ich dich so damit überfalle. Palmon, ich muss unbedingt mit Mimi reden!“ „Das wird nicht gehen“, meinte Palmon mit einem unbehaglichen Blick auf die Pagode. „Sie haben gerade wichtige Gäste … Soll ich ihr etwas ausrichten?“ „Ja“, keuchte Yolei. „Ja. Sag ihr … DigiArmorEi! Ich hab ein DigiArmorEi entdeckt!“ Matt hob überrascht die Augenbrauen. Palmon schien ebenso verblüfft. „Wo? Wie denn?“ „Also, das war so …“ Yolei maß Matt kurz mit einem Seitenblick, aber Palmon winkte ab. „Sag es ruhig. Mimi wird es ihm sowieso erzählen, wenn die beiden allein sind.“ „Wenn die beiden allein …“ Yoleis Gesicht wurde nachdenklich, dann hellte es sich auf und ein Grinsen schlich sich auf ihre Züge. „Oho, so ist das also.“ „Du hast etwas von einem DigiArmorEi gesagt“, erinnerte sie Matt. „Richtig. Wo fang ich an? Wir, also Hawkmon und ich, wir waren ja im Edo-Gebirge, einen Auftrag ausführen. Nichts Großartiges. Bevor wir uns auf den Rückweg gemacht haben, dachte ich, ich schau bei den Reisfeldern vorbei und höre mich nach Musyamon um. Scheint alles ruhig zu sein, offenbar hat der Fürst jede Menge edle Scherze über diese Sache gemacht, so in der Richtung, seine Reife ließe ihn wahrscheinlich viel zu alt für die Prinzessin aussehen, und seine Kraft würde ihrem schlanken Körper wohl auch nicht gut tun, so etwas in der Art.“ „Und wo kommt das ArmorEi ins Spiel?“, fragte Matt und hielt die Umgebung genau im Blick. Der Drachenritter hatte die Angewohnheit, genau in den unpassendsten Augenblicken aufzutauchen. „Ich hab mich noch ein wenig auf den Reisfeldern umgehört und dort ein Revolvermon auf der Durchreise getroffen. Das hat Unterstützung bei einer gewissen Unternehmung gesucht, und mich angeheuert.“ „Ich höre nur Auftrag und anheuern. Bist du eine Söldnerin?“, fragte Matt. Yolei nickte. „Da es ja nichts Ungewöhnliches von den Reisfeldern zu berichten gab, sind Hawkmon und ich mit dem Revolvermon zum Stiefel gefahren. Mit einem Boot.“ „Es hat gesagt, es wäre ein Schatzjäger“, erzählte Hawkmon weiter. „Es gibt im nördlichen Teil des Stiefels eine alte Stufenpyramide. Revolvermon ist auf eine Legende gestoßen, die besagt, dass es unter der Pyramide geheime Räume gibt. Es hat vermutet, dass dort ein Schatz versteckt ist, und wollte uns als Unterstützung, weil sie mitten im Gebiet des DigimonKaisers liegt.“ „Das hört sich gefährlich an“, sagte Palmon. „Ach was“, winkte Yolei ab. „Da waren nur Türme, kaum Digimon. Das Gebiet, wo wir an Land gegangen sind, ist dichter Dschungel. Wir haben uns zur Pyramide geschlichen und Revolvermon hat sogar den versteckten Eingang gefunden. Es hat eine Art Schlüssel eingesetzt, und die Steinplatte ist in die Höhe gezogen worden. Das war wohl irgendein Mechanismus. Dort drin haben wir es dann gesehen.“ „Das Ei?“ Yolei nickte. „Es war ganz sicher ein DigiArmorEi. Es sieht zwar komplett anders aus als meines, aber Revolvermon hat es sofort erkannt.“ „Es war ganz aus dem Häuschen“, fügte Hawkmon hinzu. „Das kann man laut sagen“, meinte Yolei säuerlich. „Deswegen hat es auch nicht aufgepasst. Es ist in die Kammer gerannt und hat dabei irgendeine Falle ausgelöst. Wir haben nur gesehen, dass violettes Gas in den Raum geströmt ist.“ „Wahrscheinlich Gift“, sagte Hawkmon. „Dann ist die Steinplatte wieder zugefallen, obwohl der Schlüssel noch drin gesteckt hat. Wir haben sie nicht mehr aufbekommen. Also haben wir gemacht, dass wir von dort wegkommen. Und ich glaube, der DigimonKaiser hat uns bemerkt.“ „Wusste er, dass da ein ArmorEi in seinem Gebiet liegt?“, fragte Palmon. „Wohl kaum, sonst hätte er es längst in seine Gewalt gebracht.“ Matt hakte seine Daumen in seinen Gürtel und wippte nachdenklich auf den Fersen. „Aber womöglich weiß er jetzt davon. Kann man diese Steinplatte aufbohren?“ „Ich wüsste nicht, warum es nicht gehen sollte“, murmelte Yolei. „Wir dachten, wir erzählen es euch so schnell wie möglich, falls der Shogun etwas deswegen unternehmen will“, sagte Hawkmon. „Du kennst ihn ja“, seufzte Palmon. „Bis er sich dazu entschieden hat, ist es längst zu spät. Außerdem wird er sicher niemanden so weit ins Feindesland schicken.“ „Er nicht“, stimmte Matt dem Digimon zu. „Ich dachte ja nur …“ Yolei rang mit den Händen. „Wenn ein Digimon die Armor-Digitation schafft, kann es sogar in dem Land, das vom DigimonKaiser oder der Schwarzen Rose kontrolliert wird, digitieren. Es wäre eine nützliche Waffe …“ Und ein außergewöhnliches Geschenk, dachte Matt. „Naja, aber wie ihr meint.“ Yolei gähnte ungeniert. „Dann werde ich mal was essen gehen und mich eine Runde aufs Ohr hauen. Ich bin todmüde …“ „Drei Stunden“, sagte Matt. Sie sah ihn verwirrt an. „Ich brauche drei Stunden, um hier ein paar Dinge zu erledigen und meine Truppe zu mobilisieren. Wenn du mitkommen willst, sei bereit.“ „Du willst dir das ArmorEi holen?“, fragte Yolei. Er nickte. „Und es Prinzessin Mimi schenken. Es wäre gut, wenn ich dich dabeihätte, du warst schließlich vor Ort.“ Er zögerte. „Deinen Sold von Revolvermon wirst du ja noch nicht bekommen haben, oder? Ich bezahle ihn mit und heuere dich gleichzeitig neu an.“ Yolei sah ihn lange an, dann grinste sie. „In Ordnung. Wenn ich auf einem deiner Wölfe reiten darf, kann ich ja vielleicht unterwegs noch ein bisschen schlafen.“ „Wohl kaum“, schnaubte Matt amüsiert.     Mimi hatte sich gerade für das Mittagessen umgezogen und alles in ihr sträubte sich dagegen, ihr Gemach zu verlassen. Es war kein erfreulicher Vormittag gewesen. Wenigstens auch für ShogunGekomon nicht. Die Falcomon hatten beunruhigende Nachrichten aus dem Westen gebracht. Ein Feind mit einem orange-schwarzen Banner bedrohte die Grenze, soweit sie das verstanden hatte. Sie hatte nur mit einem Ohr zugehört, aber so, wie die Falcomon gejammert hatten, musste es etwas Ernstes sein. Durch den Trugwald streiften schon feindliche Truppen, hieß es, und Späher waren hinter ihre Grenzposten gelangt. Seufzend betrachtete sie ihr Gesicht zum wiederholten Male im Spiegel. Es war müde. Am liebsten hätte sie den Rest des Tages im Bett verbracht. Als sie sich herumdrehte, hörte sie ein Scharren, als jemand ihr Fenster aufschob – und plötzlich sprang der Eherne Wolf in ihr Gemach. Mimi unterdrückte einen Aufschrei. „Was wollt Ihr hier?“, rief sie erbost. „Ich bin gerade dabei, mich umzuziehen!“ „So wie ich das sehe, seid Ihr schon fertig damit.“ Matt legte den Finger auf die Lippen. „Seid leise. Euer Leibwächter sollte uns nicht hören.“ Ihr lag eine saftige Entgegnung auf der Zunge, aber sie verstummte und schluckte. Auf der einen Seite war sein Verhalten natürlich allergrößte Impertinenz … auf der anderen war es etwas so Verbotenes, Direktes, dass schon ein gewisser Reiz dahinterlag. „Was wollt Ihr?“, fragte sie mit zu einem Flüstern gesenkter Stimme. „Ich werde bald an der Tafel meines Vormunds erwartet.“ „Ich weiß. Hört mich nur an. Ich werde in die Schlacht ziehen.“ „Schlacht?“ Mimi blieb ihr Mund offen stehen. „Wo gibt es denn eine Schlacht?“ „Nicht hier, keine Sorge. Ich werde mich weit hinter die Linien des DigimonKaisers wagen und wollte mich verabschieden. Wartet bitte hier auf mich.“ „Ihr wollt gehen?“ Leichter Zorn wallte in ihr hoch. „Wieso auf einmal? Ich dachte, Ihr wollt um mich werben. Und jetzt wollt Ihr so einfach …“ Sie war immer lauter geworden, bis er ihr einen Finger auf die Lippen legte. Sie spürte Hitze ihre Wangen hochkriechen. „Ihr nehmt Euch zu viel heraus“, meinte sie anklagend. „Schon möglich“, sagte er augenzwinkernd. „Aber ich bin Euch diese Antwort schuldig. Ich begebe mich in das Hoheitsgebiet des DigimonKaisers – für Euch. Ich werde Euch von dort ein Geschenk mitbringen, das es kein zweites Mal in der DigiWelt gibt.“ Sie machte große Augen. „Was?“, hauchte sie. „Ein DigiArmorEi.“ „Oh.“ Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber irgendwie war sie enttäuscht. Er schien das zu spüren. „Wartet, bis Ihr Euch ein Urteil bildet. Jedes DigiArmorEi ist einzigartig, und es gibt nur eine Handvoll davon in der DigiWelt. Vielleicht kann Euer Palmon es sogar benutzen. Falls nicht, es ist etwas für die Ewigkeit. Wie meine Liebe zu Euch“, fügte er hinzu. Mimi lächelte schwach. So gesehen war es natürlich schon etwas Einzigartiges … und er wollte es allein deswegen mit dem gefürchteten DigimonKaiser aufnehmen! „Dann nehmt das.“ Sie zog das blütenweiße Brusttuch aus ihrem Mieder hervor. „Ich schenke es Euch. Es soll Euch Glück bringen.“ Er nahm es entgegen und führte es mit geschlossenen Augen zu seinen Lippen. Tief sog er den Duft ein. „Ich werde es Euch zurückbringen, mitsamt dem DigiArmorEi.“ In dem Moment dachte Mimi, dass sie, wenn sie müsste, wohl ihn als Gemahl wählen würde.   Bis der Schleier fällt Bis die Stille bricht Bleib bei mir Bitte weck mich nicht (Faun – 2 Falken) Kapitel 13: Die Schlacht um das ArmorEi --------------------------------------- Tag 35 „Herr, Ihr … seid selbst gekommen?“ DarkTyrannomons Augen weiteten sich ungläubig, als es Ken von seinem Airdramon steigen sah, mit Wormmon auf seiner Schulter. Sofort winkte es die Gotsumon-Arbeiter heran, die den Kommandantenhügel des Feldlagers für ihn annehmlicher gestalten sollten. Sie schleppten Plastikstühle und -tische her, etwas, das der riesige, schwarze Dinosaurier alleine nicht brauchte, und stellten sie im Schatten des großen, Schwarzen Turms auf der Hügelspitze auf. „Das ist auch angebracht. Warum habt Ihr Verstärkung angefordert? Was ist so schwierig daran, ein DigiArmorEi zu bergen, das noch dazu auf unserem Gebiet ist?“ „Nun, das kann ich Euch sagen, Herr“, grollte DarkTyrannomon. Da Kens Hauptstreitmacht unter Zephyrmon die Front im Westen erweitern sollte, hatte er das Dinosaurierdigimon zum Kommandanten der bunt zusammengewürfelten Reservetruppe ernannt, die ihm das ArmorEi bringen sollte. Aus gegebener Wichtigkeit hatte er ihm für ein schnelles und reibungsloses Durchführen der Mission den Rittertitel versprochen – was ihn nichts kostete und ein stolzes Digimon wie DarkTyrannomon ehrte. Trotz der sprichwörtlichen Dümmlichkeit seiner Artgenossen war dieses Digimon durchaus in der Lage, intelligente Strategien zu entwerfen, ohne unter dem Einfluss eines Rings zu stehen, und es besaß auch gewisse Führungsqualitäten. Langsam bezweifelte Ken allerdings seine Entscheidungen. Der DigimonKaiser trat zu dem großen Metalltisch, dessen Oberfläche mit einem 3D-Projektor ausgestattet war. Das ganze Gelände war dort zu sehen, im richtigen Maßstab und mit Berücksichtigung der Höhenparameter, dazu Punkte und kleine, abstrakte Modelle von Digimon. Die Maya-Pyramide war orange gehighlighted im Zentrum der Karte zu sehen. „Wir haben zuerst die Airdramon losgeschickt, um das Gebiet aus dem Luftraum zu sichern, wie abgesprochen“, begann Kommandant DarkTyrannomon seinen Bericht. Die Airdramon stammten aus der Invasionsflotte für die File-Insel, die meisten von ihnen und alle Pteramon waren als Besatzung dort geblieben. „Wir waren allerdings nicht die Ersten bei der Pyramide.“ „Nicht?“ War Matt etwa so schnell gekommen? „Zwei Drimogemon haben an der Basis gebohrt und versucht, in die Pyramide zu kommen.“ „Ist der normale Eingang denn versperrt?“ „Das nicht, aber er führt nur in ein paar leere Kammern. Wir haben herausgefunden, dass es in der Pyramide unterirdische Bereiche gibt, die vom Rest abgeschnitten sind. Ohne Bohrer oder etwas Ähnliches kommt man nicht hinein. Wir haben die Drimogemon vernichtet und das Gebiet näher erkundet, sind dabei aber auf Feinde gestoßen.“ „Den Ehernen Wolf?“ Der Dinosaurier schüttelte den massigen Kopf. „Im Westen lagert ein anderes Heer. Die Banner zeigen so etwas wie ein Unimon, orangerot auf Schwarz.“ Das Saatkind aus der Wüste. „Wir konnten das Lager allerdings nicht ganz auskundschaften. Die haben dort ein Deckerdramon.“ „Was ist ein Deckerdramon?“ DarkTyrannomon fletschte die Zähne. „Ein großes Digimon mit hoher Reichweite. Und sehr großer Durchschlagskraft. Wie geschaffen für die Luftabwehr. Die Airdramon wären seinem Beschuss fast zum Opfer gefallen und haben sich dann zurückgezogen. Wir haben danach die Pyramide untersucht und das mit den versteckten Gängen herausgefunden. Dann haben wir den Grabungstrupp angefordert.“ Das hatte Ken mitbekommen; ein paar gnomenhafte Grumblemon mit schweren Hämmern waren aus den Dörfern im Süden gerufen worden. „Währenddessen ist das Deckerdramon aber vorgerückt und wir mussten den Luftraum gänzlich aufgeben. Es wird nicht auf den Boden schießen, damit der Pyramide nichts geschieht, aber fliegende Digimon wird es sofort aus dem Himmel holen. Die anderen bringen sicherlich ebenfalls neue Grabungstrupps an die Pyramide, wenn wir nicht schnell handeln. Ich habe die Grumblemon auf Ausgrabung geschickt, aber als sie mit der Eskorte dort waren, sind plötzlich überall die Ehernen Wölfe gewesen.“ „Seid Ihr sicher, dass sie es diesmal waren?“ „Ziemlich sicher. Garurumon, BlackGarurumon, Kyuubimon, Gaogamon und Seasarmon. Mir fällt keine andere Armee ein, die nur aus solchen würdelosen Vierbeinern besteht. Sie haben sich rund um die Pyramide im Wald versteckt. Keine Ahnung, wie viele es sind.“ „Und sie haben die Grumblemon angegriffen?“ „Nein. Wir haben sie ganz klar entdeckt, auch wenn sie sich bemüht haben, unbemerkt zu bleiben, aber die Biester haben einfach nur gewartet. Also habe ich den Grabungstrupp wieder abgezogen.“ Ken nickte anerkennend. „Das war ein guter Zug.“ Die Digimon, die mit Matt unterwegs waren, spien zumeist Feuer oder etwas in der Art, aber sie waren allesamt keine Steinbrecher. „Sie hätten gewartet, bis ihr die Gänge für sie freigelegt habt.“ „Aye. Also haben wir erst mal nur die Stellung gehalten und Verstärkung angefordert. Mit dem Haufen, den Ihr mir mitgegeben habt – bitte um Verzeihung – kann ich den Wölfen nicht offen die Stirn bieten. Und diese Einhornarmee macht mir auch Sorgen.“ Ken besah sich die feindlichen Truppen, die auf der Karte angezeigt wurden. Dieses Deckerdramon war als eine Art großes Reptil mit unförmigem Rumpf abgebildet. Der Rest des erkundeten Heerlagers bestand, wie er einem detaillierten Spähbericht entnahm, aus feurigen Meramon, Tyrannomon, eiförmigen Digitamamon, die wohl als lebende Schilde fungieren sollten, und Starmon und Revolvermon für den Angriff. Ein Baronmon schien den Oberbefehl zu haben, zumindest war das die einzige Digimonart, von der es nur einen einzigen Vertreter gab. Vorratswagen und Truppentransporter waren von Monochromon gezogen worden. Auch eine Art Fußvolk war dabei, kleine, schwächlich erscheinende Tapirmon mit ihren wolkenhaften Beinen und den metallenen Schnauzen. Das Lager hatten sie, gleich wie DarkTyrannomon, auf einer eigens dafür gerodeten Lichtung im Dschungel aufgeschlagen. Starmon, Revolvermon und Tyrannomon … Alles Digimon, die eher in trockenen Gebieten leben … „Ich muss einen Moment über die Lage nachdenken“, sagte er DarkTyrannomon, stützte sich mit den Händen auf den Metalltisch und betrachtete die dreidimensionale Karte. Nicht nur Matt ist mein Gegner, sondern auch noch ein Saatkind mit einer dritten Armee, die größer ist als meine eigene. Er hatte Verstärkung mitgebracht, allerdings fast nur Schwarzring-Digimon. Aus der Karte konnte er ablesen, dass das Heer mit den Einhornbannern den Schwarzen Turm auf ihrem Gebiet zerstört hatte. Ein Angriff auf ihr Lager kommt nicht in Frage. Wir müssen das Ei so schnell wie möglich schnappen und uns zurückziehen. „Habt ihr schon versucht, die Wölfe mit Schwarzen Ringen zu beschießen?“ „Aye, haben wir. Sie haben Vorkehrungen getroffen. Giromon-Söldner, extra für den Kampf gegen uns. Hat der Eherne Wolf angeheuert. Schnelle, kleine Biester, die die Ringe nicht beherrschen können, und die die Wölfe davor schützen.“ Und wenn sie es irgendwie schaffen, auch noch unseren Turm zu zerstören, kann Gabumon sogar bis aufs Mega-Level digitieren. Ken tippte mit den Fingerspitzen gegeneinander. Verdammt, war das verzwickt! „Bereitet dir etwas Schwierigkeiten, Ken?“ Deemon musste natürlich wieder seine Nase in diese Angelegenheit stecken. Ken bemühte sich, es nicht zu beachten. „Was sollen wir tun, mein Kaiser?“ Ken stieß langsam den Atem aus und offenbarte seine Gedanken. „Wir müssen uns das gut überlegen. Wir sind drei Heere, die alle das ArmorEi wollen. Die Wölfe warten darauf, dass jemand von uns anderen den Tunnel öffnet, dann werden sie über ihn herfallen. Das bedeutet, wir sitzen in einem Patt. Den ersten Zug werden wir oder die Einhornarmee machen, indem wir die Wölfe bekämpfen. Die dritte Partei wird dann die geschwächte Armee des Siegers aufreiben. Wer als Erster voranstürmt, wird verlieren.“ Er knabberte an seiner Daumenkuppe. „Sendet eine Nachricht zu den Dörfern und Städten am Stiefel. Wir ziehen neue Rekruten ein; bietet ihnen fünfzig Prozent mehr Sold, wenn sie innerhalb eines Tages bei uns sind.“ Gleichsam mit dem Festigen seiner Grenzen hatte er eine einheitliche Währung für sein Reich eingeführt. Da es in der DigiWelt viele Orte gab, an denen man mit amerikanischen Dollars etwas erwerben konnte, hatte er den Dollar als Zahlungsmittel bestimmt und von ein paar geschäftstüchtigen Digitamamon drucken lassen. Längst nicht alle Digimon akzeptierten dieses Geld; mit dem Fall seines Reiches würde es seinen Wert verlieren, wenn es ihm nicht gelang, es über seine Grenzen hinaus populär zu machen. Damit auch er selbst zu Geld kam, ohne immer wieder neues fertigen zu lassen und damit den Wert zu drücken, hatte er Steuern erhoben; auch dafür liebten ihn die Digimon nicht gerade. Er hoffte, diesen Umstand wettmachen zu können, indem er seine freiwilligen Soldaten gut bezahlte. DarkTyrannomon gab den Befehl weiter. „Wir warten also?“ „Wir sitzen am längeren Hebel. Das hier ist unser Land, wir bekommen schneller Nachschub als die anderen, sowohl Nahrung als auch Digimon. Wenn es nicht will, dass wir einen überwältigenden Vorteil erhalten, muss das Einhorn zuerst angreifen.“ „Ah, verstehe.“ Ken überflog den Zustand seiner eigenen Truppe. Sie bestand zumeist aus Pflanzendigimon aus den dichten Urwäldern des Stiefels, da waren hölzerne Woodmon, blumenartige Floramon und Sunflowmon, ein paar wenige hübsche Lilamon auf dem Ultra-Level, die vogelhaften Deramon und eine ganze Horde Mushroomon. Außerdem waren von den Küsten Crabmon und Shellmon einberufen worden, die hier im Wald zwar im Nachteil, aber besser als nichts waren. Und dann natürlich Gazimon und Goblinmon als eiserne Reserve, und der Kern der Truppe: ein paar schlagkräftige Fugamon, die Ogremon sehr ähnelten, nur dass ihre Haut rot war, und Rockmon. Als er sich gerade einzuprägen versuchte, welche der Digimon mit Schwarzen Ringen beherrscht wurden, blinkte auf dem Kontrollpult ein rotes Lämpchen auf. „Was ist da los?“, fragte er. „Das ist einer von unseren Spionageringen“, grollte DarkTyrannomon. „Einer von denen, den die Giromon noch nicht zerlegt haben. Zeig uns so ein magisches Fenster.“ „Jawohl!“ Das Gotsumon, das der Kommandant angeherrscht hatte, betätigte ein paar Tasten – das Dinosaurierdigimon konnte mit seinen Krallen die Maschinen nicht selbst bedienen – und die Projektoren blendeten über der 3D-Karte ein zweidimensionales Videobild ein. Man sah den Dschungel, schwere, träge Ranken, prächtige Orchideenblüten und verworrene Bäume, und dahinter einen Teil der prächtigen Stufenpyramide, die mit Moos und Ranken überwachsen war. Etwas bewegte sich, Blätter fielen von den Bäumen, als würde etwas den Boden vibrieren lassen – und dann sahen Ken und DarkTyrannomon, wie sich zwei schwerfällige, maulwurfsähnliche Digimon durch den Urwald auf die Pyramide zu schleppten, mit violettem und weißem Fell und riesigen, metallischen Bohrern auf der Stirn. „Sie bringen neue Drimogemon zur Pyramide?“, grunzte DarkTyrannomon. „Sind die verrückt?“ Kens Handschuh hinterließ einen leicht gummiartigen Geschmack in seinem Mund, als er einmal mehr an seinem Daumen nagte. „Was haben die vor?“ „Dein Plan scheint aufzugehen, Ken. Dein kleiner Freund macht den ersten Zug. Wie wirst du kontern?“, drängte sich Deemon wieder in seine Gedanken. „Sie müssen doch wissen, dass Matt … dass die Wölfe die Drimogemon vernichten werden, sobald sie eine Öffnung gegraben haben!“ „Vielleicht wollen sie genau das“, piepste Wormmon vorsichtig. „Was meinst du damit?“, fuhr Ken es ein wenig zu heftig an, und das kleine Digimon zuckte zusammen. Ihm tat es sofort wieder leid; er wurde langsam nervös. Die Situation wurde immer kniffliger, und er hatte auch in der Festung einiges zu erledigen und wollte das hier schnell hinter sich bringen. „Wenn er denkt, das ist nur ein Spiel, wird er die Drimogemon ohne zu zögern opfern“, sagte Wormmon vorsichtig, als könnten diese Worte Ken verletzen. „Er will vielleicht nur einen Durchgang für die Wölfe schaffen, mehr nicht.“ „Das bedeutet …“ „Das bedeutet, er will uns zwingen, die Drimogemon anzugreifen“, knurrte DarkTyrannomon. „Und solange die Bohrarbeiten nicht beendet sind, stehen die sicher unter dem Schutz der Ehernen Wölfe.“ Kens Kopf begann sich langsam zu drehen. Das Saatkind schien äußerst heimtückisch zu sein. Wir sitzen am längeren Hebel, aber wenn wir nicht bald angreifen, hauen die Wölfe mit dem ArmorEi ab. Der Einhornjunge weiß das. Ken war sich mittlerweile sicher, dass es ein Junge war; so viel hatte Deemon vorhin durchsickern lassen. Das hier ist unser Land, wir haben mehr zu verlieren als er. Also verlässt er sich darauf, dass wir einschreiten, gegen die Wölfe kämpfen und damit verwundbar werden. „Die Truppen sind in Bereitschaft. Sollen wir losschlagen, mein Kaiser?“ Ken atmete tief durch. Nicht mit mir. „Nein“, sagte er so ruhig wie möglich. „Wir tanzen nicht nach ihrer Pfeife. DarkTyrannomon, die Truppen sollen in einem Halbkreis ausschwärmen und das Gebiet umstellen. Schick die stärkeren Digimon in den Norden, damit sie den Stiefel möglichst von der Landmasse abschneiden. Die Meeresdigimon sollen im Süden versuchen, in die Bucht zu kommen und den Seeweg blockieren.“ „Was hast du vor, Ken?“, fragte Wormmon. „Sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Das Saatkind hat all die Mühe auf sich genommen, so schweres Geschütz hierher zu schaffen.“ Dazu hatten sie sicherlich den Seeweg genommen. Es war auch ganz gut, dass sie hier in einem Patt saßen, wie er eben erkannt hatte. So hatte General Zephyrmon leichtes Spiel an der Front. Er strich sich mit einem leichten Lächeln das schulterlange Haar zurück. „Die anderen Menschen hoffen, dass sie ihre Digimon mit den ArmorEiern digitieren lassen können, darum sind sie alle hinter ihnen her. Uns bringt das Ei aber streng genommen gar nichts.“ Siehst du, Deemon? Wieder mal hat deine Idee, die Erinnerungen der DigiWelt zu ändern, eine unschöne Nebenwirkung für dich. „Es scheint so“, ertönte Deemons Stimme im Bruchteil einer Sekunde in seinen Gedanken. Wormmon besitzt nicht diese uralte Kraft, mit denen Digimon eine Armor-Digitation vollziehen können. Gabumon auch nicht. Die Einzigen, die das können, sind Veemon, Patamon, Gatomon, Armadillomon und Hawkmon. Auch die Saatkinder haben nichts von dem ArmorEi, wenn sie es nicht an meine Freunde weitergeben. „Ein legendäres Artefakt kann auch auf andere Weise nützlich sein“, schnarrte Deemon. „Hast du keine Angst, dass deine Feinde es als gutes Omen verwenden könnten, oder als Handelsgut oder Druckmittel?“ Das habe ich auch schon überlegt. Aber darum geht es nicht. „Ach nein?“ Das Saatkind will das Ei nicht nur deswegen, sondern auch, weil es hofft, dass sein Digimon damit digitieren kann. Somit hat es einen Grund mehr, es in die Finger zu bekommen, als ich. Wenn der Junge sieht, dass wir nichts unternehmen, um die Wölfe daran zu hindern, in die Pyramide einzudringen, wird er selbst gezwungen sein, zu handeln. Sonst ist er den ganzen Weg umsonst gekommen. Also haben wir immer noch den längeren Atem. Darauf antwortete Deemon nichts, und Ken fühlte ein leichtes Gefühl der Selbstzufriedenheit in sich aufwallen. Die Welt gewann wieder an Farbe; keine zwei Sekunden waren seit seiner gedanklichen Diskussion mit Deemon vergangen. DarkTyrannomon brüllte Befehle und im Lager ertönte Scheppern und Getrampel, als die Unteroffiziere den Digimon ihre neuen Positionen zuwiesen. „Wir haben zu wenige Digimon für eine vollständige Blockade“, brummte DarkTyrannomon. „Bitte um Entschuldigung, mein Kaiser. Aber wenn die Wölfe alle auf einmal mit dem Ei losrennen, können wir sie nicht aufhalten.“ „Keine Sorge. Der Einhornjunge muss seinen Zug machen und die Wölfe angreifen, sobald er merkt, dass wir nichts gegen seine Drimogemon unternommen haben. Egal, wer den Kampf gewinnt, wir haben es dann nur mehr mit einem geschwächten Gegner zu tun.“ Es sei denn … Plötzlich durchzuckte es Ken wie ein Blitz. Konnte es sein, dass … Ein heißer Schauer lief mit raschen Spinnenfüßchen über seinen Rücken. „Kommando zurück!“, befahl er atemlos. DarkTyrannomon sah ihn verständnislos an, gab dann aber seine Order weiter. „Was ist los, Ken?“, fragte Wormmon besorgt. Er starrte auf das Hologramm. Seine Hände fühlten sich zittrig an, als wäre er gerade drauf und dran gewesen, bei einem wichtigen Kartenspiel einen entscheidenden Fehler zu machen. Das war knapp. Fast hättest du mich erwischt, Deemon. „Ich frage mich, was du wohl damit meinst, Ken?“ Hämisch, es klang eindeutig hämisch! Mein Plan war ganz gut, aber ich habe eine Möglichkeit außer Acht gelassen. „Und die wäre?“ Du weißt, was ich meine. Was, wenn Matt sich mit dem Saatkind verbündet hat? Sie haben noch nicht gegeneinander gekämpft, seit sie hier sind. Es ist vielleicht unwahrscheinlich, aber wenn es stimmt, dann muss ich doch angreifen, sonst spazieren die Wölfe in die Pyramide, bergen das Ei und brechen ganz einfach durch unsere Blockade, die wir im Norden bilden wollen. Oder die Einhornarmee schnappt es sich und verzieht sich wieder über die Stiefelbucht ins Meer, die können wir in ihrer Gesamtheit auch nicht aufhalten. Sie hätten überhaupt keinen Aufwand gehabt, und ich stehe als Idiot da. Er knabberte erneut an seinem Handschuh, während er fieberhaft überlegte. Deemon lachte in seinen Gedanken. „Ich habe dir geschworen, dich nicht zu belügen, Ken. Also werde ich dir nicht sagen, ob die beiden verbündet sind oder nicht.“ Weißt du es denn? „Natürlich.“ Es klang wie durch ein Schmunzeln gesprochen. Im Lager wurde Murren laut, als DarkTyrannomon ein Handzeichen gab und die Digimon zurückgepfiffen wurden. „Neue Befehle, mein Kaiser?“ „Ja“, murrte Ken zerknirscht. „Nützlichkeit hin oder her, wir dürfen nicht riskieren, dass sie das Ei ohne Kampf erringen. Gib Befehl für eine Angriffsformation auf die Pyramide, aber warte mit dem Marschbefehl. Ich hoffe, mir fällt auf die Schnelle noch eine Ersatzstrategie ein.“ Bis dahin hängt es davon ab, wie gut ich meine Soldaten positioniere. Wormmon sah ihn besorgt an. „Warum machen sie sowas?“, flüsterte Yolei. „Wissen sie nicht, dass wir hier sind?“ „Natürlich wissen sie das“, gab Matt zurück. Sie konnten die beiden Drimogemon von ihrem Versteck hinter den tropischen Büschen gut sehen. Sie waren so eifrig am Bohren, dass sie die mächtige Steinplatte bald bezwungen haben würden. Es raschelte leise über ihnen. Unbemerkt wie ein Ninja hatte sich Shurimon durch den Wald geschlichen. „Die Armee des DigimonKaisers setzt sich in Bewegung“, berichtete es leise. „Sehr langsam aber.“ Matt nickte. Das hatte er erwartet; der DigimonKaiser würde ein ArmorEi nicht aufgeben, das auf seinem Gebiet lag. Er musste gar keinen Befehl geben. Kaum dass die ersten ogerartigen Fugamon unter lautem Gebrüll durch das Unterholz brachen und Zweige und Ranken mit ihren Keulen zerrissen, griffen seine Wölfe lautlos an. In einer Reihe tauchten die Garurumon und Kyuubimon das Waldstück in blaue Flammen. Fugamon brüllten, Fugamon starben, doch einige schafften es, behände über die Urwaldbäume zu klettern und dem Feuer zu entkommen. Die BlackGarurumon und Seasarmon nahmen sich ihrer an und taten ihr Möglichstes, sie mit ihren Fängen zu zermalmen. Den Fugamon folgten Schwarze Ringe auf dem Fuß. Wie ein Mückenschwarm kamen sie durch den Dschungel und hielten auf die Kämpfenden zu. Matts Giromon-Söldner, die ihn später noch einiges kosten würden, reagierten sofort. Die kleinen gehörnten Metallbälle waren verdammt flink und hielten sich aus allen Kämpfen raus. Einzig die Schwarzen Ringe vernichteten sie, das war die Vereinbarung. Ihre Motorsägen fraßen sich knirschend durch das dunkle Metall, dass Funken flogen. Matt warf einen Blick zu den Drimogemon. Es lief gut. Nur noch ein bisschen, und sie würden in den unteren Teil der Pyramide durchbrechen. In diesem Moment schnellten scheinbar aus dem Nichts lange, röhrenförmige Äste. Die Drimogemon brüllten stöhnend auf, als sie davon gepeitscht wurden. Matt wirbelte herum. Woodmon. Sie hatten sich angeschlichen wie Shurimon vorher, und dabei ihre natürliche Tarnung ausgenutzt. Zwischen den Bäumen, zu weit von der Pyramide weg, um sich um die Woodmon kümmern zu können, kämpften seine Wölfe immer noch erbittert. Felsenharte Rockmon waren erschienen und durch die immer höher lodernden Flammen getrampelt und hielten trotzig allen Angriffen stand. Knapp dahinter sah Matt durch die flimmernde Luft menschenähnliche Blumendigimon, die auf Höhe der größten Urwaldriesen schwebten und ein Stakkato aus Energiekugeln aus ihren Armen auf die Giromon-Söldner niedergehen ließen, die sich um die Ringe kümmerten. „Sie wollen die Giromon loswerden, damit sie unsere Digimon übernehmen können“, murmelte Matt düster. „Das darf auf keinen Fall passieren.“ „Dann werfen wir uns jetzt auch ins Getümmel“, verkündete Yolei, stand auf und strich ihre Uniform glatt. „Komm, Shurimon, wir übernehmen die Woodmon.“ Matt versuchte nicht, sie aufzuhalten, als sie mit ihrem Digimon auf die Pyramide zurannte. Wenn nur das Feuer höher lodern würde, dann könnten diese Pflanzendigimon nicht näherkommen … Er winkte ein freies Seasarmon zu sich. „Bildet eine Feuerwand!“, befahl er ihm. „Die Garurumon und Kyuubimon sollen in einer Linie alles anzünden, und die Gaogamon sollen das Feuer mit ihren Windstürmen weiter anfachen.“ Seasarmon nickte und trug den Befehl weiter zu den Kampflinien. So schnell, wie es wohl keine andere Armee der DigiWelt geschafft hätte, zogen sich die Ehernen Wölfe in einer geordneten Linie zurück und führten den Befehl mit größter Präzision aus. Keine zwei Minuten dauerte es, bis eine Wand aus Feuer, so hoch, dass sie selbst die beeindruckendsten Baumriesen erreichte, in einem weiten Halbkreis um die Maya-Pyramide aufwallte wie ein Seidentuch im Wind. Es war nicht einfach, diesen immerfeuchten, tropischen Wald anzuzünden, aber das geballte blaue Feuer seiner Digimon schaffte es tatsächlich. Die Fugamon und Rockmon, die noch vor der Wand waren und alles taten, um ihre Feinde aufzuhalten, wurden von den Zähnen der Seasarmon und den Rückenstacheln der BlackGarurumon aufs Korn genommen. Es dauerte nicht lange, bis das erste der zähen Rockmon sich röhrend in Datenstaub verwandelte. So weit, so gut. Matt warf einen Blick zu Yolei. Shurimons Wurfsterne hatten mühelos durch die Rinde der meisten Woodmon geschnitten, Yolei stand auf der zweiten Reihe der Stufenpyramide und feuerte ihr Digimon an. Die Drimogemon bluteten aus zahlreichen Schrammen, aber ihre Haut war dick genug. Sie gruben unermüdlich weiter. „Das war einfach“, fand Gabumon, das an Matts Seite geblieben war und von dem Busch aus die Lage überblickte. „Zu einfach“, murmelte er. Hinter der Mauer aus blauen und roten Flammen sah er sich bewegende Schemen, doch keines der Digimon traute sich, durch die infernalische Feuersbrunst zu marschieren. Ein triumphierender Schrei von Yolei ließ ihn herumfahren. Die Drimogemon waren durchgebrochen! Durch die Wolke aus Steinmehl konnte er das gut menschengroße Loch sehen, das sie in den Steinblock gebohrt hatten. Dann konnte es jetzt nicht mehr lange dauern, bis auch die Einhornarmee auf dem Schlachtfeld erschien. Just in diesem Moment gab es eine Serie von lauten Krachern. Drei Krater erschienen im Urwaldboden, aus denen die Zipfelmützen und Hämmer von je einem Grumblemon ragten. Dann schossen auch noch die beiden Pflanzenfrauen aus den Löchern, von denen Matt argwöhnte, dass sie mindestens auf dem Ultra-Level waren, und ließen einen Regen aus Pollen auf die Formation der Wölfe niedergehen. Matt fluchte. Der DigimonKaiser hatte einfach unter der Flammenwand hindurch graben lassen? Aber das konnte nicht sein. Der Boden war weich, ja, aber von Wurzelwerk durchzogen wie von einem Netz aus armdicken Seilen, und es war schwierig, Tunnel dort am Einstürzen zu hindern. Außerdem war es keine fünf Minuten her, dass die Wölfe den Wald in Brand gesetzt hatten … Matt lief ein Schweißtropfen über die Schläfe, und das lag nicht an der stickigen Hitze, die sein feuriger Halbkreis bis zu seinem Versteck hin verströmte. Der DigimonKaiser musste von Anfang an geplant haben, dass Matt einen Brand verursachen würde, um ihn zurückzuhalten. Deswegen hatten sich seine Truppen am Anfang auch so langsam bewegt – sie hatten sich zeitlich mit den Grumblemon abstimmen müssen, die noch vor dem Angriff unter ihnen zu graben begonnen hatten! Nicht nur das, sie hatten auch genau in vorgeschriebener Formation vorrücken müssen, sonst hätte das Gewicht der Rockmon gewiss bestimmte Tunnel einstürzen lassen. „Er ist schlauer, als ich dachte“, murmelte Matt. Die Ehernen Wölfe waren flink genug, um den langsam herabsinkenden Pollen zu entkommen, aber dafür mussten sie ihre Linie aufbrechen. Nur zwei Kyuubimon waren nicht schnell genug, um dem bunt schillernden Pollenregen zu entkommen. Als sie sich wie glitzernde Schneeflocken in ihr Fell setzten, blinzelten und knurrten die fuchsartigen Digimon mit den neun Schwänzen, dann sanken sie wie betrunken zu Boden. Mehr und mehr Digimon strömten aus den Tunneln, aber es waren wohlgemerkt alles kleine Fische. Gazimon, Mushroomon und Goblinmon, dafür in rauen Mengen, und sie wuselten so um die Wölfe herum, dass diese sich schwer taten, mehrere auf einen Schlag zu vernichten. Wenn diese lästigen Biester etwas bewirken konnten, dann nur, weil sie Matts gebrochene Reihen förmlich überschwemmten. In diesem Meer von Feinden war die größte Stärke der Ehernen Wölfe, ihre unbeschreibliche Wendigkeit, quasi wirkungslos. Explosive Pilze und Elektroschocks prasselten auf sie ein und hielten sie beschäftigt. „Verdammt“, fluchte Matt. „Wenn wir uns nicht bald zurückziehen …“ Sie könnten der Einhornarmee das Feld überlassen und sich solange erholen. Ja, das war ein guter Plan. „Maaaatt!“ Yoleis Ruf war kaum zu hören. Sie winkte ihm von der Stufenreihe knapp über dem neuen Eingang der Pyramide zu. „Wir gehen rein, ja?“ „Warte, Yolei!“, rief er ihr hinterher, als Shurimon sie auch schon schnappte und zwischen den massigen Leibern der Drimogemon in das Innere der Pyramide sprang, so flink, dass die Maulwurfsdigimon es nicht aufhalten konnten. „Vielleicht schafft sie es rechtzeitig“, murmelte Matt, auch wenn es ihm nicht schmeckte, dass jemand anderes als er das Ei zuerst fand. Aber besser sie als die Truppen des DigimonKaisers. Die Pflanzenfrauen schwebten nahe unter den Baumkronen, weit außerhalb der Reichweite seiner Wölfe, und schossen von dort ihre Energiekugeln herab. „Giromon!“, rief Gabumon eigenständig. „Wer diese Lilamon vernichtet, bekommt den dreifachen Sold!“ Die herumschwirrenden Söldner, die sich nach Vereinbarung aus dem Kampf heraushielten, blickten sich mit ihren Grinsefratzen an und machten sich dann an den Aufstieg in die Baumkronen – als wie aufs Stichwort ein neuer Schwall Schwarzer Ringe aus den Löchern in der Erde strömte. „Kommando zurück!“, brüllte Matt. „Nehmt euch zuerst die Ringe vor!“ Zwischen den wuselnden Leibern der kämpfenden Digimon bahnten sich die Ringe zu den Wölfen hindurch. Einige Garurumon und BlackGarurumon wurden erwischt, aber ihre Kameraden rissen ihnen die Ringe in wenigen Sekunden vom Leib, was für noch mehr Chaos in der Schlachtordnung sorgte. Die Giromon schwebten herab und schossen den Ringen zwischen den Kämpfenden nach wie Kanonenkugeln, um sie noch im Flug zu zerstören. Matt ballte die Fäuste. Wir haben die Söldner angeheuert, um die Schwarzen Ringe zu zerstören, aber jetzt benutzen sie die Ringe nur, um die Giromon zu beschäftigen. Nein, ruhig bleiben. Yolei ist in der Pyramide. Das DigiArmorEi gehört so gut wie uns. Hinten ihm rauschte und raschelte das Blattwerk. Die Einhörner waren da. Meramon strömten rechts und links von Matt vorbei. Hinter ihm stand ein mächtiger, knorriger Baum und auf den anderen drei Seiten versteckten ihn Büsche und riesige Wurzeln, daher bemerkten sie ihn nicht. Sie hielten auf das Schlachtfeld zu und schossen Feuerbälle mitten in die wogende Menge, trafen Wölfe und Häscher des Kaisers gleichzeitig. Den Meramon folgten schwerfällige Digitamamon und Revolvermon. Letztere schossen ebenfalls wie verrückt um sich, ohne wirklich selbst ins Visier der kämpfenden Digimon zu kommen. Die Einhornarmee hatte klar den Vorteil in dieser Schlacht. Weit über der Flammenwand, die merklich in sich zusammengesunken war, sah er einen Meteoritenschauer, der genau dort niederging, wo das Lager des DigimonKaisers liegen musste. Also hatte ein Teil der Truppen aus der Wüste den Kampfherd umgangen und fiel dem Kaiser in den Rücken. Das war eine gute Neuigkeit. Eine Bande Tapirmon, die auf einem Rumpf aus hellblauem Rauch schwebten, hielt direkt auf die Pyramide zu, die völlig ungedeckt dalag. Verdammt! Das war alles andere als gut. „Komm, Gabumon!“ Matt sprang auf, brach durch das Buschwerk und lief hinter den Reihen der Meramon und Revolvermon auf die Pyramide zu. Den brodelnden Hexenkessel, der weiter vorne tobte, konnte er kaum noch überblicken. Dort sah man nur noch fliegende Feuerbälle und Lichtkugeln und hörte sterbende Schreie und das Krachen von Revolvern. Er glaubte zu sehen, wie die Truppen des DigimonKaisers sich wieder feige in die Tunnel zurückzogen und die Wölfe mit den Einhörnern alleine ließen. Seine Füße trampelten über den Boden und hinterließen weiche Abdrücke darin. Shurimon konnte die Tapirmon höchstwahrscheinlich besiegen, aber er wollte kein Risiko eingehen. Wenn er Glück hatte, würde Gabumon mit dem ArmorEi digitieren und ihn hier herausschaffen. Sobald sie es hatten, würde er den sofortigen Rückzug befehlen – wo sich schon das nächste Problem auftat. Die Ehernen Wölfe waren auf der einen Seite von ihrer eigenen Feuerwand und auf der anderen von den Truppen unter dem Einhornbanner umgeben, und die Soldaten des Kaisers verstopften ihre Fluchttunnel. Sie waren eingekesselt, was für die wendigen Vierbeinerdigimon eine absolute Neuheit war – normalerweise kämpften sie auf offenem Feld, wo sie viele Rückzugsmöglichkeiten hatten. Verdammt, wie war Matt nur so dermaßen in die Enge getrieben worden?! Egal, das musste warten. Das DigiArmorEi ging vor, ohne es wäre das hier alles bedeutungslos gewesen. Es ging nicht länger um Mimi. Er musste es haben, um seinen Kameraden hernach noch in die Augen sehen zu können. Er hatte die Pyramide fast erreicht. Verlorene Feuerbälle vom Schlachtfeld prasselten auf ihre Stufen nieder und das ferne Leuchten der Meteoriten und das Flackern der Schatten in dem sonst so düsteren Urwald erweckten einen Eindruck von Chaos … und grenzenlosem Wahnsinn. Das, und die beständigen Schreie der kämpfenden und sterbenden Digimon. Rings um die Stufenpyramide klebten bereits Glutnester im Boden wie Parasiten. Das ist jetzt ein Feuertempel, ging ihm durch den Kopf. Dieser Teil der DigiWelt hat nie so viel Feuer gesehen wie heute. Eines der Tapirmon bemerkte ihn und drehte sich um, doch noch ehe es ihn angreifen konnte, schloss sich Gabumons blaues Feuer wie ein Greifarm um seine Schnauze und ließ es brennend zu Boden fallen, wo es sich umherwälzte. Die anderen hatten es plötzlich eilig, den Durchbruch in der Steinplatte zu erreichen, und stampfenden Schrittes kamen Matt die Drimogemon mit gesenkten Hornbohrern entgegen. Er würde eine gehörige Portion Glück brauchen, um nicht von ihnen … Direkt vor der Basis der Pyramide, zwischen den massigen Leibern der Drimogemon, bracht mit lautem Getöse die Erde auf. Gleich drei Hämmer drehten sich wie Kreisel, um den Tunnel zu festigen, dann sprangen die drei Grumblemon hervor. Im nächste Moment spuckte das Loch in der Erde kleine Blumendigimon aus – Floramon. Matt hielt inne, die Tapirmon quietschten, als die Floramon eine Wolke aus gelben Pollen aus ihren Händen fließen ließen. Sie huschten verängstigt hin und her, ehe sie in süßen Schlummer versanken. Matt hielt sich vorsorglich den Ärmel seines grauen Mantels vor die Nase und sah, wie Gabumon ebenfalls die Luft anhielt. Die Pollenwolke war so dicht, dass sogar eines der Drimogemon wankte und polternd zusammensackte. Dem zweiten donnerte ein Grumblemon den Hammer so hart gegen die Schläfe, dass es grunzend umfiel wie ein Stein und bewusstlos liegen blieb. Als sich die Wolke gelegt hatte, atmeten die Digimon tief durch, und dann kletterte noch eine Gestalt aus dem Tunnel. Matt biss die Zähne aufeinander. Da war er. Er war persönlich gekommen … Der DigimonKaiser schüttelte Erde von seinem blauen Umhang und ihre Blicke trafen sich. Seine Miene war ausdruckslos, seine Augen konnte Matt unter der Brille nicht erkennen. Auf seiner Schulter hockte ein Wormmon. Schließlich machte der DigimonKaiser eine Handbewegung und wandte sich um. Mit wehendem Mantel lief er in die Pyramide, gefolgt von den drei Grumblemon. Matt knirschte mit den Zähnen. Er hatte also noch einen Tunnel gegraben und war sogar selbst bereit, sich in Gefahr zu begeben! Er hatte den DigimonKaiser gewaltig unterschätzt. Er und Gabumon wollten ihm folgen, aber die Floramon stellten sich ihm mit grimmigen Gesichtern in den Weg. Keines davon trug einen Schwarzen Ring, sie schienen das freiwillig zu machen. Es waren mindestens zwanzig, und ihre Pollen würden ausreichen, um ihn ein Jahr lang in Schlaf zu versetzen … „Wir haben keine Wahl“, murmelte er. „Los, Gabumon.“ Wieder rannten sie los, und eine Pollenwolke verhüllte ihnen die Sicht. Gabumon spie eine blaue Stichflamme, die die Sicht wieder ein wenig klärte und die Blütenblätter der Floramon ansengte. Sie konnten es schaffen, wenn sie nur lange genug die Luft anhalten konnten … Was leichter gesagt als getan war, da Matt von seinem Sprint hierher noch ganz außer Atem war. Er schlug mit bloßen Fäusten um sich und warf die Floramon aus dem Weg, die er erwischte, andere trampelte er einfach nieder. Sein Blick fiel in das Loch, durch das sie gekommen waren. Jetzt wusste er, warum die Tunnel in diesem Boden hielten. Weiße Fäden bedeckten die Stollenwände, ein klebriges Netz, für das sicher dieses Wormmon verantwortlich war. Er hat alles genau geplant, schoss es Matt durch den Kopf. Ich brauche viel Glück, um ihn zu erwischen … Das gefällt mir gar nicht. Mit einem Hechtsprung warf er sich durch die Einbruchstelle in der Pyramidenmauer, dicht gefolgt von Gabumon. Im Inneren der Pyramide war es dunkel, und bei all der Aufregung hatte Yolei vergessen, eine Fackel oder Lampe mitzunehmen. Alles, was sie hatte, war eine Packung Streichhölzer, die sie für gewöhnlich benutzte, um die Öllampe in ihrer Kammer in Little Edo anzuzünden. Die wohlgemerkt ebenfalls brav dort stand und nicht etwa den Weg in ihre Tasche gefunden hatte. Yolei seufzte und ließ einen der roten Köpfe zischend entflammen. Sie sah kaum zwei Schritte weit, alles Weitere verschlang die Düsternis. Der Boden war reich mit Rillen verziert und leuchtete im Licht der Flamme kupferfarben. Die Luft roch süßlich wie Cremetorte, aber das Gas schien sich weit genug verteilt zu haben, um nicht mehr giftig zu sein. Zum Glück. Sie ging geradeaus und kam zu dem kleinen Podest, wo die indianischen Verzierungen immer pompösere Ausmaße annahmen. Das ArmorEi lag aber nicht mehr dort. Yolei fluchte, als die Flamme ihre Finger erreichte, und schüttelte das Streichholz aus. Grimmig riss sie ein neues an. „Du solltest sparsam damit umgehen“, meinte Shurimon. „Ach was, das geht schon.“ So schnell sie konnte, ohne die Flamme zu löschen, ging sie den quadratischen Raum ab. Keine Spur von dem Ei oder Revolvermon, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Was bei letzterem natürlich sehr gut der Fall sein konnte. „Ist dieses Revolvermon etwa noch tiefer in die Pyramide reingelaufen?“, murmelte sie genervt. Sie stießen auf ein finsteres Loch in einer der Seitenwände. Niedrige, steinerne Stufen führten nach unten. Sie sah Shurimon fragend an; im Licht des Zündholzes wirkte sein vermummtes Gesicht wirklich unheimlich. Es nickte. Mit einem klammen Gefühl und bangem Herzklopfen tappten sie den Gang entlang. Nach wenigen Metern wurde er von einer Steinplatte blockiert. Yolei tastete die Ränder ab; glatt und akkurat angefertigt. Sie brauchte ein neues Streichholz, um sich die Schaltfläche daneben ansehen zu können. auf der Wand war eine Art Uhr angebracht; eine steinerne Scheibe, die in mehrere Sektoren unterteilt war, wie eine angeschnittene Torte. Es gab nur einen Zeiger; ein klobiges Dreieck aus Sandstein, das sie in einer Schiene rund um das Ziffernblatt schieben konnte. Sie probierte ein wenig herum, und als der Zeiger nach rechts oben zeigte, rumpelte und scharrte es und die steinerne Tür glitt nach oben. Zufrieden wollte Yolei loslassen, als sie merkte, dass der Zeiger langsam wieder in seine Ursprungsposition zurückglitt, als würde er mit einem Magnet dorthin gezogen werden. Die Tür war verschlossen, aber dahinter musste Revolvermon sein; das konnte nur bedeuteten, dass sie ebenfalls eingesperrt werden würde, wenn der Zeiger nicht auf dem richtigen Feld blieb. Yolei ließ Shurimon mit seinen Wurfsternen etwas Steinmehl von den Wänden abkratzen, befeuchtete es mit Spucke und stopfte den weichen Klumpen dann in die Laufschiene des steinernen Zeigers. Nun steckte er wirklich fest. Da sollte noch mal jemand sagen, dass sie sich nicht zu helfen wüsste! Das Streichholz erlosch abermals, als sie den Weg die Stufen hinab fortsetzten, und Yolei beschloss, diesmal kein neues zu entzünden. Sobald sie irgendwo ankamen, würde sie wieder Licht machen. Sie fühlte sich, als müsste sie in der schweren, dicken Dunkelheit ersticken. Nur ihre Soldatenstiefel klackerten wieder einmal laut auf den Stufen, das einzige vertraute Geräusch hier. Schließlich änderte sich das Echo und ein vorsichtiges Tasten mit dem Fuß verriet Yolei, dass sie das Ende der Treppe erreicht hatte. Sie waren mindestens zwanzig Meter unter Tage – waren sie überhaupt noch unter der Pyramide? Als sie ein neues Streichholz entzündete, stockte ihr der Atem. Der unterirdische Raum war riesig, das spürte sie. Die Decke konnte sie nicht sehen – auch nicht den Grund; einen halben Meter neben ihren Füßen gab es keinen Boden mehr. Eine einsame, zwei Meter breite Steinbrücke spannte sich über den Abgrund, und nur einen Schritt von ihr entfernt ragten armlange, rostige Metallspitzen daraus hervor. Yolei schluckte und beugte sich so weit nach vorn, wie es ging, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Dort vorne in den Schatten glitzerte etwas. Das DigiArmorEi. Revolvermon hatte sich zwar an dem Gas vergiftet, war aber bis hierher gekommen, hatte offenbar eine Druckplatte ausgelöst und war aufgespießt worden. Keine Datenreste waren von ihm übrig geblieben. „Überlass das mir, Yolei“, sagte Shurimon, nahm den gigantischen Wurfstern von seinem Rücken und schleuderte ihn nahe am Boden über die Steinbrücke. Knirschend mähte der rasch rotierende Shuriken die alten, rostigen Stacheln ab, machte am Ende der Brücke eine Kehre und flog wieder in Shurimons Arme zurück. „Super gemacht, Shurimon!“ Aufgeregt lief Yolei auf das glitzernde Ding zu. „Sei vorsichtig, da können immer noch Fallen sein, die Revolvermon nicht ausgelöst hat!“, versuchte ihr Partner sie zurückzuhalten, aber da hatte sie das Ei schon gefunden und aufgehoben. „Bingo, das ist es! Obwohl es irgendwie gar nicht aussieht, wie ein Ei …“ Es war eher eine Art Kappe mit zwei flügelartigen Klingen an der Seite und fühlte sich kühl und hart wie Eisen an. Auf der Vorderseite war ein kunstvolles, kopfstehendes Herz eingraviert. „Sehr gut, dann auf zu …“ „Psst!“, herrschte Shurimon sie an, und sie verstummte. Schritte, da waren eindeutig Schritte. Sie schüttelte ihr Streichholz aus, das sowieso schon wieder versuchte, ihr die Finger zu verbrennen, aber es wurde nicht dunkel. Heller, weißer Lichtschein kam die Treppe herunter, ließ die Schatten wandern, bis das Licht direkt vor ihnen war und sie blendete. Es war ein Mensch, und sie erkannte auch sogleich, dass es nicht irgendeiner war. Vor ihr stand der DigimonKaiser, in seinem blauen Cape und dem ungewöhnlichem Anzug, den schwarzen Handschuhen und Stiefeln, der goldenen, getönten Brille und dem dunklen Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. In der Hand hielt er eine Art Leuchtstab, von dem das gleißende Licht ausging, das den ganzen Raum ausfüllte und sie erstmals die Seitenwände sehen ließ, gut fünf Meter jenseits der Brücke. Begleitet wurde er von drei hinterhältig aussehenden Grumblemon und einem Wormmon, das auf seiner Schulter saß. Shurimon stellte sich schützend vor sie und breitete die klingenbewehrten Arme aus. Sie meinte, den Blick des DigimonKaisers auf sich zu fühlen. „Wir müssen nicht kämpfen, Yolei“, sagte er. Seine Stimme hallte mit einem schaurigen Echo wider, aber sie klang sanft, gar nicht so, wie sie es sich bei einem machtsüchtigen Imperator vorgestellt hätte. „Woher … woher kennst du meinen Namen?“, fragte sie überrascht. Sie meinte zu sehen, wie seine Gesichtszüge weicher wurden. „Ich weiß eine Menge über dich.“ „Du willst das hier, richtig?“ Yolei hielt das ArmorEi hoch und versteckte es dann hinter ihrem Rücken. „Ich werde es dir niemals überlassen. Eher werfe ich es in den Abgrund!“ „Nur zu, ich habe nichts dagegen“, sagte er, ruhig lächelnd, und verdutzte sie damit abermals. Dann seufzte er. „Ich habe genug von dieser Farce, Yolei. Erinnerst du dich wirklich nicht an mich?“ „Erinnern?“ Soweit sie sich entsinnen konnte, war dies das erste Mal, dass sie ihm begegnete. Vorher hatte sie sich nur mit seinen Lakaien herumgeschlagen. Der DigimonKaiser nahm die Brille ab. Dunkelblaue Augen wie Meerestiefen blickten ihr entgegen. Er lächelte sie schwach an und streckte die Hand aus. „Komm mit mir. Ich werde dir alles erklären.“ Yolei runzelte finster die Stirn. „Warum sollte ich mitkommen? Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Du hast es nur auf das Ei abgesehen, oder?“ Er seufzte. War er traurig? Nein, das war eindeutig gespielt. Ein kleiner Apparat an seinem Handgelenk gab ein knackendes Geräusch von sich. „Eure Majestät, unser Lager wird angegriffen“, grollte eine Stimme, blechern und über das Rauschen schwer zu verstehen. „Was sollen wir tun?“ „Haltet die Stellung, ich bin bald bei euch“, sagte der DigimonKaiser in Befehlston und wandte sich dann wieder Yolei zu. „Also erinnerst du dich wirklich nicht.“ „Ich hab dich noch nie im Leben gesehen! Also wovon redest du überhaupt?“ Misstrauisch musterte sie sein Gesicht. Nein, sie kannte es nicht … und doch … und doch … irgendetwas daran war … merkwürdig. Anders konnte sie es nicht sagen. Sie verschränkte trotzig die Arme. „Davon, dass wir einmal Freunde waren.“ Es klang gar nicht, als ob er es zu ihr sagte, viel eher murmelte er es so vor sich hin. Sie starrte ihn nur verständnislos an. Für einen Trick ging er wirklich weit. „Tut mir leid, aber das wüsste ich ja wohl“, sagte sie patzig. „Eben nicht. Deemon hat deine Erinnerungen geändert, ebenso die aller anderen.“ „Es hat keinen Sinn, Ken“, murmelte das kleine Wormmon auf seiner Schulter niedergeschlagen. „Ich muss es wenigstens versuchen.“ „Hör nicht länger auf ihn, Yolei“, sagte Shurimon und spannte seine Sprungfederarme an. „Wenn du das Signal gibst, werde ich angreifen.“ „Du wirst seine Majestät nicht unterbrechen“, warnte eines der Grumblemon und die drei schwenkten drohend ihre Hämmer.  „Gib mir eine Chance, es dir zu erklären“, fuhr der Kaiser unbeirrbar fort. „Wenn du willst, verzichte ich auf das Ei. Du kannst es behalten, es ist sowieso deines. Aber vorher hör mir bitte zu, Miyako.“ Sie starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Woher zum Teufel wusste er diesen Namen? Seit sie Söldnerin geworden war, war sie überall nur als Yolei bekannt. Ihren echten Namen kannten nur Hawkmon, Mimi und Palmon, und ein paar ihrer engsten Freunde. Und dieser Joe von den Zuverlässigen, dem sie ihn leicht betrunken verraten hatte. „Du …“, murmelte sie. „Was weißt du sonst noch über mich?“ Er schenkte ihr ein warmes Lächeln und schien in Erinnerungen zu versinken. „Vieles. Du bist ein richtiger Wirbelwind, kannst nie lange still sitzen oder den Mund halten. Du bist neugierig, fröhlich und kennst dich gut mit Technik aus. Deine Eltern besitzen einen kleinen Supermarkt, und du musst dich immer gegen deine Geschwister durchsetzen. Du …“ „Ha!“, unterbrach sie ihn. „Ich bin ein Einzelkind! Und meine Eltern habe ich nie kennen gelernt!“ Sein Lächeln war unerschütterlich. Er streckte ihr abermals die Hand hin, aber diesmal schien sie nicht das ArmorEi zu erwarten, sondern ihre, Yoleis Hand. „Wenn du mit mir kommst und mir zur Seite stehst, wirst du sie kennen lernen.“ Sie starrte ihn eine geschlagene Sekunde an, das ArmorEi immer noch so fest in der Hand, dass sich die scharfen Kanten schmerzhaft in ihre Handfläche gruben, als eine weitere Stimme erklang. „Hör nicht auf ihn, Yolei.“ „Matt!“, rief sie erfreut aus. Er und Gabumon standen hinter dem DigimonKaiser und seinen Soldaten am Fuße der Treppe. Matt sah außer Atem aus. „Du hast es also an den Floramon vorbeigeschafft?“, stellte der Kaiser fest. Ein Grumblemon drehte sich knurrend zu ihm um. Matt antwortete nicht, aber er sah wütend aus. „Das Spiel ist aus, DigimonKaiser!“, sagte Gabumon erregt, riss das Maul auf und eine blaue Stichflamme schoss daraus hervor. Das Grumblemon sprang in die Höhe und wehrte das Feuer mit seinem Hammer knapp vor dem Gesicht des DigimonKaisers ab. „So ist das also“, murmelte dieser. „Gut. Seht zu, dass den Menschen nichts passiert. Ich will alle vier als Geiseln.“ „Zu Befehl!“, riefen die Grumblemon wie aus einem Munde, und der Tanz ging los. Das eine Grumblemon ging auf Matt los und ließ seinen Hammer so heftig niederdonnern, dass Risse den Boden durchzogen, als er zurücksprang. Gabumon warf sich dazwischen, aber es wurde einfach aus dem Weg gestoßen. Die beiden anderen Gnome stürzten sich auf Shurimon, das mit seinen Shuriken-Händen den ersten Hammerschlag parierte, mit seinen Sprungfedern auf Distanz ging und seinen großen Wurfstern schleuderte. Das Grumblemon quiekte auf, als sein Bauch durchbohrt und es an die Wand geheftet wurde, wo es sich in einen Datenwirbel auflöste. Dann war das zweite heran und traf Shurimon gegen die Schulter und schleudert es zu Boden. „Shurimon!“, rief Yolei und wollte zu ihm laufen. „Bleib weg, Yolei!“ Ihr Partner rollte sich herum und fing den nächsten Schlag wieder mit den Händen auf. Die beiden Digimon rangen miteinander, versuchten jeder, den Hammer zum jeweils anderen zu drücken. „Plan B, Wormmon“, sagte der DigimonKaiser. „Was …?“ Yolei sah sich gerade nach ihm um, als ihr ein weißes, im Licht feucht schimmerndes Netz aus dem Mund des kleinen Raupendigimons entgegenflog. Mit einem unterdrückten Schrei wurde sie davon umgerissen. Das DigiArmorEi entglitt ihr und schlitterte über den Boden. Ihre Arme und Beine verfingen sich sofort in den klebrigen Maschen. Sie strampelte, verstrickte sich aber nur noch mehr in dem Netz. Hilfesuchend fiel ihr Blick auf Matt. Der hatte alle Hände voll zu tun, nicht dem hammerschwingenden Grumblemon auf der anderen Seite der Brücke zum Opfer zu fallen. Gabumon krümmte sich auf dem Boden, offenbar verletzt, und als Matt sich barhändig auf den Gnom warf, schüttelte der ihn ab und verpasste ihm einen Stoß, der ihn über den Rand der Brücke warf. Yoleis Herz ließ einen Schlag aus. Dann sah sie, dass Matt sich noch an die Kante klammerte und versuchte, sich hochzuziehen. Fies grinsend kam das Grumblemon auf ihn zu und wiegte den Hammer in der Hand. „Matt!“, rief sie aus voller Kehle. „Pass auf!“ „Lass ihn in Ruhe, Grumblemon. Kümmere dich um sein Digimon“, schallte die herrische Stimme des DigimonKaisers durch den Raum. Er war auf das ArmorEi zugetreten und hob es eben auf. „Das nehme ich.“ „Gib – es – sofort – wieder – her!“, wütete Yolei zornig in ihrem Netz. „Shurimon!“ Aber von Shurimon sah sie nur noch ein gelbes Leuchten, als es wieder zu Hawkmon wurde. Es hatte das stille Ringen verloren und war von Grumblemons Hammer getroffen worden. Ächzend zog sich Matt über die Brückenkante und Yolei atmete erleichtert auf. Der DigimonKaiser ging auf ihn zu. „Ich schätze, du wirst auch nicht freiwillig mit mir kommen?“ Matt keuchte nur, aber der Blick, mit dem er ihn maß, sprach Bände. Wormmon holte Luft und spie auch ein Netz auf ihn – das von einer blauen Flamme von Gabumon noch im Flug verbrannt wurde. Als Strafe stieß das andere Grumblemon dem Digimon den Hammer in den Magen. „Du verdammter …“, murmelte Matt – und ging plötzlich eigenhändig auf den DigimonKaiser los. Völlig überrascht steckte der eine Backpfeife ein, die ihn zurücktaumeln ließ. Die Leuchtröhre kullerte über die Brücke, ließ Schatten tanzen und blieb an der Kippe liegen. Matt setzte dem Kaiser nach und ließ gleich zwei weitere Schläge folgen. Einer davon schleuderte Wormmon von seiner Schulter. Der DigimonKaiser hob erst abwehrend die Hände, dann setzte er knurrend zum Gegenangriff an, aber offenbar war er kein geübter Kämpfer. Matt fing seine Faust mit der Handfläche ab und rammte ihm das Knie in die Magengrube. Keuchend und würgend ging der DigimonKaiser in die Knie und umklammerte seinen Bauch. „Hast du genug?“, fragte Matt überheblich. „Matt, hinter dir!“, schrie Yolei und zappelte einmal mehr vergeblich in ihrem Netz. Noch ehe Matt sich umdrehen konnte, bekam er den Stiel von Grumblemons Hammer in den Rücken, was ihn ebenfalls taumeln ließ – gefährlich nahe am Abgrund. Er wäre gestürzt, hätte nicht der DigimonKaiser – ausgerechnet der DigimonKaiser! – geistesgegenwärtig seinen Arm gepackt und ihn zurückgerissen. Schwer atmend kamen beide wieder auf die Beine, Grumblemon trieb Matt von dem Kaiser fort. „Das hättest du nicht tun sollen“, murmelte der Eherne Wolf düster. „Yolei, das Ei!“, rief Hawkmon. Yolei, in deren Kopf sich bereits alles drehte, warf einen Blick auf das metallisch funkelnde DigiArmorEi, das zu Boden gefallen war, dann auf Hawkmon, das unter dem Fuß des anderen Grumblemons lag und eben seine Feder aus dem Stirnband zog. Sie verstand. Die Feder zeichnete eine verschwommene Linie durch die Luft und zerschnitt zielgenau den größten Teil von Yoleis Netz. Sie sprang auf, riss sich die letzten klebrigen Fäden vom Leib, der DigimonKaiser bückte sich nach dem ArmorEi, sie rannte auch darauf zu, er nahm es in die Hand … und sie warf sich einfach gegen ihn. Völlig überrascht verlor er das Gleichgewicht und die beiden rollten sich, ineinander verkeilt, über die Brücke, bis sie auf ihm saß. Der Blick, mit dem er sie maß, irritierte sie. Er war so ehrlich, so traurig und so … flehend. Nein, nein, nicht flehend, gierig, gierig! Er war ein übler Schuft, auch wenn er tausendmal sagte, dass er ihr Freund sei, er hatte den Angriff auf Mimis Shogunat befohlen und sie mit dem Schwarzen Ring ausspioniert, hatte allein in dieser Schlacht mehr Digimon auf dem Gewissen, als sie je kennen gelernt hatte, sorgte überall in der DigiWelt für Gerüchte und schreckliche Geschichten, und, und, und … „Du … Vollidiot! Elender, elender Vollidiot!“ Bei jedem Wort schlug sie ihm mit der flachen Hand auf die Wange und wusste nicht, weshalb sie plötzlich Tränen in den Augen hatte. „Ich wollte diesen Krieg nie“, murmelte er, als sie endlich innehielt. Seine Wangen waren beide dunkelrot. „Ich will ihn nur beenden, das musst du mir glauben. Um die DigiWelt zu retten. Und dich und unsere Freunde.“ „Halt den Mund!“, schrie sie, schloss die brennenden Augen und als sie erneut ausholte, verkrampfte sich ihre Hand zur Faust. „Schluss damit, Kleine, sonst verarbeite ich diesen Kümmerling hier zu Matsch“, schnarrte eines der Grumblemon. Erschrocken sah sie sich um. Das Digimon stand immer noch mit einem Fuß auf Hawkmon, das panisch mit den Flügeln flatterte, und hatte den langstieligen Hammer weit über dem Kopf erhoben. „Runter von seiner Majestät, wird’s bald?“ Yolei biss die Zähne zusammen und erhob sich zerknirscht. „Brav, meine Süße“, grinste Grumblemon. „So, was stelle ich jetzt am besten mit diesem Vogel an?“ „Du hast gesagt, dass du ihn freilässt!“, rief Yolei aufgelöst. „Hab ich nicht, das wüsste ich.“ Der DigimonKaiser rappelte sich ebenfalls auf. „So etwas habe ich nicht befohlen“, sagte er kalt zu Grumblemon. „Nimm sofort den Hammer runter, das ist ein Befehl.“ Grummelnd gehorchte das Digimon. Yolei wurde nicht schlau aus ihm. Erst rettete er Matt, jetzt Hawkmon, und trotzdem kämpfte er gegen sie? „Widerstand ist zwecklos. Gebt mir eure DigiVices und kommt mit mir. Ich will keinem von euch etwas tun, das schwöre ich.“ Er klang noch eindringlicher als vorher. Wieder knackte es am Armband des DigimonKaisers. Diesmal klang die Stimme noch gehetzter als vorher. „Majestät, der Turm! Diese verdammten Starmon haben den Turm zerstört, wir können …“ Dann war nur noch ein Krachen und dann wieder Rauschen zu hören. Die Lippen des DigimonKaisers bewegten sich in einem stummen Fluch. Er packte das ArmorEi fest und wandte sich mit wehendem Umhang um. „Wir gehen, Wormmon.“ Yolei meinte, seine Stimme zittern zu hören. Kaum dass Wormmon wieder auf seine Schulter gehüpft war, rannte er los. „Nicht so schnell! Gabumon!“, rief Matt, sein strahlendes DigiVice von sich gestreckt. „Jederzeit!“ Gabumon, das immer noch bei dem Grumblemon nahe der Stiege lag, sprang auf die Beine – und wurde in einem Schwall gleißenden Lichts zu einem MetallGarurumon. Yolei blieb der Mund offen stehen. Jetzt wusste sie, warum Matt sich und seine Digimon die Ehernen Wölfe nannte. Das eine Grumblemon überwand seinen Schock ziemlich schnell, hob den Hammer – und wurde von einem Schwall flüssigen Eises aus MetallGarurumons Maul in Staub verwandelt. Zwei blaue Strahlen aus dessen Schnauze bohrten sich durch den Raum und vernichteten den zweiten Gnom, der nicht einmal zum Schreien kam. Dann stellte der eiserne Wolf sich den beiden Flüchtenden entgegen und öffnete erneut das glühende Maul. Der DigimonKaiser zückte ein DigiVice. Yolei meinte ihren Augen nicht trauen zu können. Er hatte so etwas? Wormmon verwandelte sich in einen goldgelben Schatten, und als das Licht verschwand, saß plötzlich der DigimonKaiser auf der Schulter eines Stingmons, dessen grüner Panzer im bleichen Licht schimmerte. Seine Insektenflügel surrten, als es schnell wie der Wind um MetallGarurumon herumflog, seiner Attacke auswich und die Treppe nach oben sauste. „Ihnen nach!“, rief Yolei, packte Hawkmons Flügel und schwang sich mit ihm auf MetallGarurumons Rücken. Matt saß nur eine halbe Sekunde später vor ihnen und der Wolf stürmte los. Der Gang war gerade und das Flügelsirren direkt vor ihnen. Erneut spie MetallGarurumon einen Eisschwall, doch in dem Moment passierte Stingmon die Steintür. Der DigimonKaiser bewegte den Uhrzeiger und die Platte donnerte hinunter, das Eis klatschte dagegen und hinterließ nur Kälte. Yolei kniff die Augen zusammen, als MetallGarurumon mit voller Wucht gegen die vereiste Steinplatte prallte und sie in tausend Splitter zerbarst. Stingmon war bereits im Hauptraum um die Ecke geflogen. Sie folgten ihm hinaus aus der Pyramide. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und alles war in Schatten getaucht. „Da oben!“, rief Yolei. MetallGarurumon stieß sich ab und rauschte mit eingeschaltetem Jetantrieb in den bleigrauen Himmel. Sie waren schneller als Stingmon. Yolei verstand immer noch nicht, warum der DigimonKaiser auch ein DigiVice besaß. Er konnte sein Digimon wohl nicht unter dem Einfluss eines Schwarzen Turms digitieren lassen, also warum baute er die Türme dann überhaupt? In MetallGarurumons Körper öffneten sich Dutzende Kanonenrohre und Raketenöffnungen und feuerten Stingmon eine verheerende Salve hinterher. Das Insektendigimon wich in einem halsbrecherischen Manöver aus, aber sie kamen jetzt so nahe an es heran, dass Yolei sehen konnte, dass der DigimonKaiser sich mit einer Hand in dessen rötliches Haar gekrallt hatte, um nicht abgeworfen zu werden. „Gleich haben wir ihn!“, rief Yolei, als etwas MetallGarurumons Flanke traf und sie alle aufschreien ließ. Das Digimon kam ins Taumeln, ehe es seinen Kurs korrigierte. „Was war das?“, schrie Matt über den Flugwind hinweg. „Dieses riesige Digimon von der Einhornarmee“, knurrte der Wolf. Yolei warf einen Blick nach unten und hätte es fast bereut. Unter ihr breitete sich der Dschungel satt und grün und verschlungen aus, und dort, auf einer gerodeten Fläche, scheinbar endlos weit entfernt, stand ein Digimon, so massiv und metallisch wie ein Panzer und langgezogen wie eine Eidechse. Aus zwei Raketenwerfern auf seinen Schultern feuerte es eine neuerliche, gestreute Salve in den Himmel. „Festhalten!“, rief Matt und klammerte sich an MetallGarurumons Hals, Yolei dann um Matts Hüfte, wobei sie Hawkmon fest in die Arme nahm. MetallGarurumon flog Loopings, die jeder Achterbahn zur Ehre gereicht hätte, verlor aber dadurch sein Ziel aus den Augen. Als sie endlich außer Reichweite waren und der Beschuss aufhörte, flog Stingmon schräg über ihnen. „Hawkmon, kannst du noch zu Aquilamon digitieren?“, rief Yolei. Der Wind zerrte an ihrem Haar; ihr Zopf war aufgegangen. „Ich habe eine bessere Idee.“ Hawkmon löste die Feder aus seinem Stirnband, wartete, bis MetallGarurumon Stingmon überholt hatte, und schleuderte sie dann aufwärts, die Breitseite zuvorderst, sodass sie auf keinen Luftwiderstand traf und durch den Fahrtwind schnitt wie ein heißes Messer durch Butter. Kurz verlor Yolei das Geschoss aus den Augen, dann meinte sie, Blutstropfen durch die Luft fliegen zu sehen. Schließlich erhaschte sie wieder einen Blick auf den DigimonKaiser, der das Gesicht verzerrt hatte, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der sich im Wind verlor, und seine blutende Hand umklammerte. Das ArmorEi stürzte wie ein gefallener Stern nach unten in den Dschungel. Stingmon drehte nach Norden ab. „Hinterher“, rief Matt und sie flogen eine steile Kurve. Fast hatten sie ihn erneut eingeholt, als mit Stingmon etwas nicht stimmte. Das Digimon glühte auf und wurde wieder zu Wormmon, und wie zwei Bälle, die jemand geworfen hatte, stürzten es und der DigimonKaiser ab. „Halt! Stopp! Nicht weiterfliegen!“, kreischte Yolei und MetallGarurumon zog einen neuerlichen Looping, um den Schwung zu verbrauchen. Dabei verschoss es eine einzelne Rakete aus seiner Bauchklappe, doch ehe sie die beiden traf, wurden der DigimonKaiser und Wormmon sanft von einem urplötzlich aufgetauchten Airdramon aufgefangen. Schlängelnd brachte es sie weiter nach Norden. „Sollen wir ihnen nicht folgen?“, grollte MetallGarurumon. „Nein, da vorn beginnt ein neues Gebiet. Ein Gebiet mit einem Schwarzen Turm.“ Yolei strich sich zittrig die Haare aus dem Gesicht, die ihr verschwitzt auf der Haut klebten. „Wenn wir ihm folgen, stürzen wir auch ab.“ „Yolei hat recht“, murmelte Matt, als sie ruhiger in Spiralen zu Boden flogen. „Dabei hatten wir ihn fast …“ „Mach dir nichts draus“, meinte Yolei lächelnd. „Dafür haben wir das ArmorEi. Das war ja eigentlich unser Ziel, oder?“ Aber sie sah ihm an, dass er in diesem Moment lieber den DigimonKaiser geschnappt hätte als dieses lächerliche Geschenk für Mimi. Fire in our hearts, the evil rages on for evermore Burning in the cold, the battle rages now (Dragonforce – Storming The Burning Fields) Kapitel 14: Zug und Gegenzug ---------------------------- Tag 35 Der Schmerz in seiner Hand pochte, aber schlimmer war das Pochen der Niederlage. Hawkmons Feder hatte seine Handfläche durchbohrt. Er konnte von Glück reden, wenn keine Sehne oder ein wichtiger Muskel ernsthaft verletzt war. Der Schmerz wollte ihn wohl glauben machen, ihm würde gleich die ganze Hand abfallen, gleich wie fest er den Saum seines Umhangs um die Wunde wickelte. Den man nach der Expedition in die Maya-Pyramide auch nicht mehr gerade als sauber bezeichnen konnte. Dennoch war das nichts gegen die Verluste, die er heute hatte einstecken müssen. Er wusste nicht, was schief gegangen war. Das heißt, er wusste es sehr wohl. Alles war perfekt gewesen, dieser verzweifelte strategische Engpass hatte sich vor seinen Augen in ein Bilderbuchmärchen verwandelt, und trotzdem hatte er es am Ende nicht nur nicht geschafft, das DigiArmorEi der Liebe in seine Finger zu bekommen – ausgerechnet das DigiArmorEi der Liebe! Nun würde Yolei eine noch unberechenbarere Variable in diesem Krieg werden! –, sondern auch noch so viele Digimon verloren, dass auch die Schlacht als verloren gelten konnte. „Hier spricht der DigimonKaiser“, sagte er müde in seinen Connector, während Airdramon über endloses Dschungelgebiet flog. „Wie ist die Lage?“ Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete. Offenbar waren genügend Türme in der Nähe, dass diese das Signal auch an das Basislager auf dem Hügel weiterleiten konnten. Es war ein Wunder, dass er unter der Pyramide überhaupt Empfang gehabt hatte, als der Schwarze Turm zerstört worden war. „Nich‘ so schön, ‘jestät. Sie hab’n uns aus’m Lager vertrieb’n. Sind jetzt hinter der Hügelkuppe in so ‘nem Erdloch. Die verdammten Starmon woll’n uns ausbomb’n, und die Schwarzringler hatt’n keine Lust mehr und sind abgehau’n. Oder helfen jetzt denen. Was soll’n wir mach‘n?“ Er hatte vor der Schlacht nicht einmal die Gelegenheit gehabt zu prüfen, wie viele seiner Digimon unter dem Einfluss von Schwarzen Ringen gestanden hatten. Er konnte sich nur ausmalen, wie groß die Verluste wirklich waren. „Die Stellung wird aufgegeben. Zieht euch sofort in die nächste Stadt zurück, egal ob im Norden oder im Süden, aber verlasst auf jeden Fall den Dschungel. Was ist mit DarkTyrannomon passiert?“ „Kommandant DarkTyrannomon hat’s erwischt, ‘jestät. Ich bin Bearmon, wenn’s beliebt.“ „Ich übertrage dir das Kommando für den Rückzug. Lasst euch nicht in Kämpfe verwickeln. Sieh zu, dass du so viele Digimon wie möglich rettest.“ „Werd’s versuchen, ‘jestät.“ „Wen funkst du jetzt an?“, fragte Wormmon, als Ken an dem Frequenzregler auf seinem Connector drehte. „Hier spricht euer Kaiser“, teilte er den Hagurumon in seiner Festung tonlos mit. „Übermittelt eine Nachricht an Devimon. Wenn das DarkTyrannomon wiedergeboren wird, das in der Schlacht bei der Maya-Pyramide getötet worden ist, lasst es persönlich zu mir bringen. Ich werde es in den Ritterstand erheben.“ Er ließ Airdramon noch eine Runde fliegen, um sich den Schaden in seinem Lager anzusehen. Baronmon war den fliehenden Digimon zum Glück nicht weiter nachgesetzt. Der Kommandantenhügel war völlig verwüstet worden und nur noch ein rauchender Haufen Asche, in dem Krater klafften. Die Überreste des Schwarzen Turmes verunzierten den Dschungel, finster und traurig und zerbröckelnd. Auf dem Schlachtfeld war ebenfalls eine schwarze Aschespur zu sehen, die einen Halbkreis um die Pyramide zog, wo Matts Wölfe eine Wand aus Feuer errichteten hatten. Der Wald war frisch und feucht, und wo die Wölfe mit ihrem Feuer die Hitze nicht genährt hatten, waren die Flammen bald erstickt. Wenigstens etwas; ein Flächenbrand am Stiefel käme einer Katastrophe gleich, egal wie wenige Digimon hier leben mochten. Dann musste er sich zurückziehen und das Bild der Zerstörung hinter sich lassen. Baronmons Digimon vernichteten systematisch jeden Schwarzen Turm in dem verlassenen Urwald, aber das schien reiner Trotz zu sein. Sie bauten keine eigenen Türme, also vermutete Ken, dass sie auf die gleiche Weise wieder abziehen würden, auf die sie hergekommen waren. Er zwang sich positiv zu denken, während Airdramon über dem Meer in Sichtweite der Gekomon-Küste in Richtung Kaiserwüste flog. Das war nur eine kleine Alternativarmee. Meine Hauptarmee kämpft im Westen an der Front, und das Saatkind wird sicher kein zweites Deckerdramon haben. Dennoch, Fakt war und blieb, dass er versagt hatte. Er hatte sich dazu reizen lassen, alles für dieses dämliche DigiArmorEi aufs Spiel zu setzen, und hatte mit so vielen Digimonleben, einer Niederlage und einer beachtlichen Schädigung des Vertrauens, das seine freiwilligen Anhänger in ihn setzten, dafür bezahlt. Dazu kam, dass Matt und Yolei beinahe beide gestorben waren. Und sie erinnerten sich tatsächlich nicht an ihn. „Drückt dir etwas auf die Seele, Ken?“ Kaum dass Ken mit ihm Kontakt aufnahm, ergriff Deemon hämisch das Wort. „Du solltest doch mittlerweile wissen, dass der Einsatz dieses Spiels hoch ist.“ Ich weiß vor allem eines, knurrte Ken in Gedanken. Du bist ein hinterhältiger Spieler, Deemon. Ein Betrüger. „Bin ich das?“ Deemon wusste, dass er es herausgefunden hatte, und fand es amüsant, ihn zu reizen. Ich habe die Nase voll von deinen Spielereien. Ich dachte, du würdest nur mir zusehen. Aber du kannst mit den anderen Saatkindern auch sprechen, nicht wahr? „Und was treibt dich zu dieser Annahme?“ Warum sonst sollte das Saatkind aus der Wüste seine Truppen plötzlich in meinen Dschungel schicken? Woher hätte es von dem ArmorEi erfahren sollen? Es wusste davon, seine Drimogemon haben zuallererst gebohrt, also versuch nicht, es auf einen Zufall zu schieben. Yolei hat das Ei gefunden, und Matt war zu der Zeit in Little Edo, deswegen waren die beiden dort. Aber der Einhornjunge? Er hat keine Verbindung zu dem Shogunat, kein Abkommen, gar nichts, und sie würden es ihm auch niemals einfach verraten. „Vielleicht hat er ja einen Spion in der Stadt, so wie du auch?“ Gut möglich, aber woher wusste er, wem er zuhören musste? Und woher wusste ich eigentlich davon? Du hast uns beide auf diese Fährte gebracht, du wolltest, dass wir uns vor der Pyramide bekriegen, sonst hätten Yolei und Matt das Ei geholt, ohne dass wir etwas davon gewusst hätten! Und du hast dem Einhornjungen meine Pläne verraten. Er hätte nie gewagt, mein Lager und meinen Turm anzugreifen, wenn er nicht gewusst hätte, dass ich nicht dort bin und nur ein paar wenige zur Verteidigung zurückgelassen habe. Und kaum, dass ich beschlossen habe, auf Verstärkung zu warten und ihn auszuhungern, hat er mich mit seinen Drimogemon zum nächsten Zug gezwungen. Das sind mir zu viele Zufälle, Deemon! Tonloses Gelächter folgte Kens Gedankenausbruch. „Interessant, interessant, Ken. Du hast natürlich recht“, gab Deemon dann freimütig zu. „Warum sollte ich nur dir Ratschläge erteilen? Jeder, der einst mit der Saat der Finsternis in Berührung gekommen ist, kann meine Worte hören, weil die Saat ein Kernelement der Macht der Dunkelheit ist. Du bist zwar mein vielversprechendster Spielstein, aber warum sollte ich nur dich bevorzugen? Wenn du zu mächtig wirst, gefährdest du mich. Das Gleiche gilt für den anderen Jungen. Ich musste euch aneinander reiben lassen, damit euer Wachstum ein wenig gebremst wird.“ Also hast du all meine Ratsbeschlüsse, meine Truppenbewegungen und meine Befehle einfach so an die Saatkinder weitergeleitet?, dachte Ken entsetzt. Die ganze Tragweite dieses Umstands wurde ihm erst nach und nach bewusst und ihm lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Was, wenn Zephyrmon von einer ganzen Armee aus der Elite des Saatkinds am Rand der Kaktuswüste erwartet worden war? „Nein. Du scheinst eines zu missverstehen. Ich sehe, was in der DigiWelt vor sich geht, ja. Ich kann meinen Blick überall dorthin schweifen lassen, wo es etwas Interessantes für mich zu beobachten gibt. Aber ich erzähle es nicht einfach jedem. Der Junge hat nicht mehr Tipps von mir erhalten als du auch. Ich habe kein Interesse daran, dich diesen Krieg verlieren zu sehen, Ken. Ich habe nur Interesse daran, dass du ihn nicht gewinnst.“ Ken knirschte mit den Zähnen. Egal, was du sagst: Das sind faule Tricks, die du da anwendest! Ich werde kein Wort mehr von dem glauben, was du von dir gibst, und selbst wenn du mir eines Tages erzählst, dass Veemon mit Wormmon zu Imperialdramon digitieren will, werde ich einfach nicht hinhören! „Du klingst ja richtig wütend“, stellte Deemon trocken fest. „Das passt nicht zu dir. Ein weinerliches Gesicht steht dir besser, Ken.“ Aber Ken antwortete nicht. Er blendete Deemon so gut es ging aus und konzentrierte sich auf die Gegenwart, das Schlagen der Airdramon-Flügel, das Heraufziehen der Nacht, und den Schmerz in seiner Hand. Tag 36 Eine kurze Nacht folgte, die er nur mithilfe eines Schlaftranks seines neuen Jijimon-Heilers überwand. Obwohl seine Hand und sein Kopf am nächsten Tag höllisch schmerzten und Wormmon ihn bat, liegen zu bleiben, ging er den Bericht der Schlacht durch. Sechsundsechzig Prozent seiner Truppen waren ausgelöscht worden, weitere neunzehn waren desertiert, als sie ihre Schwarzen Ringe losgeworden waren. Baronmon hatte nicht einmal die Hälfte seiner verloren. Bearmon hatte es tatsächlich geschafft, die Überlebenden hinter die Mauern von Fort Netwave zu bringen, einer kleinen Bastion am Nordende der Stiefelbucht. Dort hatten sie mit der Besatzung eine Verteidigungslinie organisiert, die den Stiefel von seinem restlichen Land abschnitt, aber die Einhornarmee wurde nicht mehr gesehen. Küstenposten berichteten, dass sie weiter draußen in der Bucht von einem Whamon ans Festland in das Gebiet der Rose übergesetzt worden waren. Ob sie das gigantische Waldigimon angeheuert oder erpresst hatten oder ob es zu ihnen gehörte, hatte sich nicht nachverfolgen lassen. Sämtliche Schwarzen Türme in einem Umkreis von fünfzig Kilometern waren zerstört worden. Zu guter Letzt hatte das Deckerdramon wahllos in den Dschungel gefeuert und dreißig Hektar Land verwüstet. Drei, vier Digimon-Dörfer waren dabei zerstört worden; ob und wie viele Opfer es gab, war noch nicht bekannt. Ken würde dort am Stiefel schnell wieder neue Türme bauen und für Ordnung sorgen müssen. Marodeure und Plünderer gab es immer und überall. Wie es um die Ehernen Wölfe stand, wusste ebenfalls niemand. In der flächendeckenden Zerstörung hatte man auch keine Menschenleichen gefunden, was die erste gute Nachricht war, die Ken an diesem Tag hörte. Von Fort Netwave wurde ihm versichert, dass die Wölfe nicht versucht hatten, die Halbinsel durch ihre Verteidigungslinie zu verlassen, aber Ken vermutete, dass sie das schon getan hatten, bevor Bearmon seine zerschlagene Truppe dorthin geführt hatte. Jijimon bestand darauf, seine Wunde erneut zu desinfizieren, und wechselte die Verbände. Danach brauchte Ken einen weiteren Becher Schmerzmittel und drei Tassen schwarzen Kaffee. Die Bittsteller, deren Anliegen größer wurden, je mehr auch sein Reich wuchs, wies er an diesem Tag ab und bat Wormmon, sich um die wichtigen Fälle zu kümmern, während er darüber brütete, was nun zu tun war. Ein Bericht von der Front war noch nicht eingetroffen, aber er bezweifelte, dass Zephyrmons riesiges Heer die Wüste bereits erreicht hatte. Zu Mittag aß er ein geschmackloses, breiiges Etwas aus der Vorratskammer, das ihn an Astronautennahrung erinnerte. Sein Gotsumon-Koch hatte zwar wieder etwas Exzellentes gezaubert, aber Ken war nicht danach. Nachdem er die Reste seines kargen Mahls hinuntergewürgt hatte, ließ er nach Spadamon rufen, das am Vormittag von seiner Reise nach Little Edo zurückgekehrt war. Wormmon trippelte zum Kontrollraum zurück, als Ken seinem Spion gerade eine Papierrolle gab, die er überbringen sollte. „Oho“, machte Spadamon und sein Näschen hüpfte lustig. „Wenn man den Empfänger bedenkt, steht da das drin, was ich glaube, das drin steht?“ Ken presste müde die Finger gegen die Nasenwurzel. „Frag doch Deemon.“ „Wie meinen?“ „Vergiss es. Gut möglich, dass du es erraten hast. Sorge dafür, dass die Nachricht so schnell wie möglich ankommt.“ „Natürlich, wie sonst?“ Spadamon verneigte sich und lief von dannen. „Du lässt Spadamon eine Nachricht überbringen?“, fragte Wormmon, kletterte an seinem Hosenbein hoch und macht es sich auf seinem Schoß gemütlich, während Ken sich auf seinem Drehsessel wieder anderen Dokumenten zuwandte. Er wusste, was es meinte. Er hatte Kiwimon und andere Botendigimon, die seine offiziellen Nachrichten weitergaben. Aber das hier war alles andere als offiziell. „Die Botschaft muss auf jeden Fall geheim bleiben, deshalb.“ „Was hast du denn geschrieben? Und wem?“ Ken lächelte bitter. „Wenn die Zeit gekommen ist, sage ich es dir.“ Wormmon kauerte sich zusammen. „Ich habe das Gefühl, dass es mir nicht gefallen wird.“ „Mir gefällt es auch nicht.“ Wieder einmal drängte sich Deemon unangemeldet in seine Gedanken. „Du bist sehr verwegen, Ken. Diesen Spielzug hätte ich nicht von dir erwartet.“ Diesmal ließ er sich zu einer Antwort herab. Alle anderen Gespräche, die Deemon in einem scheinbaren Anflug von Langeweile oder Schadenfreude hatte beginnen wollen, hatte er bisher abgeblockt. Warum sollst du der Einzige sein, der hier schmutzig spielt? Es war abgemacht gewesen, dass Matt das DigiArmorEi bekam, um es an Mimi weiterzureichen. Yolei würde für ihre Mithilfe in Naturalien bezahlt werden. Das würden sie allerdings mit Zinsen ein wenig verschieben; Matts Wölfe hatten schwere Verluste zu beklagen. Das Eherne Wolfsrudel war bis zur Hälfte seiner Größe dezimiert worden. Dieser DigimonKaiser hatte sich geschickter angestellt, als Matt erwartet hatte. Viele der überlebenden Digimon dürsteten nun nach Rache, und auch für ihn selbst war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Und das alles für ein solches Kleinod, um eine störrische Prinzessin zufriedenzustellen. Er hoffte, dass sie erkannte, was er alles für sie geopfert hatte. Ansonsten würde er Little Edo verlassen, für immer, neue Mitglieder für seine Truppe anwerben und den Rachedurst der anderen befriedigen. Das war wenigstens etwas, das man konsequent verfolgen konnte. Er versuchte, Gabumon mit dem Ei digitieren zu lassen, aber es funktionierte nicht. Als sie Little Edo erreichten, führte Matt seine Mitstreiter in einer Prozession durch die Stadt, um zur Schau zu stellen, wie abgekämpft sie waren. Gabumon war zu Garurumon geworden, um besser ins Bild zu passen. Sie trugen grimmig ihre Narben offen zur Schau, und Matt hielt das ArmorEi vor sich, Mimis Brusttuch daran gebunden. Aufmerksame Beobachter würden erkennen, was das bedeutete. Ihr Weg führte sie in Schlangenlinien durch die Stadt, und so wartete schon ein großer Digimon-Auflauf vor der Pagode auf sie. Mimi und ShogunGekomon standen fast zuvorderst, nur eine lebende Mauer aus Ninjaman trennte sie von den wild aussehenden Wölfen. Yolei hielt sich mit Hawkmon im Hintergrund, und Matt trat alleine auf die Prinzessin zu. Da er keine Anstalten machte, stehen zu bleiben, öffneten die Ninjamon ihre Reihe widerwillig für ihn. „Prinzessin“, sagte er feierlich, ging vor Mimi auf die Knie und hielt ihr sein Geschenk hin. „Ich bringe Euch hier ein DigiArmorEi dar. Wir haben es unter zahlreichen Verlusten auf dem Stiefel erkämpft. Unsere Feinde waren der DigimonKaiser und die Einhornarmee aus dem Westen gleichermaßen. Hier außerdem Euer Tuch, das Ihr mir gabt.“ Als er aufblickte, sah er in ihre schimmernden, fassungslosen Augen. Verletzte es sie vielleicht doch, für den Tod so vieler seiner treuen Anhänger verantwortlich zu sein? Andächtig nahm sie sein Geschenk entgegen. Die Menge hielt den Atem an. Matt sah den Drachenritter in der Menge stehen, nicht allzu weit von ShogunGekomon und den Dienern der Pagode entfernt. Er glaubte, seine Kiefermuskeln hervortreten zu sehen. „Ich danke Euch“, sagte Mimi schließlich und die letzten Geräusche erstarben, als die Digimon verstehen wollten, was sie sagte. „Ihr habt Euch als mutiger Krieger erwiesen, Ihr wart selbstlos und unerschrocken.“ „Das alles habe ich für Euch getan.“ Also sagt mir nicht, dass es umsonst war. „Ihr seid ein großer Mann, Matt.“ Sie sprach sehr formell. „Ihr seid für mich in die Schlacht gezogen und mit einem kostbaren Artefakt wiedergekehrt. Ihr habt auch gut auf meine Freundin aufgepasst. Ein solches Geschenk hätte ich mir nie zu wünschen gewagt. Gibt es etwas, das Ihr Euch wünscht?“ Jetzt ist der richtige Zeitpunkt! Täuschte er sich, oder ebnete sie ihm sogar bereitwillig den Weg für einen Antrag? War in der Zwischenzeit hier irgendetwas vorgefallen? „Viele sehen die Ehernen Wölfe bereits als eigenes Volk, als Bürger eines Landes, das stets in Bewegung ist. Folgt man dieser Auffassung, bin ich als ihr Anführer der Herrscher eines Volkes und Regent eines Landes. Wenn Euer Vormund einverstanden ist, möchte ich hier und heute um Eure Hand anhalten, teure Prinzessin.“ Er nahm sanft ihre Hand und deutete einen Kuss auf ihren Handrücken an. In der Menge wurde Gemurmel laut. Viele schienen die Ansicht, er wäre eine passende Partie für eine Prinzessin, nicht zu teilen. ShogunGekomon wirkte nur sprachlos auf ihn. Mimi warf Palmon einen Blick zu, der seltsam unglücklich aussah. Dann aber lächelte sie ihn warm an. „Lange habe ich diesen Moment hinausgezögert“, sagte sie laut und einmal mehr verstummte alles. „Die schöne Zeit der Minneschmeicheleien scheint vorbei zu sein. So mein Vormund einwilligt, wäre ich glücklich, Eure Gemahlin zu werden. Erhebt Euch.“ Matt atmete tief durch und die Menge seufzte. Mimi zog ihn an der Hand hoch und stellte ihn neben sich, damit die Versammelten einen Blick auf sie beide werfen konnten. Ihre Hand ließ die seine nicht los. Die Wölfe heulten, die Gekomon jubelten, einige eindeutig pflichtschuldig. Gabumon nickte ihm anerkennend zu und Yolei grinste bis über beide Ohren. Sir Taichi drehte sich mit versteinerter Miene um und ging, wobei er sich mit Schultern und Ellbogen den Weg frei drängelte. Sie ließen sich noch eine Weile feiern, in der Mimi das ArmorEi hoch über ihren Kopf hielt, dann drückte sie Matts Hand fester und flüsterte ihm ins Ohr: „Kommt danach mit in mein Gemach. Ich muss etwas mit Euch bereden.“ Matt nickte. So etwas hatte er schon erwartet. „Wir wollen unter keinen Umständen gestört werden“, wies Mimi Yasyamon, ehe sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer zuschob. Helles Licht fiel durch die Fenster und ließ das Himmelbett und die Überzüge der Sitzmöbel wie Zuckerguss schimmern. Die Prinzessin ließ sich aufs Bett fallen, Yolei setzte sich neben sie. Mimi hatte darauf bestanden, dass sie und Hawkmon ebenfalls dabei waren. Palmon hob sie auf den Schoß. „Es sieht … sehr schön aus“, sagte die Prinzessin schließlich und betrachtete das ArmorEi von allen Seiten. „Was ist das für ein Symbol darauf? Ein Wappen?“ „Vielleicht“, sagte Yolei. „Ich habe gehört, alle ArmorEier haben so etwas. Meines hat euer Wappen.“ „Irgendwo habe ich das schon mal gesehen“, murmelte Palmon. „Das Zeichen der Schwarzen Königin“, half Matt aus, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und darauf wartete, dass sie endlich zur Sache kam. „Es ist ähnlich, aber das hier ist kein blutendes Herz.“ „Aber es ist eindeutig ein Herz“, stellte Hawkmon fest. „Das ideale Geschenk für heute.“ Yolei schien zu glücklich zu sein, als ginge es um ihre eigene Hochzeit. „Ja“, murmelte Mimi leise und legte das Ei weg. „Matt … ich muss Euch etwas gestehen.“ „Ich habt meinem Antrag nicht freiwillig zugestimmt.“ Sie sah ihn aus großen Augen an. „Woher wisst Ihr das?“ „Das war offensichtlich“, murmelte er und wich ihrem Blick aus. „Es war viel zu plötzlich, vor allem für Eure Verhältnisse.“ Falls diese Worte sie kränkten, so zeigte sie es nicht. Sie sah mitleiderregend aus, wie sie da saß, in dem großen Bett, mit Palmon auf dem Schoß, und irgendwie verloren. „Als Ihr weg wart … Nein, lasst es mich so sagen. Ich habe mich kindisch benommen, das ist mir jetzt klar. Und egoistisch.“ Sie sahen sie fragend an und eine ganze Weile schwieg sie. „Ich bin nur ShogunGekomons Mündel. Alles, was ich habe, verdanke ich ihm. Und das Mindeste, was ich tun kann, ist, ihm zu helfen, sein Shogunat gut zu führen. Aber ich habe mich immer quergestellt.“ „Was um Himmels Willen ist denn passiert?“, fragte Yolei. Mimi seufzte. „Diese Armee aus dem Westen … diese Einhornarmee. Da ist irgendein König in der Kaktuswüste, der seine Grenzen ausweitet. Er ist gerade dabei, den Trugwald zu erobern, habe ich gehört. Weiter westlich davon gehört ihm schon alles. Und nun streckt er seine Finger auch nach Little Edo aus. Alle sind in Gefahr und alles wird anders, wenn ich nicht …“ „Wenn Ihr nicht jemanden heiratet, der viele Digimon unter sich hat. Ein starkes Bündnis sozusagen“, führte Matt den Gedanken fort. Mimi nickte und sah ihn nicht an. „Man könnte Bündnisse auf Papier schmieden, aber das hält den Einhornkönig gewiss nicht davon ab, eine Invasion zu versuchen. Aber ein neues Herrscherpaar, dem die Digimon mit Freuden folgen würden … Es würde den Feinden ein ganz anderes Gefühl vermitteln. Zumindest sagt das Karatenmon. Seine Falcomon haben meinen Vormund gedrängt, mich zu verheiraten. Ansonsten fürchtet es, dass es das Edo-Gebirge und seine anderen Ländereien bald verliert.“ „Eine Heirat zur Abschreckung der Feinde sozusagen.“ „Genau. Ihr habt am Stiefel sogar gegen die Einhornarmee gekämpft, sagt Ihr. Und gegen den DigimonKaiser. Sie wissen also beide, dass mit Euch nicht zu spaßen ist. Wenn die Prinzessin von Little Edo den Anführer der Ehernen Wölfe heiratet, wird das Eindruck schinden. Mehr als ein feiges ShogunGekomon“, sagte Mimi verdrossen. Da könnte sie recht haben. Auch, wenn von meiner Truppe nur noch die Hälfte übrig ist, mein Name ist berüchtigt. „Deswegen habt Ihr also akzeptiert.“ Mimi knetete ihre Hände, die in ellbogenlangen Handschuhen steckten. „Ich habe es mir vorgenommen. Wenn Ihr mich beeindrucken könnt, heirate ich Euch. Sonst hätte ich wohl oder übel dem Drachenritter den Vorzug geben müssen. Ich muss endlich aufhören, nur an mich zu denken. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte dieses Minnespiel noch eine Ewigkeit dauern können, aber was wird dann aus Little Edo? Es könnte dann zerstört sein. Viele von Euren Anhängern sind auch tot. Alles nur wegen mir.“ Matt meinte, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen. Sie schien doch nicht so unbedacht zu sein, wie er immer geglaubt hatte. „Ich wollte umgarnt werden, wollte mich wie eine richtige Prinzessin fühlen. Das habe ich auch, seit Ihr beide hier seid. Und trotzdem habe ich nur gespielt. Ich muss … endlich lernen, Verantwortung zu zeigen.“ „Es ist nichts falsch daran, erst zu heiraten, wenn man sich sicher ist, dass man den Richtigen gefunden hat“, sagte Yolei überzeugt. Sie sah Matt in die Augen, als müsste sie ihm irgendetwas davon erst deutlich machen. „Erst wenn man sich lange genug kennt, sollte man ans Heiraten denken. Das ist meine Meinung.“ „Die ich teile. Das wäre ideal. Zumindest nach dem Krieg, in Friedenszeiten. Aber wir sind gerade im Krieg, und im Krieg geschieht nichts, was ideal ist.“ Matt ging vor Mimi in die Hocke und nahm beruhigend ihre Hand. Sie sah aus, als könnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Ich verrate Euch etwas, Mimi. Ich fühle genauso wie Ihr.“ „Was?“ Sie blinzelte ihn aus wässrigen Augen an. „Versteht mich nicht falsch. Ich finde Euch wunderschön, und ich erkenne die Vorzüge Eures Charakters. Aber um sagen zu können, dass ich Euch liebe … Ich denke, da haben wir wirklich noch nicht genug Zeit miteinander verbracht. Aber auch ich brauche ein mächtiges Bündnis, wisst Ihr? Die Ehernen Wölfe sind der Schrecken der Großen Ebene, zumindest sind sie es jetzt noch. Als der Krieg jung war, waren die Gebiete weniger fest aufgeteilt. Wir konnten neutralen Städten und Siedlungen helfen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, und die wackeligen Grenzposten der großen Reiche zerschlagen. Aber je länger der Krieg dauert, desto mehr ist der Kuchen aufgeteilt. Wohin wir uns auch wenden, das Land gehört zum Nördlichen Königreich, zum Kaiserreich oder zu den Gebieten dieses Einhornkönigs. Wir können lediglich Dörfer vor Plünderern schützen und dann selbst Reißaus nehmen, wenn die Truppen der Großmächte auftauchen. Für die Ehernen Wölfe gibt es keine Zukunft, jedenfalls nicht so. Irgendwann würden wir von allen Seiten nur noch gejagt werden. Wenn wir sesshaft werden, können wir die Speerspitze eines Heeres bilden, das wieder mit den Großen mitmischen kann. Darum habe ich heute um Eure Hand angehalten.“ Mimi schwieg lange, wusste offenbar nicht, was sie davon halten sollte. Die Traurigkeit war ein wenig aus ihrem Blick gewichen, als sie fragte: „Hättet Ihr auch ein hässliches Digimon geehelicht, wenn Ihr dadurch einen festen Platz in der DigiWelt bekommen hättet?“ „Nein.“ Sie lächelte. „Also sind wir uns beide einig, dass das doch eine politische Hochzeit wird? Ich habe so etwas immer verabscheut.“ „Nach dem Krieg können wir es immer noch überdenken“, versprach Matt. „Es wird sich für Euch nichts ändern. Alles was wir tun müssen, ist, bei Eurer Zeremonie symbolisch den Bund zu schließen. ShogunGekomon bekommt seine schlagkräftige Offensive, wir bekommen Schutz und Land. Wir beide werden vermutlich ein gemeinsames Gemach beziehen, aber wenn Ihr wollt, können wir immer noch in getrennten Betten schlafen. Ansonsten wird es genauso sein wie bisher. Ihr führt das Leben einer Hofdame, ich werde viel Zeit bei meinen Wölfen verbringen. Wenn wir den Krieg überstanden haben, können wir die Ehe ohne Gewissensbisse auflösen. Was sagt Ihr?“ Mimi ließ es sich durch den Kopf gehen. „Eine Sache hast du vergessen“, grinste Yolei inzwischen. „Du wirst dann nämlich Shogun.“ Daran hatte Matt gar nicht gedacht. Plötzlich wurde ihm ein klein wenig unwohl zumute. Er war nicht dafür geschaffen, ein ganzes Shogunat zu führen. Ein Heer aus raubeinigen Digimon, ja, aber das hier war eine ganz andere Sache … „Wir werden ShogunGekomon viele Rechte und Pflichten einräumen. Ich werde achtgeben, dass es in seinen Entscheidungen nicht zu weich wird“, entschied Matt. Mimi seufzte und drückte Palmon wie ein Kissen an sich. „Es hört sich so einfach an … Als würde sich tatsächlich nichts ändern. Aber mit der Romantik wird es vorbei sein.“ „Es gibt andere romantische Dinge. Spätestens nach dem Krieg.“ Sie nickte zögerlich. Wie um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzählte Yolei Mimi von dem Kampf um das ArmorEi. Die Prinzessin starrte sie ungläubig an. „Du hast mit bloßen Fäusten gegen den DigimonKaiser gekämpft?“ Sie wandte sich Matt zu. „Und Ihr auch?“ „Er ist gar nicht so furchterregend“, meinte Yolei achselzuckend. „Aber er hat ein paar sehr komische Dinge gesagt.“ „Psychologische Kriegsführung“, sagte Matt. „Am besten hört man auf so etwas gar nicht.“ „Mimi, lass uns das ArmorEi ausprobieren!“, drängte Palmon. „Ah, gute Idee! Was muss ich machen, Yolei?“ „Ähm … Du nimmst es in die Hand und rufst Erstrahle. Es ist ganz einfach.“ Um nichts zu beschädigen – wer wusste schon, wie groß Palmon werden würde, wenn es digitierte – gingen die fünf nach draußen. Doch egal, wie sehr sie sich abmühten, das Ei hatte absolut keine Wirkung auf Palmon. Niedergeschlagen gab Mimi es an Yolei weiter, damit sie und Hawkmon es auch noch ausprobieren konnten – und wie durch ein Wunder wurde das Digimon zu einem Greif mit metallenem Helm. Mimi blies verstimmt die Backen auf. „Das ist ungerecht. Hawkmon kann ja schon zu Shurimon digitieren.“ Hawkmon verwandelte sich zurück und senkte beschämt den Kopf. „Es tut mir leid, Mimi.“ „Ach, da kann man nichts machen“, meinte die Prinzessin schließlich. „Ich schenke es euch.“ „Du meinst … das Ei?“ Yolei und Hawkmon tauschten erfreute Blicke. „Uns?“ „Sicher. Unter einer Bedingung. Du wirst meine Brautjungfer.“ Die Wende kam am späten Nachmittag. Er merkte es schon an der Unruhe, mit der das Grizzlymon, das heute mit dem Wacheschieben dran war, ihn kontaktierte. „Eure Majestät …“, murmelte es nasal, „wir … haben da jemanden, also, es will noch jemand eine Audienz bei Euch …“ „Ich habe doch gesagt, ich empfange heute niemanden“, murrte er. „Ich bitte demütigst um Entschuldigung, aber es scheint mir wichtig zu sein, dass Ihr hier eine Ausnahme macht, wenn Ihr gestattet.“ „Wer ist es?“ „Ein … Nun, ein Mensch, Eure Majestät.“ „Ein Mensch?“ Ken sprang auf. Seine Hand pochte wieder, aber er merkte es kaum. „Wer?“ Diese Frage war vielleicht zu anspruchsvoll, aber Grizzlymon antwortete trotzdem. „Sie, äh, sagt, sie heißt Nadine, wenn Majestät belieben. Und sie behauptet, sie wäre, nun ja, die Königin der Schwarzen Rose.“ „Die Königin der …“ Sein Herz machte einen Satz. Ein Saatkind! Aber warum sollte ein Saatkind eine Audienz bei ihm verlangen? Nadine … „Hat sie noch etwas gesagt?“ Er konnte hören, wie Grizzlymon sich mit seinen groben metallenen Klauen das Fell kratzte. „Nun, ja, Eure Majestät, aber ich kann mir keinen Reim darauf machen. Sie sagte, dass sie Euch jetzt endlich wiedersehen will, weil sie Euch nicht mehr gesehen hat, seit Ihr mit Euren Freunden ein Digimon namens MaloMyotismon besiegt habt.“ Dreh dich nicht um, wenn du nicht willst, dass man dich sieht Die Schlacht verloren, nicht den Mut Ein neuer Tag, ein alter Krieg (Faun – Rad) Kapitel 15: Die Schwarze Rose ----------------------------- Tag 36   Von all den Saatkindern konnte er sich eigentlich nur an Nadines Namen erinnern, wie er feststellte. Sie war damals das Kind gewesen, dessen Saat am frühesten gekeimt war und die Oikawa in Myotismons Namen bereits in der Menschenwelt geerntet hatte. Danach hatten Tai und Sora sie überwacht und bei dem Kampf gegen MaloMyotismon mit in die DigiWelt genommen. Er glaubte sich sogar zu erinnern, dass sie die Erste gewesen war, die sich offen zu ihren Zukunftsträumen bekannt hatte, was letztlich der Schlüssel zu ihrem Sieg geworden war. Was war das noch gleich gewesen … Kindergärtnerin, genau. Dasselbe wie Kari. Am Ende hatte Nadine einen Digimon-Partner erhalten wie die anderen auch, aber seitdem hatten sie tatsächlich nichts mehr voneinander gehört. Er überlegte, ob er sie überhaupt in der Gesuchshalle empfangen sollte, wo er auch all die anderen Bittsteller vorsprechen ließ, oder ob er ihr etwas Luxuriöseres bieten sollte, stellte dann aber fest, dass er übertrieb. Das hier war sein Land, seine Festung, und er konnte ihr genauso gut gleich den richtigen Eindruck vermitteln. Die Gesuchshalle war, im Gegensatz zu den meisten Räumen in seiner Festung, hell erleuchtet, aber nicht von kalten Neonröhren, sondern von warmen Lampen, deren kunstvoll verzierte, orangefarbene Schirme das Licht ruhige Schatten werfen ließ. Ken saß zwar nicht auf einem Thron, aber immerhin in einem Sessel, der dieser Bezeichnung schon ziemlich nahe kam; er hatte bequeme Armstützen und war mit schwarzem Samt gepolstert, der mit goldenen Borten verziert war. Die Rückenlehne reichte noch bis weit über Kens Kopf und artete in ein verschlungenes, spitzes Muster aus dunklem Holz aus. Zu seinen Füßen lag ein roter Quastenteppich, ein Geschenk eines Auswanderers aus der neugegründeten Goldenen Zone im Westen. Die Bittsteller mussten stehen, aber ein Gazimon-Diener bot jedem zumindest ein Glas Wasser an. Früher hatte Ken noch etwas zu essen dazugegeben, aber die schiere Menge, zu der seine Bittsteller jetzt täglich anwuchsen – und er hatte weiß Gott auch sonst genug zu tun – hatte ihn dazu gebracht, diesen zusätzlichen Luxus zu streichen und sich Gesuche überdies nur alle drei Tage anzuhören. Er saß auf seinem Stuhl, legte die Brille auf die Armlehne, damit Nadine ihn besser erkennen würde, und wartete, dass man sie hereinließ. Seine verbundene Hand trug er offen zur Schau. Sie sollte gleich sehen, dass er dieses Spiel mit dem nötigen Ernst spielte, anders als die Saatkinder. Die große Metalltür glitt säuselnd zur Seite und Nadine trat ein. Als Begleitung hatte sie nur ein Elecmon, das neben ihr hertrippelte – wohl ihr Digimon-Partner –, keine Eskorte, wie man es von einer Königin erwartet hätte. Das war es aber nicht, was Ken am meisten erstaunte. Erst auf den zweiten Blick hätte er Nadine wiedererkannt, wenn überhaupt. Man konnte sie wohl allesamt nicht mehr Saatkinder nennen, aber Nadine hatte sich in den letzten sechs Jahren tatsächlich sehr verändert. Ken erinnerte sich noch gut an das blasse Gesicht, die dunklen Augen und den knappen, einfachen Haarschnitt. Wie alt war sie damals gewesen? So alt wie Cody in etwa? Oder älter? Müsste er jetzt erneut schätzen, hätte er auf sechzehn getippt. Die Königin der Felsenklaue – und neuerdings ja auch seines Ölbohrturms – trug ein würdevolles, nachtblaues Kleid mit spitzenbesetzten Ärmeln. Das Mieder war reinweiß und mit ihrem Wappen verziert, der schwarzen Rose. Das Emblem fand sich auch auf dem silbernen Siegelring, den sie auf ihrem rechten Mittelfinger trug. Um ihren Hals glitzerte ein dünnes, weißes, mit Onyxen und schwarzen Granaten besetztes Band über einer fein gearbeiteten, silbernen Kette, die eine bis ins kleinste Detail geformte Miniaturskulptur ihrer Rose hielt, von der Ken vermutete, dass sie aus schwarzem DigiChrom war. In ihrem schokoladenbraunen Haar glitzerten kristallweiße Perlen. Sie trug es schulterlang, das meiste davon offen, ein Teil zu einem Zopf gebunden. Das und das schwarze Diadem mit dem blutroten Edelstein in der Mitte ließ sie tatsächlich aussehen wie eine mittelalterliche, jung gekrönte Königin. Auf jeden Fall wirkte sie königlicher als Ken in seinem Outfit. Ihre faszinierend dunklen Augen hatten einen warmherzigen Ausdruck, ganz anders als zu der Zeit, als die Saat sie beherrscht hatte. Ihre Haut war dunkler als früher, kam es ihm vor, aber vielleicht täuschte er sich. Die Stupsnase hatte sie jedenfalls behalten. Sie trug keinen Lippenstift und nur wenig Schminke, soweit er erkennen konnte. Ken merkte, wie sie ihn ebenfalls musterte, und lehnte sich entspannt in seinem Thron zurück. Er musste jetzt vor allem Würde zeigen. Das war das erste Mal, dass er mit dem Kopf einer feindlichen Armee sprach – sah man von der hektischen Konfrontation mit Matt ab. Er musste in den Augen der Saatkinder wie ein erfahrener Spieler wirken. „Hallo“, sagte sie schließlich und lächelte schüchtern, als sei sie nicht sicher, ob sie wirklich den Richtigen vor sich hatte. „Es ist lange her, nicht wahr?“ Kens Hände ruhten auf den Armlehnen, die Finger seiner linken Hand strichen über seine Brille. „Was würdet Ihr tun, wenn ich sage, dass ich keine Ahnung habe, wovon Ihr redet?“, fragte er formell. Das royale Mylady, das ihm schon auf der Zunge gelegen war, verkniff er sich. Es wäre nicht angebracht gewesen, und außerdem hielt sie ja immer noch seinen Bohrturm besetzt. Nadines Augen wurden nachdenklich. „Ich würde versuchen, deine Erinnerung aufzufrischen, und wenn ich merke, dass du wie alle anderen bist, enttäuscht wieder abreisen.“ Sie entbehrte also hartnäckig überflüssiger Höflichkeiten. Ein Teenager, der mit einem Teenager sprach. Das gefiel Ken. „Dann tu das. Frische meine Erinnerungen auf. Was weißt du?“ Er musste das erst feststellen, musste sichergehen, ehe er sich Hoffnungen machen durfte – das hatte er sich vorgenommen, aber die Hoffnung brannte bereits jetzt wie ein Feuer in ihm. Sie lächelte. „Ich finde das Getue hier ziemlich unbequem. Ja, ich mache es genauso, aber wenn wir unter uns sind, können wir uns dann nicht einfach an einen Tisch zusammensetzen, einen Tee oder sowas schlürfen und quatschen?“ Ken hatte sogar Wein vorbereitet, und sein Gotsumon-Butler wartete anstelle des unkultivierten Gazimons darauf, dass es ihn kredenzen durfte. Ein edler Tropfen von der Stiefelspitze, für besondere Anlässe. Beispielsweise um mit Königinnen zu reden. All die Zeit als Herrscher in der DigiWelt hatte ihn vergessen lassen, dass sie ja eigentlich beide noch minderjährig waren. „Du hast die Königin gehört“, sagte er zu Gotsumon. „Schaff einen Stuhl, einen Tisch, guten Tee und etwas zu essen her.“ Gotsumon verbeugte sich schweigend und ging. „Muss aber nichts Aufwändiges sein!“, rief ihm Nadine hinterher. „Also, bis es wiederkommt, erzähle ich dir eine Geschichte“, sagte sie lächelnd zu Ken. „Sie ist recht aufregend, sie handelt nämlich von einer anderen Welt.“ „Ich bin gespannt“, sagte er ruhig, obwohl sein Inneres Purzelbäume schlug. Sie meinte die Reale Welt, oder? Sie musste einfach! „In dieser Welt lebte einmal ein Junge, der eigentlich nichts Besonderes war, es aber gern gewesen wäre.“ Sie sah ihn dabei spöttisch an. „Schließlich wurde er zum Herrscher dieser Welt hier gemacht. Er fand das recht cool, alles drehte sich um ihn, und er wurde ein Genie und total sportlich. Blöderweise kamen dann andere Kinder, die ihm das ausredeten, und er wurde ganz normal. Das gefiel ihm sogar besser, erzählte er später einem bestimmten Mädchen. Dieses Mädchen und einige andere Kinder wollten genauso werden, wie er es gewesen war, und ein großer, unheimlicher Mann erfüllte ihnen diesen Wunsch. Aber sie wussten nicht, was sie taten.“ Nadine lachte leise. „Gefällt dir die Geschichte bisher?“ „So gut, dass ich das Ende wissen möchte“, murmelte er. „Na gut. Das Mädchen merkte als Erstes, dass irgendwas gründlich schief lief. Sie war allem Anschein nach ein ziemlicher Kotzbrocken, daher konnte der unheimliche Mann ihr ihre neuen Begabungen vor den anderen entziehen. So musste sie aber auch nicht mit in eine schreckliche, dritte Welt, wo ein schreckliches, böses Monster lauerte, das dem Mann diese ganzen hirnrissigen Schnapsideen eingeflüstert hatte. Zum Glück waren auch die Kinder dabei, die den Jungen am Anfang bekehrt hatten, und später kam dann noch das Mädchen hinzu, und alle gemeinsam besiegten den Finsterling. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stecken sie heute in einem verdammten Kriegsspiel von einem anderen Finsterling fest.“ Ken schluckte. Dann zuckte seine Mundwinkel, die Muskeln spannten sich von alleine, und es juckte so sehr in seinem Hals, dass er einfach lachen musste, zuerst leise, tonlos, dann lauter und befreiter. Sie wusste es noch. Sie wusste es noch! Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sie umarmt, aber in dem Moment kam Gotsumon herein, blickte ihn, den plötzlich lachenden Kaiser, irritiert an, und wies dann eine Schar Gazimon an, den blanken Esstisch aus der Kantine und zwei Holzstühle auf dem Teppich abzustellen. Schließlich trugen sie auf, was Ken zu Mittag verschmäht hatte: Kürbissuppe und Kürbiskernbrot von der Pumpkinmon-Plantage nordwestlich der Arkadenstadt, saftiges Steak, duftende Reisbällchen von neutralen Händlern aus Little Edo, ein Püree aus den essbaren Urwaldpflanzen vom Stiefel, importierte Nudeln mit Currysauce, daneben einige der merkwürdigen Bananen von der File-Insel, die nur aus einer Schale bestanden, und als Nachspeise Cremeschnitten von den Zuckerbäckern aus der Arkadenstadt, eine persönliche Empfehlung von Spadamon. Ken lief bei dem Geruch das Wasser im Mund zusammen, auch wenn das Essen nicht mehr ganz frisch war. Nun spürte er den Hunger, den die Schmerzen in seiner Hand und in seiner Seele mittags zunichte gemacht hatten. „Das sieht mir nach dem bescheidensten Essen aus, das ich je gesehen habe“, meinte Nadine mit einem verschmitzten Lächeln. Ken sah verlegen an die Decke. Gotsumon bereitet gern viel und viel zu viel zu. Selbst von allem ein bisschen etwas hätte Ken gereicht, aber sein Koch ließ sich da nicht beirren und meinte, seine Speisen müssten eines Kaisers würdig sein, und so verteilte Ken, wenn er satt war, den Rest an die jeweils diensthabenden Wachen oder Arbeiter in seiner Festung. „Umso besser, dass ich es teilen kann“, meinte er nur. „Ich freu mich schon drauf. Elecmon wird übrigens nichts davon wollen. Es steht total auf diese Yokomon-Körner. Wir hatten reichlich davon als Proviant. Hatten.“ „Ich verstehe. Hast du auch Hunger?“, frage Ken Wormmon. Sein Partner schüttelte das Köpfchen. „Würdest du dann Elecmon das Quartier unserer Gäste zeigen?“ Er wollte lieber alleine mit Nadine reden. Er würde sich viel gelöster fühlen. Wormmon schien zu verstehen. Es nickte und wackelte dann auffordernd mit dem Schwanz. „Komm“, sagte es und führte Elecmon nach draußen. Sie hatten die Auswahl zwischen Messer und Gabel und Essstäbchen. Nadine bevorzugte Ersteres, also schloss Ken sich ihr an. Während sie aßen, schickte er die Diener weg. Zum Trinken hatte Gotsumon tatsächlich grünen Tee aufgetrieben, aber wie zum Trotz stellte es auch noch die gekühlte Flasche Wein auf den Tisch. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, nur das Besteck klapperte. Ken fiel wieder ein, dass er nie gut mit Mädchen hatte umgehen können. Es wäre sogar einfacher gewesen, wenn wir als Kaiser und Königin miteinander geredet hatten. Den formellen Ton beherrschte er ja mittlerweile ganz gut. Schließlich war sie es, die das Schweigen brach. „Du scheinst es ja zu genießen, dass du der Kaiser bist“, meinte sie und deutete vergnügt auf die Weinflasche. Ken tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. Sie ist viel offener als vor sechs Jahren. Andererseits hatte er sie damals auch nicht gut gekannt. Sie war auch offen zu ihm gewesen, als sie ihn unter dem Einfluss der Saat beschimpft hatte. Die folgende Ernüchterung und all die übernatürlichen Geschehnisse hatten das Mädchen von damals wahrscheinlich nur verschüchtert wirken lassen. „Der ist schließlich auf meinem eigenen Land gewachsen.“ Er räusperte sich, weil er fand, dass seine Stimme dünn klang. „Die Weinreben, meine ich.“ „Dann gefällt es dir? Kaiser zu sein, meine ich“, sagte sie im selben Tonfall. Veräppelte sie ihn gerade? „Es hat alles seine Schattenseiten“, meinte er und starrte in sein Spiegelbild in seiner Teetasse. Sein Gesicht war wie immer, das Haar ein wenig länger. Fast hätte er meinem können, er betrachte sein Spiegelbild daheim in der Realen Welt, fernab von alledem hier. „Und die Schattenseite des DigimonKaisers heißt Deemon.“ Nadine nickte. „Ja, dieser komische Kapuzenmann, richtig? Was weißt du über ihn?“ „Wir haben ihn auch erst kennen gelernt, als Oikawa … als er euch entführt hat.“ „Wir sind freiwillig mit ihm gegangen“, klärte ihn Nadine auf und zwinkerte. „Entführt zu werden hört sich so unrühmlich an.“ „Dann sagen wir, als Oikawa mich entführt hat“, schlug Ken vor. „Deemon wollte auch die Saat der Finsternis. Um seine dunkle Macht zu stärken, wenn ich mich nicht irre. Ihr wart noch in dem Laster, vielleicht habt ihr es nicht gesehen, aber wir haben gegen es gekämpft. Weil es zu stark für uns war, haben wir es ans Meer der Dunkelheit verbannt.“ „Wo es aber nicht lange geblieben ist.“ Nadine seufzte. „Den Rest kenne ich. Schade, du weißt also auch nicht mehr.“ „Ich … tut mir leid.“ Eigentlich hatte er geglaubt, Deemon recht gut zu kennen. Dabei waren die Saatkinder ja auch die ganze Zeit dabei gewesen. „Hast du Deemon denn schon zum Verstummen gebracht?“ „Verstummen?“ Er sah sie verwirrt an. Nadine gluckste. „Findest du’s nicht lästig, wenn es dir dauernd in deine Gedanken spukt?“ „Das … ja, allerdings. Willst du damit sagen, mit dir spricht es nicht? Mir hat es bestätigt, dass es mit euch …mit uns allen reden kann.“ „Hat es auch, früher. Bis ich ihm das Maul gestopft habe.“ Nadine machte eine Bewegung, als würde sie einen Reißverschluss um ihre Lippen zuziehen. „Wenn du willst, zeig ich dir, wie es geht. Es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn man auf das Biest hört, das hab ich schnell bemerkt.“ „Da hast du recht.“ Ken legte das Besteck zur Seite. „Würde es dir … etwas ausmachen, wenn du es mir gleich zeigst?“ „Klar, warum nicht.“ Sie stand auf und ging um den Tisch herum auf ihn zu. „Nein, warte, bleib ruhig sitzen“, sagte sie, als er sich ebenfalls erheben wollte, und legte ihre Hand auf seine Schulter, knapp neben seinen metallenen Aufsätzen. Sie fühlte sich warm an, die erste menschliche Hand, die er gespürt hatte, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte. Sah man von Matts und Yoleis Schlägen ab. Er merkte, dass Nadine nach Rosen duftete, was ihn im Grunde wohl wenig überraschen durfte. „So, konzentriere dich“, sagte sie mit ruhiger, plätschernder Stimme. „Schließ die Augen. Suche Deemon in deinen Gedanken auf, dann tu genau, was ich dir sage.“ Ken forcierte seine Gedanken auf den Augenblick, und die Welt verlor die Farbe. Deemons Gestalt flimmerte in der Ecke des Raumes, zweidimensional, aber immer anwesend, der einzige Farbklecks. Es schien zu ahnen, was vor sich ging. „Bist du sicher, dass du das tun willst, Ken?“, fragte es. „Hast du selbst nicht gesagt, dass meine Worte alles sind, mit dem ich dich beeinflussen kann, und du Worte nicht fürchtest?“ Ken zog sich wieder ein bisschen in die Realität zurück, sodass er Nadines nächste Worte hören konnte. Es wäre ungemein praktisch gewesen, wenn er einfach auch ihre Gedanken gehört hätte, aber so eine Art von Telepathie war natürlich unmöglich. „Wenn du es vor dir hast, vergegenwärtige dir, dass das alles nur in deinem Kopf geschieht. Es sind deine Gedanken, und nur du allein hast die Macht, sie zu lenken. Sobald du das erkennst, kannst du Deemon daraus verbannen. Versuche es. Stell dir vor, der Ort, wo Deemon steht, wäre leer. Oder ein Schwarzer Turm, oder eine riesige Schale Pfirsichsorbet.“ Einmal mehr tauchte Ken in seine Gedankenwelt ein. Da er nicht antwortete, behielt Deemon die Würde, nichts weiter zu sagen. Ken strengte sich an. Meine Gedanken, mein Kopf. Was bist du schon? Ich habe so viele Gedanken, so viele Sorgen, eine dünne Gestalt wie du müsste davon zerdrückt werden. Er fühlte die Wärme von Nadines Hand und erinnerte sich an seinen Gedanken von vorhin, und stellte sich schließlich vor, anstelle von Deemon würde Nadine dort stehen, und dahinter Davis und Wormmon. Die flackernde Gestalt verblasste, das Bild wurde unklar, wie es Ken bei gedanklichen Bildern gewohnt war, und als Deemon schließlich völlig verschwand und ein erlösendes Vakuum zu hinterlassen schien, meinte Ken, ein paar letzte Worte in seinem Kopf herumspuken zu hören. Das wirst du bitter bereuen. Für ihn bedeuteten diese Worte einen Segen, aber er wusste nicht, ob sie tatsächlich Deemons waren oder ob er sie sich nur wünschte und sie deshalb in seinen Gedanken waren. Seine Gedankenwelt gehört schließlich ihm. Er öffnete die Augen. Die Welt schien ihm plötzlich so farbenfroh wie noch nie zuvor. „Es ist weg“, hauchte er. „Ich hab’s dir doch versprochen“, meinte sie vergnügt. „Wie hast du das herausgefunden?“ „Och, ich bin eben zu dieser Erkenntnis gelangt. Dass meine Gedanken das Einzige sind, was mir allein gehört“, sagte sie und ging wieder zu ihrem Platz, zog den Stuhl zurück und machte sich an die Nachspeise. „Ich war aber überrascht, dass es wirklich geklappt hat.“ „Pfirsichsorbet?“, fragte er. Nadine kicherte verhalten. „Mein Lieblingsessen. Mir ist spontan nichts anderes eingefallen.“ Ken musste auch schwach lächeln. Das Lächeln fiel ihm heute leicht, merkte er. Dann aber erstarb es wieder, als ihn ein anderer Gedanke beschäftigte, und er rollte eine Zuckergusskugel seiner Torte mit der Gabel über den Teller. „Ich frage mich die ganze Zeit, warum du nicht wie die anderen bist. Versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass du dich erinnerst, wirklich. Aber warum hat Deemon deine Erinnerungen nicht auch gelöscht?“ „Was ist mit dir?“, fragte sie zurück. Ken ließ sich mit der Antwort Zeit. „Es klingt vielleicht ein wenig selbstverliebt“, begann er, „aber Deemon hat gemeint, weil ich … schlau wäre. Und mir meine Erinnerungen an mein früheres Ich als DigimonKaiser helfen würden.“ „Da hat es wohl ein bisschen geflunkert“, meinte sie und zwinkerte ihm schelmisch zu. „Das ist zumindest meine Interpretation. Ich habe gefühlt, dass es etwas mit meinem Kopf machen will. Aber ich hab mich konzentriert, darauf, wer und was ich bin, und ich habe alles behalten. Meine Theorie ist, dass es an der Saat liegt. Nein, eher daran, wann die Saat entfernt wurde. Ich hab sie ja als Erste verloren, erinnerst du dich? Nach dir.“ Das stimmte. Es war zwar nicht viel Zeit zwischen dem Erblühen ihrer Blume der Finsternis und der der anderen Kinder vergangen, aber vielleicht war reichte das und irgendwo in dieser Zeitspanne lag der Kipppunkt. Womöglich hatte Deemon es sogar bei ihm versucht, aber weil er ungleich früher von der aktiven Saat losgekommen war, hatte es überhaupt nichts ausrichten können. Zuzutrauen wäre es ihm. „Köstlich. Aber ein klein wenig zu süß, wenn du mich fragst“, kommentierte Nadine den Kuchen. „Du sagst es. Mein Spion ist ein Schleckermaul. Das musst du nicht verstehen“, fügte er hinzu, als sie ihn fragend ansah. „Also“, meinte sie, als sie die Hälfte der Cremeschnitte schließlich von sich schob. „Wie verbleiben wir?“ „Was meinst du?“ „Du glaubst ja nicht im Ernst, dass ich Deemons Spiel jetzt noch weiterspiele. Du etwa? Wir wollen beide in unsere Welt zurück, und wir wissen beide, was zu tun ist. Ist doch klar, dass wir dein Kaiserreich und mein Königreich vereinen.“ „Du meinst, ein Bündnis schließen und unsere Gebiete vereinen?“ „Nein, ich meine, dass wir zwei jetzt miteinander in die Kiste springen sollten“, sagte sie trocken. „Was glaubst du denn, wovon ich rede?“ „Dann hätte ich gleich die erste Bitte.“ „Dein Bohrturm.“ Ken nickte. Nadine zuckte mit den Schultern. „Da wusste ich noch nicht, dass du es bist. Es hätte jedes Saatkind eine Brille aufsetzen und sich für den wiedergeborenen Schurken namens DigimonKaiser halten können. Gut, ich rede mit der Besatzung. Überhaupt, wir müssen uns entscheiden. Behalten wir deine Türme oder meine?“ Ken verstand. Ihre Schwarzen Türme konkurrierten im Moment miteinander. Sie nährten beide die Macht der Finsternis, aber ihre Wellenlänge passte nicht zueinander. Einer von ihnen musste das Gebiet des anderen übernehmen, darauf lief es hinaus. Dann gab es mehr Türme von einer Sorte, Deemon würde schneller aus seinem Versteck getrieben, und ihre Reiche währen wahrhaft vereint. „Mal sehen“, überlegte er. „Hast du Schwarze Ringe, mit denen du deine Digimon kontrollieren kannst?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was du meinst. Nein, mit Verbrechern mache ich üblicherweise … das Übliche. Ich sperre sie ein, meistens. Von Schwarzen Ringen hab ich keine Ahnung.“ „Und wie baust du die Türme?“ „Mit dem Granulat, natürlich.“ „Kannst du den Bau auch mit deinem DigiVice beschleunigen?“ „Geht das denn?“ „Ich verstehe.“ Er verschränkte die Arme. „Wenn man das so betrachtet, scheinen meine Türme die bessere Wahl zu sein.“ Nadine zuckte nur mit den Schultern und zog eine Schnute. „Wenn du meinst. Mir ist es ziemlich egal. Aber vermutlich hast du recht.“ „Gut. Wir setzen am besten ein öffentliches Schreiben auf, einen Vertrag“, überlegte Ken. „Damit jeder in unseren Reichen unser Bündnis auch anerkennt.“ „Hm …“, meinte Nadine und putzte Krümel auf ihrem Teller zusammen. „Es gibt doch eigentlich nur einen Weg, um so ein Bündnis richtig offiziell zu machen.“ „Was meinst du?“ Sie schob sich eine Gabel voll Kuchenkrümel in den Mund und nuschelte: „Ist doch klar, wir heiraten. Kaiser und Kaiserin, Ende gut, alles gut.“ Ken starrte sie mit offenem Mund an und sie prustete los. „Keine Angst, das war ein Witz“, rief sie. „Mal ehrlich, was soll der ganze Mist mit diesen politischen Eheschließungen? War die DigiWelt schon immer so?“ „Nein“, murmelte Ken und fühlte, wie sich leichte Röte auf seine Wangen schlich. Hoffentlich bemerkte sie es nicht. „Das ist nur eine weitere Spielerei von Deemon. Es hat auch nie so viele … Reiche gegeben. Eher Anarchie.“ „Ich vermute, das kommt dabei heraus, wenn man einen Haufen Könige in die DigiWelt wirft“, seufzte Nadine. „Warst du denn selbst nie hier?“ „Was? Ach so, tut mir leid, ich hab’s vielleicht falsch ausgedrückt. Ich wollte fragen, ob es zu deiner Zeit auch schon so war. Klar, die anderen und ich sind auch oft in die DigiWelt gegangen. Naja, es gab dort eigentlich nicht viel zu tun. Oikawas letzter Wunsch hat die Verwüstungen ja so gut wie beseitigt, und wir waren eigentlich nur zur Erholung dort. In den letzten Jahren aber eher weniger.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr während ihres Lachanfalls aus ihrer Frisur gerutscht war. Ihre Miene wurde düster. „Ich hab übrigens versucht, die anderen danach zu fragen. Keiko, Takashi und Hiroshi. Mehr von uns hab ich nicht gefunden. Sie erinnern sich aber alle nicht, glauben, das hier wäre ein Spiel und sie die besonderen Hauptfiguren.“ „Sie haben mit dir gesprochen?“, fragte Ken ungläubig. Auf seine Botschaften waren nicht einmal Antworten gekommen, dabei hätte er gerne mit ihnen allen geredet und versucht, ihnen die Lage zu erklären. „Mit dir nicht?“ Nadine kicherte. „Wundert mich nicht. Du stehst ja auf einer ganz anderen Stufe als wir. Wir alle wissen das.“ Ja, ich scheine der Liebling von Deemon zu sein. Ken zog es vor, nicht genauer nachzufragen, aber er glaubte, dass es etwas mit einem gewissen anderen DigimonKaiser zu tun hatte, der vor Jahren auch in dieser Version der DigiWelt nichts als Unfrieden gestiftet hatte. „Keiko, Takashi, und … Wie hast du noch gesagt?“ „Hiroshi. Die drei haben sich sogar verschworen, auch wenn ich nicht glaube, dass das lange hält. Takashi hat die anderen beiden zu seinen Vasallen gemacht. Er sitzt in der Kaktuswüste.“ Das Einhorn. Ken nickte. Er wusste nicht mehr, wer von den Kindern damals so geheißen hatte, aber immerhin hatte er nun einen Namen. „Keiko und Hiroshi sind Territoriallords in der Goldenen Zone. Dort waren sie mir schon ziemlich lästig, vor allem in der Wildwest-Stadt. Sie expandieren gegenwärtig nach Norden, soweit ich informiert bin.“ In dem Moment flog die Tür auf und Wormmon preschte herein, dicht gefolgt von Elecmon. Das kleine grüne Digimon machte einen Satz und landete auf Kens Schoß, wo es wimmernd sein Köpfchen in seinem Anzug vergrub. „Was ist los, Wormmon?“, fragte er, doch es sah ihn nur kurz aus tränenunterlaufenen Augen an und drückte sich wieder an ihn. „Elecmon!“, sagte Nadine vorwurfsvoll. „Was hast du mit ihm angestellt?“ „Nichts. Hab es nur ein bisschen gekitzelt“, maulte das rotblaue Digimon und verzog das Gesicht. „Dein Kitzeln kenn ich. Mit Elektroschocks, ja? Das arme Ding.“ Sie wandte sich an Ken. „Tut mir leid, Elecmon kann manchmal ganz schön rabiat sein.“ „Oh, das … das macht doch nichts. Nicht wahr, Wormmon?“ Wormmon sah ihn hilflos an, dann Nadine, dann Elecmon, das grinste. Schließlich kehrte ein entschlossener Ausdruck in seine Augen zurück. „Nein, ich hab es ja kaum gespürt“, sagte es, sein piepsiger Tonfall strafte seine Worte dermaßen Lügen, dass Nadine in schallendes Gelächter ausbrach. „Hier, teilt euch die“, meinte Ken versöhnlich und schob Wormmon das Stück von Nadines Cremeschnitte hin, das sie übrig gelassen hatte. „Wenn du gestattest.“ „Klar“, sagte Nadine. „Ist das eigentlich dein richtiger Name?“ „Was? Klar? Oder Schwarze Rose?“, spöttelte sie über seinen Gedankensprung. „Nadine. Wobei mich auch interessieren würde, wie du auf die Schwarze Rose gekommen bist.“ „Wie bist du auf dein Wappen gekommen?“ „Ich hab es mir nicht ausgesucht.“ „Das ist das Wappen der Freundlichkeit“, erklärte Wormmon, und während es wegsah, stibitzte Elecmon einen großen Teil von seinem Kuchenstück. „Die alten DigiRitter hatten alle ein Wappen. Sie haben es zumeist immer noch, in ihren jeweiligen Armeen. So erkennst du meine alten Freunde“, meinte er niedergeschlagen. „Und ich … Tja, sieht so aus, als hätte ich auch eins zugewiesen bekommen.“ „Verstehe. Naja, wie bin ich darauf gekommen … Ich mag Rosen, und ich wollte ein wenig gefährlich wirken“, meinte sie mit einem verlegenen Lächeln. „Heraus kam dann eine schwarze Rose. Einen Nobelpreis für Einfallsreichtum gewinne ich dafür sicher nicht.“ Ken lächelte leise. „Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“ „Ach ja, mein Name. Also – ja und nein. Meine Eltern rufen mich immer Nadine. Die haben so ein richtiges Faible für westliche Kultur und westliche Namen. Daher durfte ich mit Messer und Gabel essen, ehe sie mir die ersten Stäbchen gezeigt haben.“ Sie grinste. „Auf Papier und in Akten heiße ich aber Noriko Kawada. Freut mich, Ken.“ Noriko … „Freut mich ebenfalls.“ Sie lächelte ihn an und ihr Blick glitt zu der Flasche Wein, die noch brav im Rest ihrer Eiswürfel schwamm. „Da ja jetzt wohl alles gesagt ist, was hältst du davon, wenn wir das Ding da jetzt doch köpfen?“   I’m suddenly awake again and free from all those voices Sounds in the wind are dancing in silence I know now what I have to do; I have no time for waiting Now starts the time when war begins again (Celesty – Euphoric Dream) Kapitel 16: Zuckerguss und Peitsche ----------------------------------- Tag 36   WaruMonzaemons Peitsche saß immer locker, so auch an dem Tag, an dem es hohen Besuch bekam. Cody war auf dem Rückweg von Gladimon, das ein kleines, schmutziges Haus am Stadtrand bewohnte. Wann immer er das weite Dünenmeer und den schmalen Streifen lebendigen Grüns am Horizont sah, überkam ihn der Gedanke, einfach loszulaufen. Die Wüste hörte nach einigen Meilen im Westen auf, wie er wusste, aber das war ein trügerischer Gedanke. Nach der Wüste kam eine teils verbrannte Steppe, in der es nur wenig mehr Wasser gab und nirgendwo einen Ort zum Verstecken. Die Sklavenjäger würden ihn sofort einfangen, und die Strafe für entflohene Sklaven war grausam. Und außerdem musste er auf Chichos aufpassen, und für das Mädchen wäre die Flucht durch diese Einöde zu viel verlangt. Also machte er sich jedes Mal, wenn sein Fechtlehrer mit ihm fertig war und er sich wieder neue Blessuren und neue Schwerttricks eingehandelt hatte, zurück in den Stadtkern von Masla. Die Sonne stand weit im Westen, ein großer Feuerball und rot wie eine frische Wunde. Die Schatten waren absurd lang und dünn, aber die Hitze des Tages wollte noch nicht weichen. Codys Hemd war mit dunklen Schweißflecken verziert. Der Staub der Straße kratzte unangenehm in seinem Hals. Letzte Nacht hatte ein Sandsturm Masla heimgesucht. Die waren nie sehr gefährlich, aber am nächsten Tag zierten die flachen Häuserdächer dann immer kleine Sandgüpfchen, wie Schnee in anderen Teilen der DigiWelt. Nicht, dass er je Schnee gesehen hätte, aber fahrende Händler hatten ihm davon erzählt und es war nicht schwer, ihn sich vorzustellen. Für gewöhnlich durfte sich Cody an einem Abend nach dem Training ausruhen, was auch dringend nötig war. In zwei Tagen fand der nächste Arenakampf statt, also würde er auch morgen nur leichte Arbeiten übernehmen müssen. Als er jedoch den schmucklosen Sklaveneingang an der Rückseite von WaruMonzaemons Anwesen betreten und sich hinlegen wollte, passte ihn Floramon ab. „Du sollst sofort zu WaruMonzaemon gehen“, lispelte es. „Es hat hohen Besuch und will dich unbedingt dabeihaben. Komm, komm.“ „Wieso mich?“ „Weiß nicht, wahrscheinlich weil du sein größter Stolz bis. Frag nicht so viel, los, los.“ WaruMonzaemons Anwesen besaß einen ganzen Saal nur für wichtige Besuche: das oberste Stockwerk, direkt unter dem Dach, mit Fensteröffnungen nach allen Seiten. Seine Empfangshalle, wie er es nannte, was prunkvoller eingerichtet als der Rest seines Hauses, mit bequemen Liegen mit vergoldeten Metallstützen, Teppichen, goldenen Kelchen und Auszeichnungen, vergoldeten Kerzenhaltern, Einrichtungsgegenständen aus dunklem, edlem Holz mit reicher Verzierung, und, und, und. WaruMonzaemon lümmelte auf einer der Liegen vor einem geschnitzten Tischchen, auf dem in Schalen Weintrauben, Rosinen, Oliven und Datteln auf den Verzehr warteten, außerdem große Bienenwaben von Honeybeemon – das teuerste an Süßzeug, was WaruMonzaemon besaß. Ihm gegenüber saß auf einer weiteren Liege ein Menschenmädchen, das ihm den Rücken zuwandte. Braunes, volles Haar fiel ihr bis auf den Rücken. Sie war in strenge, dunkelgrüne Militärkleidung gehüllt. Um ihre Hüfte schlenkerte ein Waffengurt, in dem Munition und ein Revolver steckten. Neben sich auf die Liege hatte sie ein schlappes Barett gelegt, auf dem ein goldenes Emblem prangte, eine stilisierte Sonne, die hinter dem Horizont verschwand. Chichos war auch in dem Raum; sie stand mit einem großen Porzellankrug in den Händen stocksteif neben den beiden, bereit, ihre Kelche nachzufüllen, sobald sie leer wurden. Soweit Cody erkennen konnte, tranken sie mit Honig gesüßte Limonade. „Na endlich!“, grummelte WaruMonzaemon und richtete seinen Wanst schwerfällig auf. „Das da ist er.“ Das Mädchen drehte sich zu ihm um. Sie schien ein wenig älter zu sein als er, aber er konnte sich täuschen. Sie hatte dunkle Augen, und das Markanteste in ihrem Gesicht waren ihre langen Wimpern. Ihre Uniform offenbarte erst auf der Vorderseite ihre ganze Pracht: Goldene Zierschnüre und Borten schmückten die Taschen. Auf der rechten Brust trug sie einen ganzen Wald von goldenen bis silbernen Orden; links, über dem Herzen, erregten zwei einzelne Abzeichen Aufmerksamkeit. Eines war mit derselben untergehenden Sonne bestickt, orangerot und braun auf einem tiefblauen Hintergrund. Ein orangerotes und ein braunes Band hingen daran. Das zweite Abzeichen zeigte das Symbol des Königs aus der Wüste, das orangefarbene Einhorn auf schwarzem Feld, mit gleichfarbigen Bändern. Obwohl das Mädchen eine Militäruniform trug, hatte sie keinerlei Dienstgradabzeichen auf den Schulteraufsätzen, aber wahrscheinlich war das nicht notwendig. Kein Digimon, das Cody je gesehen hatte, trug eine ähnliche Uniform. Wenn man sie auf dem Schlachtfeld sah, wusste man, wen man vor sich hatte. Er stutzte. Dienstgradabzeichen? Wieso dachte er plötzlich, dass eine Uniform so etwas bräuchte? Er war verwirrt. „Was starrst du so dämlich?“, fuhr ihn WaruMonzaemon an und riss ihn aus seinen Gedanken. „Knie gefälligst nieder, wenn du vor deiner Herrin stehst! Und waschen hättest du dich auch können, du siehst aus, als wärst du durch einen See aus Dreck geschwommen.“ Ich hatte doch sofort hierherkommen sollen. Cody senkte sofort den Blick und sank demütig auf beide Knie. „Das ist also Euer Gladiator?“ Das Mädchen hatte eine gepresst wirkende Stimme, die fast niedlich klang, aber sie war von einer gewissen Gleichgültigkeit durchdrungen, wie sie nur höhergestellte Offiziere besaßen. „Dreschflegel, ja.“ „Seid so gut und stellt mich vor. Er scheint nicht zu wissen, wen er vor sich hat. Ich komme von einem Feldzug, daher bin ich nicht in angemessenerer Kleidung hier.“ „Natürlich, wie nachlässig von mir.“ Cody hätte immer für sein Leben gern ein so katzbuckelndes WaruMonzaemon gesehen, aber der Anlass dämpfte seine Genugtuung. „Cody, das ist Ihre Durchlaucht Fürstin Keiko, Territorialherrin von Masla und des Walds des Abendlichts. Also benimm dich.“ Cody neigte den Kopf. Hochgeborenen begegnete man mit dem nötigen Respekt, das hatte man ihn gelehrt. Aber sie herrschte demnach über diese Stadt und hielt die Sklavengesetze aufrecht. Er schwieg. „Scheint mir ein sehr folgsamer Sklave zu sein“, meinte Keiko. „Ich tu, was ich kann. Manchmal hat er Anwandlungen von Ungehorsam, aber die treibe ich ihm schon noch aus.“ Als Cody aufblickte, sah er Keikos Blick abschätzig auf ihm ruhen. „Ich habe deinen letzten Kampf gesehen. Beeindruckend. Aber warum hast du das Kotemon verschont?“ Das schon wieder? „Ich habe es fair besiegt, Euer Durchlaucht. Sein Leben lag in meinen Händen, daher war es meine Entscheidung, nicht die des Publikums.“ „Aber warum hast du dich so entschieden?“ „Ich hatte ja keinen Grund, es zu töten, oder?“, murmelte er und schien damit einen Tonfall anzuschlagen, der gereizt genug klang, dass WaruMonzaemon sich genötigt fühlte, ihn zu tadeln. „Pass auf, wie du mit Ihrer Durchlaucht sprichst, unverschämter Junge! Das habe ich gemeint, seht Ihr? Der Bengel hat keine Manieren. Aber er kämpft gut.“ „Für einen Menschen, ja. Hast du nie gegen ein wirklich großes Digimon gekämpft? Ein SkullMeramon zum Beispiel? Oder ein Boltmon?“ Das waren alles Digimon, die ihn mühelos zu Kleinholz verarbeiten konnten. „Nein, mit Verlaub. Mein Herr meldet mich immer nur für Kämpfe an, in denen ich eine reelle Chance habe. Das Äußerste war ein Boogeymon.“ Das war eine Herausforderung gewesen, die sich gewaschen hatte. Das dämonische Digimon hatte fliegen können und ihm mit seinem Dreizack fast den Garaus gemacht. Letzten Endes hatte Cody durch eine Riesenportion Glück und mit einer üblen Wunde am Rücken gewonnen. „Ich kann es mir nicht leisten, meinen besten Arenasklaven kaputtzumachen“, verteidigte sich WaruMonzaemon. „Es gibt Dinge, die ein gewöhnlicher Mensch niemals schafft. Euch natürlich ausgeschlossen, Milady“, beeilte es sich hinzuzufügen. Keiko achtete gar nicht auf es. „Trotzdem, Dreschflegel scheint mir einen guten Krieger abzugeben.“ „Cody“, sagte er. „Ich heiße Cody.“ „Legst du es darauf an, meine Peitsche zu spüren?“, brüllte WaruMonzaemon, das diese Worte als Krönung der Frechheit empfand. Keiko brachte es mit einer Handbewegung zum Verstummen. „Hast du überhaupt schon einmal ein Digimon getötet, Cody?“ „Ja, Milady.“ Manchmal blieb ihm keine Wahl. In einem Arenakampf ging es schließlich meistens um Leben oder Sterben, ohne dass das Publikum auch nur die Chance hatte, sich einzumischen. WaruMonzaemon schien sich unwohl zu fühlen. „Verzeiht meine Ignoranz, Euer Durchlaucht, aber warum fragt Ihr ihn das alles? Ihr könnt mich ebenso gut fragen, er ist nur ein dummer Mensch. Ich will damit nicht sagen, dass Menschen dumm sind, gewiss nicht, aber er ist ein … ein dummer Sklave, ja.“ Cody sah es finster an. Keiko schienen die ständigen Ausrutscher des Bärendigimons herzlich egal zu sein, aber er kochte innerlich vor Wut. Endlich richtete die Fürstin ihr Augenmerk wieder auf WaruMonzaemon. „Wir brauchen neue Rekruten“, sagte sie. „König Takashi hat alle verfügbaren Truppen nach Osten gerufen. Der DigimonKaiser macht mobil.“ Der DigimonKaiser? Cody verkrampfte sich. Er hatte Geschichten über ihn gehört. Die Sklavenherren beschrieben ihn als größte Geißel der DigiWelt – oder als ihr großes Vorbild, je nachdem, wen man fragte. Er beschäftigte eine Armee aus Sklaven, doch denen wurde nicht einmal ihr freier Wille gelassen. Schwarze Ringe unterwarfen sie vollständig seinem Befehl und löschten das Individuum damit quasi aus. „Schlimme Nachrichten. Aber kann er uns hier überhaupt erreichen? Er ist weit weg von hier, selbst wenn er vom Stiefel aus angreift“, wandte WaruMonzaemon ein. Anscheinend verstand es ein bisschen was vom Krieg. Keiko sah es abfällig an. „Wenn der König zu den Fahnen ruft, müssen ihm seine Vasallen folgen“, erklärte sie schlicht. „Aber es stimmt, niemand in der Goldenen Zone sieht den DigimonKaiser als Bedrohung. Da sind die Geplänkel, die ich mir mit der Schwarzen Rose liefern darf, aufregender. Wir halten im Moment die Wildwest-Stadt und haben sie bis hinter den Trostlosfluss zurückgeschlagen.“ Die Fürstin hielt ihren Kelch hoch. Chichos, die in Tagträumerei versunken war, zuckte zusammen und schenkte sofort nach. WaruMonzaemon funkelte sie an. „Gut und schön“, murmelte WaruMonzaemon. „Ich weiß nur immer noch nicht, warum Ihr ausgerechnet mich aufgesucht habt, Milady. Nicht, dass ich mich über Eure Gesellschaft nicht freue, im Gegenteil, es ist mir eine Ehre, aber ich kann Euch weder den Komfort einer Herberge bieten, die Eures Standes würdig ist, noch einen großen Anteil an Eurem … unserem Krieg leisten. Es sei denn, Ihr verlangt von mir, die Truppen mit meinen Nahrungsmitteln zu unterstützen.“ Das würde ihm überhaupt nicht in den Kram passen, wie Cody wusste. Der Krieg forderte Opfer von allen, aber es waren immer die Reichen, die am lautesten aufstöhnten, wenn ihre Vorräte eingezogen wurden, um die Armee zu verpflegen. „Ich dachte, ich hätte es bereits gesagt. Ich brauche Rekruten.“ Keiko trank die Hälfte ihres Kelches leer. „Rek… Euer, Euer Durchlaucht, Ihr meint doch nicht … Ihr wollt meinen Sklaven an der Front einsetzen?“ WaruMonzaemon schien entsetzt. Cody war ebenfalls nicht sonderlich begeistert. Im Krieg geschahen furchtbare Dinge, das waren keine fairen Zweikämpfe … Und niemand würde ihm die Wahl lassen. Er würde seine Gegner töten müssen. „Nicht Euren Sklaven. Meinen. Ich beabsichtige, ihn Euch abzukaufen. Nennt mir Euren Preis.“ „Das … Das ist … Milady, es liegt mir natürlich fern, Euch zu beratschlagen, aber solltet Ihr Eure Mittel nicht sinnvoller einsetzen? Soldaten zu bezahlen scheint mir der billigere Weg zu sein, als für einen Sklaven so viel hinzublättern, wenn Ihr erlaubt …“ Cody hatte WaruMonzaemon noch nie nervös gesehen. Es redete so schnell, dass es sich ein paarmal verhaspelte. Er verzog keine Miene, obwohl das ein Verkaufsgespräch war, bei dem er zur Debatte stand. „Gold habe ich genug“, entgegnete Keiko trocken. „Denkt nur an den Namen dieses Gebiets. Was mir fehlt, sind die Soldaten, von denen Ihr sprecht. Bauern und Arbeiter brauchen wir innerhalb des Reiches; fallen sie im Krieg, fehlen sie anderswo. Aber Sklaven, die sich hirnlos zum Vergnügen von reichen Geldsäcken die Schädel einschlagen, kann man entbehren. Das verstehe ich unter sinnvoller einsetzen, WaruMonzaemon.“ Sie trank ihren Kelch leer und bekam sofort wieder nachgeschenkt. WaruMonzaemons mit Nähten geschmückter Mund klappte sprachlos auf und Cody verspürte einen Funken Sympathie für diese Frau. Auch wenn aus ihr purer Eigennutz sprach, gesunder Menschenverstand allein sprach gegen die Arenakämpfe, und sie fasste das in Worte. „Aber das … Trotzdem, Cody ist nicht für das offene Feld geschaffen. Er kennt nur die Arena, und er hat eine seltsame … Moral. Er wird abgeschlachtet werden, und Eure Ausgaben waren umsonst …“ „Er kann präzise zuschlagen, das habe ich gesehen. Ich verstehe etwas von solchen Sachen, WaruMonzaemon.“ „Das habe … ich nie bestritten“, murmelte das Bärendigimon. „Selbst wenn er in der Schlacht ein einziges Snimon des DigimonKaisers abwehrt, hat es sich gelohnt. Wenn nicht, stärkt er vielleicht die Moral unserer Truppen.“ „Ja, aber … Milady …“ „Euren Preis, Sklavenherr.“ WaruMonzaemon gab fast wimmernde Laute von sich und rang mit den Pranken. „Das … Das kann ich nicht tun, Milady. Ich erbitte untertänigst Eure Verzeihung.“ Sie hob eine Augenbraue. „Warum? Ich dachte, er bereitet Euch so viele Schwierigkeiten?“ „Gewiss, aber er … Er ist unentbehrlich. In drei Wochen findet im Großen Kolosseum das größte Fechtturnier in der DigiWelt statt, dort soll er mein Kämpfer sein und für mich siegen.“ „Zweifellos wird dann jeder in diesem Teil der DigiWelt Euren Namen kennen und Ihr werdet viel Geld dabei einstecken“, meinte Keiko säuerlich. „Und der Junge viel Ruhm!“, beteuerte WaruMonzaemon. „Ich bitte Euch, lasst ihn mir bis dahin. Wenn das Turnier vorbei ist, verkaufe ich ihn. Oh, wie stark würden sich Eure Truppen fühlen, wenn der Champion des Großen Kolosseums an ihrer Seite kämpfte!“ Also komme ich doch ins Kolosseum, dachte Cody bitter. Mir bleibt auch gar nichts erspart. „Hm.“ Keiko ließ sich das durch den Kopf gehen. „Also gut, einverstanden. Verlasst Euch aber nicht zu sehr auf Euer Glück, WaruMonzaemon. Ich werde um ein königliches Dekret ansuchen, sobald ich wieder in der Kaktuswüste bin. Das Kolosseum liegt gefährlich; wenn der DigimonKaiser das Gebiet einnimmt oder verwüstet, werde ich mir den Sklaven holen, verstanden?“ „Jawohl, Milady, tut, was immer Euch beliebt.“ Selbst WaruMonzaemon verbeugte sich jetzt erleichtert. Als Cody eben fragen wollte, ob er nun gehen dürfe, betrat Floramon mit einem Silbertablett den Raum. Keiko dürfte eine Naschkatze sein, denn es servierte ihnen ein großes Stück Torte, wie WaruMonzaemon sie gerne seinen engsten Freunden präsentierte, aus heller Schokolade mit einer zwei Zentimeter dicken Schicht aus Marzipan und hartem Zuckerguss und mit kristallinem Honig geschmückt. „Oh, das sieht köstlich aus“, meinte Keiko. „Nur das Beste für Euch“, murmelte der Teddy, der immer noch ein wenig Brummbär war. „Du da, Chichos, schneide die Torte für unseren Gast an.“ WaruMonzaemons Freunde waren allesamt Digimon, die ihre Tortenstücke brachial mit Zähnen und Klauen herausrissen – oder WaruMonzaemon tat das mit seiner gewaltigen Kralle selbst. Für die heutige Gelegenheit schien ihm das zu schmutzig zu sein. Als Chichos zögerlich nach der Machete griff, die als Kuchenmesser diente, überschlug Keiko schnaubend die Beine. „Ihr wollt so eine Klinge einem kleinen Mädchen zumuten? Am Ende schneidet sie sich den Finger ab und bespritzt meine Uniform mit Blut.“ Sie warf Cody einen Blick zu. „Wir haben hier doch einen Spezialisten für scharfe Sachen.“ WaruMonzaemon brummte Chichos an, sich wieder um die Limonade zu kümmern. „Dann zeig Milady nochmal deine Schwertkünste.“ Das war doch wohl ein schlechter Scherz. Betont langsam säbelte Cody durch die harten Zuckerschichten. Sollte er diese Keiko jetzt auch noch bedienen? Er war müde, ihm tat alles weh, und er musste übermorgen in die Arena. Keiko und WaruMonzaemon unterhielten sich indes weiter über den Krieg. „Ich hörte, Ihr habt gute Kontakte zu den Honeybeemon und Fanbeemon“, sagte Keiko. „Wie man es nimmt.“ WaruMonzaemon sah sie misstrauisch an, als fürchtete er, sie könnte gleich wieder Forderungen stellen, die es unmöglich abschlagen könnte. „Es gibt da gewisse Digimon, mit denen zu sprechen ich großes Interesse habe. Ich habe nur Gerüchte von ihnen gehört, aber falls es sie gibt, werden uns die Bienendigimon da weiterhelfen können.“ „Ihr sprecht von den Cannonbeemon.“ „Genau. Kennt Ihr welche? Oder kennt Ihr jemanden, der weiß, wie man mit ihnen Kontakt aufnehmen kann?“ „Ich kann meine Kontakte ausspielen“, bot WaruMonzaemon großzügig an. „Allerdings verlangen die meistens eine wenig bescheidene Summe … wenn Ihr versteht … und verzeiht, Eure Durchlaucht.“ „Ja, ich verstehe.“ Keiko verzog das Gesicht. Sie wusste, dass WaruMonzaemon den Großteil des Geldes einstecken musste. „Wenn es sein muss … Wie gesagt, ich habe genug Gold, aber zu wenige Soldaten. Cannonbeemon sollen stark und gut gepanzert sein. Insekten des Todes. Ich beabsichtige, sie in mein Erstes Metallenes Regiment aufzunehmen.“ „Das wird ihnen mit Sicherheit eine Ehre sein.“ Cody lud mit der Breitseite seiner Machete ein extra großes Stück Torte vor Keiko ab – damit WaruMonzaemons Ausgaben möglichst groß waren –, und machte sich daran, auch eines für seinen Herrn zu schneiden, als Keiko wieder einmal ihren Kelch leerte. Auf eine herrische Geste WaruMonzaemons hin trippelte Chichos um Cody herum, um ihr nachzuschenken, passte dabei nicht auf und verfing sich mit ihrem bloßen Fuß am Tischbein. Zu erschrocken, um einen Laut von sich zu geben, kippte sie mit aufgerissenem Mund und geweiteten Augen nach vorn und der Krug entglitt ihren Fingern. Keiko sprang wie von der Tarantel gestochen auf, doch zu spät. Süße, klebrige Limonade hatte ihre Uniform durchnässt und tropfte von den Orden auf ihrer Brust. Der Porzellanklug zerbrach klirrend am Boden. „Du ungeschicktes, kleines Monster“, polterte WaruMonzaemon und sprang so heftig und abrupt auf, dass die Beine seiner Liege über den Boden scherten. Chichos quietschte erschrocken auf und versuchte davonzuhuschen, aber das Digimon erwischte sie und verpasste ihr einen Stoß, der sie endgültig zu Boden schleuderte, mitten in den Scherbenhaufen. Während Keiko ihr Gesicht verzog und ihre Uniform abzuputzen versuchte, riss WaruMonzaemon die Peitsche aus der Naht an seiner Hüfte. „Willst du mir unbedingt Schande bereiten? Willst du das?“, brüllte es. Wie eine Giftschlange zuckte die Peitsche vor und wickelte sich schnalzend um Chichos Knöchel, die davonzukriechen versuchte. Das Mädchen kreischte laut auf und versank dann in wimmerndes Schluchzen. Als WaruMonzaemon erneut ausholen wollte, stellte sich Cody zwischen die beiden und hielt die Machete mit beiden Händen gepackt von sich. Finster starrte er seinen Herrn an. „Lasst sie in Ruhe!“, verlangte er mit schriller Stimme. „Es war ein Versehen!“ „Aus dem Weg, du Wicht“, brüllte das Bärendigimon und sah so aus, als würde sich nun sein Zorn auf Cody entladen. Ihm war es nur recht, besser er als Chichos … Trotzig packte er das Messer fester. „Schluss damit“, schnitt Keikos Stimme durch die Spannung, die dick wie Gelee in der Luft lag. „Regt euch ab, beide, das ist ein Befehl!“ „Aber … Aber Milady, dieses impertinente Wesen hat Eure Uniform besudelt!“, rief WaruMonzaemon fassungslos aus. „Und Ihr wollt uns alle noch mit Blut bespritzen, wie? Das Mädchen hat ja wohl seine Strafe erhalten, oder? Wollt Ihr Euren Gladiator auch noch in Stücke hauen?“ Grummelnd ließ WaruMonzaemon die Peitsche sinken. Cody legte im gleichen Zug mit zittrigen Fingern seine Machete weg. Er hatte sich gegen seinen Herrn erhoben, wurde ihm erst jetzt siedend heiß bewusst. Darauf stand die Todesstrafe in Masla. „Sehr gut. Wusstet Ihr, dass die meisten Digimon zwar einen wunderbar sauberen Tod sterben, Menschen dabei aber eine unglaubliche Sauerei hinterlassen? Also hütet Euch davor, Eure Sklaven in Anwesenheit eines Territoriallords abzuschlachten.“ Ungerührt biss Keiko von ihrem Kuchenstück ab, dass der Zuckerguss unter ihren Zähnen krachte. „Ja, Milady. Verzeiht meinen Ausbruch, Milady.“ Kleinlaut ließ sich WaruMonzaemon auf seine Liege zurücksinken. Cody kniete sich neben Chichos. Die Kleine warf sich ihm um den Hals und jetzt, wo die lähmende Angst von ihr abfiel, begann sie hemmungslos zu schluchzen. Die scharfen Scherben des zerbrochenen Kruges hatten tief in ihre Haut geschnitten und um ihren Knöchel brannte eine feuerrote Linie wie ein Schmuckreif. Cody funkelte WaruMonzaemon hasserfüllt an, das genauso zurückstarrte. „Nimm sie“, knurrte es. „Geht mir aus den Augen. Floramon soll uns bedienen.“ „Jawohl.“ Floramon war teilnahmslos daneben gestanden und verbeugte sich nun. Cody hob die wimmernde Chichos vorsichtig hoch. Tränen und Blut tropften auf sein Hemd. Der Anhänger auf seiner Brust fühlte sich eiskalt an. Ehe er zur Tür hinausging, schwor er sich, WaruMonzaemon diesen Peitschenhieb heimzuzahlen. Und er wusste genau, dass auch für das Bärendigimon das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen war.     Sie hatten doch ein kleines bisschen zu viel von dem Wein getrunken. Ken fühlte sich wunderbar leicht, als sie die Gänge der Festung entlanggingen, aber gleichzeitig ein wenig unsicher auf den Beinen. Nadine lachte noch ein klein wenig aufgekratzter als sonst und ihre Wangen hatten sich leicht gerötet. Die Wachen schienen verwirrt, dass der DigimonKaiser persönlich seine Gäste zu ihrem Quartier eskortierte, ohne Begleitschutz. Sogar Ogremon glotzte dämlich. Wormmon und Elecmon, die nach anfänglichen Schwierigkeiten nun dicke Freunde geworden waren, liefen ihnen hinterher, wobei Elecmon immer ein wenig nach vorn huschte, sich in Nischen und dunklen Seitengängen versteckte und Wormmon zu erschrecken versuchte. Ein paarmal gelang es ihm tatsächlich. „Denk dir nichts dabei. Elecmon ist sogar kindisch, wenn es digitiert“, meinte Nadine. „Es kann digitieren?“ „Klar. Es wird zu einem Centarumon. Deswegen wollte ich ihm ja eigentlich den Oberbefehl über meine Kavallerie geben, aber, naja …“ Ken sah, wie Elecmon wieder spielerisch hinter Wormmon her hetzte. „Es wäre dafür nicht geeignet.“ „Genau“, grinste sie. Sie kamen an der metallenen Schiebetür zu Nadines Quartier an. Ken betätigte den Schalter und sie glitt geschmeidig mit einem pneumatischen Säuseln auf. Elecmon und Wormmon stoppten ihr Spiel und schienen auf etwas zu warten. „Also …“, sagte Nadine und knetete ihre Hände. „Danke. Für deine Gastfreundschaft und so.“ „Das ist doch selbstverständlich.“ Ken hüstelte verlegen. Sollte er noch etwas sagen? „Ich … möchte mich auch bedanken. Endlich weiß ich, dass ich hier nicht allein drinstecke.“ Sie lächelte. Im kalten Licht des Ganges sahen ihre geröteten Wangen irgendwie … niedlich aus. „Also dann, gute Nacht“, sagte sie. „Gute Nacht.“ Sie stand noch eine Sekunde länger als nötig in der Tür, ehe sie Elecmon aufhob und in das Zimmer ging. Es war eine der typischen Schlafkammern der Festung, ohne viel Luxus, so weit hatte er sie vorgewarnt, aber sie hatte sich nicht beschwert. Die Tür glitt hinter ihr zu und Ken schloss einen Moment entspannt die Augen. Als er zum Kontrollraum ging, fühlte er sich immer noch beschwingt, beflügelt. Es war ewig her gewesen, seit er mit jemandem normal hatte reden können. Er hatte gar nicht gemerkt, wie einsam er als DigimonKaiser geworden war. Und endlich spukte Deemon nicht mehr in seinem Kopf herum. Am liebsten hätte er sich sofort schlafengelegt und den Tag hiermit beendet, aber als Herrscher konnte er einigen Dingen einfach keinen Aufschub gewähren. Er klickte sich durch die Berichte, die im Laufe des Abends angefallen waren. Eine Nachricht von Zephyrmon war dabei und im ersten Moment zog sich sein Magen nervös zusammen, aber allein die Tatsache, dass er die Botschaft durch seine Türme übertragen erhalten hatte, ließ ihn hoffen. Wie erwartet hatte nördlich von Little Edo, im Bereich des Pulverfasses, wie Spadamon es genannt hatte, niemand einen Versuch gewagt, seine Armee zu berühren. Südlich des Punimon-Dorfs, wo er sich damals das erste Mal mit Stingmon seinen Freunden gezeigt hatte, würde sich Zephyrmons Heer in zwei Tagen mit den Truppen vereinigt, die vom Stiefel fortgeschickt worden waren, bevor er vom DigiArmorEi erfahren hatte. Heute Nachmittag waren sie auf einen Außenposten des Saatkindes – Takashi hatte Nadine ihn genannt – gestoßen, hatten ihn eingenommen und dort ein Lager aufgeschlagen. Den Turm hatten sie durch einen eigenen ersetzt und Ken die Nachricht über dessen Funksignal zukommen lassen. Es war also noch alles in Ordnung. Zu hoffen blieb nur, dass sich seine Heere zusammenschlossen, ehe Takashi reagieren konnte. Dass Deemon ihm Kens Vorhaben gesteckt hatte, daran zweifelte er nicht länger. Aber er wollte sich keine Sorgen machen. Zephyrmon hatte bei der Schlacht kein einziges Digimon verloren und sichergestellt, dass kein allzu ausführlicher Bericht den Außenposten verließ. Was Ken nicht wusste, konnte Deemon niemandem weitererzählen. Als Ken spät in der Nacht in sein Bett kroch, blinzelte er lange gegen die Deckenlampe. Die Welt ist heller geworden, dachte er. Die Sonne scheint wieder.   Tag 37   Am nächsten Morgen, als die Wüste noch nicht von ihrer sengenden Hitze verschlungen wurde, verabschiedete Ken Nadine vor den Toren der Festung. Sie war mit einem Ookuwamon hergekommen, einem großen, grauen Insektendigimon, auf dessen Rücken sie eine Art stromlinienförmigen Pavillon gebaut hatte, um vor dem Flugwind geschützt zu sein. Ihre Ankunft war von den Radargeräten der Festung nicht unbemerkt geblieben; wie sich herausgestellt hatte, hatte Wormmon die Instrumente überwacht und beschlossen, den deprimierten Ken nicht weiter damit zu belasten, als das Ookuwamon weiße Fahnen in seinen Klauen geschwenkt hatte. „Du schaffst es ja wohl noch ein paar Tage ohne meine Hilfe, oder?“, meinte sie augenzwinkernd. „Ich war mir ja nicht sicher, woran ich bei dir bin. Jetzt muss ich noch ein paar Dinge erledigen, Papierkram, den Vertag aufsetzen und meinen Fürsten schonend beibringen, dass sie bald einem anderen auch noch gehorchen müssen.“ Sie lachte. „Das ist eine Heidenarbeit, die in meinem Palast auf mich wartet.“ „Du hast einen Palast?“ „Ich zeig ihn dir, wenn du mich mal besuchen kommst“, sagte sie verschmitzt lächelnd. „Wird es Schwierigkeiten geben?“ „Wahrscheinlich. Aber nichts, mit dem ich nicht fertig werde. Also mach’s gut, wir sehen uns, sobald ich die Formalitäten geklärt habe.“ Sie kletterte mit einer Behändigkeit, die man ihr in diesem Kleid nicht zugetraut hätte, über die Schere des Ookuwamons, um zu ihrer Sänfte zu gelangen. Elecmon wartete dort schon auf sie. Ken fiel auf, dass sie nicht einmal Reservekleidung mitgehabt hatte oder irgendetwas anderes, was man von einer Königin auf Reisen erwartete. „Fliegt am besten übers Meer und dann über den Stiefel“, rief er noch zu ihr hoch. „Das ist der sicherste Weg zurzeit.“ „Danke!“ Sie winkte ihm zu, ehe das Ookuwamon mit surrenden Flügeln abhob und sie die Vorhänge ihres Pavillons zuknöpfte. Voller Tatendrang kehrte Ken in die Festung zurück.     „Wir sind die sechs Winde der Nadelberge“, sagte Astamon. „Die sechs mächtigsten Brigantenstämme, die Ihr finden werdet.“ „Die sechs Darmwinde der Nadelberge, meinst du wohl“, spöttelte Frechdachs, während Träumer die sechs Repräsentanten mit großen Augen ansah. Die Schwarze Königin würde lange brauchen, bis sie sich ihre Namen gemerkt hatte. Das vorderste der sechs Digimon, die heute um eine Audienz ersucht hatten, hieß Astamon und war in einen eleganten Nadelstreifenanzug gekleidet, der es hätte menschlich wirken lassen, wären da nicht die Dämonenflügel und die violette Maske auf seinem Schädel gewesen, die eine Art gehörnten Wolf darstellte. Neben ihm stand, groß und schlank und würdevoll, Renamon, ein aufrecht gehendes Fuchsdigimon. Dann gab es noch die Roachmon-Brüder, zwei pechschwarze, übergroße Kakerlaken, die jede das Kommando über eine eigene Plünderbande hatten, wie es aussah; ein Snimon mit blitzenden Sicheln, das nur fauchende Laute von sich gab, und ein gedrungenes, kugelförmiges Nanimon, das eine besonders ernste Miene zur Schau trug. „Und was wollt ihr von mir?“, fragte die Königin träge. Sie trug heute ein edles grauschwarzes Kleid, und ein Schleier verhüllte ihr Gesicht. Beim Anziehen der hohen schwarzen Schuhe hatte ihr Soulmon helfen müssen. Sie hatte sich ein Kissen auf den Thron gelegt, trotzdem fühlte er sich so hart und kalt an wie eh und je. Astamon schien verwirrt. „Herrin … wir sagten es Euch bereits. Wir bitten Euch, uns unter Eurem Banner aufzunehmen.“ „Ach so.“ Sie fühlte sich heute nicht gut. Sie hatte wieder einmal kaum geschlafen, erst in der Höllenkammer war sie eingenickt und hatte sich dann, als sie erwachte, völlig ausgetrocknet gefühlt. Renamon merkte, dass sie so nicht weiterkamen, und ging auf ein Knie nieder. „Erlaubt uns, unsere Truppen in Eure Dienste zu stellen. Wir werden Euren Ruhm in der DigiWelt verbreiten und Eure Fahnen hissen, wann immer wir in den Kampf ziehen.“ „Warum?“, fragte sie schlicht. „Ja, warum?“, rief Frechdachs. „Kämpft doch mit eurer eigenen Stärke!“ „Das tun wir“, sagte Nanimon. „Das Land am Fuße dieser Berge gehörte einst uns. Dieser Löwe aus dem Norden und andere Digimon haben uns von dort vertrieben. Nun plündern und brandschatzen wir, um sie daran zu erinnern, dass es uns noch gibt.“ „Ihr nutzt doch nur aus, dass Krieg ist“, blaffte Frechdachs. „Sonst würden euch diese Digimon in den Boden rammen! Und das Banner wollt ihr nur zum Schutz! Feiglinge!“ „Feiglinge!“, fiel Träumer mit ein. „Unsere sechs Stämme sind kampferprobt“, sagte Astamon. „Meine Königin, erlaubt mir, Euch unsere Dienste anzubieten. Was immer Ihr verlangt, bekommt Ihr, wenn Ihr uns gestattet, Euer Banner mit in unsere Schlachten zu führen. Die Dörfer am Fuß der Berge zittern schon vor uns. Wie viel mehr werden sie zittern, wenn sie das Blutende Herz sehen?“ „Es ist mir egal“, murmelte die Königin. „Dann erlaubt Ihr es uns, Euer Banner zu führen?“ „Sagt mir, liebt ihr mich?“ Astamon sah sie fragend an. „Ich verstehe nicht.“ „Liebt ihr mich.“ Die Roachmon-Brüder stießen unisono einen Pfiff aus, bis Renamon eines von ihnen in die Seite knuffte. „Ich denke …“, sagte Astamon vorsichtig und wachsam, „wenn Ihr uns diesen Wunsch gewährt, könnten wir Euch zu lieben beginnen.“ Die Schwarze Königin seufzte. Könnten. So vage, aber besser als nichts. „Dann gewähre ich ihn euch.“   Now I know to whom I belong Save me now from my darkest side While your sacred flame May wash all the sins from my bleeding hand (Rhapsody Of Fire – Immortal New Reign) Kapitel 17: Hochzeit -------------------- Tag 41 Matt fand Taichi am Stadtrand, wo sein Megadramon wie eine Schlange auf dem Boden lag. Agumon saß bereits auf dessen Rücken. „Du willst uns also schon verlassen?“, fragte Matt. Taichi schnaubte. „Ich bin nicht hergekommen, um mir eine langweilige Hochzeitszeremonie anzusehen. Ich habe genug Zeit hier verschwendet.“ „Du bist bloß ein schlechter Verlierer.“ „Ach, halt doch den Mund.“ Er kletterte auf den gewaltigen gepanzerten Kopf des Drachendigimons. „Feier du nur deine Hochzeit“, sagte er. „Ich werde in der Schlacht gebraucht.“ Ohne ein Wort des Abschieds tätschelte er dem Megadramon den ungeschützten Bereich knapp über dem Auge und das Digimon schwang sich in die Lüfte. Matt sah ihm hinterher, wie es Little Edo Richtung Norden verließ.     Tag 43   Yolei hatte sich schon die ganze Zeit auf die Hochzeit gefreut. So etwas kam in der DigiWelt selten genug vor, weil es ja vor allem ein menschlicher Brauch war. Tagelang dauerten die Vorbereitungen. Einladungen mussten verschickt, Gäste von weit her empfangen werden. Auf dem Pagodenvorplatz war ein riesiger Pavillon errichtet worden, mit Wänden aus Stoff und Seide, alles in Weiß, und einer riesigen, gläsernen Kuppel als Decke, durch die das Sonnenlicht blendete. Lange Tafeln waren aufgestellt worden, dennoch gab es ausreichend Platz für Tanz und Musik. Die Gekomon liebten Musik. Hawkmon und ihr hatte man einen Platz am linken Ende der vordersten Tischreihe zugewiesen. Allein das war eine Ehre; neben ihnen saßen bekannte Veteranen aus dem ganzen Shogunat, hinter ihr die bunte Schar der reichen Händler. Auf der Stirnseite stand die Ehrentafel. Den anderen Gästen zugewandt, würden das Brautpaar, der Altshogun und seine Fürsten sitzen. Säuberlich in Weiß verpackte Hochzeitsgeschenke stapelten sich schon an einer Wand. Es war ein wirres Durcheinander; der Pavillon war groß genug, um im hinteren Bereich noch hunderte weitere Gäste zu beherbergen. Käferdigimon aus den Waldgebieten waren da, sogar ein Moyamon aus der Eisregion und ein paar andere Reisende, die zufällig Zeuge dieser Zeremonie werden durften. Die meisten Gäste waren aber Gekomon, Otamamon, Mushroomon und Floramon, die Einwohner der Stadt. Yolei saß wie auf Nadeln, als sich die Tafeln und Stehplätze füllten. Unbeschreiblicher Lärm herrschte in dem Raum und Diener schenkten bereits jetzt Sake an den Tischen aus. Die Tradition in Little Edo ließ auch eine Hochzeit zum stadtweiten Fest werden, mit der Trauung als Höhepunkt. Yolei bestellte sich Feuerwein, als man sie danach fragte. Auch Speisen wurden aufgetragen, die üblichen Spezialitäten aus Reis, Fisch und Fliegen, aber auch Süßspeisen, Granatäpfel, File-Bananen, die seit dem Angriff des DigimonKaisers auf ihre Herkunftsinsel rar geworden waren, Fleisch und Pilzragout. Matt und Mimi gaben ein prächtiges Paar ab, fand sie. Sie standen schon über eine Stunde, bewacht von einer festlichen Garde aus Ninjamon, auf der kleinen Empore vor der Ehrentafel, wo sie die Grüße und Glückwünsche der Gäste entgegennahmen. Sie würden die ganze Zeit dort stehen bleiben, bis ihre Ehe geschlossen und die neuen Treueschwüre geleistet worden waren. Dann erst würden sie sich endlich setzen und mit den anderen feiern dürfen. Mimi trug ein märchenhaftes, sahneweißes Hochzeitskleid mit einer drei Meter langen Schleppe. Ihr Haar fiel ihr offen und lockig über die Schultern, einige Brautzöpfe waren hineingeflochten. Auf dem Kopf trug sie einen Kranz aus weißen Blumen. Matt war in einen weißen Anzug gesteckt worden. Sein Haar war frisch gewaschen und modisch gekämmt. Die beiden strahlten regelrecht im Licht der Sonne, das durch die Glasdecke fiel. ShogunGekomon hockte neben ihnen und wischte sich regelmäßig Tränen aus den Augen. Matts Wölfe saßen auf der rechten Seite, in einer Linie mit Yolei, direkt neben Palmon. Sie hatten auch Tische bekommen, aber keine Bänke oder Stühle. Hinter ihnen reihten sich wieder Bürger von Little Edo ein. Die Zeremonie begann, als alle endlich ihren Platz gefunden hatten und die Ninjamon keine ungeladenen Gäste mehr in den Pavillon ließen. Als die fröhliche und nicht immer ganz melodische Trompetenmusik verstummte, hörte auch das allgegenwärtige Schwatzen, Trinken und Essen auf. Der Eingang des Hochzeitspavillons war kunstvoll gestaltet, die Samtvorhänge waren zur Seite gebunden und so kunstvoll um weiße Stützpfähle gewickelt, dass sie aussahen wie Sahnehäubchen. Von dort kamen nun die Daimyos, um dem Brautpaar eine Aufwartung zu machen. Der erste war Karatenmon, ein Digimon mit menschlichem Körperbau, einem Rabenkopf, Vogelklauen und schwarzen Rabenflügeln. Ihm folgte ein langer Zug aus Falcomon in ihren violetten Ninjawesten, die teils flogen, teils zu Fuß gingen, alle schön in Reih und Glied. Zwei von ihnen trugen verschnürte, armlange Päckchen, die mit weißem Tuch verhüllt waren. Es war üblich, dass die Fürsten eine kurze Ansprache hielten und das Paar damit ehrten. Karatenmon kniete kurz vor ShogunGekomon nieder, dann vor Mimi und Matt, dann senkte es andächtig den Schnabel und sagte: „Es erfüllt mich mit großer Freude, dass unsere geliebte Prinzessin sich nun endlich einen Gemahl erwählt hat. Der Eherne Wolf ist ein würdiger neuer Shogun. Möge ihre Verbindung dem Shogunat Frieden und Beständigkeit bringen.“ Die Falcomon mit den Hochzeitsgeschenken traten vor. In Little Edo war es Brauch, Geschenke, egal zu welchem Anlass, nicht vor aller Leute auszupacken, um nicht in Verlegenheit zu kommen, wenn man sich darüber nicht freute. Daher würden Matt und Mimi all die schönen, weiß verhüllten Gaben erst nach der Feier auspacken. Allerdings war es für die Daimyos eine Sache des Ansehens, Andeutungen zu machen, was sich unter den Tüchern verbarg, um dem gemeinen Volk ihren Einfallsreichtum und ihre Großzügigkeit zu zeigen. „Bitte nehmt diese Geschenke von den Meisterschmieden des Edo-Gebirges an“, sagte Karatenmon daher. „So wie Ihr in friedlichen Zeiten verbunden sein werdet, so mögen sie Eure Verbundenheit auch in stürmischen Zeiten gewährleisten.“ Yolei wusste schon anhand der Form der Päckchen, dass darin zwei wahrscheinlich idente Katanas enthalten waren. Das sah Karatenmon ähnlich. Mimi würde wohl keine Freude damit haben und ihr Schwert kein einziges Mal anrühren, dachte sie schmunzelnd. „Wir danken Euch“, sagten Braut und Bräutigam formell und nickten den Falcomon zu, die die Geschenke zu den anderen legten, aber mit ein wenig Abstand zu dem unordentlichen Haufen, um ihre Wichtigkeit zu symbolisieren. Karatenmons Garde nahm an den ihnen zugedachten Tischen Platz und der Daimyo schritt würdevoll nach rechts und stellte sich neben ShogunGekomon. Als nächstes kam eine Horde Gekomon in den Pavillon, angeführt von einem – Gekomon. Die einzigen äußerlichen Unterschiede, die es zu seinen Untergebenen hatte, waren seine schlurfende Gangart und der krumme Holzstock, auf den es sich stützte. Und die Augen, die bei jeder Gelegenheit in die Ferne schweiften. Man nannte es schlicht das Alte Gekomon, und es war der Daimyo des Schneisentals, dessen Ländereien bis hin zum Meer zwischen der Voxel-Stadt und dem umstrittenen Bohrturm reichten, den momentan die Streiter der Schwarzen Rose besetzt hielten. Das Alte Gekomon verließ seinen Landsitz nur selten, der Großteil des Wohlstands des Shogunats lag aber an seinen geschickten Handelsbeziehungen. Es war augenscheinlich kein Krieger wie Karatenmon und Musyamon, aber sehr weise, vor allem für ein Gekomon. „Jaja“, sagte es mit kratziger Stimme, als es vor Mimi und Matt stand. „Meine Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren, doch trotzdem sehe ich, dass unsere Prinzessin nichts von ihrer sprichwörtlichen Schönheit eingebüßt hat. Und was für einen kräftigen jungen Mann sie sich ausgesucht hat. Der Eherne Wolf, voller Kraft und Jugend, von der wir Alten nur träumen können. Ihr seid uns natürlich allen ein Begriff. Wer hat nicht von den Ehernen Wölfen gehört? Erst kürzlich drang mir eine Heldentat zu Ohren, wonach Ihr den DigimonKaiser von seinem eigenen Land gejagt und Euch gegen eine zahlenmäßige Übermacht behauptet habt, nur durch Geschick und außerordentlichen Mut und Opferbereitschaft für Eure Freunde …“ Yolei musste sich beherrschen, nicht zu gähnen. Das Alte Gekomon war für seine ausschweifenden Reden berüchtigt. In höchsten Tönen lobte es Matt, dann wieder Mimi, dann noch einmal Matt, und dann sprach es von der glorreichen Zukunft, die ihnen bevorstand, und wie ihre Hochzeit dem Shogunat doch dienen würde. Schließlich, nach mindestens einer halben Stunde, in der die Gäste unaufmerksam wurden und sich eher wieder ihren Nachbarn und dem Sake widmeten, kam es zur Geschenkübergabe. Ein anderes Gekomon hielt ein kleines Päckchen hoch, während das Alte sagte: „Nehmt dies und streut es in Euer Badewasser. Darin sind wohlriechende Kräuter aus den Bergen und den Ausläufern der Wüste und Meersalz enthalten. Euch, mein Herr, wird es nach einem anstrengenden Tag Entspannung bringen, und Euch, Prinzessin, wird es so weiche und glatte Haut bescheren, dass auch Digimon mit besseren Augen als ich nie an Eurer Schönheit zweifeln werden.“ Gedämpftes Lachen ertönte aus den hinteren Teil der Tischreihen, während das Brautpaar ihm dankte und das Geschenk zu den anderen gelegt wurde. Als wieder eine Prozession in den Pavillon marschiert kam, wurde es schlagartig um eine Nuance stiller. Die Gäste tuschelten und sahen unbehaglich Musyamon und seiner Kotemon-Garde zu, die über den Platz schritten. Der Fürst der Reisfelder bemerkte die Veränderung natürlich, blieb auf halbem Weg stehen und sah sich um. Mit dröhnender Stimme sagte es: „Nanu? Wenn man Euch so ansieht, könnte man meinen, meine Ohren hätten mir einen Streich gespielt, als man mir die Einladung unterbreitet hat.“ Schuldbewusst senkten einige Digimon den Kopf. Musyamon und seine Getreuen gingen im Gleichschritt weiter. Mindestens zehn Kotemon zogen sein Geschenk. Yolei staunte nicht schlecht. Es war riesig und auf einem eisernen Wagen mit steinernen Rollen aufgebahrt. Es musste eine Skulptur oder etwas in der Art sein; die Voxel-Stadt war für hochtechnisierte Bildhauer und Steinmetze bekannt. Es war so hoch, dass es fast die Glasdecke des Pavillons kitzelte, und die lag immerhin gut fünfzehn Meter über ihnen. Das weite weiße Tuch, das es verhüllte, schlackerte, als die Figur bedrohlich wackelte. Musyamon kniete vor dem Shogun und dem Brautpaar nieder und richtete dann das Wort an Letzteres. „Wenn ich mir Euch so ansehe, mein Herr, wird mir klar, warum die holde Prinzessin mich verschmäht hat“, sagte es und Yolei glaubte, ein schiefes Lächeln auf seinen schiefen Zähnen zu sehen. „Ihr beide gebt ein hübsches Paar ab, jung und schön. Einem furchtlosen Krieger wie dem Ehernen Wolf kann ein einfacher Samurai nicht das Wasser reichen. Deswegen ist es mir eine Ehre, Euch fortan zu dienen. Und ich hoffe, Ihr gewährt mir später einen Tanz mit Eurer zauberhaften Braut.“ Es winkte den Wagen mit dem Geschenk her. „Erschreckt nicht zu sehr, wenn ihr es Euch anseht, mein Herr. Meine Bildhauer hatten nicht viel Zeit, und sie kannten Euer Gesicht nicht. Ihr werdet aber vielleicht finden, dass Eurem Bildnis daher ein gewisser Hauch des Geheimnisvollen anhaftet.“ „Wir danken Euch“, sagte das Brautpaar, und Mimi schien ein sich ein wenig unwohl zu fühlen. Die Kotemon zogen den Wagen unter großer Anstrengung so weit zu den Geschenken wie unbedingt nötig und nahmen dann ihre Ehrenplätze ein. Musyamon straffte die Schultern und trat neben die anderen Fürsten. ShogunGekomon beugte sich mit besorgter Miene zu ihm hinunter und murmelte ihm etwas zu, und Yolei sah den Daimyo lachen und im auf die Backe patschen, als wollte es ein Schulterklopfen simulieren. Nachdem nun alle drei Fürsten des Shogunats anwesend waren, schritten sie zu ihrer Tafel und nahmen Platz. Yolei wurde ein Teller mit köstlich duftender Fischsuppe angeboten, aber sie lehnte ab. Sie war viel zu nervös, um zu essen, und Mimi ging es vermutlich noch schlimmer, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ. Stolz und würdevoll führte sie die Rolle der Prinzessin heute ein letztes Mal aus, ehe sie die Rolle der Königin bekam – diesen Titel wollte man ihr zugestehen, da sie ja bis jetzt Prinzessin genannt worden war und Matt das Shogunat nicht alleine führen würde. Eine kleine Pause von der Zeremonie wurde eingeführt, in der gegessen, gelacht und getrunken wurde. Jemand beschwerte sich, weil Matts Wölfe so unziemlich mit den Mäulern aus ihren Tellern fraßen. Otamamon-Artisten führten Kunststücke auf, es wurde zur Musik getanzt. Matt und Mimi mussten während der ganzen Zeit würdevoll auf ihrer Empore bleiben und dem Treiben zusehen und Glückwünsche und Hochrufe entgegennehmen. Ein Dondokomon-Barde, der wie eine Trommel aussah, spielte und sang dem Paar ein Lied. Als Yolei spürte, wie ihr der Feuerwein zu Kopf stieg, kam das Fest zu seinem Höhepunkt. ShogunGekomon hockte sich hinter Mimi und Matt und abermals wurde es still im Pavillon. „Verehrte Gäste, geko“, sagte es. „Wir feiern heute die Verbindung meines Mündels Prinzessin Mimi mit Matt, dem Ehernen Wolf und Helden der Schlacht am Stiefel. Hiermit trete ich feierlich zurück und reiche das Shogunat feierlich an diese beiden weiter. Bringt den Hochzeitskelch, geko.“ Ein Otamamon lief heran, ein Tablett mit einem silbernen, smaragdgeschmückten Kelch auf den Rücken geschnallt. Niemand außer dem Brautpaar durfte ihn berühren, also hatte man Schnüre darum gewickelt, an denen ShogunGekomon ihn hochzog und Matt und Mimi in die Hände sinken ließ. Ein Gekomon kam von der anderen Seite und schenkte einen Schluck Sake in den Zeremonienkelch. Die beiden hielten gemeinsam den Kelch hoch, dass das Sonnenlicht darauf blitzte, und ShogunGekomon umwickelte ihre Hände und den Kelch mit einer weißen Schleife, um ihre Verbundenheit zu signalisieren. „Für Sonne und Wohlstand“, sagte Mimi. „Für Frieden und Gerechtigkeit“, sagte Matt. „Ich, Mimi, gelobe, mein Leben fortan meinem Hohen Gemahl zu widmen.“ „Ich, Matt, gelobe, mein Leben fortan meiner Hohen Gemahlin zu widmen.“ Nachdem sie beide die zeremoniellen Worte gesprochen hatten, tranken sie aus dem Kelch, erst Mimi, dann Matt. Die Gäste klatschten laut, Yolei am lautesten. Das signalisierte das Bündnis der Wölfe mit Little Edo. Nun kam noch das Bündnis zwischen den beiden persönlich. Der Kelch durfte nun berührt werden, und ShogunGekomon nahm ihn den beiden aus der Hand, wobei die Schleife sie immer noch verband. Zögerlich beugten sich beide vor und küssten sich kurz auf die Lippen. Der Pavillon brach in Jubel aus. Schreie und Pfiffe brandeten bis zur Empore, einige Digimon stampften sogar auf den Tischen herum. Die Wölfe heulten laut. Yolei glaubte, ein leises Lächeln auf Mimis Gesicht zu sehen. Sie waren nun Shogun und Königin. Und Mann und Frau. Mit einem Mal kam es Yolei so vor, als würden sie noch heller strahlen als zuvor, und das, obwohl sich eben eine Wolke vor die Sonne schob. Sie trank einen kräftigen Schluck Feuerwein, der ihr warm in der Brust brannte. Nun mussten noch die Schwüre erneuert werden, und dann konnten auch Matt und Mimi das Fest genießen. Der Reihenfolge ihres Erscheinens nach traten die Fürsten wieder an das Paar heran, diesmal ohne Eskorte. Karatenmon sank auf ein Knie, legte die schwarzen Flügel an und schlug sich selbst kräftig gegen den Brustpanzer. „Ich, Karatenmon, Daimyo des Edo-Fußes und der Ebene, gelobe dem neuen Shogun die Treue bis in den Tod und nenne ihn meinen Lehnsherrn.“ Es stand auf, schritt auf die andere Seite der freien Fläche, und sein Platz wurde von dem Alten Gekomon eingenommen, das Schwierigkeiten hatte, sich hinzuknien, es aber irgendwie mithilfe seines Stockes schaffte. „Ich, Gekomon, Daimyo des Schneisentales, gelobe dem neuen Shogun die Treue bis in den Tod und nenne ihn meinen Lehnsherrn.“ Nachdem es sich wieder auf seine wackeligen Beine erhoben hatte und zu Karatenmon gegangen war, kniete als Letztes Musyamon nieder und schlug sich gegen die Brust. Aus den Augenwinkeln sah Yolei, wie ein Digimon schräg hinter ihr auf den Tisch sprang. Es war ein hässliches Ogremon, das soeben seinen grauen Reisemantel und seinen geflochtenen, runden Hut von sich schleuderte. „Dann wollen wir doch mal ein bisschen Schwung in diese Feier bringen, oder?“ Es stieß seine Faust in die Luft, und ein violetter Energieschwall brach daraus hervor, sauste aufwärts und zertrümmerte die Glaskuppel. Digimon im ganzen Pavillon kreischten und sprangen auf, aus Tausende Scherben auf sie herabregneten wie Hagelkörner. Stühle wurden umgestoßen, Bänke umgeworfen, Eherne Wölfe fletschten die Zähne. Einige auf dem Platz verteilte Digimon stifteten zusätzlich Unruhe, brüllten und warfen mit Tellern um sich. Yolei schnellte in die Höhe und prompt wurde ihr schwindlig, sodass sie sich am Tisch abstützen musste. Sie sah, wie die Ninjamon ausschwärmten, genauso die Garde der Fürsten. Musyamon war aufgesprungen und hatte sein Schwert gezogen, Karatenmons Klinge glitt ebenfalls scharrend aus der Scheide. In dem Moment schrien die Gäste erneut angsterfüllt auf und deuteten nach oben. Der Tumult fror für einen Moment förmlich ein. Yolei folgte ihren Gesten und erstarrte. Das vorhin war keine Wolke gewesen – das hieß, es war schon eine Wolke gewesen, die sich vor die Sonne geschoben hatte, aber eine Wolke aus Schwarzen Ringen, die jetzt wie ein Heuschreckenschwarm durch die zersplitterte Pavillondecke strömten. „Bleibt alle, wo ihr seid!“, rief Matt durch den Tumult und trat vor, bis zum Rand des Podests. „Sie können euch nichts tun! Wenn Gabumon digitiert, wird es sie alle mit einem einzigen Hauch auslöschen!“ Gabumon war von seinem Platz aufgesprungen und an Matts Seite gerannt, und der Eherne Wolf holte soeben sein DigiVice hervor – und sah es dann verdutzt an, als wäre etwas damit nicht in Ordnung. Ein grässliches, gackerndes Lachen wurde laut. „Glaubst du das wirklich?“ Ogremon stand neben dem Geschenkeberg und riss mit einer kraftvollen Bewegung das Tuch von der Skulptur, die Musyamon ihnen geschenkt hatte. Es war gar keine Skulptur. Unter dem weißen Überwurf kam ein monströser, unheilverkündender Schwarzer Turm zum Vorschein. Die Gäste schrien auf, noch entsetzter als vorher. In Yoleis Kopf pochte es fieberhaft. Ein Schwarzer Turm auf Rädern! Ein Schwarzer Turm, hier, mitten in Little Edo! Das Ausmaß des Verrats erfasste Yolei erst, als es zu spät war. Mimis Kreischen ließ sie herumfahren. Musyamon hatte sie gepackt und hielt ihr seinen gewaltigen Krummsäbel an die Kehle. Ihr angstgeweitetes Gesicht spiegelte sich in der Klinge, ihre Pupillen waren winzig klein. Den Mund hatte sie geöffnet, aber es kam kein Ton mehr heraus. „Mimi!“, rief Palmon und eilte zu der Empore, wagte aber nicht, zu nahe zu kommen. „Musyamon!“, zischte Karatenmon. „Was hat das zu bedeuten?“ „Wonach sieht es denn aus?“, fragte Musyamon mit seiner rauchigen Stimme. Es gab kein Halten mehr. Die Festgäste versuchten zu fliehen, als sich auch schon die Schwarzen Ringe auf sie stürzten. Digimon um Digimon wurde in seiner Flucht gebremst, wandte sich mit rot glühenden Augen gegen seine Freunde, mit denen es eben noch gefeiert hatte. Die Wölfe hielten sich wacker, sprangen von Tisch zu Tisch und zerstörten Ringe, wo sie nur konnten, aber sie wurden von einer wahren Flutwelle beherrschter Gekomon und Otamamon aufgehalten. Die Ninjamon versuchten einen Kreis um die Empore zu bilden, mussten sich aber bald ihren eigenen Brüdern entgegenstellen. Karatenmon konnten die Ringe nichts anhaben, und seine Falcomon wehrten sie mit Wurfsternen ab, die sie allerdings nicht zerstörten. Nur Sekunden später stürzten sich Musyamons Kotemon auf die Vogeldigimon. Es war heiles Chaos, das ausbrach. Unter all den Schreien, dem Zerreißen vom Stoff der Wände, dem Poltern von Tischen und Stühlen, dem Klirren von Tellern und dem Knirschen der Glassplitter, die den Boden bedeckten, fasste Yolei den Turm ins Auge. „Hawkmon!“, rief sie. Ihr Partner verstand. „Alles klar.“ Es flatterte zu dem schwarzen Obelisken. Wenn sie ihn zerstörten, hatte der Spuk ein Ende. Yolei fischte das DigiArmorEi mit dem Wappen der Aufrichtigkeit heraus. „Erstrah…“ Ein harter Schlag traf ihr Handgelenk und ließ sie aufschreien. Das ArmorEi wurde ihr aus der Hand geprellt und polterte über den Boden. Yolei sprang auf den Tisch, wollte ihm hinterhersetzen, als etwas gegen ihre Schulterblätter prallte, dann noch etwas und dann bekam sie noch einen Stoß ins Kreuz, der sie das Gleichgewicht verlieren ließ. Mit ausgestreckten Armen fiel sie kopfüber von der Tischplatte, schnitt sich die Handflächen und die Wangen auf dem scherbenübersäten Fußboden auf. Das Gewicht auf ihrem Rücken verschwand nicht; es war, als pressten sie ein halbes Dutzend kleiner Kobolde auf den Boden, sodass sie kaum atmen konnte. Sie sah zwei Kotemon, die sich auch noch auf ihre Arme setzten, als sie nach dem Ei greifen wollte. „Man hat uns angewiesen, dass wir dich festsetzen sollen“, schnarrte einer der kleinen Kendo-Kämpfer. Sie versuchte sich aufzubäumen, bekam aber nur ein Holzschwert über den Kopf gezogen und sah Sterne. Tränen schossen ihr in die Augen, und durch den Sprung in ihrer Brille sah sie, wie Matt und Gabumon von einem Teppich aus Otamamon von den Füßen gerissen wurden. „Den Turm!“, schrie er. „ShogunGekomon! Zerstört den Turm!“ „Versucht es nur!“, übertönte Musyamon den Lärm. „Wenn Euch das Schicksal Eurer geliebten Mimi nicht interessiert, dann nur zu!“ ShogunGekomon, an dessen Beinen und gewaltigen Bauch seine eigenen Untergebenen klebten und auf es einschlugen und es bissen, wandte mit fahrigen Bewegungen den Kopf hin und her, wusste nicht, was es tun sollte. Die Alarmglocken der Stadt wurden jetzt geläutet. Nicht, dass irgendjemand in diesem Hexenkessel darauf geachtet hätte. Die Ninjamon hatten eben einen zuverlässigen Ring auf einem Stapel Tische gebildet, wo die beherrschten Digimon nicht so einfach hinaufkamen und sie zuverlässig die Schwarzen Ringe abwehren konnten, als lautes Brausen die Luft erfüllte. Yolei verrenkte sich den Hals, um unter ihren Kotemon-Gewichten nach oben blicken zu können. Maschinendigimon flogen durch das Loch in der Decke und landeten auf dem Platz, rostig aussehende Guardromon und Mekanorimon aus grauem Blech. Sprengkörper und Laserblitze brachen durch die Bastion der Ninjamon und einige von ihnen lösten sich schreiend in Daten auf. Yolei versuchte, Hawkmon in dem Getümmel zu finden. Es war ganz in ihrer Nähe, kämpfte mit den Kotemon darum, sie freizubekommen, doch immer noch konnte sie zappeln, so sehr sie wollte, sie saß fest. Ein blauer Feuerstrahl teilte die Luft. Irgendwo dort vorn war Gabumon … Die Maschinen konzentrierten ihr Feuer auf ShogunGekomon, das laut „Geko, geko“ winselte, den Kopf mit den Händen schützte und nicht wagte, seine Trompeten hier im Pavillon einzusetzen. Karatenmon hatte sich den Weg bis zur Empore vorgekämpft und dabei ein Dutzend Digimon von Schwarzen Ringen befreit. „Lasst die Königin los“, verlangte es von Musyamon, das Mimi immer noch fest in seinem Griff hatte. „Oder was?“ „Oder ich schneide durch Euch beide.“ Karatenmon richtete sein Schwert auf es. „Einen abtrünnigen Samurai zu töten ist meine Pflicht. Ihr habt die Königin, aber nicht den Shogun.“ Musyamon schnaubte, während Mimi noch bleicher wurde, dann stieß es seine Geisel fort. „Dann kommt her!“ Karatenmon drosch stürmisch auf den Verräter ein. Funken stoben, als sich die Klingen küssten. Es drängte Musyamon ein paar Schritte weit zurück und holte zu einem vernichtenden Schlag aus, Musyamon bereitete einen Gegenschlag vor – und ein Schwarzer Ring schnappte um die Handgelenke des Rabendigimons. Schwarze Ringe konnten es nicht beherrschen, aber der Ruck ließ eine Lücke in Karatenmons Verteidigung aufklaffen. Musyamon zog seinen Krummsäbel wie einen weißen Blitz quer über seine Brust. Das Digimon stöhnte, sackte zusammen. Musyamon stieß es mit dem Stiefel zu Boden und fügte ihm noch einen tiefen blutigen Schnitt am Kopf zu. Yolei wusste nicht, ob es das tötete, denn sie hörte Mimi schreien. Ihre Freundin war bis zur Ehrentafel zurückgewichen. Zwei Mushroomon trampelten auf sie zu, explosive Pilze in der Hand, während Palmon sie zu beschützen versuchte. Stahl klirrte, als die Schwarzen Ringe um ihre Kappen zerbröckelten. Yasyamon, Mimis Leibwächter, stand mit erhobenen Bokutō hinter ihnen. Das Wappen der Aufrichtigkeit blitzte in einem Sonnenstrahl auf seiner Maske, als es zu Mimi eilte. „ShogunGekomon!“, schrie Yolei so laut, dass sie meinte, es würde ihr den Hals zerfetzen. „Den Turm! Jetzt!“ Das Krötendigimon sah sich verwirrt um und richtete sich schwerfällig auf. Kotemon und Schwarzring-Digimon fielen wie Ungeziefer von seinem massigen Leib ab. Es richtete seine beiden Trompeten auf den Turm. Gleich würden sie Zeugen der Zerstörungskraft von seinen Kriegshörnern werden. Ihr Düsenantrieb zischte, als die Guardromon und Mekanorimon in die Höhe flogen und in so tief den Schlund der Trompeten flogen, bis sie stecken blieben. Yolei riss die Augen auf. Kein einziges der Maschinendigimon trug einen Schwarzen Ring, wieso taten sie das? „Halt!“, brüllte sie aus Leibeskräften, aber es war zu spät. ShogunGekomons Trompeten vibrierten, als es angriff, das Messing wölbte sich, als die vernichtenden Schallwellen, die es erzeugte, keinen Weg fanden, zu entweichen. Mit einem lauten, misstönenden Knall wurden die Trompetentrichter zerfetzt und ShogunGekomon wurde von seiner eigenen Attacke von den Füßen gerissen. Datenstaub der Maschinendigimon quoll aus den Löchern. ShogunGekomons Haut am Rücken, wo die Trompeten hervorwuchsen, war aufgerissen und blutig. Die Substanz des großen Digimons flackerte, als es stöhnend auf dem Bauch liegen blieb. Mimi schrie laut seinen Namen, Yolei sah Tränen in ihren Augen funkeln. Yasyamon hielt sie zurück, sonst wäre sie mitten in das Gewimmel der Schwarzring-Digimon gelaufen. Yolei biss zornig die Zähne zusammen. Das würden sie büßen! Der halb zerfetzte Vorhang des Pavillons flatterte, als draußen weitere Digimon landeten, und dann betraten neue ungebetene Gäste die albtraumhafte Feier: Cerberusmon, die sich sogleich auf das sich aufrappelnde Karatenmon und die anderen stärkeren Digimon stürzten, Gazimon, Woodmon und feindliche Mushroomon. Hinter ihnen betrat schließlich der DigimonKaiser mit wehendem Cape das Festzelt. Seine getönte Brille verbarg seine Mimik, aber sein entschlossener Gang sagte alles. Er kam als Eroberer, und er war sich sicher, dass er gewonnen hatte. „Du!“, knurrte Yolei und versuchte, sich von ihren Kotemon-Anhängseln loszumachen, bekam aber nur wieder einen Schlag auf dem Kopf, der ihr fast das Bewusstsein raubte. Als sich der trübe Schleier vor ihren Augen wieder legte, sah sie Matt, der bei den Geschenken stand. Er riss das Papier von einem der Katanas, die sie von Karatenmon bekommen hatten. Es war ein schönes Schwert, gewellt geschliffen und mit einem goldenen Griff, der mit rabenschwarzen Federn geschmückt und gleichfarbigen Bändern umschlungen war. Damit stürmte er auf den DigimonKaiser zu, trat ein Ninjamon aus dem Weg, das sich ihm mit glühenden Augen entgegenstellte, bekam von einem BlackGarurumon den Rücken gegen drei Gazimon freigehalten, und – dann sprang ihm Ogremon in den Weg, kurz bevor er den Kaiser erreicht hatte. „Was rechnest du dir für Chancen aus?“, fragte es hämisch und packte spielerisch Matts Arm, als er zuschlagen wollte. Mit seiner Knochenkeule zog es ihm eins über den Schädel, dass der dumpfe Schlag in Yoleis Ohren hallte. Matt fiel um wie ein Sack Reis und regte sich nicht mehr. Der DigimonKaiser war mit wenigen Schritten bei ihm und kniete sich hin, als wollte er seinen Puls fühlen. Dann nickte er und gab Ogremon weitere Befehle. Yolei biss zornig die Zähne zusammen. War das zu glauben? Das hätte ein so schönes Fest werden sollen, alles hätte sich so schön in Wohlgefallen aufgelöst zwischen Matts Wölfen und Little Edo … Wenn er nicht aufgetaucht wäre. Hawkmon pickte gegen das Kotemon an ihrem Arm, und es gelang ihr, ihn loszureißen. Sie wand sich unter dem Gewicht, riss ein Kotemon von ihrem Nacken, schaffte es, sich auf den Rücken zu rollen und die anderen abzuwerfen, als ihr einer der kleinen Kendokämpfer mit seinen Echsenfüßen direkt in die Magengrube sprang. Yolei ächzte auf und bittere Galle drängte ihren Rachen hoch. „Du lernst es wohl nie?“, mümmelte das Kotemon und holte mit seinem Bokutō aus. Yolei schaffte es, ihren Zierdegen aus der Scheide zu reißen. Er bog sich gefährlich durch, als sie das hölzerne Schwert damit abfing, aber immerhin entging sie dem Schlag, der ihr sonst mit Sicherheit das Bewusstsein geraubt hätte. Mit einem schnellen Streich ließ sie den Degen zwischen die Gittermaschen der Kendomaske peitschen. Obwohl er nicht spitz war, jaulte das Digimon auf und plumpste von ihr. Yolei sah sich gehetzt um. Da war Hawkmon … aber das DigiArmorEi war von den Füßen zahlloser Digimon weitergetreten worden und lag außer Reichweite. Schon umstellten die Kotemon sie wieder… Sie griff in ihre Gürteltasche und bekam das zweite ArmorEi zu fassen, das sie und Matt unter so großen Anstrengungen aus der Maya-Pyramide geborgen hatten. „Erstrahle!“, rief sie und rannte auf Hawkmon zu, sprang auf das sturmumtoste Licht zu, das ihr Partner verströmte, und saß dann auf dem Rücken von Halsemon. An zuschlagenden Holzschwertern vorbei schwang es sich in die Luft und landete wieder hinter Mimi und Yasyamon. Sie waren von den Cerberusmon des DigimonKaisers in die Enge getrieben worden, die nur von Yasyamons Bokutō auf Abstand gehalten wurden. „Steigt auf, schnell!“, rief Yolei und zerrte ihre Freundin hinter sich auf Halsemons Rücken, Palmon schwang sich auf ihren Schoß. Yasyamon stieg auch auf, als sie ihm hektisch zuwinkte. Halsemon tat sich schwer, mit dem Gewicht zu fliegen, aber es schaffte es irgendwie. „Den Turm!“, schrie der DigimonKaiser. „Schützt den Turm!“ Yolei begegnete einen Herzschlag lang seinem grimmigen Blick und erwiderte ihn ebenso grimmig. Eine lebende Wand aus Otamamon und Gekomon kletterte die schwarze Oberfläche des Obelisken hoch. Yolei biss die Zähne zusammen. Dieser Feigling … So konnten sie den Turm unmöglich angreifen. Aber selbst wenn der Fluch der Schwarzen Ringe gebrochen wurde, es waren mittlerweile so viele feindliche Digimon im Pavillon, dass es wahrscheinlich keinen Unterschied mehr machte – höchstens sorgte es noch für mehr Todesfälle. „Raus hier!“, rief sie daher Halsemon zu, das in der Luft wendete und mit roten Laserstrahlen an seinen Augen den Seidenbehang des Pavillons zerschnitt. Sie hätte gern noch Matt gerettet, aber er lag irgendwo inmitten der Schwarzring-Digimon, und so ungern sie es sich auch eingestand, es konnte sein, dass er nicht einmal mehr lebte. Durch die Öffnung verließen sie den Schauplatz dieser Albtraumhochzeit und stiegen hoch über Little Edo. Auch hier war die Lage fatal. Der Radius des Turms reichte über die ganze Stadt; freie Digimon hatten sich in Gassen oder Häusern verschanzt und wurden von ihren beherrschten Mitbürgern angegriffen. Truppen des DigimonKaisers und Soldaten von Musyamon zerschlugen Widerstandsnester. Little Edo war verloren. Die freien Digimon standen einer Übermacht von sicher fünfzig zu eins gegenüber. Nur so kann man diese Stadt wahrscheinlich einnehmen, dachte Yolei bitter und erinnerte sich an die gewissenhaften Ninjamon-Wächter, die sie stets so verabscheut hatten. Sie wären eine gute Verteidigung gewesen. Mit den Ringen allerdings … Mimi klammerte sich so fest um ihre Hüfte, dass ihr Bauch erneut schmerzte. Yolei glaubte, sie schluchzen zu hören. Gern hätte sie sie getröstet, aber ein Kloß steckte in ihrem Hals. Little Edo war für sie immerhin das gewesen, was einer Heimat am nächsten kam. „Ruhig, ruhig“, zwang sie sich zu sagen. „Es ist vorbei.“ Das war es wirklich. Yolei sah mutlos zum Erdboden zurück, während Halsemon immer höher glitt. Schwarzer Qualm stieg überall aus der Stadt auf. Daten toter Digimon funkelten neben ihnen in der Luft, und sie konnte das Feuer sehen, das auf manche der einst so hübschen Häuser übergegriffen hatte. Ja, es war vorbei. Es war alles aus. Den Shogun, die Fürsten … Little Edo gab es nicht mehr.   So come, bring on all that you’ve got Come hell, come high water Never stop  (Sabaton – 40:1) Kapitel 18: Der Auftrag des Löwen --------------------------------- Tag 43   Kens Stiefel knirschten über den Teppich aus Glasscherben. Das Festzelt hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt, die Kämpfe hier waren heftiger ausgefallen als die Scharmützel in der restlichen Stadt. Aber Ken hatte beschlossen, ernst zu machen. Beschlossen, mit voller Kraft zu kämpfen, um diesen Irrsinn möglichst schnell zu beenden. „Wie lästig, dass man nach einem großen Fest immer auch wieder aufräumen muss“, seufzte Spadamon, das den anderen Digimon dabei half, den Pavillon abzubauen und die Trümmer der Tische und Bänke von den intakten Möbeln zu trennen. Es war Musyamon mit dessen Verstärkung in einigem Abstand zu seiner Kotemon-Garde gefolgt und erst nach der Schlacht eingetroffen. Bis heute hatte es auf Musyamons Landsitz bei den Reisfeldern darauf geachtet, dass die Abmachung eingehalten wurde. „Ich hatte übrigens noch ein paar Informationen über Little Edo für Euch“, sagte es beiläufig, wie um sich auszuruhen. Ken spannte nicht nur Schwarzring-Digimon für die Arbeit ein, sondern auch alle anderen. „Aber ich schätze, das hat sich jetzt erledigt, ja?“ „Weißt du, wo der Drachenritter steckt?“ Der kleine weiße Löwe zuckte die Achseln. „Als ich das letzte Mal hier war, war er auch noch hier. Wahrscheinlich ist er zurück ins Nördliche Königreich geflogen, als die Prinzessin den Antrag des Wolfs angenommen hat.“ „Kannst du das bestätigen?“ Ken wandte sich an Matt. Er sah übel aus; sein schöner Anzug war zerrissen und schmutzig, in seinem Haar klebte getrocknetes Blut, wo Ogremons Keule ihn heftiger als nötig getroffen hatte. Seine Hände hatten sie mit Stricken gefesselt und zwei steinharte Gotsumon flankierten ihn. Er kniff nur mit zornigem Blick die Lippen zusammen. Ken seufzte. Egal, was er tat oder sagte, er würde aus Matt nichts herausbekommen. Als er mit Yolei in der Maya-Pyramide gesprochen hatte, hatte er erkannt, dass nichts seine ehemaligen Freunde dazu bewegen konnte, ihm zu glauben. „Nehmt im sein DigiVice ab und bringt ihn und sein Gabumon in die Festung“, wies er die Gotsumon und eine kleine Eskorte Allomon an, die zum Aufräumen nachgekommen waren. „Sperrt sie ein und passt auf sie auf, und behandelt sie gut. Und ihre Wunden.“ Während Matt, immer noch in stummer Verachtung schweigend, abgeführt wurde, rief Ken seinen ersten Ritter zu sich. „Ogremon.“ „Zur Stelle.“ Das grünhäutige Digimon sah aus wie neu geboren, die Wochen ohne Kämpfe schienen an seinen Kräften gezehrt zu haben. Nun hatte es seinem Kriegerkodex Ehre machen dürfen. „Ein Auftrag, ja? Sehr gut. Allemal besser, als hier zu putzen.“ „Nimm deine Getreuen mit dir und such nach den beiden Mädchen, die uns entkommen sind. Ihnen darf kein Haar gekrümmt werden, aber achtet auf ihre Digimon und DigiVices. Wenn ihr gegen sie kämpft, dann habt die Cerberusmon in vorderster Reihe. Spadamon hilft dir, sie aufzuspüren.“ „Alles klar.“ Ogremon knackte mit den Knöcheln und gab Spadamon einen Wink. „Los geht’s, Kleiner.“ „Wie du willst, Großer.“ Die beiden ungleichen Digimon gingen zur Empore, wo Ogremon seine Anhänger zusammenrief. „Nun zu Euch“, sagte Ken und wandte sich an Musyamon, das schweigend auf einer zerbrochenen Bank hockte und den Arbeiten zusah. „Ihr habt mir gute Dienste geleistet.“ Musyamon schnaubte nur. „Als Euer kleiner Freund zu mir in mein Anwesen kam, dachte ich, Ihr würdet Witze machen. Aber Ihr habt es tatsächlich geschafft. Ein ausgeklügelter Plan.“ „Danke.“ Ken kam gleich zur Sache. „Ich vermute, dass Ihr einen gewissen Groll gegen den Ehernen Wolf hegt. Ich will Euch daher erinnern, dass er mein Gefangener ist, und ich allein bestimme, was mit ihm geschieht.“ „Ich habe keinen Groll gegen ihn. Er war nur der arme Tropf, der das Pech hatte, heute einen silbernen Kelch hochzuheben.“ Das überraschte Ken. Er hatte gedacht, Musyamon hätte ihm geholfen, weil es Matt hasste. „Dann lasst mich Euch eine Frage stellen. Wenn wir Prinzessin Mimi auch erwischt hätten, hättet Ihr darauf bestanden, sie zu heiraten?“ Musyamon schnaubte wieder. „Was bringt es, jemanden zu heiraten, der einen nicht liebt? Das Mädchen wusste nichts von meiner Vereinbarung mit ShogunGekomon. Sie verabscheut mich, das muss ich hinnehmen.“ Die Antwort gefiel Ken, obwohl er schon flüchtig mit dem Gedanken gespielt hatte, Mimis Ehe mit Matt zu annullieren und mit einer erneuten Heirat Musyamon zum rechtmäßigen Shogun zu machen. Aber kein Digimon würde ihn dafür lieben, und ehe er Mimi das antat, konnte er gleich bei seinen Schwarzen Ringen blieben. „Nun gut. Ich halte mich an mein Versprechen. Ich werde Euch aber nicht zu einem meiner Ritter schlagen, wenn Ihr das erwartet. Schließlich seid Ihr ein Verräter.“ „Bin ich das?“ Musyamon zeigte die Zähne. „Der alte Shogun hat abgedankt. Dem neuen habe ich nie meinen Treueeid geschworen. Ich habe Eurem Ogremon gesagt, was ich mit ihm anstelle, wenn es zu spät Radau schlägt und mich zwingt, den Schwur zu erneuern.“ Es deutete auf das Oger-Digimon, das eben mit seiner Truppe und Spadamon vom Vorplatz trottete. „Wie dem auch sei. Ich werde Euch gemäß unserem Abkommen Little Edo und die Reisfelder als Fürstentümer übergeben, wenn Ihr mir jetzt die Treue schwört; die Voxel-Stadt dürft Ihr natürlich ebenfalls behalten. Das Schneisental und die westlichen Berghänge werden an andere meiner Vasallen gehen.“ „Natürlich.“ Musyamon kniete vor ihn nieder. „Bei meiner Ehre als Samurai. Ich, Musyamon, schwöre Euch Treue bis in den Tod und nenne Euch meinen Lehnsherren und Kaiser.“ Ken wusste nicht, wie weit er diesem Digimon trauen konnte, aber so waren sie übereingekommen. Ohne Musyamon wäre das hier alles nicht möglich gewesen. „Und ich schwöre, Euch als Euer Schirmherr vor jedwedem Unheil zu schützen, das Euch droht. Erhebt Euch, Musyamon, Fürst von Little Edo, der Voxel-Stadt, den Gekomon-Reisfeldern und der Bambusbucht.“ Musyamon stand mit klappernder Rüstung auf. „Dann werde ich mir jetzt meine neue Stadt ansehen, wenn Ihr gestattet.“ „Tut das. Einen Rat möchte ich Euch noch geben: Passt gut auf den Schwarzen Turm auf. Ich werde im Umland weitere errichten lassen. Ich befürchte, die Bürger hier werden Euch nicht gerade lieben.“ „Lasst das meine Sorge sein.“ Musyamon nickte ihm zum Abschied zu. „Du meine Güte, was hast du denn hier angestellt?“ Ken wandte sich um und sah erfreut Nadine, die über den Scherbenteppich ging. Glas zerbrach unter ihren Absätzen. Sie trug das gleiche, königliche Kleid wie bei ihrem ersten Treffen. Am anderen Ende des Platzes war ihr Ookuwamon gelandet. „Ich tue nur, was ich tun muss“, sagte er und lächelte schwach. „Wormmon hat mir gesagt, dass du hier bist. Und dabei bin ich extra den ganzen Weg bis zu deiner Festung geflogen.“ Nadine schüttelte tadelnd den Kopf, als sie die Zerstörung sah. „Ken, Ken, Ken, was machst du nur? Da lässt man dich ein paar Tage aus den Augen und schon eroberst du mal eben Little Edo. Bist du nicht zufrieden damit, dass du die Felsenklaue kriegst?“ „Wer bist du, dass du es wagst, so mit dem DigimonKaiser zu reden?“, blaffte sie ein Gazimon an, das Ogremon wohl übersehen hatte. Es sah betrunken aus und lallte leicht; nach dem Kampf hatten sich seine Digimon an dem Sake der Gekomon gütlich getan, und Ken hatte ihnen den Spaß gelassen, auch wenn der Wiederaufbau so nur schleppend voranging. „Das, Gazimon, ist die Königin der Schwarzen Rose“, erklärte er und Nadine schenkte dem hundeartigen Digimon ein Lächeln, und Ken meinte, trotz seines Fells sehen zu können, wie es erbleichte und schlagartig nüchtern wurde. „Oh, das … ich … Ichbittteumverzeihung, Milady. Eure Hoheit“, murmelte es so schnell, das man es kaum verstand, kniete ehrfürchtig nieder und kniff die Augen zusammen, als erwartete es Schläge. „Ich vergebe dir“, meinte Nadine lächelnd. „Aber nur, wenn du ab jetzt doppelt so hart arbeitest. Jemand sollte diese Scherben hier wegräumen.“ „Jawohl!“ Gazimon schnellte in die Höhe, wankte kurz und machte sich dann wieder an die Arbeit. Ken gestattete sich noch ein losgelöstes Lächeln, dann wurde er wieder ernst. „Hat alles geklappt?“ Nadine runzelte die Stirn. „Sagen wir es so, ich hab gute und schlechte Nachrichten für dich. Aber wir bereden das am besten nicht hier, vor allen Leuten.“ „Du hast recht. Komm mit.“   ShogunGekomons Privatgemach war riesig – was für ein Digimon seiner Größe nur natürlich war. Jetzt brauchte es das Zimmer nicht mehr; leider war es gestorben, so wie auch Karatenmon. Sie waren als Ultra-Digimon die beiden größten Risikofaktoren in der Aktion gewesen. Das Alte Gekomon hatte schließlich sein Knie gebeugt und seine Ländereien an Ken abgetreten, der mit dem Gedanken spielte, es als Handelsmeister einzusetzen, aber diese Überlegungen hatten noch Zeit. Der hohe Raum entbehrte jeder Einrichtung. Der ehemalige Shogun schien einfach auf dem Boden geschlafen zu haben. Die Echos in diesem kahlen Zimmer waren laut und hallend und die Luft kam Ken unangenehm kühl vor. Also suchten sie einen anderen Ort und fanden schließlich etwas, das nur das Gemach von Mimi sein konnte. Ein wenig unwohl fühlte sich Ken schon dabei. Er hatte das Gefühl, in ihre Privatsphäre einzudringen, als er mit Nadine das Zimmer betrat. Der DigimonKaiser und die Schwarze Rose – sie beiden gehörten nicht hierher, wo alles so prinzessinenhaft wie in einem Märchenbuch war: kunstvoll geschnitzte Schränke, zweifellos voller Kleider und Schuhe, ein großer Schminktisch, ein Wald aus Tinkturen, Parfüms und anderer Fläschchen, ein riesiges, sahneweiches Himmelbett, hübsche verschnörkelte Lampenschirme, und alle Sitzgelegenheiten waren dick und weich gepolstert. Andererseits war der ganze Tand ja nur etwas, das sie von Deemon erhalten hatte. Nadine hob beiläufig einen verzierten Handspiegel auf, der auf der Kommode lag, sah hinein und strich sich das Haar glatt. Ken wagte es nicht, sich auf das Bett zu setzen, also wählte er einen bequemen Stuhl, dessen Lehne mit cremefarbenem Samt gepolstert war. „Also, gab es Probleme bei dir daheim?“ „An der Felsenklaue? Nein.“ Nadine sah nicht auf, sondern zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Dann ließ sie den Blick abschätzig über die kitschige Einrichtung wandern. „Außer, dass mir Keiko schon wieder auf die Pelle rückt. Das Mädchen will einfach nicht in Frieden mit mir reden. Ich weiß nicht, was die gegen mich hat.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nein, sonst ist alles glatt gelaufen. Meine Berater wollten zwar zuerst nichts von der ganzen Sache wissen, aber dann hab ich ihnen versichert, dass sie immer noch mir persönlich unterstehen und du nur deine Türme baust, weil das unser Reich besser sichert.“ Grinsend zwinkerte sie ihm zu, legte den Spiegel weg und ließ sich einfach auf das Bett fallen, wo sie prüfend auf der Matratze wippte. „Wir werden unsere Entscheidungen ja ohnehin gemeinsam treffen. Spielt doch keine Rolle, von wem meine Berater sie erfahren.“ Genau deswegen hatte Ken gar keine Berater, zumindest keine solchen, die nichts anderes taten als ihm Pläne vorzuschlagen und seine eigenen zu kritisieren. Kaum jemand in der DigiWelt hatte eine Ahnung davon, was das hier eigentlich alles für eine Farce war, also war er der Ansicht, dass er allein entscheiden konnte und musste, was am besten war. „Aber du hast sie überzeugt?“ „Klar. Meine Fürsten hab ich auch für dich gewinnen können. Sie haben aber gemeint, ich sollte vielleicht verstärkt Propaganda mit dir gemeinsam machen, damit das gemeine Volk auch hinter uns steht.“ Er nickte. Das war eine gute Idee. Wenn er zu sehr in sein altes Muster zurückfiel, ohne Werbung für sein Regime zu machen, würde er den Bürgern höchstens unsympathisch werden. Vor allem nach so hinterhältigen Schachzügen wie dem heutigen. „Was ist dann das Problem?“ Nadine hatte einen Fächer gefunden. Sie hatte sich wieder aufgesetzt und fächelte sich kühle Luft zu. „Der Bohrturm. Die Kavallerie wird mir abspenstig.“ „Das heißt?“ „Sie meinen, sie haben unter so großen Verlusten gegen dich gekämpft und dann den Turm so lange gehalten, dass ein Bündnis zwischen uns einfach nicht in Frage käme.“ Ken schnaubte. „Sie hatten kaum Verluste. Ich habe meine Digimon zurückgezogen, als sie gekommen sind.“ „Sie wollen weiterhin den Turm halten. Das geht sicher auf RiseGreymons Konto. Die anderen waren mir eigentlich immer treu, aber RiseGreymon war schon immer ein Kandidat für Fahnenflucht. Blöd nur, dass es das stärkste von ihnen ist und ich ihm deswegen das Kommando gegeben habe.“ „RiseGreymon?“ „Ein großes Dino-Digimon mit Metallrüstung. So ähnlich wie das MetallGreymon von diesem, wie heißt er noch gleich, Tai.“ Jetzt wusste Ken also, was das für ein Digimon war, das gegen Ende der Aufzeichnungen damals gegen den Bohrturm gekracht war wie ein lebender Fels. „Ich kümmere mich darum. Jetzt habe ich wenigstens einen Grund, den Bohrturm zurückzuerobern. Ich kann das ja schlecht auf mir sitzen lassen.“ „Nein, du machst gar nichts“, erwiderte Nadine. „Ich habe dir das eingebrockt, und deine Truppen sind sowieso schon so dünn gesät. Ich schicke meine Elite, damit sie den Bohrturm für dich knackt.“ Ken nickte dankbar. „Wormmon sehnt sich übrigens schon nach dir.“ Sie stand schwungvoll auf, dass ihre Röcke raschelten. „Kannst du hier weg?“ Ken überlegte. „Ein wenig würde ich noch gern die Dinge hier überwachen. Um das meiste darf sich Musyamon kümmern. Sagen wir, um Mitternacht?“ „Von mir aus.“ Ihre Zähne blitzten im Abendlicht. „Ich wusste ja gar nicht, dass du ein Nachtschwärmer bist.“     Tag 44   Als Tai zum Sitzungssaal in Santa Caria gerufen wurde, sah er, dass Davis zurückgekehrt war. „Du bist schon wieder da?“, fragte ihn der Junge. „Sieht so aus, nicht wahr?“, gab Tai ruppig zurück. Sie gingen beide auf das Rathaus zu. War Davis etwa auch zu der Besprechung geladen? Was bedeutete das? „Das heißt, du hast die Prinzessin wirklich nicht geheiratet.“ „Woher weißt du davon?“, fragte Tai mit zusammengekniffenen Augen. Musste er sich die ganze Leier jetzt auch noch von so einem Grünschnabel anhören? Davis zuckte die Achseln. „Es war das Erste, was man uns erzählt hat, als wir heute Morgen angekommen sind. War sie hübsch?“ „Sie wäre nichts für dich“, sagte er auf sein Grinsen hin. „Und für mich auch nicht.“ Beidhändig stieß er die Torflügel auf, die direkt in den Saal im Rathaus führten. „Ah, Drachenritter“, begrüßte ihn Meramon. „Wie es aussieht, habt Ihr Little Edo ein paar Tage zu früh verlassen.“ Tai hatte bereits jetzt die Nase voll von diesem Thema. Von Mimi wollte er am liebsten nichts mehr hören. Es war schon seltsam – eigentlich hatte er sie nie heiraten wollen, aber dass sie nun diesen Matt an seiner Stelle gewählt hatte, verletzte trotzdem seinen Stolz. „Warum? Ist die Hochzeitszeremonie in aller Munde? Hat sich der Wolf blamiert?“, fragte er kühl, während er zur Rechten des Königs Platz nahm. Heute waren sie alle anwesend, Leomon, Centarumon, das keinen Stuhl brauchte, Meramon und er. Wizardmon war in die Blütenstadt zurückgekehrt, hatte er gehört, dafür war Davis nach Santa Caria gekommen. „Blamieren würde ich das nicht nennen“, sagte Meramon. „Aber die Hochzeit ist in aller Munde, ja.“ „Der DigimonKaiser fiel während der Zeremonie in Little Edo ein“, sagte Leomon ruhig. „Er hat mit Fürst Musyamon von den Reisfeldern konspiriert. Der Shogun ist tot, und der Eherne Wolf ist in Gefangenschaft geraten.“ Das überraschte, schockierte Tai sogar. „Aber dann ist Little Edo …“ „Die Stadt hat nicht viel Schaden erlitten. Aber es hat sich vieles geändert. Der DigimonKaiser hat sie sich in sein Reich einverleibt. Musyamon ist sein Vasall geworden.“ Tai schüttelte fassungslos den Kopf. Er hatte gestern einen eintägigen Flug in die Eisregion unternommen, um eine Expedition von Frigimon, das das Lehen dort hielt, in den unbekannten Westen zu überwachen. Erst heute Morgen war er wieder in Santa Caria angekommen und hatte bis Mittag geschlafen. So viel konnte sich also innerhalb eines Tages ändern … „Das bedeutet ja, dass sein Reich jetzt nicht mehr gespalten ist. Dann gehört ihm jetzt alles von der Knöchelküste bis zum Stiefel.“ Ich habe mir dieses lächerliche Minneduell mit Matt geliefert, weil wir beide Little Edo wollten. Jetzt hat uns der DigimonKaiser gezeigt, wie es gemacht wird. „Es kommt noch schlimmer“, sagte Centarumon. Wenn es sprach, hörte es sich immer sehr dramatisch an, doch diesmal steckte auch etwas dahinter, das spürte Tai. „Die Nachricht hat uns heute Vormittag erreicht. Der DigimonKaiser und die Schwarze Rose haben am Morgen ein Bündnis verlautbaren lassen.“ „Ein Bündnis mit dem Süden? Das … das ist …“ „Eine Katastrophe“, führte Leomon Tais Satz zu Ende. Was zum Teufel war in den letzten zweiunddreißig Stunden noch alles passiert, von dem er nichts wusste? „Dann gehört ihm ja bald die halbe DigiWelt!“ Das war übertrieben, aber so gesehen war sein Machtbereich jetzt der größte von allen Kriegsteilnehmern. „Wir haben ihm viel zu lange freie Hand gelassen“, knurrte Meramon. „Er macht da unten im Süden, was er will. Am Stiefel hat er eine Schlacht verloren, heißt es, aber dafür hat er jetzt Little Edo in seiner Gewalt und die Felsenklaue hinter sich. Jemand muss diesem Kaiser mal die Zähne ziehen!“ „Wir hatten keine Wahl. Die Schwarze Königin hat uns dazu gezwungen, unser eigenes Land zu verteidigen“, warf Centarumon ein. „Apropos.“ Tai wandte sich an Davis. „Wie ist es gelaufen? Ich habe gehört, dass du erfolgreich warst, aber ich würde es gerne offiziell hören.“ Davis lächelte triumphierend. „Und wie. Veemon und ich haben ihnen richtig eingeheizt.“ „Davis hatte den Einfall, der die Blütenstadt gerettet hat. Anschließend hat er geholfen, den feindlichen General ausfindig zu machen und zu vertreiben. Zumindest im Dornenwald herrscht jetzt wieder Frieden“, sagte Leomon. Tai hob eine Augenbraue. „Nicht übel“, sagte er. „Och, war keine so große Sache“, meinte Davis und Tai war sich nicht sicher, ob er nun verlegen oder hochnäsig war. „Womit wir beim eigentlichen Thema wären“, sagte der König. „Centarumon?“ Der Zentaur breitete eine Karte auf dem Rundtisch aus und sie alle beugten sich darüber. „Es gab Überfälle hier, hier und hier.“ Seine behandschuhten Hände deuteten auf Gebiete rund um das Nadelöhr, einen großen See am Fuße der Nadelberge, und auf den Nebelwald westlich davon, der sie eigentlich nichts mehr anging. „Wieder das Blutende Herz?“, fragte er. „Wir sind uns nicht sicher, wer dahinter steckt“, sagte Centarumon. „Es scheint sich um Banditen zu handeln, die die Kriegssituation ausnutzen. Überall dort fehlen starke Digimon, die wir südlich des Dornenwalds und auf der Großen Ebene stationiert haben, um die Grenze zu sichern. Die Banditen nutzen das aus, überfallen Dörfer und Siedlungen und plündern und brandschatzen.“ „Briganten“, murmelte Tai. „Waren es denn immer dieselben?“ „Es scheint mehrere Gruppierungen zu geben. Sie sind eine Plage und stellen den Schutz infrage, den wir unseren Bürgern bieten wollen“, sagte König Leomon. „Alles klar, die walzen wir platt.“ Davis krempelte symbolisch die Ärmel hoch. „Veemon und ich kümmern uns um sie.“ „Weil du weißt, wie solche Halunken denken?“, fragte Tai. Es war unfair, das wusste er, aber er musste immer noch Dampf ablassen. „Im Gegenteil!“, brauste Davis auf. „Diese Briganten vergreifen sich nur an Unschuldigen! Die Getreuen des Staubes haben das immer andersrum gehalten.“ „Du willst dich uns also weiterhin anschließen?“, fragte König Leomon. Davis nickte. „Ja.“ „Ja, Eure Majestät“, zischte ihm Tai zu. Davis rollte mit den Augen. „Ja, Eure Majestät. Verzeihung. Vor allem, wenn es um solche Überfälle geht. Ich will den Digimon dort helfen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben.“ Leomon nickte. „Dann werde ich es dir überlassen, sie aufzuspüren. Dir und Sir Taichi.“ „Ich auch?“, fragte Tai. Er verspürte eigentlich keine große Lust, mit Davis zusammenzuarbeiten. Eigentlich wollte er nur seine Megadramon und Agumon in seiner Nähe wissen, andere Menschen konnten ihm im Moment gestohlen bleiben. „Seht es als Chance, Euer Versagen im Königreich der Kröten reinzuwaschen“, griente Meramon und er knirschte mit den Zähnen. „Es ist gut, Meramon“, mahnte es Leomon, aber Tais Zorn war bereits neu entfacht. „Was soll mit dem DigimonKaiser geschehen?“, fragte Centarumon. „Wir sollten ihm nicht mehr freie Hand gewähren. Ich habe gehört, seine Hauptarmee steht momentan am Rand der Kaktuswüste. Es sieht nicht so aus, als würde er seine Aufmerksamkeit bald gen Norden richten.“ „Würde ja auch keinen Sinn machen“, brummte Davis, der sich die Karte ansah. „Wenn er die Kaktuswüste auch noch erobert, hat er einen wunderschönen, kompakten Fleck Land.“ „Die Große Ebene ist noch zum größten Teil frei“, gab Leomon zu bedenken. „Der Eherne Wolf ist gefangen, und wir haben gehört, seine Digimon sind entweder versprengt oder versklavt worden. Little Edo ist gefallen. Nichts steht mehr zwischen ihm und uns.“ „Nur meilenweites Grasmeer“, sagte Tai. „Das wird ihn nicht aufhalten. Wir müssen mit unseren nächsten Schritten vorsichtig sein. Wenn er sich nach Norden wendet, kann er die Front ausweiten und unsere Armee ausdünnen. Das sollten wir verhindern, bevor es passiert.“ Centarumon war immer sehr vorsichtig. „Welcher Art ist sein Bündnis mit der Schwarzen Rose?“, fragte Tai. „Wollt Ihr wissen, ob sie geheiratet haben?“, stichelte Meramon. „Sie haben beide verkünden lassen, dass sie nun als ein Reich gelten. Die Währung des Kaisers wurde auch auf der Felsenklaue eingeführt, und ihre Untertanen dürfen sich frei im gesamten Gebiet bewegen“, sagte Centarumon. „Außerdem lassen sie durchblicken, dass sie beide im Reich des jeweils anderen vollstes Verfügungsrecht haben.“ „Das heißt aber, dass das Bündnis nur auf Papier existiert, richtig?“ Meramon schlug mit der Faust auf die Karte, wo sie zum Leidwesen Centarumons einen angekokelten Fleck hinterließ. „Dem DigimonKaiser kann man nicht trauen. Er hat Ränke mit diesem Musyamon geschmiedet. Wenn wir das der Rose klarmachen, wird sie sich vielleicht von ihm abwenden.“ „Ihr wollt sein Bündnis brechen?“, fragte Tai. „Wir werden ihr stattdessen ein eigenes Angebot unterbreiten. Menschen sind wankelmütig.“ Die Felsenklaue wurde von einer Königin als Alleinherrscherin regiert. Wenn sie wieder von ihm verlangten, dass er ihr schöne Augen machte, um sie zu ehelichen … „Einen Versuch ist es wert“, sagte Leomon. Es schien seine Gedanken gelesen zu haben. „Nein, Sir Taichi, ich werde Euch auf keine solche Mission mehr schicken. Wir werden die Rose auf andere Art für uns erwärmen.“ „Habt Dank“, murmelte Tai säuerlich. „Außerdem sollten wir König Takashi von der Kaktuswüste ebenfalls etwas in der Art vorschlagen. Der DigimonKaiser wächst auch ihm langsam über den Kopf. Wir müssen alle zusammenhalten, wenn wir ihn bezwingen wollen“, sagte Centarumon. „Glaubt Ihr wirklich, der hört auf uns? Er soll noch ein halbes Kind sein, habe ich gehört“, spottete Meramon. „Wir werden es auf einen Versuch ankommen lassen.“ Wizardmon würde eine lange Reise unternehmen müssen, dachte Tai.   Mighty eagle rule alone Liberator claim the throne Lion from the northern land Take the scepter, from its hand (Sabaton – The Lion From The North) Kapitel 19: Zwei Banner im Wind ------------------------------- Tag 47 Verwüstete Landschaften zogen zu dramatischer Musik vorbei, niedergebrannte Dörfer und rauchende Ruinen. Ein paar Seelen, die davonstoben. „Was ist aus der einst so prächtigen DigiWelt geworden? Krieg und Zerstörung, überall“, tönte eine warme Stimme. Man sah eine Brigantentruppe, die ein Dorf überfiel, dann ein kleines Heer mit dem Wappen des Mutes auf seinen Bannern, das auf offenem Feld über eine Handelskarawane herfiel. „Viele Fraktionen kämpfen um des Krieges willen. Nur eine kämpft, um den Frieden zu erlangen.“ Schließlich eine Szene von einer friedlichen Landschaft, geschwungene, sattgrüne Hügel, ein Floramon-Dorf, in dem getanzt und Pfeife geraucht wurde. Dahinter, groß und monströs, ein Schwarzer Turm. „Die Schwarzen Türme sind ein Symbol des Schutzes. Sie ermöglichen es eurem geliebten Kaiser, euch jederzeit zur Hilfe zu eilen, und sie halten die Verbrecher im Zaum, die den Krieg schamlos ausnutzen.“ Ein anderes Dorf, eine Bande fledermausartiger Vilemon flatterte nachts darauf zu, zweifellos in böser Absicht. Schwarze Ringe schwärmten aus dem Schatten des Turmes aus, die Schriftzeichen darauf rot glühend, damit man sie erkannte, und bändigten die Digimon, ehe sie Schaden anrichten konnten. „Doch es gibt auch andere Menschen, die die Macht dieser Türme zu kopieren versuchen.“ Das Bild schwenkte an den Rand der Kaktuswüste, wo man Digimon des Einhornkönigs beim Angriff auf ein noch freies Dorf sah. Aus der Ferne sah man Attacken hageln und Feuer entflammen, dann war das Dorf vernichtet und ein Schwarzer Turm stand dort. „Es sind Imitationen, ohne Macht, nur ein Zeichen der Unterdrückung, eine Perversion des Friedens, die ein Turm eures Kaisers euch bietet.“ Es folgten andere Bilder des Krieges, verwackelte Aufnahmen des Deckerdramons, das den Stiefel bombardiert hatte, Videos von der Front, von sterbenden Digimon, denen von Soldaten unter dem Einhornbanner der Gnadenstoß versetzt wurde, dann Schnitt, kurz bevor sie tatsächlich starben. „Die DigiWelt ist eine schmutzige Welt geworden. Schmutzig von Verrat, Rufmord, Verleumdung, Mord. Triefend von Hass und Selbstsucht. Doch fürchtet euch nicht – sie stehen euch zur Seite.“ Eine stattliche Armee, die vor einem Turm dem Schatten des DigimonKaisers salutierte: Neutrale Monochromon, die mit den Füßen stampften, die Panzer blitzblank poliert und sauber; prächtige Rhinomon, Nashörner mit goldenem Panzer, der blitzte und glänzte wie eine zweite Sonne. Reihen aus Gazimon, die niederknieten und nacheinander, wie eine Welle, wieder in die Höhe kamen. „Sie sorgen für eure Zukunft.“ Schnitt auf die Stadt des Ewigen Anfangs; kunterbunte DigiEier lagen friedlich auf einer blumenbewachsenen Wiese, Baby-Digimon spielten mit Bällen oder auf Hüpfkissen. Wieder sah man Schwarze Türme, die darüber wachten. „Das größte Reich. Die größte Hoffnung. Das einzig wahre Kaiserreich und das Königreich der Schwarzen Rose sind eins geworden, bereit, für euch zu kämpfen.“ Man sah den DigimonKaiser, wie er in seiner Festung Hof hielt, stattlich in seinem herrschaftlichen, throngleichen Stuhl, und aufmerksam den Bittstellern lauschte. An seiner Seite Königin Nadine, in ein wunderschönes Gewand gekleidet, die in einem genau gleichen Sessel saß. „Gerecht, barmherzig, edel.“ Nadine, die ein kniendes Gekomon an der Hand nahm und ihm mit einem freundschaftlichen Lächeln aufhalf. „Ihnen gebührt unsere Loyalität. Sie sind unsere Rettung. Sie führen uns aus dem Krieg und in eine glorreiche Zukunft. Auf ewig gepriesen und bejubelt seien Königin Nadine die Schwarze Rose und der DigimonKaiser.“ Die Musik wurde volltönender, und unter Fanfarenstößen wurden die beiden Herrscher von ihren im Wind flatternden Bannern überblendet, links die violette Blüte des Kaiserreichs, rechts die schwarze Rose. Die Musik endete, und das Bild wurde schwarz. Ken nickte zufrieden. Es würde Nadine gefallen, so hoffte er. Er hatte längst nicht alle Möglichkeiten seiner Propagandamaschinerie ausgenutzt, aber das war ein würdiger weiterer Schritt, fand er. Hoffentlich nahm sie ihm den Anfang nicht übel, in dem hauptsächlich von ihm die Rede war; er hatte diese Teile drehen lassen, ehe er sie kennen gelernt hatte. Es war leicht gewesen, Videomaterial zu finden, das seine Feinde diskreditierte. Verstörende Bilder sah man in der DigiWelt genug, und mit der richtigen Untermalung und an der richtigen Stelle in ein großes Ganzes geschnitten, bekamen viele Szenen eine ganz neue Bedeutung. Ein versiertes Datamon hatte ihm geholfen, vieles hatte er aber selbst zusammengeschnitten. Sein Überfall auf Little Edo hatte viele ehrliche Digimon gegen ihn aufgebracht, auch aus den eigenen Reihen. Ein zweites Video war bereits vor Tagen über die Bildschirme seiner Monitormon überall in seinem Reich auf Sendung gegangen. Darin wurde Matt als machtgieriger Ränkeschmied dargestellt, der die arme Prinzessin Mimi zur Hochzeit gezwungen hatte, um Little Edo zu unterwerfen und in einen langjährigen, aussichtslosen Krieg zu führen. Bilder seines MetallGarurumons, das ganze Heere auseinander riss, gaben dem Video einen gewissen schockierenden Touch, und letztendlich wurde Matt gezeigt, wie er gefesselt abgeführt wurde und Ken somit Little Edo errettet hatte. Am Schluss sah man noch seine Bemühungen, die Stadt wieder aufzubauen. Er hatte viele Statisten verwendet, weil man keine Schwarzring-Digimon sehen sollte. Insgesamt war mehr gelogen als wahr, aber Kens schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Er musste die DigiWelt erobern, um sie zu retten; keiner außer Nadine und Wormmon konnte das verstehen, also blieb ihm nur, mit allen Mitteln seine guten Absichten zu verdeutlichen. Während er auf Nadine wartete, die nachhause gekehrt war, um das Problem mit ihrer Kavallerie aus der Welt zu schaffen und sich ihrer eigenen Regierungsangelegenheiten anzunehmen, las er sich die Berichte durch, die Spadamon ihm geschickt hatte. Wie es aussah, beschäftigte sein Spion seinerseits gute Spitzel, und die Sache mit Little Edo hatte Ken so sehr in Anspruch genommen, dass er noch nicht alle seine Nachrichten durchgesehen hatte. Die Zuverlässigen, zu denen Joe gehörte, waren ins Krisengebiet zwischen der Felsenklaue und der Kaktuswüste gezogen. Von Davis war bekannt, dass er der Held der Schlacht um die Blütenstadt geworden und in König Leomons Rat berufen worden war. Das war schlecht, denn Kens Plan, ihn irgendwie auf seine Seite zu ziehen und Stingmon mit Ex-Veemon digitieren zu lassen, war somit vorerst auf Eis zu legen. Von Izzy persönlich hatte noch niemand etwas gehört, aber das Banner und der Name der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt, die seit Kriegsbeginn auf der südlichen Halbinsel hockte, sprachen Bände. Izzy war irgendwo dort unten in der Staubwüste, hinter schlafenden Ungetümen aus Metall. Spadamons Freunde hatten endlich auch Cody ausfindig gemacht, er war ein Arenasklave in Masla. Als Ken das las, zögerte er kurz, ehe er zum ersten Mal seit Tagen mit Deemon in Kontakt trat. Er ließ es zu, dass das Digimon sich in seinen Gedanken materialisierte, und konzentrierte sich auf den mentalen Austausch, sodass alles um ihn herum grau und zweidimensional wurde. Ich habe eine Frage, Deemon. Deemons Gestalt flackerte zornig in der Ecke des Raumes. „Hast du dich also entschieden, wieder mit mir zu reden, Ken?“ Ken ignorierte seinen hohntriefenden Tonfall. Erkläre mir das mit Masla. Diese Stadt hat es nie gegeben – hast du sie nur erschaffen, damit sie der Dreh- und Angelpunkt des Sklavenhandels wird? Masla – so wie Master and Slave? Das ist der einzige Computerterminus, der mir dazu einfällt. Deemon schnaubte durch seine Kapuze. „Du schottest mich tagelang ab, und nun erwartest du von mir, dass ich dir mein Spiel weitererkläre? Du bist ein Narr, Ken.“ Sieh es als Gelegenheit, endlich wieder etwas sagen zu dürfen. Mir persönlich wäre langweilig, wenn ich keinen vernünftigen Gesprächspartner hätte. Deemon grummelte noch ein bisschen, ehe es sich erweichen ließ. „Warum fragst du mich, wenn du es ohnehin weißt? Dein Freund Cody wurde in eine Sklavenstadt hineingeboren. Ich dachte, das mögt ihr Menschen – Untergebene, die entgeldlos alles für euch tun und es nicht wagen, aufzubegehren. Diese Eigenheit hat mir auf meinem Spielbrett noch gefehlt.“ Es kicherte heiser. Du wolltest mich nur schockieren, indem du einen meiner Freunde zum Leibeigenen gemacht hast, oder? Wird er auch ausgepeitscht? Der Spielmeister antwortete nicht direkt darauf. „Und, bist du schockiert? Du bist selbst nicht anders, Ken. Deine Ketten sind Schwarze Ringe, und deine Peitsche sind die Schwarzen Türme.“ Meine Peitsche habe ich lange abgelegt, dachte Ken, ehe er sich bewusst wurde, dass Deemon das hören konnte. Wenn überhaupt, werden meine Türme die Peitsche sein, die dich zähmt, Deemon! Wieder dieses hohle Lachen. „Darauf würde ich nicht wetten, Ken“, schnarrte Deemon und Ken versiegelte es wieder in seinen Gedanken. Es gelang ihm besser als das letzte Mal, und Deemon schien sich schon damit abgefunden zu haben. Er hätte es noch zu Kari und T.K. befragen können, aber es hätte ihm sicher nichts verraten. Diese beiden waren die Einzigen, die Spadamon noch nicht aufgetrieben hatte – obwohl es den Server-Kontinent praktisch von oben bis unten durchforstet hatte. Wo zum Teufel steckten sie? Er tippte mit den Fingern auf die Armlehne seines drehbaren Stuhls. Matt war in den Tiefen der Festung eingesperrt, ohne DigiVice, und nur mit Gabumon allein konnte er unmöglich fliehen. Es fehlte ihm nicht an Annehmlichkeiten, er bekam dasselbe Essen wie Ken selbst – wovon er allerdings nichts anrührte –, außerdem hatte er ein weiches Bett, behagliche Einrichtung und sogar allerlei Musikinstrumente, damit er sich beschäftigen konnte. Ken hatte ihm einen Besuch abgestattet und war äußerst freundlich zu ihm gewesen, aber Matt hatte ihm nur kühl seinen Untergang versprochen. „Gabumon und ich werden dich aufhalten, und wenn es das Letzte ist, was wir tun“, hatte er ruhig erklärt und Ken hatte sich wieder wie der Bösewicht in diesem Spiel gefühlt. „Ich bin nicht dein Feind, Matt. Alles, was ich will, ist diesen Krieg zu beenden.“ „Indem du die DigiWelt verwüstest?“ „Indem ich sie erobere.“ Matt hatte nur geschnaubt und ihn weiter unnachgiebig angesehen. Es war hoffnungslos. Ken hatte kurz erwogen, Gabumon mit seinem DigiVice zu einer Schwarzen Digitation zu bringen und wenigstens das Digimon so auf seine Seite zu bringen, aber er würde es nie übers Herz bringen, das wusste er. Für seine Freunde war er in dieser verkehrten Welt ein Todfeind, der vor nichts zurückschreckte, um die DigiWelt zu unterjochen. Die einzige Möglichkeit, Matt zu retten, war, ihn festzusetzen. Ebenso würde es wohl mit Yolei und Mimi sein, und mit Tai, der immerhin einen hohen Rang in der Armee des Nördlichen Königreichs innehatte. Mit Davis würde er sich große Mühe geben, er setzte Hoffnungen in dessen Fähigkeit, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. Von allen waren Cody und Joe die Einzigen, von denen er hoffen konnte, sie ohne viel Federlesens auf seine Seite zu bringen. Deemon hatte ihm vielleicht sogar einen Gefallen damit getan, Cody zum Sklaven zu degradieren. Die Einhornarmee war ohnehin sein nächstes Ziel; er würde ihn befreien und bei der Gelegenheit auch Joe suchen. Wenn seine Freunde bei seinen Feldzügen weiterhin in der Schusslinie waren, könnte er nicht mit allem kämpfen, was er hatte. Ein Bericht von Devimon erschien als Nächstes auf seinem Bildschirm. Ein Bataillon neuer Rekruten stand bereit und würde demnächst auf den Kontinent verschifft werden. Ken war zufrieden. Er hätte gerne nur Freiwillige aus der Stadt des Ewigen Anfangs in diesen Krieg gezogen, aber die Stadt quoll förmlich vor Eiern und Baby-Digimon über, als versuchte die DigiWelt, das Massensterben in diesem Krieg mit neuem Leben auszugleichen. Ken war mittlerweile klar, dass er nicht wie ein Bilderbuchkaiser regieren konnte, und er wollte es auch nicht. Eine gewisse Härte läge in seinen Zügen, hatte Wormmon unlängst sorgenvoll gemeint, und Ken tat es zwar leid, aber kein Weichling konnte regieren. Also hatte er veranlasst, dass neunzig Prozent aller neu geschlüpften Digimon zu Soldaten gedrillt wurden. Ein Panjyamon, das wie ein Leomon ganz in Weiß aussah, übernahm die Ausbildung, die, militärisch, wie sie war, dazu geführt hatte, das viele der Ausbildungs-Digimon zu humanoiden, mit Gasmasken und Schutzanzügen ausgestatteten Troopmon oder zu Commandramon, kleinen Echsen in Kevlarrüstung mit Maschinenpistolen, digitiert waren. Nadine nannte sie scherzhaft Soldatentierchen. Wie aufs Stichwort glitt die Tür zur Kommandobrücke, die mittlerweile vollständig wiederaufgebaut worden war, zur Seite und ein Gazimon verbeugte sich. „Königin Nadine, Eure Majestät“, näselte es. Mit wehenden, schwarzen Röcken rauschte Nadine in die Dunkelheit der Brücke, wo sie fast mit den Schatten verschmolz. Nur ihr Gesicht war hell, und Ken sah sofort ihren besorgten Gesichtsausdruck. „Lass uns allein“, befahl er dem Gazimon, das sich katzbuckelnd entfernte. Die Hagurumon, die emsig an den Maschinen arbeiteten, empfand er nie als störend, also ließ er sie bleiben. „Hallo“, sagte er nach kurzem Schweigen. Sie zu begrüßend war immer eine irgendwie … verklemmte Angelegenheit. Sie waren beide Regenten mit tonnenschwerer Verantwortung auf ihren Schultern, und sie begrüßten sich wie Schulfreunde. „Hi.“ Sie wich kurz seinem Blick aus. „Es gibt … Neuigkeiten. Ich fürchte, du musst in nächster Zeit gut aufpassen.“ „Was ist los? Ist es wegen deiner Kavallerie?“ „Sie sind nicht mehr meine Kavallerie“, murmelte Nadine bitter. „Sie haben den Bohrturm verlassen, als ich ihnen gedroht habe, ihnen mit meiner Armee auf den Leib zu rücken, aber sie haben sich von mir – von uns – losgesagt. Sie sind durch das Schneisental geflohen und irgendwo auf der Großen Ebene untergetaucht.“ Das war gut möglich. Noch stand nicht überall in Little Edo ein Schwarzer Turm, es war eher ein Schachbrettmuster. Das schwarze Granulat musste erst durch die Wüste transportiert werden, und Ken hatte keine Zeit gehabt, den Bau der Türme zu beschleunigen. Wenn sie es geschickt angestellt hatten, hätten die abtrünnigen Digimon sich durch Little Edo schleichen können, ohne dass Ken etwas davon gemerkt hätte. Wahrscheinlich würden demnächst Spähermeldungen von Musyamon eintrudeln. „Das Letzte, was RiseGreymon mir mitgeteilt hat, ist, dass sie nun eine freie Partisanengruppe wären“, sagte Nadine beklommen. „Und … dass sie dich trotzdem bekämpfen werden und dir ein Abschiedsgeschenk hinterlassen haben. Bevor du den Turm wieder in Betrieb nimmst, solltest du ihn also genau untersuchen lassen.“ „Ach, das. Dieses Geschenk hab ich schon erhalten.“ Nadines Augen weiteten sich alarmiert. „Was ist passiert?“ Ken tippte auf ein paar Tasten und zeigte ihr ein Überwachungsvideo auf einem der Seitenmonitore. Man sah die Kaiserwüste, durch die sich wie eine Schlange eine Pipeline zog. An einer Stelle war das dicke Eisenrohr gekappt und die eine Hälfte verschlossen worden; aus der anderen sickerte zähflüssiger, grünlich gelber Schlamm, bei dessen Anblick allein man meinte, den Gestank zu riechen, den er verbreiten musste. „Es sind chemische Abfälle, wahrscheinlich aus der Fabrikstadt“, erklärte er. Das Bild wurde von einer Explosion erschüttert, als das grüne Zeug in Flammen aufging und die Pipeline regelrecht zerfetzt wurde. Ein Krater, lang wie ein Tal, hatte sich stattdessen gebildet und wurde langsam von Sand bedeckt, während brennende Fetzen des Materials noch in der Luft herumflogen. „Die Pipeline führt von dem Bohrturm nahe an meiner Festung vorbei. Sie wollten mich in die Luft sprengen, oder zumindest meine Truppen, je nachdem, was sie erwischt hätten.“ Nadine starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm. „Oh mein Gott“, hauchte sie. „Ich hätte nie gedacht, dass sie … Ich bin froh, dass es dir gut geht.“ Ken klickte die unschöne Landschaft weg. „Keine Sorge. So leicht kann man mir nichts anhaben.“ „Wie hast du herausgefunden, was sie vorhatten?“ „Ich lerne aus meinen Fehlern, das ist alles.“ Oh ja, das tat er. Damals, während seiner ersten Herrschaft, hatten die DigiRitter ebendiese Pipeline benutzt, um seine Festung anzuzünden und darin einzudringen. Unweit von dieser Stelle war sie dann abgestürzt. Als der Bohrturm an die Kavallerie der Rose gefallen war, hatte er das Rohr daher vorsorglich kappen lassen. „Ich habe übrigens ein anderes Video für dich, das dir hoffentlich besser gefallen wird.“ Er spielte ihr den Propagandaspot vor und fragte nach ihrer Meinung. Nadine gefiel er sogar ganz gut, sie hatte nur ein paar Dinge am Zusammenspiel von Szenen und Hintergrundmusik auszusetzen. Zu zweit stimmten sie diese noch besser aufeinander ab, und die Bilder von Kampf und Zerstörung wirkten am Ende noch dramatischer.   Es wurde ein letztes Mal Zeit, hier Hof zu halten, ehe Ken zur Felsenklaue reiste. Er wollte Wormmon diese Last nicht noch mehr aufbürden, denn seit seine Armee gen Westen marschiert war und Little Edo jetzt ihm gehörte, nahmen die Bittsteller gar kein Ende mehr. Wormmon gab sich große Mühe, alles in seiner Abwesenheit zu regeln, aber sein Partner hatte ein zu gutes Herz und erfüllt beinahe jeden Wunsch. Wie auch in dem Video zu sehen sein würde, hatte Ken einen zweiten Sitzplatz für Nadine anfertigen lassen und empfing seine Untertanen mit ihr gemeinsam in der Gesuchshalle. Jeder sollte wissen, dass sie zueinander standen und ihr Reich gemeinsam und harmonisch regierten. Diese Art von Arbeit war für Ken immer die ermüdendste. Damals hatte er auf niemanden hören müssen, aber ein guter Herrscher musste seine Untertanen achten. Wie anstrengend das war, war unbeschreiblich. Obwohl sein Sitz so desolat lag, könnte er den lieben langen Tag auf seinem Stuhl sitzen, bis sein Hintern wund und sein Nacken verspannt waren, und trotzdem würde der Strom aus Bittstellern nicht abreißen, die der langen Marsch durch die Wüste zudem oft sehr hartnäckig gemacht hatte. Meist ging es um banale Dinge, oftmals irgendwelche Straftaten. Mit Digimon war es viel einfacher als mit Menschen, glaubte Ken zu wissen, und dafür war er dankbar. Viele unschöne Dinge wie Vergewaltigungen blieben ihm erspart, und da die DigiWelt grundsätzlich auf Anarchie gründete, regelten die meisten Bürger seines Reiches ihre Streitigkeiten untereinander. Je mehr man allerdings den Krieg, dieses Einmischen der Menschen in die vorherrschende Gesellschaft im Kaiserreich spürte, desto unruhiger wurden die Digimon und desto mehr hatten sie zu beklagen. Ein Veggiemon jammerte, dass die Steuern zu hoch wären und es mit seinem Geschäft kaum etwas erwirtschaften könne. „Die Steuern müssen sein, damit wir unsere Truppen bezahlen können“, erklärte ihm Ken. „Ohne die innere Ordnung könnte dein Geschäft bald von Plünderern oder Feinden überrannt werden.“ Niedergeschlagen zog das Digimon von dannen. Anfangs hatte Ken noch versucht, es jedem recht zu machen, aber das war ein Ding der Unmöglichkeit. Er musste das Reich zusammenhalten, einzelne zufriedene Bauern und Händler taten das nicht für ihn. Sogar ein paar Otamamon waren unter den Bittstellern. Weit im Westen seines neuen Gebiets, am Rand des Einflussbereiches von Little Edo, nutzten Räuber die noch wackelige Durchsetzungskraft der neuen Regierung aus, um Sake und Reis und Edelsteine zu stehlen, die dort abgebaut wurden. Ken versprach, sich darum zu kümmern und seine neuen Rekruten auf direktem Wege dorthin zu schicken. Als nächstes sprachen drei Woodmon-Brüder vor, die in der Nähe des Koromon-Dorfes an der Stiefelbucht Gemüse anbauten. „Eure Armee kostet uns zu viel“, sagten sie unisono. „Sie haben unsere Vorräte beschlagnahmt und zertrampeln unsere Felder. Und sie wollen nicht weitergehen! Immer wieder wollen sie, dass wir und die anderen Bauern etwas entrichten.“ Ken hatte von den Schwierigkeiten an der Front gehört. Es war nichts Gravierendes, aber als sich General Zephyrmons Truppen mit denen vom Stiefel vereint hatten, waren sie am Rand der Wüste von einem gewaltigen Heer von Takashi und einem Irrgarten aus Stacheldraht aufgehalten worden. Nach ein paar kurzen Gefechten war eine Pattsituation entstanden und Zephyrmon steckte fest. Der Dschungel aus Feldlagern forderte seinen Tribut, und in der Wüste konnten sie keine Nahrungsmittel auftreiben. „So leid es mir tut, diese Beschlagnahmungen sind notwendig. Die Armee tut ihr Bestes, und wenn sie besiegt wird, seid ihr alle dem Feind schutzlos ausgeliefert.“ Er plante, dem Stellungskrieg ein Ende zu bereiten, indem er von Nadines Land aus das Heer des Einhornkönigs in die Zange nahm. Bis dahin würde es aber noch ein wenig dauern. Als die Woodmon den Kopf hängen ließen, fügte Nadine hinzu: „Führt genau Buch darüber, was die Digimon euch genommen haben. Wenn der König in der Wüste gefallen ist, werdet ihr eure Waren aus seinen persönlichen Vorräten ersetzt bekommen.“ Ken sah sie stirnrunzelnd an. Das war nicht abgemacht gewesen. Sie zwinkerte ihm nur vergnügt zu. Die Woodmon waren nicht sehr aufgeheitert, aber immerhin beschimpften sie ihn nicht, als sie gingen. Ganz anders als die fünf Candlemon, brennende Kerzen aus weißem Wachs, die auf ihren messingfarbenen Kerzenhaltern heran hüpften und sich tief verbeugten. Sie stammten aus einer anderen, ebenfalls fernen Ecke des Reiches, aus einem Dorf an der Knöchelküste, oberhalb des Bandes, des Flusses, der in den Nadelbergen nahe Santa Caria entsprang und durch einen Stausee nahe der Kesselstadt hindurch irgendwann den Net Ocean erreichte. Die Candlemon hatten Streit mit den Bearmon aus dem Dorf am anderen Ufer, von denen ebenfalls zwei Vertreter anwesend waren. Die ungehaltenen Flammendigimon warfen mit Anschuldigungen nur so um sich, beschimpften die Bearmon als Diebe und bezichtigten sie, dass sie etwas mit dem Fluss gemacht hätten, um das Candlemon-Dorf zu überfluten, und vor Wasser hatten sie ohnehin panische Angst. Die Bearmon wiesen die Vorwürfe zurück und wurden dabei selbst laut und gereizt. Weiter flussaufwärts hätte es geregnet oder der Damm wäre beschädigt, von daher rühre die Überschwemmung. Ken versuchte, ein gerechter Richter zu sein, aber alle Anschuldigungen der Kerzendigimon waren haltlos und bestenfalls ausfallend. „Bestraft diese haarigen Biester, wenn Ihr unser rechtmäßiger Kaiser seid“, fauchte eines von ihnen. „Wir haben Euren Schwarzen Turm immer in Ehren gehalten, Majestät! Diese Bearmon stapeln ihren Mist an seiner Basis!“ „Sie terrorisieren uns, weil sie neidisch auf unsere Maisfelder sind! Bearmon sind ganz verrückt nach Mais, sie wollen uns vertreiben, damit sie da ran kommen, das ist Diebstahl! Könnt Ihr solche Zustände in Eurem Reich verantworten?“ „Niemand will euren dämlichen Mais“, brummte eines der Bearmon. Sie sahen tatsächlich aus wie kleine Teddybären, mit blauen Lederriemen um Brust und Pranken und einer gleichfarbigen Kappe auf dem Kopf. „Ihr wollt nur eine Entschädigung für eure eigene Dummheit! Was baut ihr eure Hütten so nah am Wasser, wenn ihr euch so davor fürchtet? Majestät, hört nicht auf diese Schlawiner, die wollen nur Eure Gutmütigkeit ausnutzen!“ So ging der Streit etliche Runden weiter, bis Ken dem ein Ende setzte. „Es tut mir leid“, sagte er bedauernd, aber mit fester Stimme zu den Candlemon, „aber ihr könnt keine von euren Anschuldigungen beweisen. Solange ihr mir nicht handfeste Beweise bringt, kann ich die Bearmon nicht verurteilen.“ „Dann seid Ihr nicht unser Kaiser“, zischte eines der Kerzendigimon wütend, und es hörte sich an wie ein erlöschender Docht. „Vielleicht mag der Löwe aus dem Norden ja auch Mais“, giftete ein anderes. „Das Kaiserreich zu verraten ist ein schweres Vergehen“, warnte sie Ken, aber er wusste, dass er ihre Unterstützung bereits verloren hatte. Und vermutlich auch die der wenigen anderen Dörfer nördlich des Bandes. Die Candlemon drehten sich nur um und hoppelten davon, eines spuckte sogar Wachs auf den Fußboden. Kens Gazimon-Wachen wollten schon reagieren, aber er hob nur die Hand zum Zeichen, die Digimon ziehen zu lassen. Er würde sie mit Schwarzen Ringen zur Vernunft bringen müssen, denn er brauchte ihr Gebiet. Aber er wollte sie jetzt nicht bedrohen. „Ich brauche einen Stellvertreter“, seufzte er, als er kurz Ruhe hatte, und streckte seine schmerzenden Glieder von sich. „Einen guten Stellvertreter. Ein Reich zusammenzuhalten wird immer schwerer, je größer es wird.“ Nadine legte ihm die Hand auf den Arm und lächelte zuversichtlich. „Ich finde, du hast das gut gemacht.“ „Mehr als die Hälfte von ihnen hasst mich jetzt.“ „Besser sie hassen uns, als dass Takashi uns überrennt, weil wir schwache Regenten sind, oder?“ Ken seufzte. „Ich habe mir geschworen, nie wieder ein Tyrann zu werden. Aber ich muss hart sein, sonst … verlieren wir.“ „Hart zu sein bedeutet ja nicht, ein Tyrann zu sein. Ich finde, du bist sehr gerecht.“ Sie kicherte verhalten. „Wenn ich daran denke, was mir meine Untertanen schon alles vorgeworfen haben, waren die Candlemon ja richtig harmlos.“ „So? Was denn?“, fragte er neugierig. „Hm.“ Nadine tat, als zähle sie es an ihren Fingern ab. „Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Unsere Zukunft ist so schwarz wie die Rose auf meinem Banner. Ich bin nur ein dummes, kleines Mädchen und verstehe weniger als nichts von allem – ja, sogar unter den Digimon gibt es schon eingefleischte Sexisten. Aber das Ausgefallenste hat ein Raremon einmal zu mir gesagt, das zwei Tage gebraucht hat, um die Treppen in meinem Palast bis zu meinem Audienzsaal hochzukriechen, und das ich dann abgewiesen habe. Es hat gemeint, meine Rose hätte mehr Dornen als Blütenblätter, mein Kleid wäre nur eine Fassade, unter der ich aussehe wie ein vertrocknetes Blossomon, und die Art, wie ich regiere, stinkt zum Himmel. Und das von einem Raremon, kannst du dir das vorstellen? Ich meine, wir haben eine Woche gebraucht, um seinen eigenen Gestank wieder aus dem Audienzsaal zu bekommen.“ Gegen seinen Willen musste Ken schmunzeln. „Also, wen haben wir noch?“, fragte er die Gazimon seufzend, die ein paar Gotsumon, Gizamon und einen Gesandten von Musyamon ankündigten. Ken war froh, dass Nadine auch oft das Wort erhob und diplomatisch auf die gereizten Gemüter reagierte, da er selbst langsam ungeduldig wurde. Der Krieg zehrte jedem im Reich an den Kräften. Schließlich sehnte er nur noch das Ende dieses Tages herbei. Morgen früh würden er und Nadine zur Felsenklaue fliegen, wo er sich einen Überblick über die Lage im Süden verschaffen würde. Und er konnte nicht leugnen, dass er sich darauf freute.     Kari träumte. Am Meer der Dunkelheit war es tagein, tagaus finster und öde. Totes, salziges Wasser umspülte tote, sandige Buchten, und die schlurfenden Schattenwesen machten auch eher den Eindruck, Tote zu sein, die ihr Sterben nicht bemerkt und sich wieder aus dem Grab erhoben hatten. Also fand das Leben in ihren Träumen statt, die lebendiger waren als der Alltag. Viele der Dinge, die sie träumte, waren skurril. Da waren zwei Inseln, die sich in einem wütenden Kampf gegenseitig verschlangen wie Seeungeheuer. Sie sah ein Mädchen, von Schatten umwabert, und obwohl es sich nicht bewegte, steif wie eine Skulptur in einem Meer aus Nichts schwamm, konnte Kari seinen Schmerz fühlen, der so grausam war, dass sie meinte, sterben zu müssen. Das Mädchen hatte kein Gesicht und seine Umrisse verschwammen, wie sich Tinte in Milch auflöste, wenn sie es genauer ansehen wollte. So verhielt es sich mit vielen ihrer Traumfiguren. Da war auch ein Junge, der tanzte und johlte und lachte und über eine Blumenwiese tollte und dann überglücklich mit einem Totenschädel sprach, aber sie hörte seine Worte nicht. Auch die Angst vor der Dunkelheit wurde in ihrem Schlaf wieder lebendig. Im Wachsein hatte sie sämtliche Furcht davor abgelegt, war nun sogar mit der Dunkelheit vermählt, aber in ihrem Traum war sie so frisch und furchtbar wie früher, und Kari presste die Hände an den Kopf, kniff die Augen zusammen und schrie in eine Leere, aus der keine Worte widerhallten, während die Dunkelheit das Land überschwemmte, über die Ufer schwarzer Flüsse trat und gesichts- und gestaltlose Schemen ertränkte. Dann träumte sie von einem goldenen Licht, aber das beängstigte sie ebenso. Sie konnte es sich nicht erklären, aber es schien … falsch. Ich bin das Licht, ging ihr durch den Kopf. Licht sollte sauber und weiß sein, nicht golden. Sie träumte von Tai und von Davis, auch von T.K. Aber T.K. ist doch bei mir? Sonst sah sie immer Dinge aus der Ferne. Sie träumte von Gift, das violett und grün und schwer und süß durch ihre Adern floss. Sie sah sich selbst, wie sie darüber lachte, das Gesicht mehr und mehr vor irrer Freude verzerrte, bis es kaum mehr menschlich war. Ihre Haut begann zu blubbern und löste sich auf, wurde zu grauschwarzem Schlamm, der über ihre Arme lief und zu Boden tropfte, und als sie das nächste Mal blinzelte, sah sie, wie ihre Gestalt vornübergebeugt stand und nun so aussah wie ein Schattenwesen. Einzig ihre Augen waren noch dieselben, wenngleich sie jeden Glanz verloren hatten. Für gewöhnlich wäre sie nun aufgewacht, und sie wartete nur mehr darauf, endlich in die triste, graue Wirklichkeit zurückzukehren, zu T.K. und ihrem Gemahl und dem Volk, das sie verehrte, mochte sie auch eine noch so schlechte Königin sein. Aber der Traum hatte nicht vor, sie so einfach aus seinen kalten Krallen zu lassen. Als Nächstes erblickte sie Ken, der mit dem Rücken zu ihr stand und einen Pfahl in der Wüste ansah. Eine Gestalt in den Kleidern des DigimonKaisers war dort festgebunden und wurde von wütenden Digimon gefoltert. Sie sah, wie seine Tränen den Wüstenboden tränkten, „Es ist Vergangenheit, denk nicht mehr daran“, wollte sie sagen, aber kein Wort erließ ihre Lippen, und seine Tränen ließen Tulpen und Rosen aus dem Sand wachsen. Dann sah sie ihre Freunde. Sie standen am Rand einer Klippe, die am Meer der Dunkelheit hätte liegen können, die Felsen waren schmutzig weiß, und schwarze Flammen lauerten in der Tiefe und zuckten und wuselten wie ein Nest aus fleischfressenden Käfern. Einer nach dem anderen machten sie einen Schritt nach vorn, stürzten in die Tiefe und verschwanden in der lodernden Feuersbrunst. Yolei und Mimi, Davis, Sora, Joe, Cody, Izzy, Matt, sie alle, sogar T.K. und zum Schluss Tai und noch ein paar andere, schattenhafte Gestalten, die ihr vage bekannt vorkamen. „Endet es so? Sterben wir etwa alle?“, rief sie zu den tiefhängenden, dickbauchigen, grauen Wolken hoch. „Versagen wir am Ende alle?“ „Nein“, antwortete eine körperlose Stimme, die ihr ebenfalls bekannt vorkam. Kari atmete erleichtert auf. „Ihr versagt von Anfang an“, fuhr die Stimme fort, und plötzlich verschwand der Boden unter Karis Füßen und sie stürzte ihren Freunden hinterher in ein Flammenmeer, das sich bog und drehte und kräuselte wie verlaufende Farbe in einem Gemälde. Mit einem Schrei fuhr sie hoch, ihr Herz pochte so heftig, als wollte es ihre Brust sprengen. „T.K?“, flüsterte sie. Aber sie war allein. Allein in ihrer Kammer im Leuchtturm, einer halbkreisförmigen, engen Zelle, auf einem Bett aus rohen Balken und getrocknetem Seegras. T.K.s Zimmer war das nächste, und Klecks bewohnte eine untere Etage, aber das Schattenwesen schlief niemals, sondern schien eine eigene Kammer eher als Statussymbol zu sehen. Mit zitternden Händen schlug Kari die Decke weg, die ihre Untertanen für sie aus Seetang geflochten hatten und die jedes Mal trocken raschelte, wenn sie sie bewegte. Sie musste sich aufsetzen, um richtig wach zu werden, musste sich bewegen, um den Traum abzuschütteln. Sie dachte daran, T.K. aufzusuchen, aber sie wollte ihm nicht unter die Augen treten. Sie musste grauenhaft aussehen, verängstigt wie ein kleines Kind und leichenblass. Außerdem waren sie beide, T.K. und sie selbst, ziemlich abgemagert, seit sie hier waren. Es gab schon Essen, das für Menschen genießbar war, aber es machte nicht satt. Sie tranken schales Wasser aus einem Brunnen in dem Dörflein, das ebenso grau war wie alles andere hier, und aßen das weiße Fleisch von den seltenen schwarzen Seeigeln und getrocknete Korallen, die die Schattenwesen weit draußen aus den Tiefen des Meeres holten. T.K. hatte in einem der Bücher erfahren, wo man an Land nach fleischigen, nahrhaften Würmern graben konnte, die weiß wie Schnee waren. Allein bei dem Gedanken daran, wie sie sich in T.K.s Finger gewunden hatten, als er die ersten erwischte, schauderte Kari. Da half es auch nichts, dass sie keinen bemerkbaren Geschmack besaßen. T.K. hatte sich wieder in seine Bücher versinken lassen. Er war mit Klecks den Strand abgegangen und hatte Hinweise dafür gesucht, wo der Schlüssel sein mochte. Die Schattenwesen schwammen – wenn sie nicht gerade für einen Kampf trainierten, der nie stattfinden mochte – weit aufs offene Meer hinaus und tauchten dort in den schwärzesten Tiefen. Achtzig finstere Untiere waren es insgesamt, aber trotzdem schien das Unterfangen aussichtslos. Und während T.K.s Suche immer größere Kreise zog, blieben Kari nur die Träume. Sie hatte sie schon in der Menschenwelt gehabt, bevor sie ans Meer der Dunkelheit gekommen waren. Zuallererst hatte sie geträumt, dass sie plötzlich alleine wäre, und als sie aufwachte, war Tai verschwunden gewesen. Auch Yolei und Davis und die anderen waren nirgends auffindbar gewesen. Schließlich hatte sie T.K. auf seinem Handy erreicht, heilfroh, dass jemand ihr beistand. Waren sie beide wieder einmal verschont geblieben, weil sie besondere Wappen besaßen? In dem Moment war ihnen klar geworden, dass etwas mit der DigiWelt nicht in Ordnung war, und dass Karis innere Unruhe von dort stammen musste. Kein Versuch, sie wieder zu betreten, fruchtete. Das Tor blieb geschlossen, und als Kari schließlich von einem Krieg träumte, der die DigiWelt verschlang und in dem ihr Bruder und die anderen jeder für sich gegen einen neuen DigimonKaiser kämpften, eine Bedrohung, mit der sie mit nur ihren Fähigkeiten als DigiRitter nicht fertig werden konnten, wusste sie, dass es die Wahrheit war. Sie träumte auch vom Meer der Dunkelheit, davon, dass Deemon von hier verschwunden war, und schließlich schafften T.K. und sie es, ein Tor zum Meer der Dunkelheit zu öffnen. Also hatten sie den Plan geschmiedet, die Schattenwesen um ihre Hilfe zu bitten, um einen Zugang zur DigiWelt zu finden und gleichzeitig eine Armee zu erlangen, die in dem Krieg dort ernst genommen werden konnte. Dabei hasste Kari den Krieg. Sie folgte nur ihren Träumen, aber sie folgte ihnen in die Vernichtung, so wie die Schattenwesen ihrer Erlöserin ebenfalls in die Vernichtung folgen würden. Als T.K. am Morgen kam, um nach ihr zu sehen, fand er sie in sich zusammengesunken auf ihrem Bett sitzen. „Hast du wieder geträumt?“, fragte er. Sie nickte langsam. „Ich habe es gesehen. Das Ende von alledem. Und am Ende werden wir alle …“ Sie wollte es ihm nicht sagen. „Wir werden alle verloren sein.“   Awakening, I open up my eyes Befallen me, doomed to this unlife Still I am determined not to break I won't let go and let it seal my fate (Primal Fear – Fighting The Darkness) Kapitel 20: Die Jäger des Tyrannen ---------------------------------- Tag 47   Yolei war nicht dafür bekannt, besonders taktvoll zu sein, und Mimi hatte ihre offene Art eigentlich immer geschätzt, aber als sie sagte, es müsste ihnen wohl wirklich dreckig gehen, da Mimi völlig aufgehört hatte, sich zu beschweren, konnte sie nicht anders, als sich verletzt zu fühlen. Dabei stimmte es wohl sogar, wie sie sich eingestehen musste. Als sie in das Dorf gekommen waren, hatte sie darauf bestanden, als Prinzessin – als frisch gekrönte Königin! – das prachtvollste Haus zu beziehen, und es war nicht annähernd an den Luxus herangekommen, den sie in Little Edo hatte genießen dürfen. Zwar gab es warmes, sauberes Wasser – für Mimi eine Selbstverständlichkeit, aber Yolei, die viel öfter auf Reisen war, nannte selbst das ein Wunder –, doch das Essen war knapp geworden, da die Armeen des DigimonKaisers die Felder in der Nähe geplündert hatten und auch der Kornspeicher des Dorfes nicht ungeschoren davongekommen war. Dabei war es ein hübsches Dorf. Die Häuser sahen aus wie kleine, dünne Pilze mit bunten Kappen. Die Dächer waren aus Schindeln, der Rest aus Backsteinen oder Holz. Es lag in einer Talsenke, und auf den entfernteren Bergen und Hügeln konnte man die schlanken Figuren der Schwarzen Türme von überall aus sehen, und sie erinnerten Mimi daran, was auf der Hochzeit – ihrer Hochzeit – geschehen war. Ich werde ihm niemals verzeihen. Die Bewohner des Dorfes waren Punimon, und sie konnte sich vage erinnern, einmal von einem Punimon-Dorf gehört zu haben, das gerade noch zu Karatenmons Herrschaftsgebiet gehrte. Gehört hatte. Wahrscheinlich ist es tot. Wahrscheinlich ist Matt auch tot. Sie hatte ihn nicht geliebt, nicht so, wie sie sich Liebe immer vorgestellt hatte, aber er hatte sich um sie gesorgt und ihr dieses hübsche Geschenk gemacht, das Yolei benutzt hatte, um sie aus der Schlacht fortzubringen. Die Punimon hatten von der Tragödie gehört, aber sie schienen deswegen nicht sehr bekümmert zu sein. Wahrscheinlich waren sie zu jung, um das ganze Ausmaß zu verstehen. Sie hatten jedoch bereitwillig einen Platz in ihrer Dorfgemeinschaft für die beiden Mädchen, Palmon, Hawkmon und Yasyamon gefunden und verstanden, dass sich ihre Gäste hier verstecken mussten. Es gab braune, harte Körner zu kauen, oder geschmacklosen, dicken Haferschleim, den Mimi kaum hinunterbrachte. Anfangs hatte sie noch gequengelt und gejammert, aber schließlich hatte sie eingesehen, wie egoistisch sie sich verhielt. Die Punimon taten alles, was sie konnten, um ihr Leben im Exil annehmlich zu gestalten, und sie konnte froh sein, dass sie noch lebte. Dennoch vermisste sie den Hof, ShogunGekomon und all den Komfort, den sie als Prinzessin gehabt hatte. Vor allem vermisste sie all die freundlichen Digimon von Little Edo, die eifrigen Gekomon und Otamamon. Jetzt hat der DigimonKaiser die Stadt sicher in einen Ort der Finsternis verwandelt. Ich hasse ihn. Obwohl Mimi täglich badete, musste sie immer wieder in ihr zerrissenes Brautkleid schlüpfen, das sie an den Verrat erinnerte. Musyamon. Ihm konnte sie auch nicht verzeihen. Es war nur mehr eine Stunde bis Sonnenuntergang. Mimi saß unglücklich in ihrem Schaukelstuhl in ihrem Wohnzimmer und schaukelte. Palmon hatte ihr ein einfaches Brettspiel mitgebracht, aber sie hatte keine Lust darauf. Im Kamin lag kalte Asche, in der Nacht würden sie wieder überall in dem Haus einheizen. Es war zwar groß, aber kühlte schnell aus. Schweigend hatten sie das Abendessen gekaut – heute gab es ausnahmsweise kalten Lauch zu den Körnern – und nun warteten sie auf Yolei und Hawkmon, die am frühen Nachmittag zu einer kleinen Erkundungstour aufgebrochen waren, um die Digimon und Dörfer in der Umgebung unauffällig nach der Lage des Krieges und Truppenbewegungen in der Nähe zu befragen, die jemand gesehen haben mochte. Mimi hätte nie geglaubt, dass man im Krieg so vorsichtig sein musste. Yasyamon war ihnen da eine große Hilfe. Das maskierte Digimon nahm seine Pflicht immer noch todernst und entfernte sich nie weit von Mimi, aber es spielte auch eine Art Schutzherr für dieses Dorf. Da sich die Punimon nicht verteidigen konnten, wurden Räuberbanden geradezu eingeladen, sie zu überfallen, und der Anblick von Yasyamon vertrieb sie meist wieder. Dabei hüllte das Digimon sich in einen grauen Fellmantel, sodass man nur seine Schwerter und seine große Figur sehen konnte. Es war das einzige Wesen weit und breit, das Mimi immer noch wie eine Prinzessin behandelte. Ein Radau draußen erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie stand aus dem Schaukelstuhl auf und ging zu einem der halbrunden Fenster. Wieder ein versuchter Überfall? Dann würde Yasyamon gleich wieder Arbeit bekommen. Tatsächlich waren es wieder einmal fremde Digimon, die den Punimon Schwierigkeiten bereiteten. Die üblichen Unfriedensstifter, Gazimon und Mushroomon, und – Mimi schlug sich die Hand vor den Mund. Sie haben uns gefunden! Mitten am Dorfplatz stand das hässliche Ogremon, das Matt bei ihrer Hochzeit so brutal niedergeschlagen hatte, flankiert von zwei hundeartigen, dreiköpfigen Cerberusmon. Mimis Augen weiteten sich, als sie Yolei sah. Der grüne Oger hielt ihre Freundin grob an den Haaren gepackt, dass sie den Kopf nach hinten beugen musste. Hinter ihnen hielt ein Woodmon Hawkmon, das mit rauen Stricken gefesselt war, in den hölzernen Armen. Mimi duckte sich sofort unter die Fensterkante. Mit klopfendem Herzen starrte sie auf den Verputz direkt vor ihren Augen. Sie waren doch erst seit vier Tagen hier … und jetzt sollten sie erwischt werden? Über ihre Schläfe lief ein Schweißtropfen. Palmon hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und kam herangelaufen, und in dem Moment stieß Yasyamon die Tür zu ihrem Zimmer auf. Seine Augen sahen besorgt aus. „Prinzessin“, murmelte es gedämpft. „Der Hintereingang ist frei.“ Mimi biss die Zähne zusammen. Sie konnte Yolei doch nicht im Stich lassen, oder? Mit zittrigen Fingern griff sie zum Fensterriegel hinauf, öffnete ihn und kippte das Fenster, sodass sie die Worte auf dem Dorfplatz hören konnte. Vorsichtig lugte sie über die Kante. Ogremon schwenkte soeben seine Knochenkeule. „Wollt ihr mich verkohlen?“, blaffte es die Punimon an, die zu zwei Dutzenden in respektvollem Halbkreis vor ihm herumhüpften. „Wir haben gute Beweise, dass das Mädchen hier ist, und wir haben auch schon ihre Freundin eingesackt. Wenn ihr uns anschmieren wollt, zerquetschen wir euch, ihr kleinen Kümmerlinge!“ Die Punimon wuselten wimmernd herum. Sie verstanden nicht, was los war, erkannte Mimi. Vielleicht hatten sie noch eine Gnadenfrist … „Prinzessin.“ Yasyamon war hinter sie getreten. „Wir sollten fliehen, solange wir die Möglichkeit haben.“ Ihre Hände krallten sich um die Fensterkante. Schlanke, weiße Finger, die noch nie eine Waffe gegen ein Digimon aufgehoben hatten. „Nicht ohne Yolei und Hawkmon.“ „Mimi“, murmelte Palmon traurig. „Wir können sie nicht befreien.“ „Dann stellen wir uns eben“, meinte sie schnippisch. „Ich bin es sowieso leid, mich hier zu verstecken.“ Palmon kaufte ihr diese Lüge nicht ab, das sah sie ihm an. „Yasyamon, kannst du nicht gegen sie kämpfen?“ „Ich könnte Ogremon und Woodmon wohl besiegen“, überlegte ihr Leibwächter. „Aber diese Cerberusmon sind gefährlich. Sie könnten das ganze Dorf in Brand setzen.“ „Was ist jetzt?“, drängte Ogremon und rief dann laut: „Hörst du, Prinzesschen? Wenn du nicht rauskommst, tu ich der Kleinen was an, die dich damals so verflucht heldenhaft aus dem Schlamassel geholt hat!“ Es deutete mit der Keule auf Yolei, und Mimi schluckte. In dem Moment sagte eines der Cerberusmon neben ihm mit überraschend klarer Stimme: „Geh mit dem Mädchen mal ein paar Schritt zur Seite.“ Ogremon glotzte es verwundert an, dann tat es, wie geheißen. Cerberusmon schnüffelte in der Luft und kam dann ein paar Schritte auf das Haupthaus zu, und Mimi ließ sich rasch wieder unter das Fenster sinken. Trotzdem hörte sie, wie Cerberusmon zufrieden sagte: „Hab sie.“ Jetzt ließ ihr Yasyamon keine Wahl mehr. Draußen hörte man Getrampel, als die Digimon auf das Haus zustürmten. Ihr Leibwächter murmelte nur „Verzeiht mir“, ehe er sie an der Hüfte packte und sich wie einen Sack Mehl über die Schulter warf. Mimi schrie erbost auf, als es sie zur Tür tragen wollte, als auch schon etwas im Flur krachend zersplitterte. Yasyamon wandte sich hektisch um, aber es gab keinen anderen Weg zum Hinterausgang, außer dem Flur. In dem Moment begann das DigiVice zu glühen, das Mimi als Glücksbringer immer bei sich trug. Auch am Tag der Hochzeit hatte sie es an einem silbernen Kettchen in den Falten ihres Brautkleids verborgen. Palmon begann zu wachsen, und im nächsten Herzschlag zertrümmerte Togemon mit seinen Boxhandschuhen die Rückwand des Zimmers. Staub und Verputz wirbelten auf, als die Backsteine zusammenbrachen. Mimi staunte nicht schlecht. Konnte man hier, im Gebiet des DigimonKaisers, überhaupt digitieren? Yasyamon warf sich herum und rannte mit großen Schritten gebückt durch das entstandene Loch, und sie waren im Freien. Dicht hinter sich hörten sie das Keuchen der Cerberusmon, die ihnen hinterher hetzten. Wenn Mimi den Kopf hob, sah sie die glühenden, blutunterlaufenen Augen und blitzende Zähne im letzten Tageslicht. Sie waren zu langsam. Ogremons Hunde erkannten das ebenfalls und ihre Lefzen verzogen sich zu einem Grinsen, als die Jagd sie aus dem Dorf an den ersten Bäumen vorbei führte. Hinter dem kleinen, hellen Wäldchen lag der Fluss, der nahe der nächsten Felswand träge und tief vor sich hinfloss. Dort, hinter einer hölzernen Brücke, führte ein felsiger Pfad aus dem Talkessel. Es würde ewig dauern, auch nur dessen Anfang zu erreichen … Als das erste Cerberusmon so nahe war, dass es nach Yasyamons Beinen schnappte und Mimi es fast mit ihren Fäusten erreichte, digitierte Togemon noch einmal. Während etwas in Mimis Brust grün aufglühte, zerfiel der Kaktus und aus der Blüte auf seinem Kopf schlüpfte das viel kleinere, flinke Lillymon. Seine Hände verwuchsen zu einer Blumenkanone, die einen glühenden Schuss auf das Cerberusmon abgab. Er riss einen kleinen Krater in den Waldboden, als der Hund knurrend auswich, aber das reichte Yasyamon. Es murmelte noch einmal eine schnelle Entschuldigung, ehe es Mimi mit seinen kräftigen Armen einfach in die Luft warf. Mimi kreischte auf, als sich der Boden unter ihr sich von ihr entfernte und die Welt Purzelbäume schlug, dann fing Lillymon sie auf, sank unter ihrem Gewicht ein, zwei Meter tiefer, sodass Mimis Beine fast wieder den Boden kitzelten, ehe es sie mit flatternden Flügeln davontrug. Was aus Yasyamon wurde, sah sie nicht, denn bald verdeckten die Baumstämme die Sicht. „Wir müssen zurück!“, rief sie. „Yolei! Es hat noch Yolei! Lillymon!“ Aber Lillymon schien sie nicht hören zu wollen, und Mimi wagte es nicht, in den Armen ihres Digimon zu strampeln anzufangen. Sie verließen den Wald und sahen den Fluss vor sich glitzern. Das zweite Cerberusmon sprang sie wie aus dem Nichts von der Seite an. Lillymon schrie auf, grüne Flammen leckten nach Mimis Knöcheln, als sie abgeworfen wurde und über den Boden schlitterte, Gras und Erde spritzten auf und Kieselsteine zerrissen ihr unansehnlich gewordenes Hochzeitskleid noch mehr. Ihre Rippen knackten und ein stechender Schmerz zuckte ihren Arm hoch, ehe sie sich ein letztes Mal überschlug und stöhnend auf dem Rücken liegen blieb und es im ersten Moment nicht wagte, sich zu bewegen. Sie sah das grüne Flackern aus den Augenwinkeln und rollte sich herum. „Lillymon“, murmelte sie. Die Flügel ihres Digimons hatten Feuer gefangen und es wälzte sich schreiend auf dem Boden umher, ehe es in glühendem Licht wieder zu Palmon wurde, das erschöpft liegen blieb. Mimi stützte sich auf ihren aufgeschürften Handflächen hoch. Braune und grüne Flecken hatten sich in ihr Kleid gesogen, aber rote Flecken sah sie nirgends. Dafür hatte sie sich die Haut bis zu den Ellenbogen aufgerissen und langsam traten die ersten Blutstropfen aus den brennenden Wunden. Cerberusmon kam näher und schnüffelte sie triumphierend an. „Angst?“, fragte es. Mimis Kinn zitterte, aber sie gab sich Mühe, den schwarzen Hund grimmig anzusehen. Nur der mittlere seiner drei Köpfe schien wirklich zu leben. Es raschelte und aus den Büschen am Waldrand stürzte Yasyamon. Mimis Herz machte einen erleichterten Sprung, aber schon im nächsten Moment schlich das zweite Cerberusmon aus dem Dickicht und setzte ihrem stöhnenden Leibwächter die Tatze auf die Brust. Yasyamons Maske war zerkratzt und rußig, das Wappen der Aufrichtigkeit darauf war kaum noch zu erkennen. An seinen weiten Hosen züngelten kleine, grüne Flammen. Die anderen folgten keine zwei Minuten später. Ogremons hämisches Lachen eilte ihm voraus. „Der DigimonKaiser hat recht gehabt, war wirklich eine gute Idee, die Cerberusmon mitzunehmen.“ Es zerrte Yolei vor sich her, die sich augenscheinlich kaum noch auf den Beinen halten konnte; hinter ihm hatte Woodmon immer noch Hawkmon gepackt. „Was wollt ihr von uns?“, rief Mimi und stand auf. „Ihr habt doch schon Little Edo! Und den Shogun! Was braucht ihr mich?“ Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Palmon sich aufrappelte, aber es zu schwach, um noch einmal zu digitieren. Ogremon bohrte mit dem Finger in seinem Ohr. „Was weiß ich“, schnaubte es. „Frag doch deinen Freund, den DigimonKaiser.“ Er stieß seine Geisel von sich. „Yolei!“ Mimi fing ihre Freundin auf, die gegen sie stolperte und sie fast umriss. Es schien ihr gut zu gehen, zumindest äußerlich, aber sie schien erschöpft. „Es tut mir leid“, hauchte Yolei, als Mimi sie fest an sich drückte, froh, sie wiederzuhaben. „Wenn sie mich nicht erwischt hätten …“ Ihre Freundin weinte vor Scham, merkte Mimi. Sie wurde nur noch wütender auf Ogremon und seine Konsorten. „Also.“ Ogremon winkte die Gazimon und Mushroomon heran, die einen lockeren Halbkreis um die beiden Mädchen bildeten. Einige von ihnen hielten Stricke in den Händen und das Maul eines Gazimons blitzte warnend. „Bindet sie aneinander, und dann Abmarsch. Ich hab einen Mordskohldampf.“ Die Mushroomon mit den Stricken traten auf sie zu – und wurden von heransausenden Projektilen an Ort und Stelle in graue Rauchwolken getaucht, aus denen ihre Datensplitter flogen. Ogremons andere Digimon sprangen zur Seite, aber ein zweiter Kugelhagel erwischte die meisten von ihnen und zerfetzte ihre Daten förmlich. Die Einschläge der Kugeln ließen förmlich einen Sturm wehen, der Mimis Haar zerzauste und ihr Rauch und Staub ins Gesicht wehte. Sie und Yolei kauerten sich zusammen, um nicht versehentlich getroffen zu werden. Als Mimi wieder etwas sehen konnte, war Hawkmons Bewacher verschwunden und das Vogeldigimon robbte sich gefesselt über den Boden auf sie zu. Ogremon war an ihnen vorbei in die Nähe des Flusses gerannt und starrte den Wald aus zusammengekniffenen Augen an. Mimi hatte nicht einmal bemerkt, dass der Angriff von dort gekommen war. Die Cerberusmon schlichen ebenfalls mit gesenkten Köpfen im Gras herum. „Zeigt euch!“, brüllte das Oger-Digimon. „Also wirklich, das ist doch keine Art, mit hübschen Mädchen umzugehen“, erklang eine Stimme und ein Junge kam aus der Deckung eines Baumstamms hervor. Er war zu weit entfernt, um ihn genau zu erkennen, aber er hatte blondes Haar und trug bequeme, legere Kleidung. Matt? Neben dem Jungen traten zwei Digimon aus dem Dickicht. Eines war ein Tier, das menschliche Hosen trug. Anstelle von Händen hatte es schwere Gatlingkreisel, mit denen es herausfordernd klickte. Das zweite war riesig und hatte etwas Affenhaftes an sich. Seine Arme reichten bis zum Boden, wo es sich mit den Knöcheln abstützte, sein Fell war dunkelbraun und auf dem Kopf trug es einen Helm aus Schädelknochen. „Wer zur Hölle bist du denn?“, blaffte Ogremon. Der Junge legte den Kopf schief. „Eigentlich hatte ich gedacht, man würde mich in diesem Teil der DigiWelt auch kennen.“ Zwei Digimon … Der Zwillingsritter, wurde Mimi bewusst. Was macht er hier? Ist er auf unserer Seite? „Wer auch immer du bist“, knurrte Cerberusmon, „wir werden uns nicht damit aufhalten, es auf deinen Grabstein zu schreiben.“ Die Hunde machten einen Schritt auf ihn zu und fletschten die Zähne. Der Zwillingsritter fuhr sich durchs Haar. „Du bist Ogremon oder? Der erste Ritter des DigimonKaisers. Er muss ja wirklich verrückt sein. Du hast da übrigens was auf dem Rücken.“ „Hä? Ich hab nichts …“ Ogremon verstummte und riss die Augen auf, als hinter ihm der Fluss explodierte. Wie in einem Geysir tauchte fauchend eine riesige Seeschlange auf, keine fünf Meter hinter ihm. In Zeitlupe wandte das Ogerdigimon den Kopf, und das Seadramon riss das Maul voller spitzer, winziger Zähne auf und tauchte es in einen Schwall eisiger Luft. Ogremon ächzte, seine Keule fiel ihm aus der Hand und es stürzte vornüber, den Rücken mit in der Sonne blitzenden Eiszapfen übersät. Mimi sah neben dem Seadramon einen zweiten Jungen stehen, auf der Brücke. Auch er hatte blondes Haar, allerdings war es länger und wellig. Ihn kannte sie nicht, aber sie fand, dass er recht gutaussehend war. Er trug ein warmes Siegerlächeln zur Schau. Die Cerberusmon knurrten. „Ihr habt keine Chance.“ „Abwarten“, sagte der Zwillingsritter und zog etwas aus der Seitentasche seiner Cargo-Shorts heraus. Mimi kniff die Augen zusammen, um es im schwindenden Licht sehen zu können. War das ein ArmorEi? Eines wie das, das Matt ihr geschenkt hatte? „Es ist golden“, murmelte Yolei. „Ein goldenes DigiArmorEi … Wie in der Legende!“ Mimi schluckte. Der Sage nach war das Legendäre Goldene von so einem Ei erschaffen worden … Die Cerberusmon ließen sich davon jedenfalls nicht einschüchtern. Sie stürmten beide los, einer in Richtung des Jungen auf der Brücke, das andere zum Waldrand. Der Zwillingsritter hob das Ei hoch über seinen Kopf. „Erstrahle!“ Das Digimon, das zu seiner Linken stand, das mit den Geschützen auf den Armen, begann zu glühen, und während die Sonne im Westen versank, ging hier direkt vor ihren Augen eine neue auf. Das Licht war so gleißend, dass das Cerberusmon knurrend den Blick abwandte, und selbst als Mimi die Augen zusammenkniff, stach es durch ihre Lider. Als das Strahlen nachließ, schwebte an der Stelle ein Digimon in goldener Rüstung, das rauchte, als wären ihm die funkelnden Platten eben erst an den Körper geschmiedet worden. Ist das das Legendäre Goldene? Gehört das Legendäre Goldene zum Zwillingsritter? Das Cerberusmon stieß vor, während das prächtige Digimon einen Arm ausstreckte und eine einzelne, goldene Rakete auf das Hundedigimon schoss, das auf die Brücke zu rannte. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, und das Ungeheuer war verschwunden. Das andere riss das Maul auf und wollte das goldene Digimon in grünes Feuer tauchen, aber so blitzschnell, dass man es kaum sehen konnte, flog es heran, rammte das Cerberusmon frontal und schleuderte es zu Boden. Es brachte noch ein hässliches Grollen zustande, dann war das Goldene über es geschnellt und deckte es mit einer Salve ein. Mimi meinte, dass sogar der Staub, den die Attacke aufwirbelte, golden war. Die Rüstungsteile des Digimons begannen wieder zu leuchten und verschwanden, und ein kleines, niedliches Digimon mit langen Schlappohren fiel aus der Luft, machte einen Salto und spannte besagte Ohren auf, um sanft in dem Krater zu landen. Die Häscher des DigimonKaisers waren restlos besiegt. „Gut gemacht, Terriermon“, sagte der Zwillingsritter und das Digimon sprang auf seine Schulter und drückte stolz die Brust raus. Das Affenwesen trottete schweigend hinter ihm her, als er auf Mimi und Yolei zuging und ihnen lächelnd die Hand hinhielt, um ihnen aufzuhelfen. Er katte markante Augen, fiel Mimi auf, sie waren hellblau wie Eis, aber sein Blick war warm. „Ist alles in Ordnung bei den Damen?“ Yolei stand von alleine auf und lief sofort zu Hawkmon, um es loszubinden, aber Mimi ließ sich bereitwillig aufhelfen. Seine Hand war ebenfalls warm, und er beugte sich vor und gab ihr einen Handkuss. „Ich hoffe, wir haben Euch nicht zu sehr erschreckt. Normalerweise gehen wir immer ein wenig diskreter vor.“ Was immer das heißen mochte. Mimi war immer noch fasziniert von seinen Augen. „Ihr seid doch Königin Mimi, oder?“, fragte er, als sie nichts erwiderte. Mimi nickte beklommen. Der Titel war ungewohnt. Palmon stieß sie an und sie erinnerte sich, dass sie sich wohl bedanken sollte. „Ich … Ihr habt meinen Dank. Ihr müsst der Zwillingsritter sein, oder?“ Er lächelte glücklich. „Also hat man hier doch schon von mir gehört. Ich bin Sir Willis, ein Ritter der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt, zu Euren Diensten. Ich würde mich freuen, wenn Ihr mich einfach Willis nennt. Es ist mir eine Ehre, zwei so bezaubernde junge Damen kennenzulernen.“ Mimi spürte, wie sie rot wurde. Komplimente hatte sie zwar immer für selbstverständlich gehalten, aber irgendetwas an ihm war anders. Sein Blick? Es mussten seine Augen sein. „Und wieder mal streichst du den ganzen Ruhm ein, Willis“, sagte der andere im Scherz. Er trat ebenfalls auf sie zu, neben ihm her watschelte ein amphibisches Betamon. Willis lachte. „Ich hab ja auch die meiste Arbeit getan. Das ist Sir Michael, auch ein Ritter der Wissens-Armee.“ Nun kam auch Yasyamon angehumpelt. Mimi fand es schön zu sehen, dass auch es wohlauf war. Sie hatten wirklich Glück im Unglück gehabt. Ihr Leibwächter senkte betreten den Kopf. „Verzeiht mein Versagen, Prinzessin.“ „Schon in Ordnung. Es ist ja alles gut gegangen“, meinte Mimi und lächelte es schwach, aber hoffentlich aufmunternd an. „Wie habt Ihr uns gefunden?“, fragte Yolei, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Hawkmon nichts fehlte. „Oder seid Ihr zufällig hier langgekommen?“ Willis lächelte sie an. „Bevor ich das beantworte, darf ich auch Euren Namen erfahren, schöne Maid?“ Michael rollte die Augen, aber Yolei wirkte verlegen. „Ähm ja, ich …“ „Das ist Yolei, meine beste Freundin“, erklärte Mimi. „Sie ist eine Söldnerin.“ „Söldnerin klingt irgendwie so unfein“, meinte Yolei und kratzte sich am Kopf. Täuschte sich Mimi, oder zeigte sich auf ihren Wangen auch ein leichter Rotschimmer? Vielleicht war es nur der Sonnenuntergang … oder Yolei war gerade das erste Mal von einem Ritter gerettet worden. „In Little Edo haben sie mich auch manchmal eine Rōnin genannt.“ „Wenn es bei uns üblich gewesen wäre, hätten wir Yolei längst zu einer Ritterin geschlagen“, erklärte Mimi. „Ich verstehe.“ Willis zwinkerte ihr zu. „Dann wundert es mich nicht, dass wir so leichtes Spiel hatten. Wie es aussieht, hat Eure Freundin die halbe Truppe des DigimonKaisers alleine zerschlagen, bevor wir eingeschritten sind.“ „Ist das wahr?“, fragte Mimi. Yolei lachte, aber es klang ein wenig wehmütig. „Wir haben nur ein paar von ihnen besiegt, dann haben sie uns gefangen genommen.“ „Ihr scheint mir so schön wie gefährlich zu sein“, sagte Willis. Langsam übertrieb er es mit den Komplimenten, dachte Mimi. Der Zwillingsritter wandte sich wieder an sie. „Auch wenn es im Nachhinein zynisch klingt, meinen Glückwunsch zu Eurer Vermählung, Königin Mimi. Ist Euer Gemahl denn wohlauf?“ „Das weiß ich nicht“, murmelte Mimi. Sie sah Matt eigentlich nicht wirklich als ihren Ehemann. Es war ja mehr oder weniger eine politische Hochzeit gewesen, die durch eine Invasion gestört worden war. Aber sie wollte nicht schon wieder daran erinnert werden. „Ihr habt Yoleis Frage übrigens noch nicht beantwortet“, sagte sie. Willis sah sie einen Moment verwirrt an, dann lachte er. „Oh, natürlich, entschuldigt. Nein, wir waren nicht zufällig hier.“ „Der DigimonKaiser war anscheinend sehr erpicht darauf, dass er Euch in seine Finger bekommt“, erklärte Michael. „Einer seiner Spione hat ihm regelmäßig über digitalen Funk Nachrichten geschickt, was er über Euren Aufenthaltsort herausgefunden hat. Wir haben die Verbindung angezapft und erfahren, dass sie Euch im Punimon-Dorf vermuten.“ In dem Moment regte sich Ogremon. Das Eis, das seinen Rücken bedeckte, klirrte und knarzte, aber es schaffte es ächzend und unter großer Anstrengung, sich in eine kniende Position hochzuziehen. Ein gemurmelter Fluch verließ seine Lippen. „Du warst nachlässig, Michael“, sagte Willis. Sir Michael schürzte die Lippen. „Es ist auch ein Ritter. Es muss zäh sein.“ „Endigomon, würdest du?“ Auf Geheiß des Zwillingsritters stampfte das affenartige Digimon auf Ogremon zu. Eine Art Gurren verließ seine Kehle. „Wartet!“, rief Mimi und es hielt inne. Willis blinzelte. „Milady?“ Mimi sah Ogremon an. Es verzog das Gesicht und versuchte, sich das Eis abzustreifen. Dabei gingen Hautfetzen und Haare ebenfalls mit und bald tropfte Blut zu Boden. Sie empfand absolut keine Sympathie für dieses Digimon, das ihre Hochzeit ruiniert hatte und für diesen verabscheuungswürdigen DigimonKaiser arbeitete, diesen dunklen Schatten auf seinem Thron, der von Sklaven gebaut war. Sie hatten ihn auf der Hochzeit gesehen und war verwundert gewesen, dass er nicht älter sein konnte als sie selbst; sie hatte ihn sich immer als einen großen, breitschultrigen Mann mit hartem Gesicht und grausamem Lächeln vorgestellt. Andererseits hatte sie sich Ritter auch immer strahlend, charmant und heldenmutig vorgestellt. Sie warf Willis und Michael verstohlene Blicke zu. Waren sie solche Ritter? Zumindest Willis schien diesem Bild am nächsten zu kommen – aber edelmütige Ritter sollten stets Gnade walten lassen, fand sie, und es waren heute und damals schon so viele Digimon gestorben, dass sie sich nicht einmal Ogremons Tod wünschte. „Steh auf“, befahl sie ihm daher. „Geh zurück zu deinem Kaiser und sag ihm, er soll meinen Gemahl freilassen.“ Wenn er noch lebt, warf eine Stimme in ihrem Hinterkopf ein, die sie verdrängte. Ogremon lachte keuchend. „Glaubst du, er tauscht mein Leben gegen seines ein? Ihr habt mich besiegt; wenn ihr richtige Ritter seid, tötet ihr mich gefälligst.“ „Falsch“, sagte Mimi. „Sie sind richtige Ritter, weil sie dich gehen lassen. Ihr werdet meinem Wunsch doch entsprechen, oder?“ Die beiden sahen einander an, dann zuckte Willis mit den Achseln. „Wie könnten wir nicht?“ „Also willst du, dass ich in Schande weiterlebe?“, schnaubte Ogremon. „Ganz genau“, meinte Mimi schnippisch. „Wenn du es so siehst. Aber pass nur auf, dass du mir nie wieder unter die Augen kommst, verstehst du?“ Ogremon schüttelte den Rest des zweifellos schmerzenden Eises ab. „Das wirst du bereuen, Menschenmädchen.“ Es sah noch kurz so aus, als wollte es Michael vor die Füße spucken, dann lief es so schnell davon, über die Brücke und den Pfad aus dem Tal hoch, dass man an seinen Worten auch zweifeln konnte. Mimi wandte sich wieder an die Ritter. „Und was wollt Ihr nun tun?“ Willis streckte sich. „Ein heißes Bad wäre für den Anfang schön.“ „Eigentlich sollen wir Euch ein Angebot überbringen, Königin Mimi“, sagte Michael. „Richtig.“ Willis war schlagartig wieder ernst. Sein Lächeln war wie aus seinem Gesicht gewischt. „Die Konföderation schlägt Euch, die Einzige, die momentan legalen Anspruch auf Little Edo hat und in Freiheit ist, ein Bündnis vor. Tut, was in Eurer Macht steht, und helft uns, den DigimonKaiser zu entmachten, Euer Land zurückzugewinnen und sein Imperium zu zerschlagen. Natürlich werden wir auch alles tun, um Euren Shogun zu befreien.“ Da brauchte Mimi nicht lange zu überlegen. „Abgemacht.“ Willis nickte und lächelte wieder. „Ihr als seine wahre Königin könnt Euer Volk sicher zu den Fahnen rufen, zumindest jene, die der DigimonKaiser nicht in seiner Gewalt hat. Michael wird Euch dabei mit Rat und Tat zur Seite stehen und Euer Verbindungsmann zur Konföderation sein. Mich erwarten leider demnächst dringende Geschäfte im Westen.“ Er zuckte mit den Schultern und wandte sich Yolei zu. „Ihr könnt mich gerne begleiten, wenn Ihr möchtet.“ „Oh, das …“ Yolei überlegte kurz. „Es wäre mir schon eine Ehre und so, aber … Ich weiß nicht, ob …“ „Yolei bleibt“, bestimmte Mimi. Es gefiel ihr nicht, dass er mit ihr turtelte, beschloss sie. Immerhin war sie hier die Prinzessin. Falsch, sagte diese lästige Stimme, du bist eine Königin und verheiratet. Trotzdem war er nach dem Drachenritter und dem Ehernen Wolf der erste richtige Ritter, den sie traf. Oder sollte sie Yolei mit ihm schicken, damit sie ihr nachher über alles berichten konnte? Schließlich erkannte sie, dass sie wieder einmal egoistisch war, und seufzte. „Ich meine, Yolei kann sich natürlich selbst entscheiden. Tut mir leid“, sagte sie kleinlaut. „Ist schon in Ordnung.“ Yolei grinste. „Ihr nehmt es mir sicher nicht übel, oder – aber ich werde bei Mimi bleiben. Ihr könnt ja wohl ganz gut auf Euch selbst aufpassen.“ Nun wusste Mimi nicht, ob sie verletzt oder dankbar sein sollte. Yolei war nicht dafür bekannt, besonders taktvoll zu sein, und Mimi hatte ihre offene Art eigentlich immer geschätzt.   O mein Freund, jetzt, hier ist ein Sieg Dies ist der erste, Gloria O mein Freund, feiern wir diesen Sieg Für den nächsten Kampf (Linked Horizon – Jiyuu No Tsubasa) Kapitel 21: Stählerner Terror ----------------------------- Tag 48   „Wahnsinn“, murmelte Ken. „Gab es den immer schon hier?“ Natürlich nicht, daran hätte er sich erinnert. Das Landgebiet, das heute Felsenklaue hieß, hatte er damals schließlich schon vollständig unter Kontrolle gehabt. Das Ookuwamon war gelandet und man konnte sich wieder unterhalten, ohne gegen den Flugwind anschreien zu müssen. Kens Gesandtschaft landete hinter ihnen, ein paar Airdramon und die kugelförmigen, blitzschnellen Thunderboltmon, die er als Garde erwählt hatte. Zu ihrem Kommandanten hatte er ein grimmiges Gorillamon vom Stiefel gemacht, das zur Besatzung von Fort Netwave gehört hatte und die Mauern der Festung im Alleingang von den Coelamon-Piraten gesäubert hatte, die an dem Tag in der Stiefelbucht aufgetaucht waren. Für diese Verdienste hatte Ken es zum Ritter geschlagen und ihm für die Dauer seiner Reise das Kommando über seine Leibwache gegeben. „Den Palast, ja. Als ich in die DigiWelt gerufen wurde, stand er schon da.“ Nadine strich sich ihre Röcke glatt, die der Gegenwind zerknittert hatte. „Ich hab ihn aber ausbauen lassen, und, voilà, mein Palast. Den Felsen darunter hab ich übrigens Rosenstein genannt.“ Nadines Residenz war atemberaubend. Mitten in dieser staubigen Einöde erhob sich ein zerklüfteter Felsen, groß und hoch wie ein Hügel. Stufen waren in ihn gehauen, die im Zickzackkurs nach oben bis zu den Toren des Palastes führte, der auf seiner Spitze thronte. Säulen und Türme aus rotem und grünem Marmor schimmerten sanft, und viele, viele Fenster reflektierten das Sonnenlicht golden. Die Dächer waren aus hellen Ziegeln. Es gab Erker und Balkone, Steinbrücken, die von einem Turm zum nächsten führten und dabei trotzdem wehrhaft wirkten. Eine hohe Mauer aus glattem Stein schützte das Fundament des Palastes, an manchen Stellen auch der Felsen selbst, der darüber hinaus ragte. Auf den höheren Ebenen sah Ken grüne Gärten, an einer Seite hingen Blumen vom Wall wie Farbe, die jemand ausgekippt hatte. Auf jedem einzelnen Turm wehte Nadines Rose im Wind. „Komm“, sagte Nadine mit einem verschmitzten Grinsen. „Es ist Brauch, dass man die Stufen zu Fuß hochgeht. Zumindest muss das jeder tun, der das erste Mal hier ist.“ Diesen Brauch hatte sie selbst erfunden, wer sonst? Schon auf halber Strecke ging Ken die Puste aus. Die verwinkelte Treppe ließen ihn das Bauwerk aus neuen Blickrichtungen bewundern. Es war das genaue Gegenteil von symmetrisch, aber es sah einfach märchenhaft aus. Nach einer schieren Ewigkeit erreichten sie das große Tor, das mit lauten Fanfarenstößen für ihre Prozession geöffnet wurde. Ein mit weißen Steinen gepflasterter Hof erwartete sie, die niedrigen Häuser der Bediensteten schmiegten sich innen an die Mauer. Sie überquerten ihn und gelangten unter einem Arkadenbogen hindurch zur nächsten Treppe. Marmorsäulen trugen die hohe Decke dort. Durch einen Garten, in dem hartes Gras mit hölzern wirkenden Halmen wuchs, führte ein Kiesweg in einen noch höheren Bereich des Palastes. An jedem Tor standen zwei weiße Statuen auf Steinsockeln, geflügelte Wesen, die zu detailliert gemeißelt waren, um wirkliche Statuen zu sein. „Gargoylemon?“, fragte Ken. „Nicht schlecht“, grinste Nadine. „Sie können so still sitzen, dass man vergisst, dass sie da sind. So stören sie mich am wenigsten.“ Es dauerte ein wenig, ehe sie durch einen langen hellen Säulengang in Nadines Thronsaal gelangten. Der Anblick verschlug Ken einmal mehr den Atem. Der Boden hier bestand aus pergamentgelbem Marmor, der fast wie Holz wirkte, und ein langer roter Teppich mit eingewirkten Goldfäden führte durch die lange Halle bis zu dem ebenfalls marmornen Thron, der schwarz wie die Nacht und von weißen Linien durchzogen war. Er war kunstvoll behauen, wenn auch wenig ausgefallen, aber er war es nicht, was Kens Blick einfing. Es war die Decke. Von dutzenden weißen Säulen gehalten, bestand sie fast nur aus schrägen, in Gold gefassten Fenstern, die ein Dach über dem Thronsaal bildeten und das Sonnenlicht ungehindert hereinließen. Hier drin musste es immer hell sein, bei Nacht sah man sicherlich den Mond und die Sterne, wenn die Öllampen an den Säulen ausgemacht waren. Ken konnte einen der nahen Türme durch die Fenster sehen. Auch die Wände ließen Licht herein. Der Saal lag auf der höchsten Ebene des mittleren Teils des Palastes und bildete somit an dieser Stelle die Spitze, also waren links und rechts weitere hohe Bogenfenster eingelassen, die bis zum Boden reichten. Man konnte Erker und Vorsprünge sehen, hatte aber auch einen guten Blick auf die felsige Ebene weit unten, und auf der anderen Seite konnte man den Ausblick auf einen der Gärten genießen. Ausbildungs-Digimon spielten dort im Gras, und unter einem verkrüppelten Baum döste Elecmon, das die Königin hier gelassen hatte, vor sich hin. Sogar eine Skulptur von Nadine gab es, die mitten auf der Terrasse einem Beobachter die Hand hinhielt. „Und das ist mein Thronsaal. Er ist ein bisschen behaglicher als der in deiner Festung, würde ich sagen“, witzelte Nadine, breitete spielerisch die Arme aus und vollführte eine Pirouette. „Ich lasse dir auch einen Thron aufstellen, ja?“ „Ich hätte nicht gedacht, dass du es hier so schön hast“, murmelte Ken fassungslos. Wieso nur hatte sie ihn nicht schon früher hierher eingeladen? Es fühlte sich so wunderbar an, so märchenhaft … ganz anders als seine kalte Festung, die voller übler Erinnerungen war. „Ich hatte gehört, die Felsenklaue wäre nur eine leere Ödnis.“ „Ein Land ist nur solange eine Ödnis, bis man etwas daraus macht. Dann kann es ein magischer Ort werden.“ Nadine setzte sich lässig auf den Thron. Sie waren allein in dem hohen, langgestreckten Saal, die Wachen waren draußen geblieben. Jedes Wort hallte laut von den Wänden wider. „Ein bisschen Magie könnte ich auch brauchen.“ Ken sah den Digimon auf der Terrasse beim Spielen zu. „Wenn ich meine Wüste auch in so einen Garten verwandeln könnte, hätte ich eine riesige Fläche, die ich für den Ackerbau nutzen könnte.“ Der Krieg zehrte an den Nahrungsreserven. Felder in seiner Wüste wären auch so gut vor Überfällen geschützt wie sonst nirgends. „Dann bewässere sie doch“, schlug Nadine vor. „Mach eine Oase aus deiner Wüste.“ „Wie denn? Ich wüsste ein paar Früchte, die dort wachsen könnten, wenn der Boden nur mehr Wasser sieht, aber so viel Wasser kann ich unmöglich in die Wüste schleppen lassen. Es gibt auch keine Flüsse in der Nähe, die ich umleiten könnte. Oder soll ich es etwa aus dem Meer schöpfen?“ „Ach, Ken“, seufzte Nadine mitleidig. „Du bist doch der DigimonKaiser. Hast du nicht ein paar Frigimon oder IceDevimon, die deine Dünen mit Eis überziehen könnten? Es würde in der Sonne schmelzen, und du hättest deine Bewässerung. Oder du findest gleich ein Digimon, das Süßwasser spucken kann.“ Ken starrte sie entgeistert an. Wieso war ihm diese Idee nie gekommen? „Das ist … genial“, murmelte er. „Daran hab ich gar nie gedacht.“ Nadine lachte und machte eine umfassende Geste. „Was glaubst du, wo all mein Grünzeug hier herkommt? Ich hab auf der Rückseite von Rosenstein auch einen Olivenhain anlegen lassen. Wenn du willst, zeige ich ihn dir, aber man sieht noch kaum was. Die Olivenbäume in der DigiWelt brauchen nicht so lange wie die in der Realen Welt, aber Früchte werden sie trotzdem erst in ein paar Jahren tragen. Aber dann wird die Felsenklaue für ihre Oliven und ihr Olivenöl berühmt, das verspreche ich dir.“ Ken schluckte seine Antwort hinunter. So lange hat die DigiWelt nicht Zeit. Es waren vielleicht noch drei Monate bis zu Deemons Wiederkehr … dann würde alles entschieden sein. Offenbar hatte Deemon den Saatkindern nicht alles gesagt, was es zu wissen gab. Er ließ Nadine ihre Hoffnungen. Ihre Augen leuchteten, wenn sie über die Zukunft ihres Reiches sprach. Auch wenn es ein Reich war, das in einem viertel Jahr wieder zu Staub zerfallen würde. „Die würde ich mir gerne ansehen“, sagte er daher mit einem gezwungenen Lächeln. Nadine fiel seine veränderte Stimmung nicht weiter auf. Sie streckte sich und seufzte. „Aber du musst wirklich was gegen deine Wüste tun. Der Sand bleibt überall kleben. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie unbequem es ist, in so einem Kleid zu reisen?“ Sie nahm die kleine, goldene Glocke, die auf der Armlehne stand, und klingelte. Irgendwo schräg hinter dem Thron öffnete sich eine schmale Tür, die Ken gar nicht bemerkt hatte, und ein Floramon trat ein und verbeugte sich. „Ein Bad wäre jetzt genau das Richtige“, sagte Nadine. „Willst du auch baden? Du bist sicher auch erschöpft von dem Flug, oder?“ Ken hatte erst am vergangenen Abend ausgiebig in seiner Kammer geduscht. Dazu stand immer ein kleiner Wassertank bereit, aber in Zukunft würde er auch dieses Wasser seinen Digimon abringen. Trotzdem fühlte er sich immer noch verspannt vom vielen Sitzen der letzten Tage und Nadine hatte recht, der Sand war auch ihm wieder in die Kleidung gekrochen, als sie durch einen leichten Sturm in der Wüste geflogen waren. „Sehr gern.“ „Du hast es gehört, bereite alles vor“, sagte die Königin. „Wie Ihr wünscht.“ Das Floramon verbeugte sich und zog sich zurück. Nadine stand auf. „Das kann ein wenig dauern. Gehen wir doch auf der Terrasse spazieren.“   Die Terrasse, die sie meinte, zog sich ein halbes Mal um den Palast. Eine hüfthohe Steinbrüstung umgab sie. Hier wuchs Gras, und weiße Steinplatten bildeten einen Spazierweg. Es wurde langsam Abend, die Sonne schien mit ihnen auf einer Höhe zu sein. Der Felsen zu ihrer Rechten wurde von ihr golden beleuchtet. Ein schwaches Lüftchen trieb den Duft von Blumen heran. Während sie auf dem Weg spazierten, hakte sich Nadine bei Ken unter und kicherte dann, als er plötzlich rot wurde. „Was denn? Wo bleibt Eure Galanterie, Majestät?“ Sie glich ihre Schritte seinen an und Ken spürte ihre Wärme. Seine Wangen waren heiß. Sollte er etwas darauf erwidern? Er suchte fieberhaft nach einem Gesprächsthema, aber ihm fiel keines ein. Irgendwie wollte er nicht schon wieder über Regierungsangelegenheiten sprechen. „Morgen zeige ich dir die Nachrichten von der Grenze“, sagte sie dann jedoch von sich aus. „Wir können auch direkt hinfliegen, damit du dir ein Bild machen kannst.“ Er nickte. „Die Türme müssen wir auch noch ersetzen.“ Das war einer der Hauptgründe, aus denen er hierhergekommen war. Die Granulatlieferung würde im Morgengrauen eintreffen, und sie würden systematisch alle von Nadines Türmen abreißen und an ihrer Stelle mithilfe seines DigiVices neue bauen. „Ist es überhaupt so eine gute Idee, zuerst gegen Takashi zu kämpfen? Wenn wir ihn besiegt haben, haben wir immer noch diese Wissens-Armee im Rücken. Die Kerle waren mir schon immer lästig. Da gibt es einen Helden, den sie den Zwillingsritter nennen. Ich glaube, das ist auch ein Mensch.“ War das Izzy? Ken konnte sich nicht vorstellen, wie er zu diesem Namen gekommen sein sollte. „Wir müssen sogar zuerst Takashi bekämpfen. Und Keiko und Hiroshi. Die Saatkinder sind momentan die größte Gefahr für uns.“ „Wegen Deemon?“ Ken nickte. „Es hat mir freimütig erzählt, dass es alles sieht, was in der DigiWelt vor sich geht, und es kann mit ihnen kommunizieren. Wenn wir ihm zu mächtig werden, wird es ihnen sicher unsere Pläne und Truppenstellungen und so weiter verraten.“ „Hm.“ Sie waren an der Brüstung stehen geblieben und betrachteten den Sonnenuntergang. Nadine löste sich noch immer nicht von Ken. „Ich glaube, wir sind jetzt mächtig genug, dass das auch schon egal wäre.“ „Da wäre ich mir nicht sicher.“ „Apropos.“ Nadine wandte sich ihm zu und ihr Lächeln leuchtete in der Sonne. „Ich habe eine Botschaft bekommen, von einem Fürst Wizardmon.“ „Ein Fürst?“ „Es hat mich um eine Audienz gebeten, weil es mir anscheinend erklären will, warum ich auf keinen Fall mit dir verbündet sein sollte. Im Auftrag von König Leomon.“ In ihren Augen glitzerte der Schalk. „Ist das nicht witzig? Die haben alle keine Ahnung. Ich glaube, ich höre es mir an.“ „Das ist kein Spiel, Nadine“, sagte Ken tadelnd. „Allein es in deinen Palast zu lassen, lässt den Feind Informationen sammeln.“ Sie seufzte. „Spaßverderber“, murmelte sie. „Na schön. Ich weise es ab.“   Die Nacht war hereingebrochen, und Digimon zündeten auf der Terrasse Laternen und kleine bunte Lampions an, als Floramon sie benachrichtigte, dass das Bad jetzt fertig sei. Nadine führte Ken in das Untergeschoss des größten der Türme, wobei Untergeschoss bedeutete, dass an einer Seite trotzdem Fenster ins Freie führten, weil die Basis des Turms auf einem niedrigeren Felsenabschnitt stand. Diese Fenster waren klein, viereckig und glaslos, vergleichsweise kühle Luft strömte herein, und samtblaue Nacht war zu sehen. Im Inneren des Baderaums herrschte wohliges, gelbes Licht. Das Bad selbst war … anders, als Ken es sich vorgestellt hatte. Der Boden war gefliest, die Wände mit kunstvollen Mosaiken verziert. Gerillte Säulen trugen die Decke, und es gab keine Wannen oder was auch immer er erwartet hatte, sondern nur ein einziges, rechteckiges Becken aus abgerundetem, rötlichem Stein. Duftender Dampf ließ Kens Brillengläser beschlagen, und schwarze Rosenblätter schwammen auf der Wasseroberfläche. Floramon blieb in der Ecke des Raumes stehen, und Nadine vollführte eine einladende Geste. „Wollen wir?“ „Du hast mich ausgetrickst“, murmelte er. Sie lachte. „Ich hab nie gesagt, dass ich zwei getrennte Baderäume hätte. Wozu auch?“ „Dann fang du an. Ich warte draußen, bis du fertig bist.“ „Dann ist das Wasser kalt, ehe du reinkommst. Ich bade gern lange. Es ist sehr aufwändig, es zu erhitzen, und der Duft bleibt auch nicht ewig. Bevor du fragst, ich habe auch keine Badeanzüge oder Badehosen hier. Wozu bräuchte eine Königin sowas?“ Das hatte er tatsächlich gerade fragen wollen. Sie lächelte verschmitzt, als sie seinen verzweifelten Gesichtsausdruck sah. „Schau mich nicht so an. Ich mag es halt, Kaiser in Verlegenheit zu bringen.“ Sie gab Floramon einen Wink. „Sei so gut und bring ein paar Handtücher für meinen Gast und mich. Er scheint sich zu schämen.“ Wenigstens etwas. Ken atmete erleichtert aus und war froh, dass Deemon vollständig aus seinen Gedanken verbannt war. „Leider habe ich jetzt meinen Diener weggeschickt“, flötete Nadine, wandte sich um und schob ihren Zopf zur Seite. „Magst du mir helfen, mein Kleid aufzumachen?“ Sie spielt mit mir, dachte er. Er war zwar der DigimonKaiser, aber trotzdem nur ein schüchterner Junge, und sie wusste das. Er war froh, dass sie nicht in sein Gesicht sah, als er langsam die Schnüre, die das Kleid an ihrem Rücken hielten, löste, gerade so, dass sie hoffentlich von alleine herausschlüpfen konnte. Ihre Haut darunter war hell, fast weiß. „Danke“, sagte sie. „Soll ich dir auch mit deinem Umhang helfen? Der sieht ganz schön schwer aus.“ „Ist er nicht.“ Er löste die metallene Schnalle um seinen Hals und der Umhang fiel zu Boden. „Ich brauche keine Diener zum Umziehen.“ Sie grinste unverschämt, als Floramon gottseidank mit einem Stapel weicher, weißer Tücher zurückkehrte. Es half Nadine, ihr Kleid vollends abzulegen, und Ken wandte diskret den Blick ab, aber ehe er das machte, glaubte er trotzdem eine gewisse Röte auf ihren Wangen zu sehen, als wäre sie selbst nicht ganz sicher, ob sie das Richtige tat. Er wünschte sich, seine Brillengläser würden wieder beschlagen. Erst, als er hörte, dass sie ins Wasser gestiegen war, machte er sich daran, sich aus seiner Kleidung zu schälen. Er bemühte sich, nicht in ihr neckisches Grinsen zu blicken, als sie zusah, wie er sich abmühte, gleichzeitig seine Hose auszuziehen und sich ein Handtuch um die Hüften zu wickeln. „Nur keine falsche Scheu“, rief sie ihm zu. „Es gibt wenig Menschen in dieser Welt, da sollte man sich gut kennen lernen.“ Er zog es vor, nichts in den Sinn dieser Worte hineinzuinterpretieren. Mit dem Handtuch bekleidet ließ er sich ebenfalls langsam ins Wasser gleiten. Es war so heiß, dass seine Haut kribbelte, aber es würde seine Muskeln zweifellos entspannen. Eine Weile saßen die beiden einander schweigend gegenüber und selbst Nadine schien es nun peinlich zu sein. Ken wurde wirklich nicht schlau aus ihr. Er war nur froh, dass der Dampf, den das Bad verströmte, so dick war, dass er selbst Nadines Gesicht nur durch einen weißen Nebel erkennen konnte, und dass er die Röte in seinem eigenen Gesicht auf die Hitze schieben konnte. „Es ist dir doch nicht zu unangenehm, oder?“, fragte sie plötzlich. Was sollte er jetzt anderes antworten außer: „Nein, nein, es ist sehr … entspannend.“ „Oh. Gut.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Das nächste Mal, wenn du mich besuchst, lass dir eben vorher eine Badehose schneidern.“ „Das wird nicht funktionieren“, meinte er unglücklich. „Alles, was ich in der DigiWelt anziehe, wird automatisch zu meinen DigimonKaiser-Klamotten.“ Nadine machte große Augen. „Du meinst, es verwandelt sich, kaum dass du es anhast? Das will ich sehen!“ „Lieber nicht“, winkte Ken schnell ab. „Es sieht … lächerlich aus.“ Er hatte es einmal probiert, trotz Deemons Worten, und ein bekannter Matadormon-Schneider hatte ihm eine prächtige Gardeuniform hergestellt, aber als er sie angezogen hatte, waren die Farben verblichen und die Umrisse verschwommen, bis er wieder in seinem DigimonKaiser-Anzug, nur ohne Umhang, dagestanden war. „Lächerlicher als ein nackter DigimonKaiser?“, fragte Nadine und hob herausfordernd die Augenbrauen. „Hättest du dich nicht würdevoller ausziehen können?“ „Nicht, wenn mir jemand zusieht“, sagte er knapp und sie fand das offenbar lustig, denn sie kicherte. Ken wurde wieder rot und suchte hastig nach einem anderen Gesprächsthema. Die schwarzen Rosenblätter, die auf der Wasseroberfläche schwammen, erregten seine Aufmerksamkeit. „Warum ist dein Wappen eigentlich eine Schwarze Rose?“ Nadine schien der Themenwechsel nicht zu gefallen, aber sie zuckte mit den Schultern. Trotz ihrer Worte achtete sie darauf, fast bis zum Kinn im Wasser zu blieben, daher konnte er diese Bewegung nur erahnen. „Ich mag Rosen“, sagte sie schlicht. „Ich dachte, wir hätten schon mal darüber geredet? Die Digimon haben jedenfalls alle gemeint, ich wäre ihre Königin, und eine einfache Rose … Naja, sagen wir, wenn mich die anderen Könige ernst nehmen sollen, muss es schon etwas gefährlicher wirken. Außerdem haben schwarze Rosen einen gewissen Reiz, findest du nicht? Was ist mit deinem Wappen? Du hast mal gesagt, es ist dein persönliches DigiRitter-Wappen. Es soll eine Tulpe sein, oder?“ Nun zuckte er mit den Achseln. „Ich bin mir nicht sicher. Es ist das Wappen der Freundlichkeit. Ich hatte es zwar als DigiRitter, aber ich habe es nie wirklich für irgendwas benutzt. Ich hab’s mir also nicht selbst ausgesucht.“ Er hatte auch überlegt, das Zeichen als Wappen zu nehmen, das auf seiner Brille und auf dem DigiArmorEi des Wunders abgebildet war, aber er hatte gehofft, man würde das Wappen der Freundlichkeit erkennen und mehr schätzen. „Ach so. Ich dachte, es hätte eine Bedeutung.“ Nadine lehnte seufzend ihren Kopf gegen den steinernen Beckenrand und streckte sich unter Wasser. „Naja, vergessen wir das mit den Königreichen und Kaiserreichen und das alles. Heute Nacht haben wir keine Feinde.“ Sie streckte die Hand aus und nahm von Floramon ein Glas mit rotem Inhalt entgegen. Wassertropfen liefen ihren nackten Arm hinab, und Ken war von dem Anblick so fasziniert, dass er erst gar nicht bemerkt, dass ein zweites Floramon aufgetaucht war und auch ihm ein Glas auf einem Tablett anbot. Er schnupperte daran und kostete. Es schmeckte nach Erdbeeren, aber auch leicht alkoholisch. „Ja“, murmelte er dann zögerlich. „Genießen wir den Abend.“ „Du sagst es.“ Nadine prostete ihm lächelnd zu. „Auf uns. Und auf Deemons Untergang.“ Er nickte. „Auf Deemons Untergang.“     Tag 50   Es war ungewöhnlich, dass WaruMonzaemon Cody zu sich rief, um ihn zu überflüssigen Gefälligkeiten zu zwingen. Floramon hatte im Haus einen Gast zu bewirten, um den sich das Bärendigimon später kümmern wollte, und Cody war eigentlich für eine Fechtstunde bei Gladimon eingeteilt. Normalerweise hätte WaruMonzaemon Chichos gerufen, um ihm eine Erfrischung zu bringen. Cody fragte sich, ob die kleine Sklavin krank war. Er musste den ganzen Weg bis zur südlichen Mauer von Masla mit einem Fässchen erfrischender Limonade zurücklegen, das er sich auf den Rücken geschnallt hatte. Masla war von hohen, klobigen Wällen aus Sandstein umgeben, die mit schmucklosen Zinnen gekrönt waren. Über ein Holzgerüst hinter der Mauer gelangte er auf den Wehrgang, wo WaruMonzaemon und Fürstin Keiko standen und auf die Ebene dahinter hinausblickten. Die Territorialherrin war diesmal in eine kostbare, weiße Uniform gehüllt, die vor goldenen Verzierungen nur so strotzte. Ärmel und Saum, Kragen, das große Wappen der untergehenden Sonne auf dem Rücken und die Schulteraufsätze glänzten und blinkten in der Sonne, ebenso sämtliche Knöpfe und ihre Gürtelschnalle. Über ihre Schultern fiel ein kurzer Umhang aus transparenter Seide, der im schwachen Wind wehte, und ihr braunes Haar ragte unter dem ebenfalls vergoldeten Rand ihrer weißen Schirmkappe hervor, auf der das Wappen des Königs und ihr eigenes prangten. Keiko schien schlechte Laune zu haben. Ihre Augen waren von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt, aber ihr Mund und ihre Haltung sprachen eine deutliche Sprache. Nach allem, was Cody in der Stadt aufgeschnappt hatte, war das kein Wunder. Es hieß, die Wildwest-Stadt sei ihr wieder abgenommen worden. Die Schwarze Rose hatte das Schienennetz in Locomotown genutzt und es im Schutz der Nacht so umstrukturiert, dass sie eine ganze Kolonne Trailmon nahe an die Stadt bringen konnte, bis zum Rand voll mit Starmon, die einen Hagel aus Meteoriten auf das Heerlager der Wildwest-Stadt hatten niedergehen lassen. Weitere Digimon waren gefolgt und hatten die Stadt Keikos Händen entrissen. Anscheinend hatte auch der DigimonKaiser seine Finger bei diesem Angriff im Spiel gehabt. In Sekundenschnelle war in der Stadt angeblich ein neuer Schwarzer Turm errichtet worden, aber Cody hielt das für ein Gerücht. Selbst im besten Fall dauerte es schließlich Stunden, bis so ein dunkles Monstrum fertig gebaut war. „Na endlich“, knurrte WaruMonzaemon. Cody packte zwei sorgsam in saubere Tücher gehüllte Gläser aus und schenkte den beiden ein. Keiko würdigte ihn keines Blickes. Sie beobachtete die gelbschwarz gestreiften Digimon, die sich von Süden her der Mauer näherten. Nur aus der Nähe erkannte man, dass unter den gewaltigen Aufbauten wabenförmiger Raketenwerfer ein metallener, wespenartiger Kopf steckte. Selbst der Stachel der Cannonbeemon war in Wahrheit eine Kanone. „Habe ich Euch zu viel versprochen?“, fragte WaruMonzaemon, als das erste der Digimon mit einem lauten elektronischen Surren vor der Mauer in die Höhe glitt und sich träge umwandte. „Ihr habt vor allem zu viel verlangt“, erwiderte Keiko. „Sind das alle?“ „Sechzehn, Euer Durchlaucht. An mehr konnte ich nicht herankommen, verzeiht.“ Die Fürstin schnaubte, streckte die Hand aus und ließ sich von Cody ihr Glas reichen. „Lebende Geschützbatterien. Nun gut, wir müssen nehmen, was wir kriegen.“ Die Stimmung der beiden war sehr viel anders als vor zwei Wochen, als Keiko Masla das letzte Mal besucht hatte, fiel Cody auf. Damals hatten sie den Krieg als etwas abgetan, das weit weg war und mit Leichtigkeit gewonnen werden konnte. Nun schienen sie sich plötzlich auf eine Schlacht ganz in der Nähe vorzubereiten. „Wird der Krieg zu uns kommen?“, hörte Cody sich fragen. Natürlich gefiel es seinem Herrn nicht, dass er das Wort an sie richtete. „Halt den Mund, unverschämter Bengel. Du sollst uns bedienen, mehr nicht. Milady war durstig.“ „Mit einem Bündnis des Kaiserreichs und der Schwarzen Rose hat niemand gerechnet“, murmelte Keiko und gab somit indirekt Antwort. „Sie haben klar gemacht, dass sie unserem König ohne Gnade jedes seiner Gebiete abnehmen wollen. Die Hauptstreitmacht des DigimonKaisers liefert sich einen kräftezehrenden Stellungskrieg mit jener von König Takashi. Es liegt an uns Fürsten, das Reich auf dieser Seite zu beschützen.“ „Ah, aber man hört, dass die Schwarze Rose wankelmütig ist“, winkte WaruMonzaemon ab, aber es sah so aus, als wollte es sich nur selbst beruhigen. „Ihr habt selbst gesagt, Milady, die Königin der Felsenklaue hätte Euch allen und sogar dem König persönlich denselben Pakt unterbreitet.“ „Das würde ich nicht wankelmütig nennen“, murmelte Keiko und schwenkte ihr Glas, erlesenes Kristallglas, das die Sonne glitzernd reflektierte. „Sie hat gewusst, dass sie alleine dasteht, und verzweifelt nach Verbündeten gesucht. König Takashi hat das als so offensichtlich hingestellt, dass wir alle nicht an einem Bündnis interessiert waren. Wir hätten nie gedacht, dass ausgerechnet der DigimonKaiser darauf eingehen würde.“ „Zweifellos sind die beiden voneinander angetan“, brummte WaruMonzaemon. „Sowas hört man von Menschen. Dann treffen sie völlig unvernünftige Entscheidungen, solange sie nur zusammen sein können. Sie sind also blind. Leicht zu besiegen.“ Keiko funkelte ihn an. „Was wisst Ihr schon davon, Honighändler?“ Den Cannonbeemon folgten nun die etwas kleineren Waspmon, von denen Cody schon gehört hatte. Sie waren ebenfalls gestreift und sahen wie Insekten aus, waren aber aus Metall. Innerhalb der Mauern hatte er auch Tankmon gesehen, die von einem Armormon kommandiert wurden, einer Art Zentaur, ganz aus Metall und mit schweren Gatlingrohren an den Händen. Das musste Fürstin Keikos Erstes Metallenes Regiment sein, und es bereitete sich zweifellos auf die Verteidigung der Stadt vor … Ein torpedoartiges Missimon flog heran, ein kleines steifes Digimon mit Greifarmen, und berichtete Keiko etwas. Cody konnte nicht verstehen, was es sagte, aber die Territorialherrin nickte. „Ihr solltet Euren geplanten Ausflug zum Kolosseum verschieben, WaruMonzaemon“, sagte sie und zum ersten Mal sah sie Cody über den Rand ihrer dunklen Sonnenbrille an. Ihr Blick gefiel ihm nicht. Wollte sie ihn immer noch an der Front einsetzen? „Die Front droht sich zu verschieben. General Zephyrmon hat Unterstützung aus dem Süden erhalten. Ein Stoßtrupp der Rose blockiert die Versorgungswege. General Baronmon marschiert mit seiner Truppe aus dem Südosten und will dem Heer in die Flanke fallen, aber es ist noch ungewiss, wann es zum Zusammenstoß kommt. Wenn Ihr Pech habt, geratet Ihr mitten in einen brodelnden Hexenkessel.“ Das Turnier im Kolosseum würde in vier Tagen stattfinden. Plangemäß hätten Cody und WaruMonzaemon sich mit einigen Begleitern schon gestern auf den Weg gemacht, doch nur wenn sie einen Monochromon-Wagen gemietet hätten, wären sie noch pünktlich angekommen. WaruMonzaemon hasste Zusatzausgaben, also war Cody sich sicher gewesen, dass sein Herr es doch nicht wagte, so nahe an die Front zu ziehen. Tatsächlich sagte das Digimon zerknirscht: „Etwas in der Art habe ich erwartet. Aber es gibt immer noch ein nächstes Jahr. Sollte Masla dann noch stehen.“ Keiko sah es abschätzig an. „Zweifelt Ihr an meinen taktischen Fähigkeiten?“, fragte sie lauernd. „Das würde ich mir niemals erlauben“, beteuerte WaruMonzaemon und rang unglücklich die Hände. „Es ist nur so … Der schnelle Fall der Wildwest-Stadt hat dazu geführt, dass die Digimon hier reden. Ich glaube ihnen natürlich kein Wort“, sagte es schnell, als Keiko unheilvoll die Stirn runzelte, „aber viele meinen, es wäre ihnen wohler, wenn auch Fürst Hiroshi seine Truppen entsenden würde.“ „Hiroshi muss sich neuerdings mit Briganten herumschlagen, die aus dem Dornenwald kommen“, sagte Keiko kühl. „Masla ist mein Territorium. Was hat es ihn zu kümmern?“ „Ich bitte um Verzeihung, Euer Durchlaucht“, murmelte WaruMonzaemon, „aber die anderen – ich nicht, auf keinen Fall – meinen, ihm müsste etwas daran liegen, dass Masla gehalten wird. Immerhin hat er hier wichtige Besitztümer. Denkt an die Lotusblüte.“ „Sprecht diesen Namen nie wieder aus“, sagte Keiko säuerlich. „Wenn ich könnte, würde ich sie abreißen lassen. Wenn Ihr solche Sorgen um Eure Stadt habt, könntet Ihr uns allen einen Gefallen tun und Euch an der Verteidigung beteiligen.“ „Ich kann Euch nicht mehr bieten als meinen Reichtum“, sagte WaruMonzaemon. Und mich, dachte Cody. „Ich habe Euch oft gesagt, Reichtum habe ich selbst genug“, sagte Keiko. Sie streckte ihr Glas aus und Cody hätte fast versäumt, es aus dem Fass nachzufüllen. „Eure andere Sklavin war gewissenhafter“, murmelte sie stirnrunzelnd. „Dieser hier ist ein Krieger, kein Diener, oder?“ „Natürlich, verzeiht ihm, Euer Durchlaucht. Ich hielt es für unangemessen, Euch mit der Anwesenheit dieser impertinenten Sklavin zu belästigen.“ „Also habt Ihr ihr freigegeben? Wie großmütig.“ „Oh, nicht doch.“ WaruMonzaemons Lachen klang wie ein Knurren. „Sie ist nicht mehr in meinem Besitz. Ich habe sie heute Morgen verkauft.“ Cody klappte der Mund auf und fast hätte er das Limonadenfass fallen gelassen. „Ihr … Ihr habt was?“ WaruMonzaemon funkelte ihn an, weil er ungefragt den Mund aufgemacht hatte. „Ganz recht, ich habe deine kleine Menschenfreundin verkauft. Sie war tollpatschig und unzuverlässig. Sie sollte sich freuen, dass ich sie nicht erst ausgepeitscht habe. Jetzt darf sich Scorpiomon mit ihr herumschlagen.“ Cody fühlte sich wie mit kaltem Wasser übergossen. Das kann nicht sein … Er hatte Chichos doch versprochen, sie zu befreien … Und ausgerechnet Scorpiomon! Er glaubte gern, dass es Interesse gehabt hatte, Chichos zu kaufen. Das Digimon war für seinen Verschleiß von Sklaven berüchtigt. Es war ein Abenteurer und grub mit Vorlieben nach verborgenen Schätzen in der Wüste. Seine Sklaven durften sein Gepäck tragen und schlimmstenfalls in der Sonne verdursten. Er ballte die Fäuste. „Sie ist noch ein Kind“, murmelte er zornig. „Wie konntet Ihr?“ „Sie ist wohl alt genug, um Schwierigkeiten zu machen“, blaffte der Sklavenherr. „Und was fällt dir überhaupt ein, mich so anzuknurren? Sieh lieber zu, dass du mir meinen Kelch nachfüllst, unverschämter Bengel.“ Aber Cody warf das Fass über die Zinnen, wo es einmal gegen die Mauer schlug und zerkrachte, und klebrige Limonade regnete auf den Wüstensand hinab. Zu spät fiel ihm ein, dass er Keiko damit hätte bewerfen können. Wenn er ihr wie schon Chichos eine süße Dusche verpasste, würde WaruMonzaemon ihn vielleicht auch hergeben. Sein Herr starrte ihn aus ungläubigen Augen an, deren Ausdruck bald in Zorn umschlug. „Du“, knurrte er, packte ihn an der Schulter und setzte ihm seine gefürchtete Bärenkralle an den Hals. Cody lief ein Schweißtropfen über die Stirn und brannte in seinen Augen. Er schluckte. „Du undankbarer, kleiner Wurm“, brüllte ihn WaruMonzaemon an, sein übelriechender Atem drang in seine Nase. „Nicht nur, dass du mir im Kolosseum nichts mehr einbringst, jetzt wirst du auch noch aufmüpfig? Ich sollte dich …“ „Denkt an das, was ich Euch über Menschen und Blut erzählt habe“, sagte Keiko ungerührt und sah weiter ins Dünenmeer hinaus, als ginge sie das alles nichts an. Cody wusste nicht, ob er ihr nun dankbar sein sollte, aber WaruMonzaemon stieß ihn nur von sich. „Geh ins Haus zurück“, knurrte es. „Du bleibst darin, bis ich heimkomme. Ich werde mir eine Strafe ausdenken, verlass dich darauf. Verschwinde!“ Cody sah es so trotzig an, wie er konnte, bedachte Keiko mit einem Seitenblick und schließlich einer kleinen Verbeugung, und machte sich daran, das Holzgerüst hinabzusteigen. Seine Wut brodelte höher, je tiefer er kam, als wollte sie unbedingt nach dem Bärendigimon greifen. Chichos darf nicht bei Scorpiomon bleiben, dachte er. Aber das Skorpiondigimon ließ seine Wohnhöhle von Sklavenkriegern bewachen, denen selbst Cody nichts entgegensetzen konnte. Es lebte ständig in Angst, jemand könnte seine gefundenen Schätze stehlen, die angeblich meist nur irgendwelche Steine mit ungewöhnlichen Rillen oder bestenfalls ein paar alten Runen waren. Jedenfalls waren sie ihm viel mehr wert als ein einfacher Menschensklave … Cody hatte nie den Tod eines Digimons herbeigesehnt. Aber in diesem Moment stellte er sich vor, wie es wohl wäre, mit seinem Schwert WaruMonzaemon in der Arena gegenüberzustehen.   Nothing can save us from falling Hoping we’d come to the fore I’m not afraid And I won’t be your slave anymore (Nocturnal Rites – End Of Our Rope) Kapitel 22: Das Signal aus der Wüste ------------------------------------ Tag 50 Andromon wirkte auf Izzy immer wie eine Statue. Wie es in der hohen, nach Schmieröl stinkenden Halle saß, auf einem einfachen, metallenen Stuhl, und mit den Dutzenden an Kabeln, die von seinem Körper weg und in die haushohen Rechenkästen führten, schien das Digimon längst mit den hochtechnischen Eingeweiden der Fabrikstadt verschmolzen zu sein. Wie Blut, das durch Adern pulsiert, leuchteten immer wieder die zahllosen LEDs in den Labyrinthen aus Großrechnern aus, in Mustern, die zu erschließen Izzy sich ohne sein Equipment keine Hoffnung machen durfte. Als er auf seinen Vorgesetzten zuging, fühlte er sich winzig und fehl am Platz, zu organisch. Zu menschlich für diesen Ort. Beide Augen geschlossen, sah Andromon aus, als würde es schlafen. Es bekam hier nicht viel Besuch, wurde aber mit allen nötigen Informationen gespeist, die durch die Rechner der Konföderation flossen. Streng genommen hätte sich Izzy die Mühe sparen können, es persönlich aufzusuchen. Irgendwie hatte er jedoch das Gefühl, ab und zu bei Andromon vorbeischauen zu müssen, um persönlich Bericht zu erstatten. „Andromon“, sagte er, seine Stimme klar in der kalten, dauergekühlten Luft, von der er sich unter Garantie erkälten würde, wenn er zu lang hier blieb. Elektronische Geräusche ertönten, und Andromon regte sich und schlug die Augen auf. Eines blinkte nur blau, so hastig, dass einem davon schwindlig wurde, das andere, richtete sich aufmerksam auf Izzy. „Sei gegrüßt, Izzy. Was gibt es?“, ertönte seine blecherne Stimme. „Nichts Besonders“, sagte er. „Ich mache mir nur Sorgen um ein paar von unseren Sensoren.“ „Wieso das?“ „Ich habe dir eine Nachricht wegen dieser Insel geschrieben, die unsere Kameras aufgenommen haben. Ich habe fliegende Digimon dorthin geschickt, um sie zu untersuchen – aber die Insel war nicht mehr dort.“ „Wie ist das möglich?“, schnarrte Andromon. „Ich weiß es nicht. Ich arbeite noch daran, das herauszufinden. Jüngere Überwachungsbilder zeigen die Insel auch nicht mehr. Vielleicht hat jemand unsere Sensoren manipuliert und wollte uns in eine Falle locken. Es könnte sein, dass ein Unterwasserheer an der Stelle gewartet hat, für den Fall, dass wir Meeresdigimon hinschicken, aber das ist nur eine Vermutung.“ Andromons Auge blinkte nun langsamer. „Gibt es etwas Neues von unseren Rittern?“ „Sie haben sich nicht bei mir gemeldet“, sagte Izzy. Wenn Willis und Michael ihn angefunkt hätten, wäre das auch Andromon nicht verborgen geblieben. Andromon fragte, weil es Izzys Interpretation des Umstands, dass sie nichts von sich hören ließen, erfahren wollte. Darum fügte er hinzu: „Ich schätze, sie haben aus Sicherheitsgründen noch keinen Kontakt mit uns aufgenommen, schließlich sind sie weit in feindlichem Gebiet. Deshalb wiederum glaube ich, dass sie Königin Mimi bereits gefunden haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihnen etwas zugestoßen ist. Es dauert sicher nicht mehr lange, bis wir unsere Pläne weiter vorantreiben können.“ „Diese Annahme kannst du nicht mit Daten belegen“, stellte Andromon fest. „Das stimmt. Aber ich vertraue ihnen.“ Andromon nickte. „Dieser Faktor ist ebenfalls von Bedeutung. Hoffen wir, dass wir bald Nachricht von ihnen erhalten. Wie steht es mit deinem Vertrauen in unsere geplante Operation?“ Izzy schluckte. „Es ist ein äußerst riskantes Vorhaben“, sagte er, „aber das wissen wir ja beide. Ich glaube trotzdem – nein, ich bin mir sicher –, dass wir es schaffen können.“ Er versuchte, so viel Selbstsicherheit in seine Stimme zu legen, dass sie selbst Andromon auffiel. „Die Vorbereitungen laufen gut. Wir brauchen noch einen Monat, dann ist alles fertig. Operation Seemonster wird plangemäß ausgeführt und mit Sicherheit ein großer Erfolg!“ Andromon nickte wieder schwerfällig. Die Kabel an seinem Kopf wippten. „Ich möchte, dass du sie selbst anführst. Fühlst du dich dazu imstande?“ Izzy überlegte. Andromon würde sein Zögern nicht als Schwäche auffassen. Es wusste, dass jede Berechnung, und wenn sie auf einem noch so schnellen Computer lief, Zeit brauchte. Schließlich atmete er tief die kühle Luft ein und stieß sie wieder in die Düsternis hinaus. „Ja, ich schaffe das.“ Zurück in seinem eigenen Computerraum fragte ihn Tentomon: „Und? Wie ist es gelaufen?“ Izzy brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Wir brauchen eine Vertretung für meinen Posten hier“, sagte er. „Andromon hat mich zum Generaloperator der Mission Seemonster ernannt.“ Es würde schon gut gehen. Er glaubte wirklich, dass er es schaffte. Und Willis und Michael riskierten dort draußen schließlich auch ihr Leben. Irgendwie fühlte er sich trotz allem zittrig. „Das ist toll, Izzy!“, sagte Tentomon begeistert. „Übrigens will dich hier jemand sprechen.“ Es wies auf ein blinkendes Symbol auf Izzys Bildschirm. „Endlich!“ Izzy aktivierte die Videoübertragung. Sein eigener Bildschirm blieb finster; er empfing nur Ton. „Hallo?“ „‘n Abend, Izzy“, hörte er Willis. „Was ist denn mit dir los? Hast du einen Geist gesehen?“ Sah man es ihm so deutlich an, dass Willis es sogar über die Videoübertragung erkennen konnte? In dem Moment verfluchte Izzy die hohe Auflösung seiner Kamera. „Nicht so wichtig“, wiegelte er ab. „Sag lieber, was sich bei euch so tut.“ „Gerne. Ich hoffe, du schaffst es heute Nacht ohne Schlaf, mein Freund.“     Tag 51   Er erwachte ausgeruht wie lange nicht mehr. Sanftes Morgenlicht fiel durch das gekippte Fenster, die feinen weißen Seidenvorhänge wehten sachte im Wind. Für einen Moment glaubte er, alles nur geträumt zu haben. Doch das hier war nicht sein Zimmer, nicht seine Welt. Ken wälzte sich herum und genoss die weichen Laken und das Kissen. Die Zugluft hatte die Haut an seiner Schulter kalt werden lassen, also zog er sich die Decke hoch. Durch seine Schläfrigkeit sickerten die Erinnerungen an gestern Abend wie Wassertropfen. Nadine hatte ein Abendessen auftragen lassen, besser als alles, was er in seiner Zeit als neuer Kaiser gegessen hatte. Dann hatte sie ihn persönlich in die Gastgemächer geführt, obwohl er den Weg mittlerweile kannte, und ihm eine gute Nacht gewünscht – und ihn dabei auf die Wange geküsste. Ken tastete mit den Fingern über die Stelle. Bei dem Gedanken an das Bad vor drei Tagen fühlte er Hitze in seiner Brust. Das ist nicht gut, dachte er. Ich habe Verpflichtungen, ich kann mich nicht auf ihre Spielereien einlassen. Aber warum fühlte er sich in ihrer Gegenwart so wohl, so … zuhause? Er hatte in Unterwäsche geschlafen, sein Anzug hing über die Lehne des Stuhls, der neben dem Bett stand. Dort lag auch sein Connector, der in dem Moment surrte, erst sanft, dann penetranter. Seufzend richtete er sich auf. Nie hatte man Ruhe. In den letzten Tagen hatte er die meisten von Nadines Türmen durch seine eigenen ersetzt, selbst den großen Schwarzen Turm im Herzen des Rosensteins, der an vier Seiten von Felsmauern und oben von einem gläsernen Kuppeldach beschützt wurde. Hätte er das nicht getan, hätten ihn seine Digimon nun nicht stören können. Aber es war wohl ohnehin Zeit, aufzustehen. Die letzten Tage hatte er trotz allem mehr geschlafen als gearbeitet. „Ja?“, meldete er sich, während er in seinen Anzug schlüpfte und die Mikrofon- und Lautstärkeregler aufs Maximum schob. „Majestät, Eure Order wird erwartet.“ Es war ein Hagurumon aus der Zentrale, und die hielten sich nie mit übermäßigen Höflichkeiten auf, sondern waren stets sachlich und formell. „In welcher Angelegenheit?“ Ken unterdrückte ein Gähnen. Die frische Luft half ihm, richtig wach zu werden. Sein Zimmer war hell, und durch das Fenster konnte er die öde Felsenklaue bleich im Licht des neuen Tages schimmern sehen. „Erstatte Meldung. Vor zwei Stunden wurden im neuen Territorium in Sektor Drei-Vier-C Feindbewegungen ausgemacht. Elektromagnetische Signale stören die Überwachungskameras, aber der Trupp wurde auf vier Digimon verifiziert. Sie dringen im Moment tiefer in das neue Territorium ein, ohne aber die Schwarzen Türme zu zerstören.“ Wenn Ken sich nicht täuschte, lag dieser Sektor am Rand der Kaktuswüste, wo Nadines Gebiet an das von Takashi grenzte, direkt nördlich vom Rosenstein. „Was habt ihr gemacht?“, fragte er. Dinge wie diese waren nicht ungewöhnlich; es gab viele Digimon, die sein Überwachungsnetz stören konnten. „Die Milizen der Schwarzen Rose wurden mit niedriger Priorität alarmiert“, berichtete das Hagurumon weiter. „Die Alarmierung wurde jedoch zurückgezogen.“ „Weswegen?“ „Die Störung unserer Systeme ließ kurzzeitig nach. Die Überwachungsbilder zeigen undeutlich erkennbar ein Digimon, das sich mit einer Wahrscheinlichkeit von achtundneunzig Prozent als Ebemon identifizieren lässt.“ „Ebemon …“, murmelte Ken. Das hatte er schon einmal gehört. „Schickt mir die Daten.“ Kurz darauf erhielt sein Connector ein holografisches Abbild des Digimons. Seine Erinnerungen hatten ihn nicht betrogen. Es war ein Roboterdigimon, das auf vielen Kabeln wie auf Tentakeln watschelte, einen riesigen Kopf und zwei hochtechnische Handkanonen hatte. Und es war auf dem Mega-Level. „Die Datenbanksuche ergab, dass eine der Kanonen von Ebemon andere Digimon unter dessen Kontrolle bringen kann. Bewusstseinsübernahme durch lineare Datenneustrukturierung. Begleitet wird es von drei Digimon mit geringeren Datenmengen. Wir haben die ersten Abfangbefehle zurückgezogen und Schwarzring-Digimon von der Front angefordert. Zusammentreffen der beiden Trupps ist in fünfzig Minuten und sechzehn Sekunden in Sektor Q geplant.“ Die Überlegung dahinter war einfach. Ebemon konnten sich Digimon gefügig machen, indem sie auf die Daten zugriffen, die ihr Bewusstsein ausmachten, und sie minimal veränderten. Es war ähnlich wie mit Devimons Zahnrädern. Schwarze Ringe allerdings bearbeiteten die Daten nicht-linear und wirkten viel komplexer. Sie würden jedes Konfigurationsprogramm von Ebemon überschreiben. Schwarzring-Digimon würde es nicht beherrschen können. „Ich verstehe. Das habt ihr gut gemacht. Was ist jetzt das Problem?“ „Ein erneutes Abflauen der Störwellen hat uns ein zusätzliches Bild gebracht. Ein Signal von einem DigiVice wurde sichtbar, und eine der Kameras zeichnete das Bild eines menschlichen Jungen auf, der neben einem Veemon durch den Sand geht. Er trägt mit Flammen bestickte Kleidung. Außerdem haben wir die Wellenlänge eines DigiArmorEis von ihm empfangen. Wir dachten, dass Ihr davon in Kenntnis gesetzt werden wollen würdet.“ Davis. Kens Herz schlug plötzlich schneller. Er hatte das DigiArmorEi der Aufrichtigkeit, das er in Little Edo erbeutet hatte, untersuchen lassen, um weitere Eier einfacher orten zu können. Wenn Davis in mein Reich kommt … Wollte er ihn herausfordern? Er zerstörte die Türme nicht, aber das brauchte er auch nicht, um Veemon digitieren zu lassen … „Sendet mir das Bild“, verlangte er. Seine Stimme zitterte. Sein Connector projizierte ein körniges Schwarzweißbild von bodenlos schlechter Qualität, aber er konnte Davis‘ stachelige Frisur erkennen. Sein Freund stand schräg in der Aufnahme, das Gesicht nur ein schwarzer Fleck, aber die Flammen auf seinem Mantel waren einwandfrei zu erkennen und das dunkelgrau dargestellte Digimon neben ihm war ohne Zweifel Veemon. Ken hatte es eilig, sich sein Cape umzuschnallen. Er stieß die Tür auf und rief nach Wormmon. Sein Digimon-Partner hatte ein eigenes Zimmer bekommen, das besser auf seine Größe zugeschnitten war, und öffnete die Tür, als Ken den mit Mosaiksternen gemusterten Flur entlang hastete. „Ich übernehme das Kommando vor Ort“, erklärte Ken dem Hagurumon. „Der Abfangtrupp soll nicht angreifen, ehe ich den Befehl gebe.“ Sie durften Davis nicht bekämpfen. Er musste mit ihm reden. Vielleicht würde er ihm sogar glauben, immerhin war er sein bester Freund, aber falls nicht, musste Ken wenigstens versuchen, ihn zu erreichen. „Was ist denn los, Ken?“, piepste Wormmon und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Ken setzte sich seine Brille auf. „Davis ist in unserem Gebiet aufgetaucht.“ Sie mussten die große Festhalle des Palastes durchqueren, wo Nadine bereits am Frühstückstisch saß. Ihr Kleid bildete einen scharfen Kontrast zu dem reinen Weiß des Tischtuchs und der Dekoration. Die Halle war voller hoher Fenster und bereits lichtdurchflutet. Auf Tellern warteten Pfannkuchen, Reisomelette, Torten und Kuchen, Brötchen mit Butter und Honig, Schalen mit Erdbeeren und Weintrauben und Krüge voll Milch und frischem Tee auf ihn. Floramon-Diener standen bereit, und gegenüber der Königin war auf der runden Tafel für einen weiteren Menschen und ein Digimon gedeckt. Nadine nippte gerade an einem Kristallglas mit Orangensaft. Als sie ihn bemerkte, stellte sie es ab und tupfte sich lächelnd mit der Serviette den Mund ab. „Guten Morgen“, begrüßte sie ihn. „Ich wollte euch eben wecken lassen. Setzt euch zu uns.“ Erst jetzt bemerkte Ken auch Elecmon, das neben ihr auf einem samtbezogenen Hocker saß und einen undefinierbaren Brei verschlang. In den letzten Tagen war es seltsam mit Nadine und Ken geworden. Er nahm ihre Bewegungen irgendwie stärker wahr, sah die Grübchen in ihren Wangen, wenn sie lächelte, bemerkte jedes Haar, das sich ihrer Frisur entziehen wollte, beobachtete, wie ihre Finger sich bewegten, wenn sie an ihrer Kleidung zupfte. Sie hatte ihm gestanden, dass zwei Allomon für das Erhitzen des Badewassers zuständig waren, und für diese war es ein Kinderspiel und nichts, was sie nicht zweimal kapp hintereinander zustandebrächten. Dabei hatte sie schelmisch gegrinst. Ken wurde nicht schlau aus ihr, und die Tatsache, dass er sich jetzt am liebsten zu ihr gesetzt und sich mit ihr unterhalten hätte, störte ihn am meisten, hatte er doch Wichtigeres zu tun in diesem außer Kontrolle geratenen Spiel, als zwischenmenschliche Zerstreuungen. „Tut mir leid, das Frühstück wird warten müssen“, sagte Ken knapp und eilte an der Tafel vorbei. Sie sah ihn alarmiert an. „Was ist passiert?“ „Ich habe alles im Griff, mach dir keine Sorgen. Ich erzähle es dir später.“ Damit war er am Ende der Halle angelangt und trippelte die hellen Marmorstufen nach unten. Per Connector rief er seine Leibgarde vor dem Palasttor zusammen. Sir Gorillamon und die Thunderboltmon hatten sich bereits eingefunden, als er die noch nicht allzu stickige Morgenluft einatmete, dazu ein Airdramon, auf dem er und Wormmon fliegen würden. Warte auf mich, Davis, dachte er, als sie abhoben.   Das Gebiet Q war felsig, mit einigen Rissen, wo der Boden unter der Hitze aufgebrochen war, und im Norden sah man noch Spuren von Sand, den der Wind hierhergetragen hatte. Da man fast endlos weit sehen konnte, wirkte das Muster aus Schwarzen Türmen hier viel dichter. Warmer Wind biss in Kens Nacken und ließ sein langes Haar und seinen Umhang flattern. Kens Airdramon war gelandet, seine Wache hatte Stellung bezogen. Ken schloss seinen Connector an einen kleinen Monitor mit ausfahrbaren Spinnenbeinen an, den er wie einen Beistelltisch auf den rauen, braunen Felsenboden stellte. Sein Radar zeigte das Ebemon noch nicht an; vielleicht war auch wieder das Signal gestört, aber er würde es hier von weitem kommen sehen. Dafür sah er den Trupp aus Schwarzring-Digimon, der von einem Lager an Zephyrmons Front im Osten abgezogen worden war. Metall glänzte in der Ferne. Die Hagurumon hatten gut gewählt: blecherne Guardromon für den Fernkampf, und Kokatorimon, die zwar nicht fliegen konnten, aber auch zu Fuß schnell unterwegs waren und ihre Feinde versteinern und somit verlangsamen konnten. Inwieweit sie ein Mega-Digimon aufhalten konnten, war natürlich fraglich, aber Ken hoffte, dass es gar nicht so weit kommen würde. Das Praktische an Schwarzen Ringen war die Einfachheit, die Digimon zu kontrollieren. In der Hinsicht waren sie disziplinierter als freie Digimon. Mit dem Connector griff Ken auf das Kommandointerface der Schwarzen Türme zu, die einen Befehl an den Trupp sendeten. Die Digimon formten eine Reihe und änderten ihren Kurs, sodass sie direkt auf ihn zukamen. Ken streckte sich und wartete. In Nadines Palast war das Frühstück sicher schon vorbei … Ein eisgekühltes Glas Orangensaft wäre ihm jetzt das Liebste gewesen. Immer noch war keine Spur von Ebemon und Davis zu sehen, weder auf dem Radar noch in natura. Gerade als er wieder einen Blick auf sein Pult warf, ertönte das Säuseln. Noch bevor er den Blick heben konnte, krachte etwas neben ihm in den Felsen und sprengte ein mehr als faustgroßes Loch hinein. Steinsplitter bohrten sich ihm ins Gesicht. Unter lautem Rufen kam Bewegung in seine Leibgarde. Verwirrt blickte er sich um – niemand war zu sehen, außer seinen eigenen Truppen. Dann kam die zweite Granate – eindeutig aus der Richtung seiner Verstärkung, und sie war besser gezielt. Ken erhaschte den Eindruck eines winzigen Gesichts mit Trillerpfeife im Mund, dann schnellte ein Thunderboltmon schützend vor ihn und verging in einem Datenwirbel, während die Explosion über die Ebene grollte. „Was ist da los?“, rief er aus. Gorillamon und die anderen formierten sich. „Geht in Deckung, Kaiser“, murmelte der Ritter. Ken starrte ungläubig auf seinen Bildschirm. Die Schwarzring-Digimon waren zum Angriff übergegangen? Er hatte doch jede Kampfhandlung verboten! Verwirrt gab er einen erneuten Befehl ein – sofort Feuer einstellen. Das Logfile bezeugte, dass die Türme den Befehl weitergegeben und die Schwarzen Ringe der Digimon ihn erhalten und bestätigt hatten … Warum griffen sie dann weiter an? „Ken, wir sollten schnell von hier verschwinden“, murmelte Wormmon, aber er verstand es kaum; Guardromon-Granaten sausten über sie hinweg und pfiffen und säuselten. „Bring den Kaiser in Sicherheit“, knurrte Gorillamon Airdramon zu. Seine Handkanone glühte auf. „Mein Kaiser, Ihr solltet fliehen.“ Es schoss einen gelben Energieball auf die Schwarzring-Digimon ab, die nun deutlich näher gekommen waren. Ken biss sich auf die Lippen. Ein neuer Befehl. Alle Einheiten, stehen bleiben. Wieder eine Bestätigung, und doch marschierten die Digimon unerbittlich weiter. Ein Fehler im System? Das Airdramon fauchte und schüttelte seine Flügel aus, und Ken beschloss, sich zurückzuziehen – als ein Kokatorimon-Blitz direkt über seinem Kopf hinwegflog und das Airdramon traf. Steinmehl rieselte auf Ken herab. Der rechte Flügel des Drachendigimons war zu grauem Fels geworden. Airdramon röhrte. Etwas metallisch Blitzendes löste sich aus dem herannahenden Trupp und war im Nu direkt vor Kens Camp. Ein MetallMamemon, nicht mehr als eine behelmte Kugel mit Armen und Beinen – und einer furchterregenden Kralle an der einen und einer noch furchterregenderen Kanone in der anderen Hand. Es blieb vor ihnen in der Luft schweben. Mit einem Zischen verließ ein rot glühender Ball sein Kanonenrohr und pulverisierte das Airdramon. Keine Sekunde darauf schnellte es direkt vor Ken, richtete seine Kanone auf ihn – und wieder warf sich ein Thunderboltmon dazwischen. Diesmal war die Druckwelle so stark, dass Ken mit einem Schrei von den Füßen gerissen wurde und sich die Haut auf dem rauen Fels aufschürfte. Schweiß brach ihm aus. Seine eigenen Digimon randalierten … und das Ziel war er persönlich. Brüllend sprang Gorillamon MetallMamemon an, als seine Kanone gerade wieder glühte. Sein Leibwächter stülpte seine eigene, größere Handkanone halb über das Digimon, drückte es auf den Felsenboden und schoss selbst. Ein Krachen begleitete eine Explosion aus gelben und roten Farbspritzern, und Gorillamons Kanonenarm zerstob bis zu seinem Schultergelenk in Einzelteile. Von MetallMamemon blieb nur ein rauchender, rußgeschwärzter Fleck auf den Felsen. Gorillamon taumelte, die Zerstörung fraß sich weiter in es hinein und wehte Datensplitter weg wie der Herbstwind Blätter. „Schützt den Kaiser!“, befahl es ächzend, dann starb es. Was soll ich jetzt tun? Es waren Schwarzring-Digimon, sie … Ihm ging ein Licht auf. „Nach vorn!“ Er streckte den Arm aus. „Fangt sie ab!“ Die Thunderboltmon waren in null Komma nichts bei der anderen Truppe und hinderten sie daran, weiterzuschießen. Blaue Blitze zuckten auf und hagelten auf das kleine Schlachtfeld im Osten. „Wie fühlt es sich an, selbst der Gejagte zu sein, DigimonKaiser?“ Ken fuhr herum. Aus der anderen Richtung? Das Radargerät hatte nichts angezeigt … Ein Junge stand dort, war wohl aus einer Felsspalte geklettert, in der er sich versteckt gehalten hatte, fünfzehn Meter von ihm entfernt. Ken hatte ihn nie persönlich getroffen, aber dank Davis‘ Erzählungen wusste er, wer Willis war. Nur seine Augen hatte er sich anders vorgestellt; sie waren nicht warmherzig und charismatisch – das hatte ihm Yolei erzählt –, sondern eisblau und kalt. „Wenn wir wirklich ein Ebemon hätten, wärst du längst abgesetzt“, sagte er und legte überheblich den Kopf schief. Zu seinen Füßen watschelte ein Terriermon auf Ken zu. Wormmon trat ihm mit grimmigem Gesichtsausdruck entgegen. „Willst du etwa kämpfen?“ Terriermon schwieg. Ken wagte es, zu den kämpfenden Digimon zurückzusehen. „Was hast du mit dem Ganzen zu schaffen?“, fragte er. „Sollte ich was damit zu schaffen haben?“ „Du bist Willis, oder?“ Zeit gewinnen, eine Strategie überlegen. Was kann er mit einem Terriermon ausrichten? „Sir Willis, wenn ich bitten darf.“ Willis fuhr sich durch das blonde Haar. „Es gefällt dir vielleicht nicht, aber das ist dein Ende, DigimonKaiser. Und es ist sogar ziemlich erbärmlich. Du hast dir mit deinen Türmen dein eigenes Grab gebaut, weißt du? Dein eigenes Digimon kann nicht digitieren.“ Er lächelte Wormmon an. Ken schluckte. „Deines auch nicht“, sagte er, mit belegter Zunge, da er ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. „Ach, wirklich nicht?“ Willis zog ein Goldenes DigiArmorEi aus seiner Gürteltasche, und Kens Augen weiteten sich. „Erstrahle!“ Während gleißendes Licht Terriermon einhüllte und seine Verwandlung vor seinen Augen verbarg, merkte Ken, dass sein Kiefer zu zittern begonnen hatte. Das ist unmöglich, dachte er. Es gibt nur ein Goldenes DigiArmorEi … Aber das stimmte nicht. Davis hatte es ihm erzählt. Sie hatten jeder eines gehabt, er und Willis, und Terriermon wurde zu … Rapidmons golden leuchtende Rüstungsteile rauchten nach der Digitation. Sein helmartiger Kopf schien Ken grimmig anzustarren. Willis lächelte. „Ich hab doch gesagt, das ist dein Ende.“ Ken packte Wormmon mit einer Hand und stürmte los. Rapidmon richtete seine Armkanone auf ihn und schoss. Gleißende Helligkeit zerbarst hinter Ken und er wurde nach vorn geschleudert, direkt an die Kante einer Schlucht in den Felsen. Ein Netz aus Rissen zog sich durch sein linkes Brillenglas. Wormmon entglitt seinen Fingern und polterte vor ihm über den Boden. Er hörte das unheilvolle Surren Rapidmons über sich. Bitte … nicht schon wieder …, war alles, was er denken konnte, während ihm Schweiß über das Gesicht lief. Er schmeckte Blut; beim Fallen hatte er sich auf die Zunge gebissen. „Wormmon, schnell!“ Er schwang sich über die Felskante, rutschte über den zackigen Hang und riss sich Handschuhe und Hose auf. Ächzend kam er unten zum Liegen und fühlte sich wie mittendurch gebrochen. Wormmon landete wesentlich eleganter neben ihm. „Was tun wir, Ken?“ Seine Augen waren wässrig und es klang verzweifelt. Ken atmete wie nach einem Dauerlauf. Ja, was konnten sie tun? Er ballte hilflos die Fäuste. Schon damals hatte eine Goldene Armor-Digitation seine Herrschaft beendet, sollte es nun wieder so sein? Das goldene Rapidmon war ebenso stark wie Magnamon, dessen war er sich sicher. „Willis!“, schrie er mit allem, was seine raue Kehle hergab. „Ich weiß nicht, was man dir gesagt hat, aber es ist eine Lüge! Ich muss diesen Krieg gewinnen, sonst ist die DigiWelt verloren!“ „Eine Lüge, ja?“, hörte er Willis von oben zurückschreien. Ken presste sich gegen die Felswand in seinem Rücken, als er das Schimmern von Gold sah, auf dem sich Licht brach. Es hatte einen Grünstich. „Dann ist es wohl auch eine Lüge, dass du meine Digimon dazu getrieben hast, sich gegenseitig umzubringen?“ Ken stockte fast der Atem. „Das ist eine Lüge!“, brüllte er. „Ich habe nie so etwas getan – ich war das nicht!“ „Du bist der gleiche DigimonKaiser von damals! Wage es nicht, das zu leugnen!“, spie ihm Willis voller Hass entgegen. „Ich hab es in deinen Augen gesehen, als Terriermon digitiert ist! Das Legendäre Goldene hat uns seine Macht vermacht, damit wir dich aufhalten!“ Nein, dachte Ken fiebrig, das Legendäre Goldene war Magnamon, und du warst zu jener Zeit nicht mal in der DigiWelt … „Du hast Kokomon missbraucht!“, rief Willis weiter. Ken wusste, dass es sinnlos war, mit ihm zu reden. Er nahm Wormmon in die Arme und tastete sich die Felsspalte entlang. Seine Gedanken waren eine blanke Tafel. Er musste hier weg, nur hier weg … „Du hast es für deine Experimente hergenommen, hast ihm deine Teufelsspirale aufgezwungen und es dazu gebracht, auf ein falsches, höheres Level zu digitieren! Dafür bring ich dich um!“ Die Worte hallten schmerzhaft wie ein Zahnarztbohrer in Kens Kopf nach. Er schluckte. Eine Explosion erschütterte den Felsspalt. Steinbrocken hagelten in die Tiefe. Ken schrie auf und rannte, so schnell er konnte, stolperte über Felszacken und riss sich die Kleidung weiter auf. Sein Umhang blieb irgendwo hängen, also öffnete er die Schnalle und ließ ihn zurück. Atemlos hetzte er ins gleißende Sonnenlicht zurück, wo der Boden anstieg und wieder an die Oberfläche führte. Und jetzt? Überall waren Schwarze Türme, und Rapidmon war verteufelt schnell. Selbst wenn er irgendwie einen Turm zerstören konnte, würde es ihm nichts bringen. Er hatte sie so platziert, dass jeder Fleck von mindestens zwei Türmen überlappt wurde, damit er beim Ausfall des einen immer noch den zweiten hatte. Wenn Wormmon nur zu Stingmon werden könnte … „Ken, ich muss kämpfen!“, piepste Wormmon und zitterte. „Du kannst nicht gegen es kämpfen!“, brachte Ken entsetzt hervor. „Es ist viel zu stark!“ „Na? Wie fühlt es nun sich an, plötzlich der Gejagte zu sein, DigimonKaiser? Du läufst weg wie ein Feigling, das ist es, was du wirklich bist!“, hallte Willis‘ Stimme über die Ebene. Ken wusste, dass Rapidmon direkt über ihm war. Er sah es an den gesprenkelten Reflexionen auf dem Boden vor ihm. Eine Rakete, ein Krachen, und vor ihm klaffte ein riesiger Krater voller spitzer Geröllbrocken auf. Einmal mehr wurde er von den Füßen gerissen, schlug diesmal mit voller Wucht mit dem Hinterkopf auf. Hustend rappelte er sich auf, obwohl sich alles in seinem Kopf drehte. Es hatte keinen Sinn. Er war erledigt. Er würde sterben. Durch eine Staubwolke schritt Willis gemächlich auf ihn zu. „Jetzt bezahlst du für all deine Verbrechen. Ich verrate dir noch was: Die wahre Königin von Little Edo werden deine Digimon auch nicht mehr kriegen. Sie ist jetzt bei uns. Verstehst du? Du hast absolut keinen Trost mehr in der Welt. Als Nächstes nehmen wir uns diese Schlampe vor, mit der du diesen herzerwärmenden Film gedreht hast. Den haben wir übrigens auch abgefangen und durch eine Dokumentation über deine wahren Gräueltaten ersetzt. Ich sag es nochmal, du bist am Ende. Stirb wenigstens wie ein Mann, ja? Rapidmon, los.“ Wormmon sah aus, als wollte es sich ihm entgegenstellen, also hob Ken es hoch und drückte es fest an seine Brust. Er zitterte so heftig wie schon lange nicht mehr. Wann hatte er zuletzt derartig Angst gehabt? Beim Kampf gegen MaloMyotismon? Als er gegen die Dunkelheit gekämpft hatte? Er konnte es nicht sagen. Er wollte einen trotzigen Schritt in Willis‘ Richtung machen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Dann traf etwas seinen Bauch und riss ihn fort. Ken brauchte einen Moment, ehe er merkte, dass Rapidmon noch gar nicht gefeuert hatte. Der Boden unter ihm verwandelte sich in verschmierte, graubraune Schlieren. Wie eine starke Böe zerzauste der Flugwind sein Haar. Er sah an sich hinab und begriff. Ein Thunderboltmon war zurückgekehrt. Es hatte die Arme um seine Hüfte geschlungen, soweit es möglich war, und trug ihn fort von diesem Ort. Eins seiner Beinchen war grau angelaufen und versteinert, und das Schiefermuster breitete sich langsam über den Rest seines Körpers aus. Und trotzdem flog es mit ihm. Ein schwaches, ironisches Lächeln entkam Kens Lippen. Und dabei war ein Thunderboltmon das erste Digimon, das Stingmon vernichtet hat. Aber das war ein Schwarzturmdigimon gewesen. Und es war in einem anderen Leben. Es gab kaum ein Digimon, das so schnell war wie ein Thunderboltmon. Aber dieses hier hatte eine schwere Last zu tragen und war verletzt – und Rapidmon holte es nach wenigen Sekunden ein, als Willis schon nur mehr als dunkler Punkt in der hellen Landschaft zu sehen war. Es war urplötzlich neben ihnen, stoppte im Flug, um besser zielen zu können. Ken schrie. Thunderboltmon würde nicht rechtzeitig den Kurs ändern können … Rapidmon streckte einen Arm aus, zündete eine Rakete … Und Wormmon stieß sich von Kens Brust ab. Sein Schrei verstummte, obwohl er immer noch den Mund und die Augen weit aufgerissen hatte. Mit blutigen, in Fetzen gehüllten Händen griff er seinem Partner hinterher, doch er erreichte ihn nicht. Nein … Die Rakete und Wormmon prallten aufeinander. Ein goldener Feuerball erstrahlte; den Knall hörte Ken erst später. Wie in Zeitlupe flogen Datensplitter vor seinen Augen umher, das zersplitterte Brillenglas verzerrte die Explosion wie ein Kaleidoskop. Immer noch hatte Ken die Augen aufgerissen und die Hand ausgestreckt. Er schrie Wormmons Namen, doch er konnte sich nicht einmal selbst hören. Die Druckwelle stieß ihn und Thunderboltmon noch weiter fort, und er zappelte und wand sich, aber sein Leibwächter ließ ihn nicht los. Das Glühen blieb hinter ihm zurück und Rapidmon schrumpfte zu Terriermon, als sie wie ein Blitz über die Ebene rasten und dabei dem Boden immer näher kamen. Selbst seine Tränen wurden seinen Augen entrissen und vom Wind fortgeweht, und das Krachen hallte immer noch in seinen Ohren nach. Nein … nein … nein … Nicht Wormmon … Warum? Warum wiederholt es sich? Thunderboltmon begann unter seinem Gewicht zu zittern, das Grau hatte die Hälfte seines Körpers ummantelt. Warum? Warum? WARUM?   Tears of blood in my eyes The world’s set on fire I will meet you without a defense (Primal Fear – World On Fire) Kapitel 23: Die Faust aus dem Untergrund ---------------------------------------- Tag 51 „Musyamon ist ein feiger Verräter!“ Die Digimon beachteten sie kaum, sondern gingen ihren tagtäglichen Geschäften nach. „Auch wenn man euch etwas anderes weismachen will, es hat den alten Shogun mit Gewalt gestürzt und mit dem DigimonKaiser gemeinsame Sache gemacht! Schaut euch nur um, überall im Land stehen diese grässlichen Schwarzen Türme!“ Yolei konnte noch so laut schreien. Auf diesem winzigen Marktplatz in diesem winzigen Dorf am Rande des Shogunats, das vom Krieg bisher verschont geblieben war, interessierten sich die Digimon anscheinend nicht für Politik oder rechtmäßigen Herrschaftsanspruch. Sie reckte den Hals, um auf ihrer Kiste noch ein wenig größer zu wirken. „Ich weiß, wie es wirklich war! Ich war dabei! Musyamon hat den Truppen des DigimonKaisers bei der Hochzeit der Prinzessin den Weg bereitet! Man hat euch vielleicht erzählt, dass es von ShogunGekomon zum neuen Shogun ernannt wurde oder dass es Prinzessin Mimi geheiratet hat, aber das ist eine Lüge!“ Niemand außer drei Otamamon schien Augen und Ohren für sie zu haben, und die drei putzigen Kaulquappen wirkten eher, als würden sie einer spannenden Geschichte lauschen. Besser als nichts. „Der rechtmäßige Shogun ist ein Gefangener des DigimonKaisers! Aber die Prinzessin lebt und ist noch in Freiheit, und sie braucht Digimon, die für sie kämpfen! Hat denn keiner von euch ein bisschen Rückgrat? Das geht euch alle was an!“ „Dämlicher Schreihals, hau doch ab“, knurrte ein Veggiemon verhalten, das sein halb verfaultes Obst ganz in der Nähe verkaufen wollte. „Das hab ich gehört!“ Yolei zeigte empört mit dem Finger auf es. „Wenn du uns nicht helfen willst, sei wenigstens ruhig!“ Als Michael von seinem Plan erzählt hatte, hatte es sich noch so einfach angehört. Verbündete anwerben. Digimon, die rechtschaffen genug waren, die wahren Thronfolger zu unterstützen. Dass es damit beginnen würde, dass sie sich wie eine Prophetin auf einem staubigen Marktplatz den Hals wund schreien würde, hatte niemand gesagt. Er würde ihr noch unter die Arme greifen, hatte er gesagt, wenn er ausreichend Rücksprache mit seinen Leuten gehalten hatte. Bis dahin sollte sie alleine weitermachen. Sie war ja eigentlich froh gewesen, wieder allein mit Hawkmon losziehen zu können. Nachdem die erste Überraschung ob ihrer Rettung verflogen war, hatte sie sich nur noch gedemütigt gefühlt. Zwei Ritter, die die Prinzessin mit den leuchtenden Augen retteten – und nebenbei auch sie, die für den Schlamassel verantwortlich gewesen war, obwohl sie die Prinzessin – nein, die Königin – hatte beschützen wollen! Noch dazu fühlte sie sich in Michaels Gegenwart wie das fünfte Rad am Wagen. Willis hatte Mimi und Yolei wenigstens gleich behandelt, Michael war aber anscheinend weit ehrlicher und hatte merkbar eher Augen für die hübschere Mimi. Nicht dass sie eifersüchtig gewesen wäre oder etwas in der Art, Yolei war ihre Turtelei nur auf die Nerven gegangen. Und nun konnte sie sich nicht einmal einreden, dass Yasyamon schon achtgeben würde, dass die neue Königin nicht etwas tat, was sie später bereute. Mimi wusste zwar oft nicht, was sie wollte, aber wenn sie etwas wollte, bekam sie es meistens auch. Yolei unterdrückte ein Seufzen und überlegte gerade, wie sie das verschlafene Dorf noch anstacheln konnte, als ein Digimon an ihr vorüberging, das einen Hut über einem Kopftuch trug, welches seinen halben, recht niedrigen Körper versteckte. Vor ihr blieb es stehen und lüftete das Tuch, und die Augen eines Ninjamon sahen sie an. „Du solltest hier nicht solche Sachen herumschreien“, raunte es ihr zu. „Wenn du Pech hast, benachrichtigt noch jemand die Kotemon. Dann sitzt du schneller ein, als du glaubst. Die Digimon hier sind nicht so dumm, die wissen ganz genau, was auf der Hochzeit passiert ist. Aber entweder glauben sie die Lügenmärchen, die darüber verbreitet werden, oder sie glauben sie nicht. Die, die sie nicht glauben, laufen aber mit Schwarzen Ringen um den Hals herum. Also sieh besser zu, dass du Land gewinnst.“ Yolei hatte nicht die Absicht, sich einsperren zu lassen; Hawkmon hielt ganz in der Nähe auf einem Dach Wache, um sie zu warnen oder schlimmstenfalls zu kämpfen. Das Ninjamon wollte schon weitergehen, aber Yolei sprang von ihrer Kiste und hielt es auf. „Sag mal, kenn ich dich?“ Das Digimon wandte den Kopf ab. „Keine Ahnung. Glaub nicht.“ Das kam ihr nun seltsam vor. „Aber du kennst mich?“, fragte sie freundlich. „Weiß nicht. Vielleicht“, murmelte Ninjamon und wollte wieder weitergehen, den Hut mit dem Tuch tief in die Stirn gezogen. Wenn man einen Menschen kennt, erinnert man sich doch wohl an ihn? „Du bist eines der Ninjamon, die damals meinen Arm abschneiden wollte, weil ich mir einen Schwarzer Ring eingefangen habe, oder?“ Das Ninjamon sah sie geschockt an. „Woher weißt du das?“ Yolei strahlte. „Ich hab geraten.“ Beschämt senkte das Digimon den Blick, räusperte sich dann und rückte einmal mehr seinen Hut zurecht. „Ich mein’s aber ernst. Hör auf, unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Triff mich am Abend da an der Ecke, ich stell dir jemanden vor, der dir helfen kann.“ Dann eilte es auf seinen Stummelbeinen davon. Mit gemischten Gefühlen sah Yolei ihm nach. Konnte sie ihm vertrauen? Sie hatte sich mit den Ninjamon nie gut verstanden, aber es gehörte zur Pagodenwache und war offenbar auch aus Little Edo geflohen. Sie ging in eine stille Gasse und wartete, bis Hawkmon zu ihr heruntergeflattert kam, um sich mit ihm zu beraten.     Strahlend blauer Himmel über ihm, und kleine Schäfchenwolken am Rand seines Blickfelds, das sich dort wie ein Fischauge zusammenzog. Schmerz in seinem Schädel, seinen Schläfen, seiner Brust, und die unangenehmste, dumpfste, schlimmste Sorte von Schmerz in seinen Gedanken. Das nächste, was er spürte, war ein weicher Untergrund. Muffiger Geruch … Die Sonne sengend, Hitze … Feuer, Feuer auf der Haut. Aber die Sonne berührte ihn nicht. Sie war nicht zu spüren, aber seine Haut spannte sich. Kein Gewicht auf seinen Ohren, fiel ihm auf; seine Brille war fort. Seine Kleidung war fort, die Kleidung des DigimonKaisers … „Wormmon!“ Er setzte sich mit einem Ruck auf. Als hätte ein Damoklesschwert bereitgehangen, sich in seinen Kopf zu bohren, fühlte er, wie sich hinter seiner Stirn etwas spaltete. Stöhnend presste er die Hand dagegen. Dabei bemerkte er, dass seine Hände verbunden waren. Saubere Mullbinden. Wo war er? Ein Bild zuckte in seinem Verstand auf, eine Sonne, die direkt vor ihm verglühte … Nein, das muss ein Traum gewesen sein … Er betete, dass es ein Traum gewesen war … „Du bist ja schon wach.“ Eine Stimme wie aus der Ferne war das erste Geräusch, das er identifizieren konnte. Jetzt hörte er auch die Geschäftigkeit ringsum. Geschirr klapperte, Stimmen sprachen miteinander, Schritte stapften. Ein Gesicht schob sich halb vor sein Blickfeld, und er wandte den Kopf, um es mit leeren Augen anzusehen. Dabei sah er, dass er in einem olivgrünen Zelt lag, die Decke scheinbar hoch über ihm, und was er vom Himmel gesehen hatte, war einem Fleck durchsichtigen Plastiks zu verdanken. „Wo bin ich?“, murmelte er. Seine Stimme klang, als wäre dies das Erste, was er in seinem Leben sagte. „Im Lager des Zuverlässigen Ordens. Wir haben dich in der Einöde gefunden.“ Jetzt erst erkannte er den Mann und riss die Augen auf. Groß gewachsen, langes Haar, Brille. „Joe! Ich …“ Sein Freund lächelte. „Richtig. Ich frage mich, woher du das weißt. Leg dich wieder hin, zu rasche Bewegungen tun dir nicht gut.“ Er drückte Ken sanft, aber bestimmt, wieder auf die aufblasbare Matratze zurück. In dem Zelt lagen mehrere davon, allerdings schienen nur zwei weitere besetzt zu sein. „Ihr … Ihr habt mich gefunden? Habt ihr auch ein Digimon bei mir gefunden? Ein Thunderboltmon, oder … ein Wormmon?“, fragte er hoffnungsvoll. Joe schüttelte den Kopf. „Dort warst nur du, in einer Spalte im Boden, kaum zu sehen, als hättest du dich von selbst dort hineingelegt. Die Sonne hat deine Haut ziemlich verbrannt.“ Ken atmete zittrig durch. Wormmon … Tränen stiegen in seinen Augen auf und zogen fast wohltuende Spuren durch sein schmerzendes Gesicht. Wieder hatte ein goldenes Digimon ihm seinen Partner entrissen, während er selbst am Leben blieb. Und dabei wusste er nicht, was los war, was überhaupt geschehen war … Willis hatte ihn so sehr gehasst, dass er ihn sogar getötet hätte … Deemon hatte ihm falsche Erinnerungen eingepflanzt. „Da hast du es dir leicht gemacht, oder? Willis hat mich nie persönlich getroffen. Es war nicht schwer, ihn umzukrempeln, oder, Deemon?“, murmelte er. Deemon antwortete nicht. Natürlich nicht. Er hatte die gedankliche Verbindung immer noch blockiert. Joes Blick wurde mitleidig. „Du hast wahrscheinlich einen Sonnenstich“, sagte er. „Versuch dich auszuruhen. Dein Kopf wird bald wieder klarer.“ Er wollte aufstehen, aber Ken schaffte es, den Zipfel seines langen Mantels festzuhalten. „Die Zuverlässigen?“, fragte er apathisch, sah starr in den blauen Himmel. Sollte er sich doch über ihn stülpen wie ein großer, blauer Zylinder und alles verschlucken, und ihn aus diesem zähen Traum aus Trauer und Schmerz aufwachen lassen! „Ja. Du hast sicher von uns gehört. Wir helfen den Verwundeten nach den Schlachten.“ Richtig, Joe war bei denen. „Wo sind wir?“ Eigentlich interessierte es ihn nicht. Eigentlich interessierte ihn gar nichts, aber er hatte das Gefühl, es fragen zu müssen. „Auf der Felsenklaue, nicht weit von der Wüste entfernt“, lautete die wenig genaue Antwort. Ken seufzte und schloss die Augen. „Es ist ein Spiel, Joe“, murmelte er. „Eine Lüge.“ „Ich bringe dir Wasser.“ Joe wollte wieder aufstehen, aber Ken hielt ihn erneut zurück, diesmal zitterte seine Hand. „Nein! Bitte … hör mich an.“ Er atmete plötzlich schwer. Als er die Augen aufschlug, wirkte Joe wieder besorgt. „Was du auch über mich gehört hast, es ist nicht wahr.“ „Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen“, sagte er förmlich. „Einen Arzt sollte es nicht interessieren, welchen Charakter sein Patient hat.“ Sollte Ken nun froh sein, dass wenigstens einer der alten Clique ihn nicht als Todfeind ansah? Nein. Wormmon war tot. Er würde sich so schnell über gar nichts mehr freuen. Aber Joe war besonnen und klug. Er würde vielleicht zuhören, er würde vielleicht verstehen. „Hör zu.“ Warum war er nun so schläfrig? „Deemon … Es ist Deemon. Du kannst dich nicht an es erinnern.“ Ken war sich in dem Moment nicht einmal sicher, ob Joe Deemon überhaupt je zu Gesicht bekommen hatte. „Wir haben gegen es bekämpft … Dein Bruder hat mit den anderen den Lastwagen verfolgt, in dem ich war, und dann ist Deemon hervorgekommen … Joe, es steckt dahinter. Deemon.“ „Tut mir leid.“ Joe rückte sich die Brille zurecht. „Ich muss sagen, dass ich die einzelnen Anführer in diesem Krieg alle vom Namen her kenne. Aber von einem Deemon habe ich noch nie gehört.“ „Es ist … Es ist keine Spielfigur, sondern ein Spieler“, brachte Ken heraus. Er war müde, so müde … Der Schlaf wäre Balsam für Wormmons Verlust, aber das Erwachen … „Joe, er lenkt euch. Ihr seid alle Puppen, die an seinen Fäden tanzen … Deemon will die DigiWelt ins Chaos stürzen, und unsere Welt auch. Glaub mir, bitte. Ich bin der einzige, der es aufhalten kann.“ Der einzige. Ohne Wormmon. „Ich muss die anderen davon überzeugen, mir zu helfen …“ Ohne Wormmon kann ich es nicht schaffen. Wieder strömten seine Tränen nach draußen, und er kniff fest die Augen zu und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. „Bitte, Joe …“ „Ich lasse dich jetzt schlafen. Wenn du wach bist, ruf mich einfach.“ Er stand auf, sein Freund, der ihn gerettet hatte, ließ ihn nun allein. Diesmal war er zu schwach, um ihn zurückzuhalten. Joe ging mit einer großen Blechschüssel nach draußen. Gleißendes Licht stach durch Kens Augen, als die Zeltplane am Eingang flatterte. Eine Explosion, heller als die Sonne … Dann sank er in unruhigen Schlaf.     Die Sonne ging im Westen unter und das Grasland davor schimmerte orangegelb, und Yolei wartete ungeduldig. Immer wieder tippte sie auf den Griff ihres neuen Degens. Michael hatte ihn für sie anfertigen lassen. Ein Geschenk der Wissens-Armee, hatte er gesagt. Er gefiel ihr nicht wirklich. Es war nur ein lebloses Stück zusammengelöteten Metalls, chromweiß von Korb bis Spitze. Aber immerhin konnte sie damit ein wenig besser kämpfen als mit ihrem Zierdegen auf der Hochzeit. Als Ninjamon kam, immer noch so merkwürdig vermummt, nickte es ihr und Hawkmon zu und bedeutete ihnen schweigend, ihm zu folgen. Es brachte sie zu einer schmucklosen Holztür mitten in der Gasse. Auf ein bestimmtes Klopfzeichen hin wurde sie von einem Gekomon geöffnet, und die drei traten ein. Es sah aus wie eine Kneipe. Licht drang durch die Ritzen der Tür, sonst war der Raum vermauert und von Kerzen erleuchtet. Hinter einer hölzernen Theke lungerte ein Mushroomon herum. Die Tische waren sehr licht besetzt. Yolei und Hawkmon folgten Ninjamon wachsam zu einem bestimmen, an dem ein äußerst ungewöhnlich gekleidetes Digimon saß. Es trug weite Pluderhosen und ein traditionelles Tänzergewand. Eine braune Haarmähne reichte ihm bis über die Hüften, und vor dem Gesicht trug es eine bemalte Maske, aus der seitlich Blütenblätter sprossen. Die Hände waren ebenfalls Blumen, und das Digimon hatte sie kunstvoll um einen Krug Bier geschlungen. „Ich bringe dir jemanden, Kabukimon“, sagte Ninjamon, als es die Beine über die niedrige Holzbank schwang und dem Mushroomon ein Zeichen gab. Den Hut legte es auf die Tischplatte. Kabukimon musterte Yolei. Die Augen und der Mund waren beweglich, der Rest der Maske war, wie eine Maske sein sollte: unbeweglich. „Ich weiß nicht, ob ich es gut finden soll, dass du mit ihr unsere finanziellen Möglichkeiten verbessern willst, Ninjamon.“ Es hatte eine tiefe Stimme. „Was meint es?“, fragte Yolei. Ninjamon winkte ab. „Musyamon hat im Auftrag des DigimonKaisers ein Kopfgeld auf jeden Menschen ausgesetzt, den man ihm lebendig bringt. Keine Ahnung, wieso. Vielleicht hoffen sie die Prinzessin so schneller zu finden. Deswegen hab ich ja gesagt, dass du nicht so auffällig auf dem Marktplatz herumzetern sollst.“ Es bedankte sich mit einem knappen Nicken, als das Mushroomon ihm einen Krug Bier hinstellte. Auch Yolei und Hawkmon bekamen unaufgefordert eingeschenkt. „Das ist nicht der Grund, Kabukimon. Das Mädchen ist eine Söldnerin und die Freundin der Prinzessin. Man hat sie zuletzt gemeinsam auf der Hochzeit gesehen.“ „Ah.“ Kabukimon musterte Yolei erneut. „Dann musst du diese Rōnin sein?“ „Genau. Ich bin Yolei, das ist Hawkmon.“ „Weißt du, wo die Prinzessin steckt?“ Sie hätte ihm erzählen können, dass Michael für sie beide, Betamon, Palmon und Yasyamon Zimmer in einer Herberge gemietet hatte, die von einem Digitamamon geleitet wurde, außerhalb des Einflussbereichs von Musyamon, am Rande des Trugwalds. Das Land dort gehörte zum Königreich von Takashi, dem Einhorn, und zählte daher zu den Feinden des DigimonKaisers. Sie hatten es nicht gewagt, um politisches Asyl zu beten, weil sie unauffällig bleiben wollten, aber Digitamamon konnten sehr diskret sein, wenn sie nur genügend Geld auf einem Haufen sahen. „Es geht ihr gut, und sie wird gut bewacht“, sagte Yolei und verschränkte die Arme. „Mehr braucht ihr nicht zu wissen.“ Kabukimon schnaubte belustigt. „Auch gut. Solange sie in Sicherheit ist, ist fürs Erste alles in Butter. Es ist noch einiges zu erledigen, bevor wir sie treffen müssen. Irgendwann wird es aber soweit sein, wenn wir weiterhin dem einzig wahren Shogun dienen wollen.“ Yolei kostete von dem Bier. Es schmeckte grauenhaft. „Die Prinzessin vertraut dir also?“, vergewisserte sich Kabukimon. Die anderen Digimon, vornehmlich Gotsumon oder Gekomon, lauschten interessiert. „Klar.“ „Und du bist derselbe Mensch, der geholfen hat, den DigimonKaiser am Stiefel zu schlagen?“ „Ja.“ Das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Kabukimon nickte. „Gut. Wir haben vielleicht eine Aufgabe für dich. Als Rōnin kommst du doch sicher auch viel herum und kennst Städte und Straßen und Wege und befestigte Lager und die Punkte, an denen man Hinterhalte legen kann?“ „Kann man so sagen. Was brauchst du denn?“ Kabukimon wartete, bis Ninjamon zustimmend nickte. „Sagen wir es so: Du kannst uns helfen, die Ehre des einzig wahren Shoguns zu retten.“ Yolei machte große Augen. „Die Kaiserwüste? Ich kenne ungefähr den Weg, aber wenn er wirklich in der Festung des DigimonKaisers gefangen gehalten wird, ist es so gut wie unmöglich, ihn zu befreien, sogar für mich.“ „Ich rede doch nicht von diesem Eisernen Wolf!“, sagte Kabukimon zornig. „Ich meine den einzigen, der den Titel des Shoguns wirklich verdient!“ Yolei sog scharf die Luft ein und sprang auf. Sie hielt den Degen in der Hand, ehe sie sich dessen bewusst war. Die Nadel aus DigiChrom vibrierte sanft in der Luft. „Ihr arbeitet für Musyamon!“ „Ihr lockt uns hierher und fragt uns aus! Sehr verdächtig!“, fügte Hawkmon erbost hinzu. „Setz dich hin“, knurrte Ninjamon. „Die Digimon in dieser Schenke sind alle auf unserer Seite, aber du musst ja nicht gleich in alle Welt hinausbrüllen, dass hier ein geheimes Treffen stattfindet.“ „Musyamon ist nichts als ein Usurpator“, sagte Kabukimon, klang aber beleidigt. „Der einzig wahre Shogun ist ShogunGekomon.“ Yolei zögerte noch, sich zu setzen. „ShogunGekomon ist tot.“ „Zweifellos, und das ist eine Tragödie. Deswegen müssen wir alles tun, um seine Herrschaft in Ehren zu halten. Und sein Mündel zu beschützen, das es als seine Nachfolgerin legitimiert hat.“ „Wir sind so etwas wie eine Widerstandsgruppe gegen das Joch des Usurpators“, erklärte Ninjamon. „Wir kämpfen im Untergrund gegen Musyamon und den DigimonKaiser.“ „Wirklich?“ Yolei sah sich erfreut um. Das war genau das, was sie brauchten! „Aber du hast doch gesagt …“ Ninjamon winkte wieder ab. „Richtig, wer nicht für Musyamon ist, wird versklavt. Wir sind die, die nur so tun, als wären wir für Musyamon.“ Yolei setzte sich nun doch, um den Digimon zuzuhören. „Aber wir sind zu wenige“, fuhr Kabukimon fort. „Kleine Gruppen in kleinen Dörfern. Selbst wenn wir all unsere Verbündeten koordinieren könnten, wären wir zu wenige, um Musyamon zu stürzen. Wir brauchen daher jemanden, der Musyamons Gegner unter sich einen kann. Einen starken, ehrbaren Anführer, dem sie mit Freuden in die Schlacht folgen würden, und dem sich auch die Unentschlossenen anschließen.“ Ihr als seine wahre Königin könnt Euer Volk sicher zu den Fahnen rufen, hatte Willis gesagt. Yolei war sich aber nicht sicher, ob Mimi die Richtige dafür war, doch Kabukimon schien jemand anders im Kopf zu haben. „Und wer sollte das deiner Meinung nach sein? Du?“ Das Digimon lachte bitter. „Für wie vermessen hältst du mich? Nein, es muss jemand sein, der Musyamon ebenbürtig ist, früher wie heute. Ich habe an Daimyo Karatenmon gedacht. Ihm hat früher dieses Gebiet gehört, und hier haben wir die meisten Anhänger. Mit Karatenmon an unserer Seite können wir etwas ausrichten.“ Yolei sah im Geiste das Rabendigimon mit den beiden Schwertern vor sich, das bereit gewesen war, Mimi zu opfern, wenn es dadurch Musyamon töten konnte. Sie konnte diese Entscheidung nicht gutheißen. „Karatenmon ist zu kompromisslos“, sagte sie. „Warst du selbst bei der Hochzeit, Kabukimon?“ „Nein, aber Freunde von mir. Sie sind entweder tot oder versklavt. Wieso fragst du?“ „Karatenmon hätte fast Mimi getötet. Wenn ihr sie wirklich beschützen wollt, sucht ihr jemand anderes.“ „Es gibt niemand anderes.“ Kabukimon verzog den ummalten Mund. „Wir brauchen eine Heldenfigur, um das Volk aus den Löchern zu locken.“ „Wie ist das gekommen?“, fragte Ninjamon. „Hat es Mimi angegriffen?“ „Musyamon hat sie als Geisel gehalten, und es hätte trotzdem mit dem Schwert zugeschlagen!“, sagte Yolei anklagend. Darüber grübelte Kabukimon eine Weile nach. „Ich bleibe dabei“, sagte es schließlich. „Es wird versucht haben, den Putschversuch zu vereiteln. Sehen wir es als Beispiel seiner Entschlossenheit. Jetzt, da der Shogun tot ist, wird es sicher alles tun, um die Prinzessin zu schützen.“ Yolei fiel auf, dass es Mimi noch nie als Königin bezeichnet hatte. Es schien tatsächlich nur ShogunGekomon als Herrscher zu akzeptieren. „Lebt Karatenmon überhaupt noch? Auf der Hochzeit wurde es übel zugerichtet.“ „Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass es noch lebt“, sagte Kabukimon. „Es wird von Musyamon unter der Pagode festgehalten. Wahrscheinlich ist es schwer verletzt, vielleicht wird es auch gefoltert. Darum müssen wir es so schnell wie möglich befreien. Bist du bereit, uns zu helfen? Du müsstest die Straßen von Little Edo und die Pagode doch mindestens so gut kennen wie Ninjamon, oder? Und du hast ein DigiArmorEi, wenn die Geschichte stimmt. Eine gute Waffe bei all den Schwarzen Türmen.“ Yolei überlegte. „Ich kenne da noch jemanden, der mithelfen wird.“ Sie fand es aufregend, dass sich das hier als Geheimtreffen einer Widerstandsbewegung entpuppt hatte. Wie würde Kabukimon reagieren, wenn es erfuhr, dass die Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt hinter ihr stand? „Mit denen will ich die Sache vorher noch absprechen. Und mit Mimi auch. Ansonsten bin ich dafür.“ Sie schenkte den Digimon ein breites Lächeln. Kabukimon seufzte erfreut. „Gut, das zu hören. Tu das, aber beeil dich. Wegen der Prinzessin werden wir dich wie gesagt nicht drängen. Aber wenn du uns erst vertraust, wird für uns irgendwann die Zeit kommen, ihr persönlich eine Aufwartung zu machen. Das Volk liebt sie, und das ist gut für unsere Sache. Wir holen sie aus den Schatten und setzen sie schlussendlich auf den Thron, den ShogunGekomon für sie vorgesehen hat.“ Yolei nickte. „Ich glaube nicht, dass sie da etwas einzuwenden hat.“ Mimi hatte schließlich jetzt schon lange genug in den Schatten gelebt.     Als Joe das Zelt verließ, um frisches Wasser zu holen, warteten die Orcamon schon auf ihn. Sie hatten einen Halbkreis in der Lagermitte gebildet, als würden sie ihn auffordern wollen, den Kreis zu vollenden. „Gut, dass du kommst“, sagte das älteste von ihnen, ein äußerst würdevolles und behäbiges Orcamon, das Joe wegen seiner Weisheit sehr schätzte, aber nur an seiner Stimme von den anderen unterscheiden konnte. „Wir waren gerade am Überlegen, was wir mit deinem Patienten machen sollen.“ Was meinten sie damit? „Mein Patient wird wie alle anderen Patienten auch gesund gepflegt“, erklärte er sachlich und ruhig, wie es seine Art war. Der Geruch nach einer Diskussion lag in der Luft, und nur mit Vernunft konnte man eine Diskussion weg von einem Streit und hin zu einer Einigung bringen. „Ja, aber danach“, sagte ein anderes Orcamon. Sie alle hatten Sonnenschirme aufgestellt, und große Wasserkanister standen bereit, wenn sie ihre empfindliche Haut einfeuchten wollten. Die Hitze war nicht leicht für sie, das sah man ihnen an. „Du weißt, dass es vielen Reichen eine Menge wert wäre, wenn sie den DigimonKaiser in die Hände bekommen würden“, sagte das Älteste. Joe war irritiert. „Ihr wollt ihn doch nicht für Wertsachen eintauschen? Er ist ein Patient wie jeder andere. Bei der Gründung unseres Ordens hat man geschworen, keinen Unterschied zu machen, und jedes neue Mitglied muss diesen Schwur auch ablegen.“ „Wir sagen ja nicht, dass wir ihn nicht gesund pflegen werden“, sagte ein anderer Zuverlässiger. „Natürlich pflegen wir ihn. Nur was wir danach machen, dafür gibt es keinen Schwur.“ „Ich glaube, ich hör nicht recht“, sagte Joe entrüstet. Er war zwar derzeit der einzige Mensch des Ordens, aber deswegen hatte er noch lange keine Sonderstellung. Er war auch alles andere als ein Anführer. Wenn die anderen beschlossen, dass man den DigimonKaiser ausliefern würde, konnte er sich ihnen nicht entgegenstellen. Aber er würde wenigstens für das eintreten, was richtig war. Er wünschte sich Gomamon herbei, das ihm beistand, aber das war unterwegs in eine nahe Siedlung, um Vorräte einzukaufen. „Du musst auch bedenken“, sagte das Älteste wieder, „dass man den DigimonKaiser zurecht fürchtet. Sicher, er könnte sich sogar erkenntlich zeigen, aber …“ „Rein theoretisch“, sagte ein anderes, als das Älteste aus irgendeinem Grund nicht weitersprechen konnte, „nur mal gesetzt den Fall, dass wir den DigimonKaiser nicht gerettet hätten, was wäre geschehen? Die treibende Kraft in diesem Krieg, derjenige, der mehr als alle anderen auf Expansion gesetzt hat, würde fehlen. Diese eine … Vernachlässigung unserer Pflichten hätte mehr Leben retten können als alles andere, was wir je getan haben.“ Joe lag ein bitterer Geschmack auf der Zunge. Er erinnerte sich an seinen Patienten. Ohne seine Kaiserkleidung, mit Verbänden und Pflastern übersät und mit diesem leeren, stumpfen Blick sah er alles andere als gefährlich aus. Wenn überhaupt, dann mitleidserweckend. „Es ist trotzdem nicht richtig“, sagte er. „Wenn ihr nicht wollt, müsst ihr nichts mit ihm zu tun haben. Ich habe ihn gefunden, und ich werde ihn auch wieder gesund pflegen. Es ist nichts Ernstes. Niemand von euch muss Gewissensbisse haben.“ Die Orcamon murrten und hätten ihn vielleicht einfach überstimmt, als Gomamons fröhliche Stimme ertönte. „Hallo! Joe! Orcamon!“ Es winkte von einem rotbraunen Felsen in der Nähe. Die beiden Orcamon, die es begleitet hatten, und es selbst waren mit Säcken voller Proviant beladen. Frische Orangen mussten gekühlt, Saft verstaut und Wein zur Desinfektion von Wunden und zur Betäubung eingelagert werden. Im Nu löste sich die Versammlung auf, um sich an die Arbeit zu machen. Geschäftigkeit wurde immer noch großgeschrieben unter den Zuverlässigen, und dafür war Joe nun dankbar. Er fragte sich jedoch, wann diese Diskussion von neuem wiederaufflammen würde.   No one's got the power to defy the tyranny One by one they all were gone Far too many heroes came and went but never won Everyone has lost his soul forever (Freedom Call – Out Of The Ruins) Kapitel 24: Nocturne -------------------- Tag 53   Zwei Tage lang sorgte er noch für den DigimonKaiser. Er sagte ihm mit keinem Wort, dass seine bloße Anwesenheit die Grundsätze des Ordens der Zuverlässigen ins Wanken brachte, aber vielleicht merkte er es auch so. Er war ein seltsamer Junge. Ja, zumal ein Junge; Joe hätte sich nie träumen lassen, dass der DigimonKaiser augenscheinlich um so viel jünger war als er selbst. Und er schien irgendwie … gebrochen zu sein. Wenn er auf seiner Lagerstatt seine Suppe löffelte, tat er es, als hätte sie keinen Geschmack, und starrte nur geradeaus. Oft versuchte er, Joe in ein Gespräch zu verwickeln, das ihn daran zweifeln ließ, ob sein Kopf nicht doch mehr abbekommen hatte, als er zunächst vermutet hatte. Wirres Zeug war es, von einem verbannten Digimon und einem Spiel und davon, dass er die ganze DigiWelt erobern müsste. Joe hatte schon Gerüchte gehört, dass der DigimonKaiser diesen Krieg nur als Spiel sah. Er hoffte inständig, dass es nicht wahr war. Wenn der Junge, der vielleicht die Macht hatte, die DigiWelt zu unterwerfen, nur ein Verrückter war, unheilbar krank in Kopf und Seele … Er wollte nicht an seine Ordenskameraden denken und daran, was sie dazu sagen würden. Einmal entdeckte eine militärische Truppe ihr Lager. Über einer Horde Guardromon und Kokatorimon wehten die Banner der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt. Joe hatte keine Ahnung, was die in diesem Teil der DigiWelt wollten, aber ihr Anführer, ein Mensch, verlangte Auskunft von ihnen. Niemand verriet, dass sie den DigimonKaiser versteckten. Noch war er ihr Patient, und Patienten hatten keine Titel. Wenigstens daran hielten sich die Orcamon, wenngleich Gomamon es war, das am selbstbewusstesten mit dem Ritter redete. Schließlich zog die Truppe weiter nach Westen. Joe fragte sich, ob es bald eine Schlacht geben würde. Die anderen drei Einheiten des Ordens waren noch weiter in Kriegsgebiet vorgedrungen, eine hatte an der Front in der Kaktuswüste in der Nähe des Kolosseums Stellung bezogen, die anderen beiden waren nun in der Goldenen Zone. Ihre Einheit war nur hier, weil man vermutete, dass die Schwarze Rose bald gen Norden marschieren würde. Nach zwei Tagen, als er zumindest körperlich wieder bei Kräften war, verlangte der DigimonKaiser seine Ausrüstung, vor allem etwas, das er Connector nannte. Joe brachte ihm zögerlich alles, was er ihm bei seiner Einlieferung abgenommen hatte. Das gewünschte Gerät schien defekt zu sein, aber der Kaiser werkte ein wenig daran herum, nachdem er es für einige Stunden einfach nur betrachtet hatte. Auch das tat er schließlich ohne sichtbares Interesse, als wäre es ihm egal, ob es wieder funktionierte oder nicht. Irgendwann tippte er darauf herum und legte es wieder zur Seite. „Heute Nachmittag kommt mich jemand abholen“, murmelte er, als Joe seine Verbände ein letztes Mal wechselte. Wieder traf ihn dieser leere, zerbrochene Blick. „Komm mit mir.“ „Ich? Das geht nicht“, sagte Joe sofort. „Bitte. Komm mit mir nach Rosenfels. Oder in meine Festung. Dort bist du sicherer.“ „Mein Platz ist hier.“ „Du willst nicht, oder? Ich kann dich nicht zwingen. Ich will dich nicht zwingen. Ich habe genug von alledem.“ Das Letzte flüsterte er nur. „Ein Zuverlässiger wird immer dort sein, wo er gebraucht wird“, fühlte Joe sich verpflichtet zu sagen. „Und am meisten braucht man uns eben nach einer Schlacht.“ Da zuckte der DigimonKaiser mit den Schultern, als wäre es ihm gleichgültig. Joe lächelte schwach. „Wenn du dich erkenntlich zeigen willst, kannst du mir stattdessen einen Gefallen tun?“ Eine Weile starrte er nur geradeaus. „Sicher.“ „Könntest du es einrichten, dass du in der Nacht abgeholt wirst? Es ist wahrscheinlich besser, wenn von den Orcamon niemand erfährt, dass du aufbrichst. Verstehst du?“ Er hoffte, dass der Junge nicht nachhaken würde. Das tat er nicht. Ein Nicken war die Antwort, und er griff wieder nach seinem Connector.   Gegen Mitternacht, als Joe noch wach war und in einem Buch las, raschelten weiche Flügel in der Nachtluft. Ein Schatten glitt ganz in der Nähe vom sternenübersäten Himmel. Als Joe das Zelt betrat, sah er den DigimonKaiser in seiner berühmten Kleidung dort stehen – obwohl diese so zerfetzt gewesen war, dass die Orcamon sie hatten wegwerfen lassen. Ein weißes Nachthemd und elastische Hosen, das war die Kleidung, die Joe für ihn zur Seite gelegt hatte – und doch stand er in den Gewändern, in denen ihn alle Welt erkannte, vor ihm. Was für ein Zauber war das? Oder war es schlichter Irrsinn? „Es … ist etwas gelandet“, flüsterte Joe. Der DigimonKaiser nickte. „Ich wünsche dir alles Gute“, fügte Joe hinzu. „Hier. Wenn du noch Schmerzen hast.“ Er reichte dem Jungen eine Dose mit handgefertigten Pillen. Der DigimonKaiser nahm sie entgegen und betrachtete das Wappen der Zuverlässigen, das auf den Deckel gemalt war. Dann nickte er erneut und schlich sich aus dem Zelt, durch eine Klappe auf der Hinterseite, die Joe eigens für ihn ausgeschnitten hatte. „Danke“, sagte er noch einmal, als er zu ihm zurücksah. „Wenn du es dir überlegst, meine Tür steht dir jederzeit offen.“ Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen. Dann seufzte er tief und verschwand. Später sah Joe, wie der Schatten zwischen den Felsen wieder abhob und in südlicher Richtung davonflog. Nun würde er sich mit Gomamon zusammensetzen und beraten, was er den anderen erzählen sollte. Wie das Gespräch, das unweigerlich morgen folgen würde, wenn die Orcamon das Fehlen eines Patienten bemerkten, auch ausfallen würde: Er hoffte inständig und mit klammem Herzen, das Richtige getan zu haben.     Tag 54   Es hätte regnen sollen. Regen wäre passend gewesen. Doch in der Einöde der Felsenklaue war es staubig und trocken wie immer, und der Palast auf dem Rosenstein schimmerte ihm im Morgenlicht entgegen, als wollte er ihn verhöhnen. Ken hatte sich in seinen Mantel gewickelt, als die beißende Kälte der Luft in diesen Höhen ihm keine andere Wahl gelassen hatte. Er fühlte sich immer noch empfindlich und wund, als hätte ihm jemand sämtliche Haut abgezogen. So saß er auf dem Kopf des Airdramons und ließ seine Tränen noch im Entstehen trocknen. Ookuwamon gesellte sich beim Anflug auf den Palast kurz zu ihnen, stieß ein kaum hörbares Schnarren aus und flog dann vor. Als das Airdramon auf den Stufen landete, direkt vor dem Tor, kam Nadine mit gerafften Röcken herausgestürzt, die Haare ungeordnet und atemlos. „Ken, was …“, stieß sie hervor, als er sich von Airdramons Kopf fallen ließ. Er landete zwar sicher auf den Füßen, aber er fühlte den Aufprall schwer, als schleppe er Felsen mit sich rum. Er hatte seine Brille verloren; Nadine konnte den Ausdruck in seinen Augen sehen, und sie verstummte und biss sich auf die Lippen. Er schleppte sich die letzten Stufen hoch, seine Beine waren wie mit Blei gefüllt und in seiner Brust schmerzte sein Herz. „Was ist passiert? Du warst tagelang fort, ich …“ Wieder unterbrach sich Nadine, als sie einander gegenüber standen. Anstatt aufgeregt zu sein, klang sie nun mitleidig, als sie erneut fragte: „Was ist passiert?“ Ken wollte es ihr sagen, bewegte die Lippen, aber er hörte, dass kein Wort darüber rollte. Er musste plötzlich schlucken. Es zu wissen und es auszusprechen waren verschiedene Dinge. Es auszusprechen schmeckte bitterer. Sein Kiefer zitterte. „Wormmon“, brachte er schließlich heraus, und als er die Augen zusammenkniff, kamen die Tränen wieder. Er schluchzte haltlos, seine Schultern bebten. Seine Beine wollten den Dienst versagen, und er sank in Nadines Arme, die ihn bestürzt ansah. „Es ist wieder gestorben. Wegen mir. Wegen mir. Nur wegen mir.“ Für einen Moment reagierte sie nicht, dann strich sie ihm durch das sandverklebte, strähnige Haar. „Ich … Es tut mir leid“, murmelte sie, aber er hörte sie kaum. „Es wiederholt sich alles, Nadine. Wormmon ist tot, es hat sich für mich geopfert … Ich bin wieder allein. Mein einziger Freund in dieser Welt … Und es ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld, vom ersten Schwarzen Turm angefangen. Ich habe all das ins Rollen gebracht, so viele müssen leiden, und Wormmon am meisten …“ Sie erwiderte nichts, sondern hielt ihn nur. Ihre Umarmung hatte etwas Tröstliches. Ihre Wärme vertrieb die Kälte des Fluges, und ihre Berührung die Schmerzen. „Du bist nicht allein, Dummkopf“, sagte sie und klang weinerlich. „Du hast doch noch mich. Komm, gehen wir hinein.“ „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Das hat alles nichts mit dir zu tun. Es ist mein Spiel, und ich bin so unvorsichtig in eine Falle gelaufen.“ „Unser Spiel. Und ja, das war unvorsichtig“, sagte sie. „Aber weißt du was? Ich bin froh, dass du zu mir zurückgekommen bist.“ Als sie ihn so fest drückte, dass es wieder wehtat, merkte Ken, dass sie zitterte.   Selbst in seinen Träumen starb Wormmon, nur war er es, der es zu Tode peitschte, zeterte und wütete und dabei lachte, während Ken in seinem Inneren schrie und sich gegen die Fesseln des Schicksals aufbäumte, das ihm Wormmon ein ums andere Mal nahm. Als er aufwachte, war es dunkel. Er musste sich nicht erinnern. Er wusste, dass sein Freund tot war. Selbst der Schlaf ließ ihn nicht vergessen. Er hörte Nadine leise atmen. Sie war doch eingeschlafen. Vorsichtig löste er sich aus ihren Armen. Sie waren noch minutenlang vor den Toren stehen geblieben. Ken hatte lange geweint und schämte sich dafür. Nadine hatte dann Milch mit Honig und Mohn für ihn zubereiten lassen. Das Frühstück war gerade fertig geworden, aber er hatte keinen Bissen hinuntergebracht. Auch Nadine hatte ihres stehen gelassen. Sie hatten einander nur angeschwiegen. Danach hatte ihn bleierne Müdigkeit befallen. Ungefragt war Nadine bei ihm in seinem Gemach geblieben. Ken hatte nicht gewollt, dass sie ihn allein ließ, und sie schien das gespürt zu haben. Eng umschlungen hatten sie sich hingelegt, er in seiner Kleidung mit all dem Sand und dem Staub aus der Ödnis, sie mit ihrem kostbaren Königinnenkleid. Er wollte sie nicht loslassen, wollte seine Trauer in ihren Armen ertränken. Sie hatte ihm über die Wange gestrichen und ihn auf die Stirn geküsst, wie ein sanfter, kühler Hauch, der den Schmerz wegwehen konnte, wenn er ihm die Chance dazu gab. „Schlaf, Ken“, hatte sie gesagt. „Du hast noch mich. Ich bin immer bei dir, vergiss das nie. Schlaf, und versuche von mir zu träumen.“ Er versuchte es. Und doch sah er nur Wormmons Tod. Er setzte sich in seinem Bett auf, darauf bedacht, sie nicht aufzuwecken. Ein kühler Luftzug kam durch das gekippte Fenster. Der Vorhang wehte im letzten Licht des Tages, so wie er im ersten Morgenlicht geweht hatte, an dem Tag, als … Ken stützte seinen Kopf auf seine Hand. Eine Weile verharrte er, dann sah er erneut zu Nadine. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie würde immer für ihn da sein, hatte sie gesagt, aber sie sah so zerbrechlich aus, wenn sie schlief, so blass wie eine Porzellanpuppe, als der Mond seine Strahlen durch das Fenster tasten ließ. Er dachte an Elecmon, und daran, dass sie vielleicht ebenso zerbrechen würde, wie er zerbrochen war. Er wollte es ihr ersparen.   Auf der höchsten Turmspitze war der Wind schneidend kalt in dieser Nacht. Er zerrte an Kens Umhang, als wollte er ihn in die Tiefe reißen. Hinter den Zinnen der Brüstung stand er, und dennoch fühlte er sich, als gähnte direkt vor ihm nur Leere. Die Sterne waren seine Zeugen; fremde Sterne, die Bilder formten, denen er nie Namen gegeben hatte. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Nadine war ihm gefolgt, stand vor der Falltür, die durch den Turm führte. Ihr Kleid verschmolz mit der Nacht, zeichnete dunkle, goldene Linien hinein, aber sie hatte sich eine weiße Decke um die Schultern gelegt, die im Wind flatterte. Schweigend sah sie ihn an. „Würdest du mich aufhalten?“, fragte Ken. Der Wind trug seine Worte davon, kaum dass sie über seine Lippen kamen. „Du wirst nicht springen.“ Ihre Stimme klang fest, und ihr Blick war gefasster als heute Morgen. Sie war nun wieder eine Königin. Sie hatte weit mehr Königliches an sich als er. Seine Stimme zitterte. „Und wenn ich es doch tue? Es ist vielleicht am besten so.“ Nadine streckte den Arm aus und ihr schlanker, bleicher Finger zeigte in Richtung des Westturms. „Dein Airdramon wacht über den Wehrgang. Selbst wenn du springst, wird es dich auffangen. Und mein Ookuwamon ist auch nicht weit weg.“ Ken schnaubte und blickte erneut in die Tiefe. Unter all den Erkern und dem Mauerwerk krochen die Felsen ineinander, bis sie ein kantiges Gewirr bildeten. „Ich darf also nicht mal selbst sterben.“ Er ballte die Fäuste. „Wormmon darf ich opfern, sooft ich will, aber ich selbst muss immer weiter leben.“ Sie trat an seine Seite und tastete nach seiner Hand. „Dir gehört die Stadt des Ewigen Anfangs“, erinnerte sie ihn. „Es wird wiederkehren.“ „Darum geht es nicht!“ Er fühlte hilflosen Zorn in sich. Nicht schon wieder Tränen, bitte. „Verstehst du es nicht? Es ist schon einmal wegen mir gestorben! Immer wieder muss es sich opfern, damit ich leben kann, es stirbt freiwillig, damit ich meine Fehler ausbügeln kann! Ich bin derjenige, der es getötet hat, und ich werde es wieder und wieder tun, und Wormmon wird höchstens sagen, dass es gut ist, so, wie es kommt! Es verdient einen besseren Partner als mich.“ Wieder klang er weinerlich. Nadine wich seinem Blick aus und kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich kann wahrscheinlich nur erahnen, wie du dich fühlst“, sagte sie langsam. „Elecmon und ich, uns ist nie … Ich glaube, Wormmon wäre traurig, wenn du es nicht abholen würdest, wenn es wieder schlüpft. Du hast vom Sterben geredet – wärst du bereit zu sterben, um es zu beschützen?“ „Ich kann nicht sterben“, sagte er tonlos. „Du hast es selbst gesagt.“ „Dann tu etwas Besseres. Beschütze Wormmon und all die anderen Digimon, indem du dieses verdammte Spiel zu Ende spielst! Ich helf dir dabei.“ Sie hielt ihm die Hand hin. Er sah sie an, aber er ergriff sie nicht. Stattdessen drehte er sich von der Brüstung weg. „Nein. Es ist vorbei, es muss endlich aufhören. Es ist nicht nur Wormmon“, murmelte er. „Ich hatte auch einen Bruder. Er ist auch gestorben. Und ich war der, der sich das gewünscht hat. Es ist wie ein Fluch. Jeder, der mir zu nahe kommt, wird von mir getötet.“ Er schnaubte bitter. „Was für ein furchteinflößender Kaiser ich doch bin!“ Damit ging er auf die Falltür und die Treppe zu. „Ich hätte vor allem nicht gedacht, dass du so ein feiger Kaiser bist!“, rief sie ihm wütend hinterher.   Diesmal ließ sie ihn allein, aber er konnte nicht mehr schlafen. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Als Wormmon das letzte Mal gestorben war, war alles auseinander gebrochen. Er hatte nicht mehr gewusst, wer oder was er war, hatte sich tagelang eingeschlossen. Vielleicht brauchte er diese Zeit. Auf jeden Fall musste er seine Gedanken ordnen, und vielleicht war es gut, dass er so gründlich am Abgrund seiner selbst stand. Hätte ihn Wormmons Tod kalt gelassen … Er wollte diesen Gedankengang nicht fortführen. Ein feiger Kaiser … Vielleicht stimmte es. Nein, vielleicht hatte es früher gestimmt. Er hatte sein Bestes gegeben. Weiter als bis zu diesem Punkt konnte er unmöglich gehen. Sollte er mit Deemon Kontakt aufnehmen? Ihm sagen, dass es gewonnen hätte? Dann wäre er erst recht der Bösewicht in diesem Spiel. Seine Gedanken schweiften zu seinem Erzfeind. Er war leichtsinnig gewesen. Er hatte Deemon aus seinen Gedanken verbannt, aber nun konnte er dessen Züge noch weniger verstehen als zuvor. Vielleicht hätte es ihm einen Tipp gegeben, einen Hinweis auf den Hinterhalt, wenn er nur mit ihm geredet hätte; schließlich wollte es seinen Tod nicht … Vielleicht wäre Wormmon dann noch am Leben. Wütend auf sich selbst vergrub er seinen Kopf in seinem Kissen. Es duftete nach Nadines Haar, fiel ihm auf. Nadine. Vor Jahren hatte er sie beschworen, nicht denselben Fehler wie er zu machen, und sie hatte ihn verspottet. Nun hatte er seinen eigenen Fehler wiederholt, und sie bot ihm die Hand dar, um ihm zu helfen. Was für ein Idiot ich doch bin. Was für ein fürchterlicher, dummer, feiger Idiot.   Er fand sie im Speisesaal. Die Bodenfliesen leuchteten weiß; Mondstrahlen webten ein helles Muster zwischen den zahlreichen hohen Fenstern. Dort saß sie, allein bis auf ihre Floramon-Zofe, schaukelte mit dem Stuhl und hielt einen Kelch Wein in der Hand. Sie sah nicht auf, als er zaghaft eintrat, sondern betrachtete ihr Spiegelbild in dem Silber des Kelchs. „Ich habe keine Geschwister“, sagte sie, ehe Ken das Wort ergreifen konnte, und ihre Stimme klang verloren in der hohen Halle. „Und Elecmon war an meiner Seite, wann immer ich es wollte. Vielleicht habe ich nicht die … die Qualifikationen, auf dich einzureden. Ich fühle, dass dir das Herz wehtut, aber ich habe nicht das Recht, dir zu sagen, was du tun sollst. Es war gemein. Es tut mir leid. Dich noch mehr zu verletzen, das …“ „Ist schon gut.“ Ken lächelte schwach. Sie hat sich Vorwürfe gemacht. „Ich habe mich kindisch benommen. Wormmon wird zu mir zurückkehren, und ich muss nur abwarten. Es hasst den Krieg, aber vielleicht kann ich ihm eine friedliche Welt bieten, wenn es so weit ist.“ Nadine sah ihn überrascht an. Dann lächelte auch sie. „Das überrascht mich jetzt aber.“ „Deemon lacht sich sicher ins Fäustchen. Es hat Willis und die anderen umgekrempelt und glaubt, mich damit besiegt zu haben.“ Ken setzte sich auf den Stuhl neben ihr. Floramon brachte einen zweiten Kelch und schenkte aus einer Karaffe ein. Der Wein war dunkelrot, schwer und süß. „Aber es hat gar nichts geschafft.“ Ken nickte. „Nicht, wenn ich jetzt noch entschlossener vorgehe.“ „Das arme, dumme, böse Digimon.“ Nadine lächelte und prostete ihm zu. „Es wird nie verstehen, was wahre Verbundenheit bedeutet. Wie kann es da erwarten, uns mit solchen Psychospielen aufzuhalten?“ Er stieß mit ihr an. „Wäre Deemon nicht, hätte Wormmon nicht sterben müssen.“ „Du müsstest dir keine solchen Vorwürfe machen.“ Nun klang sie wieder mitleidig. „Die DigiWelt wäre friedlich. Niemand von uns müsste Herrscher spielen.“ „Das wäre doch ein guter Stoff für ein Märchen“, sinnierte Nadine. „Ein Gaukler spricht bei einem Kaiser und einer Königin vor. Er sagt, er hätte ein obercooles Spiel für sie, und will sie einladen, mitzumachen. Aber die Spielfiguren sind lebendig, und sie werden im Laufe des Spiels verletzt und getötet. Wie, meinst du, soll das Ende sein?“ „Der Kaiser und die Königin bestrafen den Gaukler, weil er so vermessen war“, sagte Ken grimmig. Nadine lächelte. Im Mondlicht leuchteten ihre Zähne. Ihr Atem roch süß nach dem Wein, ihr Parfüm nach frischen Orangen. „Dieses Ende würde mir gefallen.“ Sie stießen erneut an. Ken fühlte immer noch einen dumpfen Schmerz in der Brust, ein Loch, eine ziehende Leere, aber er fühlte sich auch leichter, gelöster. Ihr Lächeln zu sehen gab ihm Halt in der Leere. Und Wormmon würde wiederkehren. Bis dahin wäre Deemon Geschichte. Er hatte wieder einen Ansporn. „Auf Deemons Untergang also“, sagte Nadine, nachdem sie sich dabei erwischten, wie sie einander verhältnismäßig lange angesehen hatten. „Darauf, dass ohne dieses Biest alles wieder gut wird.“ Sie leerten die Kelche und schwiegen danach, sahen ins Leere. „Weißt du“, sagte Nadine irgendwann, „etwas Gutes hat dieses Biest immerhin geschafft. Wir beide haben uns wiedergesehen. Das rückgängig zu machen wäre schade, meinst du nicht?“ Ken studierte lange ihr Gesicht. Im Mondlicht, mit leicht geröteten Wangen und halb geöffneten Lippen und ihren dunklen Augen, die wie Onyxe funkelten, kam es ihm wunderschön vor. „Ja“, murmelte er. Ohne es zu merken, waren sie einander näher gekommen. Er schluckte und zwang sich, den Blick abzuwenden. „Ja, das wäre es.“   Tag 55   Am nächsten Morgen, nach einem ergiebigen Frühstück, reparierte Ken seinen Connector. Er funkte seine Festung an und erfuhr, dass ein paar übriggebliebene Eherne Wölfe versucht hatten, sich in sein Hoheitsgebiet zu schleichen, um Matt zu befreien. Er verdoppelte die Wachen und fragte als Nächstes nach Ogremon, aber sein erster Ritter hatte sich noch nicht zurückgemeldet. Nach einem Lagebericht von Zephyrmon – sein Heer war bis zum Kolosseum vorgestoßen, wo sich Baronmon mit schwerem Geschütz, unter anderem dem Deckerdramon, verschanzt hatte, aber laut seinem General würde das große Amphitheater binnen Tagen fallen – beschäftigte er sich mit der Frage, wie er in Willis‘ Hinterhalt hatte geraten können. Er überprüfte die Befehlskette, versuchte, den Fehler darin zu finden. Aus Willis‘ Worten entnahm Ken, dass es gar kein Ebemon gab. Dennoch hatten seine Überwachungssysteme eindeutig eines gesichtet, außerdem noch Davis und ein DigiArmorEi. Mittlerweile hätten sie im Herz von Nadines Reich sein müssen, aber niemand war aufgetaucht. Hatten sie sich zurückgezogen? Von einem erneuten Störsignal war nichts zu bemerken, aber keine Kamera hatte etwas aufgezeichnet. Sie hätten sich in Luft auflösen müssen – wenn sie überhaupt je da gewesen waren. Die Hagurumon schickten ihm Logfiles des Befehls, Schwarzringtruppen von der Front abzuziehen, um sie gegen das Ebemon ins Feld zu schicken. Zephyrmon verneinte jedoch, solche Befehle erhalten zu haben, noch habe es Digimon von der Belagerung abgezogen. Dazwischen war also eine Lücke – auch seine letzten Formationsbefehle waren gesendet und anscheinend akzeptiert worden, dennoch hatten seine Digimon auf ihn gefeuert. Diese waren ebenfalls verschwunden. Vielleicht hatte Willis sie ausgelöscht, aber falls nicht … Er erinnerte sich an das versuchte Attentat in seiner Festung. Auch da hatte der Computer Schwarzring-Digimon angezeigt, die gar keine gewesen waren. Nach reichlichem Hirnzermatern kam er zu dem einen Schluss. Man hatte sich in sein System gehackt, Signale abgefangen und manipuliert. Jemand hatte all seine Befehle gelesen und den falschen Schwarzring-Digimon genau gesagt, wie sie sich zu verhalten hatten, um keinen Verdacht zu erwecken, bis zur letzten Minute. Man hatte Ebemons und Davis‘ Auftauchen simuliert, um Ken hervorzulocken, und Willis‘ Präsenz verschleiert. Computersysteme zu hacken roch stark nach Izzy … und das Banner der Wissens-Armee zeigte nicht umsonst sein Wappen. Aber damals, als er das letzte Mal der DigimonKaiser geworden war, hatte der Rotschopf nichts ausrichten können. Vielleicht hatte er nun bessere Ressourcen, oder Ken war damals einfach zu intelligent gewesen. Er seufzte. Neunundneunzig Prozent seiner Aktionen liefen über einen Computer oder über die Schwarzen Türme. Es würde schrecklich langwierig sein, jeden Befehl altmodisch von Boten überbringen zu lassen, aber es war der einzige sichere Weg. Nun hatte er einen Grund, sich der Wissens-Armee so schnell wie möglich anzunehmen. Er ordnete eine Erneuerung des Verschlüsselungssystems an, ohne sich viel davon zu erhoffen. Danach sammelte er Informationen über den Dokumentarfilm, den der Hacker statt Kens eigentlichem Propagandavideo im Reich ausgestrahlt hatte. Wie Willis behauptet hatte, wurden seine sämtlichen Taten als Tyrannei und er selbst als grausamer, machtgieriger Herrscher dargestellt. Ken ließ alle Propagandaübertragungen abbrechen und schickte einfache Boten in jede größere Stadt, um die Kunde zu verbreiten, dass das Video ein Versuch seiner Feinde wäre, ihm zu schaden. Er griff auch wieder auf die altbewährte Methode zurück, Monitormon zu beschäftigen. Den Film mit ihm und Nadine hatte er ursprünglich über offizielle Bildschirme gesendet, was sich als Fehler erwiesen hatte. Die kleinen Monitormon erreichten zwar weniger Digimon, aber sie waren ihm wenigstens treu ergeben. Als er Nadine im Thronsaal besuchte, wo sie eben Hof hielt, schickte sie die letzten Bittsteller weg. Ken reichte ihr ein Formular. „Ich brauche Auskunft über deine Truppen. Die Anzahl, wo sie stehen, und welche abmarschbereit sind.“ Nadine studierte das Formular, auf dem er sich die Daten erwartete, stirnrunzelnd. „Du bist ja heute voller Energie“, stellte sie fest. Er lächelte schwach. „Ich habe auch keine Zeit zu verlieren.“ Bis sie eine geeignete Erhebung durchgeführt hatte, ließ er ihre Digimon Botengänge erledigen. Er musste unbedingt wissen, wie es im Norden stand, und wollte am liebsten Spadamon darauf ansetzen. Tai war irgendwo dort oben, und er würde sich nicht allzu lang mit Soras halbherziger Armee aufhalten. Und er selbst brauchte hier unten auf der Felsenklaue wieder Truppen, ehe Nadines zu sehr ausgedünnt wären. Dann war da noch die Sache mit Mimi und Yolei. Willis hatte gesagt, sie wären seinen Häschern entkommen. Das war übel. Er musste auch Fürst Musyamon deswegen benachrichtigen. Ja, es gab viel zu tun. Er konnte sich nicht länger mit Trauer aufhalten. Wenn Wormmon wiederkehrte, würde die Welt eine andere sein. Das schwor er sich. Und wenn je jemand ein Lied über ihn schreiben würde, so sollte er davon singen, wie nahe der DigimonKaiser dem Ende gewesen war, und wie glorreich er wieder ins Leben zurückgefunden hatte.   Follow these rules and this world will be free You still believe this, still holding your key Say what you want, I believe it’s nothing new No tears to shed, it’s just a game between us two (Celesty – Dark Emotions) Kapitel 25: Kopfüber in den Hexenkessel --------------------------------------- Tag 59   Es hätte etwas Romantisches haben können, wäre die Sache nicht so ernst gewesen. Die Truppe, die sich auf den Weg gemacht hatte, um Daimyo Karatenmon zu befreien, war klein, um keine Aufmerksamkeit zu erregen: Nur Yolei, Halsemon, Kabukimon und drei Ninjamon, die einst der Pagodenwache angehört hatten, duckten sich nun auf dem Feld vor Little Edo. Die Stadt lag von warmen, gelben Lichtern beleuchtet da, fast wirkte es festlich. Der Schwarze Turm war gegen den sternenlosen Nachthimmel gar nicht zu sehen. Doch nichts konnte darüber hinwegtäuschen, wie fest der DigimonKaiser Little Edo in seiner Gewalt hatte. Ein Bambuswall war rings um die Stadt errichtet worden. Alle Straßen, die hinein oder heraus führten, waren gut bewacht, meistens von Kotemon, die zwar recht schwach waren, aber jederzeit Alarm schlagen konnten. Das Funkgerät an Yoleis Ohr knackte leise vor sich hin, wie Holz in einem Kamin. Michael hatte es ihr gegeben, damit er ihr Anweisungen geben konnte. Über ein kleines Mikrofon daneben konnte er hören, was um Yolei herum geschah. Mimi hatte die Nachricht von Kabukimons Plan mit gemischten Gefühlen aufgefasst. Einerseits wollte sie nichts lieber, als ihr Exil in absehbarer Zeit zu beenden, von daher verstand sie die Dringlichkeit der Aufgabe. Andererseits wollte sie Karatenmon, das sie beinahe erschlagen hätte, nie wiedersehen. Es hatte einiges an Zuspruch von Seiten des Wissens-Ritters gebraucht, damit sie der Mission ihren Segen gab. „Du bist dran“, flüsterte Kabukimon ihr zu. „Die Straßen können wir nicht benutzen. Gibt es noch einen anderen Weg in die Stadt?“ Yolei nickte. „Es gibt einen, aber der müffelt ziemlich.“ „Das spielt keine Rolle. Wo?“ „Die Stadt hat ein recht gutes Abwassersystem. Ein paar hundert Meter von hier führt ein Rohr in den Fluss. Es ist groß genug, um aufrecht darin zu stehen, aber wie gesagt, es stinkt ziemlich.“ „An so eine Möglichkeit habe ich auch schon gedacht“, sagte Kabukimon. „Weißt du auch, wo wir wieder an die Oberfläche kommen können, ohne dass man uns entdeckt?“ Yolei überlegte scharf. „Ich kennen einen Gully in einem unscheinbaren Hinterhof. Dort verirrt sich sicher kein Kotemon hin. Wenn ich mich anstrenge, kann ich vielleicht den Weg durch die Kanalisation finden.“ „Dann streng dich an.“ Kabukimon nickte den Ninjamon zu. „Gehen wir.“ „Moment mal“, sagte Yolei plötzlich anklagend zu den dreien. „Ihr seid doch auch aus der Stadt. Warum bin ich es, die sich den Kopf über einen Schleichweg zerbrechen muss?“ Zwei der Ninjamon wandten sich ab, nur Yoleis besonderer Freund antwortete. „Das fragst du noch? Wir sind ehrbare Wachen. Glaubst du, wir kennen die Schlupfwinkel der Kriminellen – geschweige denn das Abwassersystem?“ Auf dem Weg zum Fluss blies Yolei beleidigt die Backen auf. „Spielen sich auf wie saubere Helden. Ehrbar, sagen sie, so ein Blödsinn. Sie haben sich betrunken, sobald niemand hingeschaut hat, und waren eher frech als sonstwas“, murrte sie. „Hab Nachsicht mit ihnen, Yolei“, sagte Halsemon, das hinter ihr ging. „Wir können uns unsere Verbündeten nicht aussuchen.“ „Genau das nervt mich ja.“ Das Abwasserrohr war tatsächlich nicht schwer zu finden, allerdings wurde es von einem Gitter versperrt. „Oh“, sagte Yolei. „Das ist neu.“ „Kein Problem“, sagte Kabukimon. Es packte die Gitterstäbe mit seinen Blütenhänden, kurz flammte Licht auf – und plötzlich war das Eisen geschmolzen. Es machte weiter, bis es einen Teil des Gitters in Händen hielt, das es vorsichtig am Flussufer ablegte. Yolei stieß einen Pfiff aus. „Nicht übel.“ „Nun gehst du voran.“ Die Ninjamon zündeten zwei Fackeln an, und sie machten sich auf in die Eingeweide der Stadt. Der Gestank war nicht so übel, wie Yolei befürchtet hatte, dafür mussten sie durch kniehohes Wasser waten, das langsam, wie Schlick, durch das Rohr quoll. Der große Tunnel teilte sich bald in einige kleinere auf, und Yolei musste jedes Mal angestrengt nachdenken, in welche Richtung sie die Gruppe führen sollte. „Ich kann euch den Weg ansagen, wenn du mir sagst, auf welchen Koordinaten dieser Hinterhof liegt“, meldete sich plötzlich Michaels Stimme in ihrem Ohr. Yolei wusste, dass er in seinem Zimmer über Digitamamons Restaurant vor einem Laptop saß und eine Karte von Little Edo betrachtete, auf der Yoleis Headset sicher ein blinkender Punkt war. „Nett von dir“, sagte sie, „aber ich habe keine Ahnung, was das für Koordinaten sind. Du kannst nicht zufällig auch feindliche Digimon auf deinem Bildschirm sehen?“ „Schön wär’s, wenn ich die anzeigen lassen könnte“, schnaubte Michael. Sie verliefen sich zweimal, dann blieb Yolei unter einem Gullydeckel stehen, von dem sie sich ziemlich sicher war, dass es der richtige war. Sie nickte Halsemon zu, das nach oben flog, den Gully mit der Schnauze fortschob und kurz Ausschau nach Feinden hielt. Dann kehrte es zurück, um alle fünf nacheinander hochzufliegen. Yolei hatte sich nicht geirrt. Es war der Hof aus ihrer Erinnerung, zwischen zwei verfallenen Häusern, deren morsche Holzlatten und Reste von Gebälk leise im Wind knarzten. Der Hof war auch nicht erleuchtet. Von der nahen Straße drangen Stimmen an ihr Ohr. Sie drückten sich an jene Hauswand, die am besten erhalten geblieben war. Yolei wagte nicht einmal zu atmen, obwohl es unwahrscheinlich war, dass jemand herkam. Das Gespräch verstummte. Hoffentlich waren die Digimon weitergegangen. Vorsichtig schob Yolei den Kopf um die Ecke, Kabukimon seinen eigenen über ihr. „Ist das eine Sackgasse?“, fragte es beunruhigt. „Ja“, flüsterte Yolei zurück. „Aber wenn wir dort hinaus auf die Straße schleichen, haben wir gegenüber eine andere Gasse, auch recht schmal und unwichtig, aber sie bringt uns näher an die Pagode.“ „Ich hoffe, du weißt, was du tust.“ „Wir sehen uns das mal an“, verkündeten die Ninjamon, huschten auf die Häuserdächer in der Gasse und spähten auf die Straße hinab, wobei sie sich gegen die Schindeldächer drückten wie große Warzen. Eine Weile regten sie sich nicht; offenbar ging jemand die Straße entlang. Dann, nach einer schieren Ewigkeit, gaben sie alle drei ein Handzeichen, und Yolei, Kabukimon und Halsemon huschten los. Die Straße war nicht breit, aber Yolei kam trotzdem jeder Schritt wie eine Ewigkeit vor. Am Ende, weit, weit weg, lag die Pagode, hell erleuchtet und groß und mächtig. Davor sah man die Silhouette eines patrouillierenden Kotemons, das auf die Pagode zuschritt. Wenn sie einen Laut verursachten, wenn es sich umdrehte, es konnte sie gar nicht übersehen … Sie erreichten die nächste Gasse und Yolei seufzte erleichtert auf. In wenigen Sekunden waren die Ninjamon bei ihnen, und ihr Weg führte sie nun durch ein wahres Gewirr aus Gassen und Gässchen, vorbei an unterschiedlich großen Häusern, in denen brave – oder versklavte – Digimon schliefen. Im Zickzack liefen sie über festgetrampelte Erde. Yolei mühte sich ab, näher an die Pagode ranzukommen, aber nur weil sie sich gut in der Stadt auskannte, war ihr auch nicht jeder Fleck wie ihre Westentasche vertraut. Schließlich kämpften sie sich durch einen Vorhang aus Efeu neben einer Hauswand und standen vor dem großen Platz vor der Pagode. Groß und dunkel ragte der Schwarze Turm daraus hervor, ein Monolith auf einer Pflastersteinwüste. Hier war es gewesen, hier war der Hochzeitspavillon gestanden … Auf der anderen Seite sah man die Pagode mit ihren zahlreichen Erkern, Balkonen und Fenstern, und Yolei wusste einfach, dass dort überall Wachen standen. Über den Platz zu laufen, kam nicht in Frage. „Hier kommen wir ins Spiel“, sagte das eine Ninjamon. „Es gibt hier ganz in der Nähe eine Fliegenzucht, im Keller eines Lagerhauses.“ „Eine Fliegenzucht?“ Yolei rümpfte die Nase. Das hatte sie nicht gewusst. Warum züchteten die Gekomon Fliegen? Im nächsten Moment kannte sie die Antwort. Um sie zu essen, natürlich. „Es sind wertvolle Fliegen“, bekräftigte ein anderes Ninjamon. „Die edelste Rasse im Shogunat. ShogunGekomon ließ sie immer für besondere Anlässe in die Pagode bringen, nach unten, wo es kühl und finster ist. Lebend natürlich. Wenn sie die Fliegen in ihren großen Körben transportieren, sind sie auf engem Raum eingesperrt, und je länger das dauert, desto schlechter schmecken sie hinterher, weil sie gestresst sind. Hab ich gehört“, fügte es hinzu, als es Yoleis skeptischen Blick bemerkte. „Jedenfalls sollen sie deswegen so kurz wie möglich transportiert werden, und am schnellsten kommen sie vom Keller des Lagerhauses in den Keller der Pagode …“ „… indem sie einen unterirdischen Tunnel benutzen“, schlussfolgerte Kabukimon. „Wir haben also einen Tunnel hinein? Das ist perfekt. Irgendwo dort unten müssen sie Karatenmon eingesperrt haben.“ „Worauf warten wir dann noch?“, fragte Yolei euphorisch. Vielleicht auch ein klein wenig zu laut. Sie brachen die Tür des Lagerhauses geräuschlos genug auf, um die Gekomon-Arbeiter, die in einer kleinen Kammer schnarchten, nicht zu wecken. Auf leisen Sohlen schlichen sie in den Keller hinunter. Als sie den feuchten Raum erreichten, begann es hinter mehreren, fast luftdichten Türen laut zu summen, aber Yolei wollte gar nicht nachsehen, welche schwarzen Wolken dort drin herumschwärmten. Vor ihnen lag der unterirdische Gang, nur von einer Tür verschlossen, die die Ninjamon gekonnt knackten. Dann ging es weiter, schnurgerade und sicher vier Meter unter dem Pagodenvorplatz. „Michael, kannst du uns noch hören?“, fragte Yolei leise. Vor Anspannung vergaß sie auf die üblichen Höflichkeitsformen. „Ja. Es rauscht ziemlich, aber das Headset ist die neueste Technik der Konföderation. Nicht mal Willis hat so eines.“ „Leise“, beschwor sie Kabukimon. Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Die Tür, die in den Keller der Pagode führte, war aus dickem Eisen. Wieder stocherten die Ninjamon im Schloss herum, diesmal jedoch ohne Erfolg. „Wir könnten uns außenrum graben“, schlug Yolei vor. „Das dauert zu lange“, bestimmte Kabukimon. „Kann dein Digimon die Tür nicht einfach zerstören?“ „Dann werden sie uns aber entdecken“, meinte Halsemon. „Wir haben es fast geschafft. Wenn wir nur da durchkommen, finden wir Karatenmons Zelle sicher im Handumdrehen. Es muss einfach schnell gehen – und wir können es auch immer noch auf einen Kampf ankommen lassen.“ Also gingen sie hinter Halsemon in Deckung, das aus Mund und Augen Laser schickte, die die Eisentür mit einem gewaltigen Knall bersten ließen. „Schnell jetzt.“ Kabukimon lief los, die anderen folgten ihm. Sie rannten geradewegs ein Kotemon über den Haufen, das nichts mehr sah außer ein Ninjamon-Schwert. Dieser Teil des Kellers war in Stein gehauen, Holzwände teilten die verschiedenen Räume ab. Wäre es doch nur Papier, dann hätten sie Karatenmon in Windeseile gefunden. Fackeln erleuchteten den Weg rund um einige Kammern, die sie nacheinander aufstießen. Auch Yolei half mit, und Halsemon hielt die Digimon in Schach, die plötzlich mit lautem Gepolter und Rufen eine nahe Treppe heruntergeströmt kamen. Nun waren sie also endgültig entdeckt. Überall in dem Keller schien es plötzlich vor Feinden zu wuseln, sie kamen sogar aus den Kammern, deren Türen sie aufstießen, selbst! Binnen Sekunden wurde das Gewölbe ein Schlachtfeld. „Hier!“, rief Kabukimon und wurde fast vom Todesschrei eines Ninjamon übertönt, als zwei hundeartige Dobermon es in Stücke rissen. Auch Yolei schrie, als sie, die Hand fest um den Griff ihres Degens geschlossen, über den unebenen, gelblichen Steinboden rannte, sich unter Schwarzring-Mushroomon duckte und versklavte Otamamon aus dem Weg trat. In dem Getümmel und dem dämmrigen Licht konnte sie kaum sagen, welches der Digimon ein Feind war und welches nur einen Schwarzen Ring trug, und so bemühte sie sich, möglichst niemanden zu verletzen. Als sie bei Kabukimon ankam, deutete dieses auf eine besonders schwere Tür. Wenn es in diesem Keller eine Kerkerzelle gab, dann hier! „Halsemon, wir brauchen dich!“, schrie Yolei, doch ihr Digimon war zu weit entfernt. Schon rückten Kotemon, Gekomon, Otamamon, Mushroomon und Dobermon heran. Kabukimon ließ von seiner Kopfblüte blattförmige Klingen aufwirbeln und schleuderte sie den Feinden entgegen. Ein weiteres Ninjamon ging in der Flut aus Leibern unter. Kurz darauf sah man nur noch seine Datenreste aufstieben. Im nächsten Moment pflügten zwei Laserstrahlen durch die Menge, schleuderten Digimon zur Seite oder pulverisierten die schwächeren unter ihnen. Auch Schwarze Ringe sah Yolei zersplittern. Die Strahlen schlugen in der Tür ein und sprengten das Schloss auf, wie schon bei der vorherigen. Rauch und scharfer Gestank wallten auf. Halsemon flog über die Köpfe der Digimon hinweg und entging nur knapp den zuschnappenden Kiefern der Dobermon. Das letzte der drei Ninjamon landete mit einem Salto vor Yolei und Kabukimon. „Los, ihr drei, befreit Karatenmon. Ich halte die hier auf.“ „Was?“ Yolei machte große Augen. „Auf keinen Fall! Das sind viel zu viele!“ „Heh. Zerbrich dir mal nicht meinen Kopf.“ Ninjamon sah sie aus den Augenwinkeln an. „Damit wären wir dann wohl Quitt.“ Und es stürzte sich mit gebleckter Klinge in den Kampf. Yolei stieß einen Schrei aus, als die Digimon sich auf es stürzten. „Du Vollidiot!“, brüllte sie. „Halsemon, du musst ihm helfen!“ Sie wollte schon selbst loslaufen, doch Kabukimon legte ihr die Blütenhand auf seine Schulter. „Es ist zu spät. Komm, schnell!“ Unsanft zerrte es sie in die Kerkerzelle hinein, wo sich der Staubvorhang langsam legte. Halsemon schoss noch einige Energiestrahlen in die Menge, doch wo Ninjamon war, konnte man nicht mehr sehen. Es kämpfte noch, denn noch waren die Digimon abgelenkt. „So ein dämliches Digimon!“, zeterte Yolei. „Als ob ich es je dazu aufgefordert hätte, sich zu opfern!“ „Das hat es nicht für dich getan“, knurrte Kabukimon, „sondern für unsere Sache. Bilde dir nichts darauf ein. Wir alle sind ersetzbar. Nur der Daimyo und die Prinzessin nicht.“ Plötzlich packte es das Headset und riss es von Yoleis Ohr. Ehe sie protestieren konnte, schleuderte es das Gerät gegen die Wand, wo es zerschellte. „Was soll da…“ Yoleis Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie sich im Inneren der Zelle umsah. Der Raum war völlig kahl, vier mal vier Meter groß, und eine einzige, nackte elektrische Glühbirne spendete oben an der Decke Licht. Und das einzige andere Digimon hier drin war tatsächlich einer der Fürsten, die dem neuen Shogunpaar auf der Hochzeit ihre Aufwartung gemacht hatten. Nur war es nicht Karatenmon. „Seid gegrüßt“, sagte Musyamon heiser, mit einem teuflischen Lächeln. „Du!“, spie Yolei ihm entgegen. „Was hast du mit Karatenmon gemacht?“ Sie richtete ihren Degen auf das verräterische Digimon. Musyamon betrachtete die schlanke Nadel geringschätzig. „Du forderst mich heraus? Bist du dir sicher?“ Es zog sein Schwert, eine riesige, krumme Klinge. Hinter ihm strömte durch eine offene Tür seine Kotemon-Leibgarde. Der Lärm draußen war verstummt, als würden all die Digimon nun abwarten. „Yolei, pass auf“, warnte sie Halsemon. „Wo ist Karatenmon?“, fragte Yolei, ohne auf es zu hören. „Tot. Schon seit der Hochzeit, meine Liebe“, sagte Musyamon. „Hat euch etwa jemand etwas anderes gezwitschert?“ „Du hast doch gesagt …“ Yolei drehte sich zu Kabukimon um. „Es gab Gerüchte und recht zuverlässige Spionageberichte aus Little Edo“, sagte es grimmig. „Es gab falsche Gerüchte und leere Worte, die meine Diener in die Hallen der Pagode geplappert haben“, erwiderte Musyamon. „Ihr seid bereitwillig in meine Falle getappt. Solche Feinde lobe ich mir. Dachtet ihr, meinen Wachen und Monitormon würde es nicht auffallen, wenn ihr euch in meine Stadt schleicht?“ „Und denkst du nicht, wir könnten all das wissen und trotzdem hier sein?“, versetzte Kabukimon. Musyamon verstummte für einen Moment, während selbst Yolei dem Digimon einen überraschten Blick zuwarf. Es hatte gewusst, dass Karatenmon tot war? „Erklär mir das, ehe ich dich töten lasse“, verlangte der Usurpator. „Kein Bedarf. Hauptsache, wir waren hier. Entschuldige uns jetzt.“ Kabukimon holte etwas aus den Falten seiner Kleidung hervor. Yolei erkannte eine der Rauchgranaten, die die Ninjamon benutzten. Offenbar hatte es sich eine geliehen. Es schleuderte sie zwischen sich und Musyamon und hüllte die kleine Zelle damit in dichten, grauen Rauch. „Schnappt sie euch!“, hörte Yolei Musyamon rufen, während sie selbst den Hustenreiz zu unterdrücken versuchte. „Tötet die Digimon! Bringt mir das Mädchen lebend!“ „Schnell“, sagte Kabukimon neben ihr. „Halsemon, kannst du uns beide tragen?“ „Wird schon schief gehen.“ Yolei konnte absolut nichts sehen, aber sie schaffte es, sich auf Halsemons Rücken zu setzen. Kabukimon setzte sich hinter sie, dann stieß sich ihr Partner vom Boden ab, gerade als die Kotemon heranrückten. Einige von ihnen wurden von Halsemons Klingenhelm niedergemäht. Aus dem Bauch heraus schlug es eine Richtung ein, die es gefährlich nahe an Musyamon vorbeibrachte – Yolei bildete sich ein, seine hässliche Fratze durch die Rauchwand zu sehen – dann hatte es den zweiten Zugang zur Zelle erreicht, wo keine Horde von Digimon auf sie wartete. Die Rauchschwaden lichteten sich, es fand eine Treppe und setzte mit großen Sprüngen hinauf. Ein langer Gang mit einigen Wachen folgte, die es mit seinen Laserringen einfach zu Partikeln zerfetzte. Dann kam noch eine Treppe – und plötzlich waren tatsächlich Papierwände um sie herum. Ohne Rücksicht stieß Halsemon hindurch, und während Yolei noch hustete, fand es schon ein Fenster nach draußen. Die Kotemon-Wache, die davor postiert war, stürzte mit einem lauten Schrei hinaus, als Halsemon mit Yolei und Kabukimon über den Pagodenplatz flog. Attacken sausten ihnen hinterher, hörten aber auf, als sie in die Nähe des Turms kamen. Yolei fühlte sich wie betäubt. Nicht nur, weil ihr diese Szene so unheimlich bekannt vorkam. Sie fühlte sich seltsam entrückt, als stünde sie neben sich und begreife einfach nicht, was mit ihrem wirklichen Körper geschah. Die aufgehende Sonne schickte bereits den ersten Streifen Morgenlicht, als Halsemon gegenüber den weiten Feldern vor Little Edo landete und erschöpft zurückdigitierte. Yolei atmete tief die frische Luft ein. Dann erinnerte sie sich an etwas und stapfte auf Kabukimon zu, das ein wenig abseits stand und den Sonnenaufgang betrachtete. Noch ehe sie den Mund aufmachen konnte, sagte es: „Wir müssen reden.“ „Allerdings. Was treibst du hier eigentlich für ein Spiel mit uns? Du hast es gewusst? Sagtest du, du hast es gewusst?“ „Immer mit der Ruhe“, wiegelte Kabukimon ab. „Ja, ich wusste, dass wir in eine Falle liefen. Zumindest war ich mir fast sicher, dass Karatenmon nicht überlebt hat. Aber es ging nicht um Karatenmon.“ „Nein? Sondern?“ „Wir mussten dort hinein. Dein Freund von der Wissens-Armee ist Zeuge, dass wir die Zelle gefunden haben. Also haben wir auch mit Karatenmon gesprochen.“ Yolei hatte keine Ahnung, was es meinte. War sie an einen Verrückten geraten? „Karatenmon wurde unter Little Edo gefoltert. Es war dem Tode nahe, als wir es fanden. Mit seinem letzten Atemzug hat es mir aufgetragen, für die Sicherheit der Prinzessin zu sorgen und Little Edo zur Revolution zu bewegen“, erklärte Karatenmon. „Du willst dich selbst befördern?“, fragte Hawkmon. Kabukimon schnaubte. „Ich führe unsere Gruppe schon an, seit der alte Shogun tot ist. Wenn es jemand schaffen kann, dann ich, mit der Hilfe der Prinzessin – und dem Segen eines mächtigen Daimyo. Ich brauche nur eure Fürsprache, Yolei, Hawkmon. Sagt den anderen, dass meine Geschichte wahr ist. Es ist perfekt. Die Prinzessin wird euch glauben. Wenn Prinzessin Mimi auf der einen und ein Ritter der Wissens-Armee auf der anderen Seite bestätigt, dass ich im Auftrag Karatenmons handle, werden sich uns alle Digimon anschließen, die sich noch nicht mit Musyamons Herrschaft abgefunden haben. Wie sieht es aus?“ Es streckte Yolei die Blumenhand entgegen. Sie machte keine Anstalten, einzuschlagen. „Die Ninjamon sind deinetwegen gestorben“, sagte sie bitter. „Hätte es einen anderen Weg gegeben, wäre ich ihn gegangen.“ „Hättest du nicht vorher etwas sagen können?“, rief sie zornig. „Nicht, solange der Ritter mitgehört hat. Zum Glück konnte ich dein Gerät rechtzeitig kaputtschlagen.“ „Du bist auch noch stolz darauf?“ „Wir befinden uns im Krieg“, sagte es störrisch. „Wenn du willst, dass Little Edo wieder einmal so wird wie früher, dann gibt es nur diesen einen Weg. Es werden noch weitere Digimon sterben, und wir müssen uns über jeden kleinen Sieg und jede gelungene Finte freuen. Kämpfst du nun für deine Prinzessin oder nicht?“ Yolei atmete tief durch. Sollte sie? Alles in ihr sträubte sich dagegen. Andererseits hatte sie sonst weder einen Ort, an den sie hinkonnte, noch eine Idee, wie es weitergehen sollte. Sie warf einen Blick zu Hawkmon, um ihm die Entscheidung zu überlassen, doch ihr Partner warf ihr selbst nur einen ratlosen Blick zu. Also schlug sie ein.     Tag 63   Nach seiner täglichen Tracht Prügel hakte WaruMonzaemon die Krallen unter Codys Kinn ein und zog seinen Kopf in die Höhe. „Glaubst du nicht, ich weiß, was du vorhast, du kleiner Bengel?“ Sein Atem roch noch schlimmer als üblich, nach Met und Trauben und vergammeltem Fleisch. Wenigstens hatte es noch Essensvorräte; vielen in der Stadt ging es schlechter. Es kam ganz nah an sein Gesicht und der Gestank nahm noch zu. „Du willst dich aus meinen Krallen rausekeln, ja? Aber das kannst du vergessen, hörst du? Diese hochwohlgeborene Menschengöre kann noch so oft versuchen, dich mir abzukaufen, du wirst nächstes Jahr für mich in der Arena kämpfen, für gutes Gold und Ruhm!“ Es stieß ihn auf sein Strohlager zurück und verließ aufgebracht den Kellerraum. Als die Tür im Schloss landete, setzte sich Cody auf und betastete die schmerzende Stelle an seiner Schulter. Heute war es nur der Holzstock gewesen, und es hatte nicht so fest zugeschlagen, wie es gekonnt hätte. Die blutigen Striemen von letzter Woche schmerzten immer noch an seinem Rücken. Er tastete nach seinem Anhänger. Das Symbol der Zuverlässigen hatte seinen Glanz verloren. Wie lange noch, bis es vorbei ist? Lange konnte es nicht mehr dauern. Floramon, das ihm sein Essen brachte, berichtete manchmal von der Lage in der Stadt. „Man hört die Dondokomon-Trommeln noch eine halbe Meile hinter der Mauer. Es macht die Digimon wahnsinnig“, lispelte es. „Ein paar von den Soldaten sind schon beim Metallenen Regiment angeeckt. Die Fürstin hat sie einen Ausfall machen lassen, aber sie sind nicht zurückgekommen.“ Wie es auch enden mochte, sobald es vorbei war, würde die Kampfarena wieder aufsperren, und dann brauchte WaruMonzaemon ihn wieder. Es würde sich auch dem DigimonKaiser ergeben, ein Rebell war es nicht und dumm auch nicht. Nach allem, was man über ihn hörte, war er sicher ein großer Freund von Arenakämpfen. Nichts würde sich ändern, bis auf die Menschen, die in der Loge saßen. Und Chichos wäre nicht mehr da. Scorpiomon hatte keine Möglichkeit, während der Belagerung auf Schatzjagd in die Wüste zu gehen, aber danach … Ob Chichos überhaupt richtiges Essen bekam? Cody erhielt Brei und Reste abgelaufener Vorräte, für die WaruMonzaemon sich selbst zu schade war; ohne die Eisblocklieferungen aus dem Norden verdarb das Essen recht schnell. Aber er war sich nicht sicher, ob Scorpiomon überhaupt so etwas wie genießbares Essen brauchte … Nein, das war dumm. Es musste seine Sklaven ernähren, ganz so verrückt konnte es nicht sein. Und er musste Chichos helfen, hatte es ihr versprochen, und stattdessen saß er hier angekettet im Keller von WaruMonzaemons Anwesen. Sein Herr hatte keine Zeit verloren, ihn hier runter zu zerren, nachdem es von der Mauer zurückgekommen war. Und seine Peitsche saß noch nie so locker wie in letzter Zeit. Cody hätte einiges gut zu machen, sagte es. Jeden von Keikos bissigen Kommentaren würde er hundertfach auf der Haut brennen spüren. „Die Fürstin hat mit ihrer Wache die Arena bezogen“, erzählte Floramon ein anderes Mal. „Sie sind oben in den Ehrengemächern und lassen niemanden hinein. Sie hat den anderen Sklavenbesitzern ihre Arenakämpfer abgekauft, also sei froh, dass du hier sitzt.“ Floramon war ausgelaugter als früher. Es hatte nie viel für Cody und Chichos übrig gehabt, aber nun, da es die Arbeit von dreien verrichten musste, schien es sie sich zurückzuwünschen. Man hatte auch verhandelt, erzählte es ihm. Keiko und ihr Gefolge hatten sich vor der Stadt mit der Königin der Schwarzen Rose getroffen, aber es war zu keiner Einigung gekommen. Keiko schien danach sehr verärgert gewesen zu sein. An diesem Tag, als er mit knurrendem Magen im Stroh hockte, das Handgelenk wundgescheuert von der Kette, hörte er die Explosionen, weit weg, tief und grollend. Ohne Zweifel lieferten sich die beiden Seiten ein offenes Gefecht. Das Donnern dauerte bis in die Nachtstunden, als die alte Pechfackel im Keller heruntergebrannt war und nur noch das Kohlebecken schummriges Licht und Wärme von sich gab. Dann, irgendwann, sank Cody in einen seichten Schlaf. Er wurde unsanft von einem Geräusch geweckt, einem Krachen, ganz in der Nähe. Er bemerkte als Erstes den Lärm, der auf der anderen Seite der dicken Kellermauer, auf der Straße, angeschwollen war. Blinzelnd versuchte er zu verstehen, was los war. Etwas zischte, etwas rumorte, immer und immer wieder, dann hörte er Schreie, und Befehle wurden gebrüllt. Etwas explodierte ganz in der Nähe, gefolgt von einem Krachen, als würde ein Kartenhaus aus Marmor einstürzen. Unsicher setzte er sich auf. Waren die feindlichen Truppen durch die Wälle gebrochen? Als er das dachte, gab es einen Knall, Ziegel und Mörtel spritzten, als die gegenüberliegende Kellerwand barst. Geistesgegenwärtig warf Cody sich auf den Bauch. Stroh kratzte über sein Gesicht, als er Staub und Steinsplitter auf seinen wunden Rücken hageln und in den Furchen in seiner Haut brennen spürte. Etwas Großes sauste über seinen Kopf hinweg, er spürte es. Dann war es wieder still. Hustend richtete er sich auf, aber er stieß mit dem Kopf gegen etwas. Als er sich den fast den Hals verdrehte, um nach oben blicken zu können, war dort etwas Grünes, Schuppiges, das nach verbranntem Fleisch stank. Er versuchte sich unter dem Digimon hervorzuzwängen, und plötzlich glitt die Kette mit ihm. Vor dem Schreck noch schwer atmend, drückte er sich auf der anderen Seite gegen die rohe Ziegelmauer. Ein Tuskmon war durch die Wand gebrochen, nein, geschleudert worden. Der grüne Dinosaurier lag bewusstlos dort, wo er sein Strohlager gehabt hatte. Sein massiger Körper hatte die Kette brechen lassen wie einen dürren Zweig. Ein Meter davon baumelte und klirrte noch an Codys Handschelle. Flackerndes Licht drang durch das halb mit Schutt bedeckte Loch in der Mauer. Schräg oben lag die Straße. Cody schluckte. Seine Beine fühlten sich taub an, als er aufstand und darauf zutrat. Wenn er schnell war … Das Tuskmon hatte das Kohlebecken umgeworfen, kleine Flammen züngelten bereits auf dem Stroh. WaruMonzaemon würde ihn töten, wenn er zu fliehen versuchte … Er kletterte barfuß auf den Trümmerhaufen, zog sich nach oben, in die Freiheit. Masla stand in Flammen. Die Straßen waren in Rot getaucht, überall hatten sich Glutnester festgesetzt und Funken stoben wie Glühwürmchen knisternd davon auf. Die Sterne waren nicht zu sehen, so hell war es, und schwere ölige Rauchwolken bedeckten die obersten Stockwerke der Häuser. Offene Flammen gab es hier und da, auch wenn Cody nicht sagen konnte, was eigentlich genau auf den Dächern oder in den Hausecken brannte. Er hustete und stolperte auf die Straße. Rußflecken auf der Erde, Rußflecken an den Hauswänden. Digimon lagen herum, bewusstlos oder im Sterben. Direkt vor ihm zerstob ein Snimon fauchend in Daten. Zwei Allomon stampften an ihm vorüber, eines sah ihn aus feurigen Augen an und öffnete das rauchende Maul, aber ehe Cody sich auch nur verkrampfen konnte, schlug das andere seinem Kameraden mit dem Schwanz gegen die Seite, und sie trampelten knurrend weiter. Der flammende Odem des gestreiften Dinosauriers fraß schließlich ein Tankmon, das umgekippt war. Waren das Digimon des DigimonKaisers? Nahmen sie ihn als Gegner etwa nicht ernst? Cody nahm sich vor, keinen Gedanken daran zu verschwenden. Er musste zu Chichos! Als er loslief, sah er, dass in den anderen Teilen der Stadt noch heftig gekämpft wurde. Digimon starben zu Hunderten, wie er entsetzt feststellte. Die Datenfragmente, die überall in den Gassen aufstiegen, glitzerten im Flammenschein. Über den Dächern blitzte und leuchtete es, und kurz darauf hagelte es Feuerbälle. Cody suchte Deckung in einem Hauseingang, als sie flüssiges Feuer spritzend auf der Straße landeten. Kurz darauf stürzte ein fliegendes, blaues Digimon ab, das er gar nicht genau erkennen konnte, ehe es starb. Zwei Gassen weiter war die Schlacht in vollem Gange. Er duckte sich hinter ein umgestoßenes Fass. Monochromon und Rockmon aus der Stadt kämpften gegen Allomon und Kuwagamon. Feuer sprühte hin und her, weiter hinten nahmen Tankmon einen anmarschierenden Trupp Digimon ins Visier, wie Cody sie noch nie gesehen hatte; in Reih und Glied schritten sie wie eine schwarzgraue Masse die Straße entlang und schossen aus ihren Gewehren. Diesen Weg konnte er unmöglich gehen. Sein Blick glitt zu dem Haus zu seiner Linken. Einen Versuch ist es wert. Die Tür war längst aufgebrochen worden, er gelangte ohne Schwierigkeiten hinein. In einem kleinen, dunklen Wohnraum führte eine Treppe nach oben. Eine ebenfalls eingerissene Tür führte zu einer Vorratskammer, wo sich ein schwarzes Drachendigimon an verfaultem Obst gütlich tat. Cody schlich sich an ihm vorbei in den ersten Stock, dann auf das annähernd flache Dach. Hier war der Qualm dichter. Es fühlte sich an, als spränge er in graue Leere, als er auf das nächste Dach übersetzte. Hoffentlich verdeckte der Rauch den Blick auf ihn. Rechts von ihm, auf der Straße, krachte und tobte und wogte der Kampf. Links lagen trockene Seitengassen, wo sich Gazimon und Veggiemon zusammenkauerten. Ein Waspmon zischte ihnen mit metallener Stimme etwas zu und schien sie zu bewachen. In einer Gasse hatten ein Sukamon und ein RedVeggiemon ein wehrloses Revolvermon an eine Kiste gebunden und schlugen unbarmherzig auf es ein. Cody lief weiter, als er sah, dass kleine Dinodigimon mit Gewehren die Gasse stürmten. Das letzte Haus in der Reihe war eingestürzt, und Cody konnte an den Trümmern hinabklettern. Er wandte sich nach links. Dort irgendwo, in der Nähe der Mauer, musste Scorpiomons Wohnhöhle liegen! Diesmal geriet er mitten in den Kampf. Als er die Straße entlanglief, pfiffen Geschosse über ihn hinweg. Guardromon und die Gewehr-Digimon beschossen zwei Waspmon, die an ihm vorbeirauschten und mit dem Gegenangriff begannen. Ein Unimon stürmte aus einer Seitengasse und rannte ihn fast um. Ein Huf traf ihn an der Schulter und ließ ihn aufschreien stürzen. Im gleichen Moment explodierte etwas in einem der angrenzenden Häuser, und brennende Trümmer stürzten auf ihn herab, gefolgt von einem schreienden Schemen, der auf der Straße aufschlug und starb. Cody wälzte sich herum und versuchte, die Flammen zu ersticken, die auf seine Hose übergriffen. Die Wellen des Krieges wogten über ihn hinweg. Das Unimon hatte einen Reiter gefunden, der mit blitzendem Schwert auf die Angreifer zugaloppierte. Rauch vernebelte die Sicht, dann flogen Cody zerhackte Einzelteile der Maschinendigimon, die nach Öl stanken, um die Ohren. Wieder und wieder krachte es, Todesschreie überall, auch Blut, das Blut von Digimon, von dem Keiko behauptet hatte, es wäre nicht so schlimm wie das eines Menschen. Der Reiter fuhr wie der Tod persönlich unter die Digimon mit den Gewehren und schlitzte sich sein eigenes Spalier, ehe er das Unimon wendete, das einen strahlenden Schuss aus seinem Maul abgab, der die Apemon auf dem Dach der Händlergilde traf. Zwei stürzten, die restlichen fünf kletterten behände an den Mauern herunter, schlugen Türen ein und metzelten Digimon nieder, die sich unter Türstürzen, in Häusernischen oder Nebengassen verschanzt hatte, wie Cody bemerkte. Er wusste nicht länger, wer auf welcher Seite stand, aber die Digimon schienen es zu wissen. Als das Erste Metallene Regiment heranrollte, musste er sich selbst unter die Digimon mischen, die sich in eine Gasse zwängten. Tankmon rollten heran, füllten die ganze Straße aus, schossen unablässig und walzten alles nieder, was ihnen im Weg lag. Bewusstlose oder verletzte Apemon und Gazimon kamen unter ihre Fahrwerke und starben in qualvollen Schreien. Cody schmeckte Galle auf der Zunge. Ein riesiges Insektendigimon flog wie aus dem Nichts heran, pflückte ein Tankmon aus der Reihe und zermalmte es im Flug. Die anderen beschossen es, doch sie trafen höchstens die Gebäude. Der Reiter auf dem Unimon wurde abgeworfen, als das Digimon von den Granaten der Guardromon getroffen wurde. Cody sah ihn nur als rotschwarzen Schatten mit weißen Rüstungsteilen, dann raubten ihm die Tankmon die Sicht. Er stürzte aus der Gasse und rannte weiter. Die Straßen waren blutrot, viel schlimmer, als je der Sand der Arena ausgesehen hatte, und das Feuer tat ein Übriges, um Masla etwas Infernalisches zu geben. Er kam keine zehn Meter weit, da musste er sich schon wieder vor den Truppen des DigimonKaisers in Sicherheit bringen; helle Mekanorimon, auf denen Schwarze Ringe prangten. Wenigstens bei denen ließ sich feststellen, zu wem sie gehörten. Er kletterte durch eine geborstene Wand in das kühle Innere eines Schankraums, aber obwohl er sich sicher war, dass sie ihn bemerkt hatten, achteten sie gar nicht auf ihn. Etwas zerbrach hinter ihm, Ton oder Porzellan, und er fuhr erschrocken herum. Erst in der Kühle hier merkte er, wie ihm der Schweiß aus den Poren getreten war. Eine Gänsehaut zog sich schmerzhaft zwischen den Peitschenwunden auf seinem Rücken, als er versuchte, in der Dunkelheit etwas zu sehen. Etwas oder jemand knurrte. Cody schlich wider besseres Wissen näher. Tiefes, kehliges Atmen … Ein Feuerball draußen leuchtete durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden. An einem Schanktisch saß ein Digimon in goldener Plattenrüstung, das sowohl Reiter als auch Pferd zu sein schien. Unter seinem Samuraihelm waren die Augen in dem grauschwarzen Gesicht geschlossen und sein Atem stank nach Alkohol. Mehrere zerbrochene Krüge mit Pflaumenschnaps standen auf dem rohen Holztisch. Cody sah, wo der Brustpanzer des Digimons geborsten war und tiefe Steinsplitter in seinem Körper steckten. Blut tropfte in regelmäßigen Abständen zu Boden. Zanbamon. Es war ein wichtiger Gast bei den Arenakämpfen gewesen. War es in der Schlacht verwundet worden? Eigentlich hieß es, dass es ein furchterregender Kämpfer war, vielleicht der beste in der Goldenen Zone, aber anscheinend betrank es lieber seinen Schmerz, anstatt für diese Stadt zu kämpfen. Cody sah das goldene Breitschwert, das es in die Holzplatte gerammt hatte. Er schluckte. Das Schwert, das es ihm damals in der Arena zugeworfen hatte … Er hatte es nicht angenommen. Nun konnte es ihm helfen. „Wer läuft nun von Kämpfen davon?“, fragte er das besinnungslose Digimon, stieg auf die Tischplatte und zog mit aller Kraft die Klinge aus dem Holz. Die Wunden auf seinem Rücken rissen wieder auf und brannten höllisch von all dem Schmutz, der sich darin gesammelt hatte, aber das Schwert war leichter, als es aussah. Er ließ Zanbamon, wo es war. Alleine und betrunken konnte es das Blatt niemals wenden, wie auch immer es gerade um Masla stand. An den rauchenden Überresten eines der so berüchtigten Cannonbeemon vorbei ging er zu Scorpiomons Wohnhöhle, diesem unförmigen Bau aus Lehm, der tief in die Erde reichte. Von seinen Wachen war nichts zu sehen. Cody brach ein glimmendes Stück des Gerüsts ab, das auf die Mauer führte. Auf dem Wehrgang wurde nicht mehr gekämpft, die Schlacht hatte sich bereits ins Stadtinnere verlegt. Er pustete kräftig, bis eine kleine Flamme über das Holz tastete, dann hielt er es senkrecht, um es richtig in Brand zu setzen und als Fackel benutzen zu können. Damit und mit dem Schwert bewaffnet, stieg er in die sandige Dunkelheit. Vier Meter tief lag die runde Höhle, in der es außer den Schätzen, die Scorpiomon angesammelt hatte, nichts gab, nicht einmal ein Bett für seine Sklaven. Cody verwünschte dieses Digimon. Einige Plätze, an denen Steintafeln oder Artefakte oder wertloser Plunder hätten sein müssen – man sah manchmal ganz deutlich, wo ein schweres Gewicht den Erdboden niedergedrückt hatte – waren leer. Von Scorpiomon oder Chichos war auch nichts zu sehen, aber ein zweiter, hastig gegrabener Gang führte von der Höhle weg. Cody beschlich eine böse Vorahnung. Sie waren doch nicht etwa … Er begann zu laufen. Die Fackel vor sich haltend und so schnell, dass sie fast erlosch, rannte der durch den schnurgeraden, engen Gang. Er machte einen scharfen Knick nach unten, wo das Fundament der Sandsteinmauer von Masla sich hineinbohrte, und führte nach einer Rutschpartie vier Meter in die Tiefe wieder geradeaus, direkt unter dem Wall hindurch, dann stieg der Weg wieder. Er hörte Stimmen. „Wartet!“, rief er. „Scorpiomon! Tu das nicht!“ „Cody?“ „Chichos!“, schrie er – und wäre fast gegen Scorpiomon geprallt, das urplötzlich aus der Dunkelheit vor ihm auftauchte. Der Gang war so eng, dass es sich kaum umdrehen konnte. Seine stählernen Beinchen sanken nicht einmal in der weichen Erde ein. Die Klingen auf seinem Rücken schabten Erde und Sand von der runden Decke des Tunnels. Mit seinen langen Stoßzähnen tastete es nach Cody, und im Fackelschein schimmerte das rote Muster auf seiner schalenüberzogenen Stirn unheimlich. „Was willst du hier?“, fauchte es ihn an. „Hast du es auf meine Schätze abgesehen?“ „Wenn ihr da weitergrabt, kommt ihr direkt in den Belagerungsring!“, platzte es atemlos aus Cody hervor. „Sei still!“ Es versetzte ihm einen Stoß, der ihn umwarf. Die Fackel erlosch in der Erde. Sand rieselte auf ihn herab. Scorpiomons Augen funkelten im letzten Licht noch. „In Krieg wird gestohlen, im Krieg wird geraubt. Aber nicht Scorpiomons Schätze, o nein.“ Er hörte, wie es sich wieder umdrehte. „Dann lass Chichos frei! Ich helfe dir, deine Schätze hinauszubringen, aber lass sie gehen!“ Er stemmte sich auf seinem Schwert hoch. Sollte er das Digimon angreifen? Er konnte unmöglich seine Schale knacken, und wenn der Gang einstürzte … schon jetzt rieselte Sand herab, zu verzweifelt und schnell hatte Scorpiomon gegraben. „Chichos, wo bist du?“ „Ich bin hier!“ Etwas polterte und eine kleine, dürre Gestalt fiel ihm in die Arme. „Dumme Sklavin!“, schimpfte Scorpiomon. „Lass nicht meine Tafeln fallen, sie zerbrechen!“ „Dort draußen ist das Heerlager der Schwarzen Rose und des DigimonKaisers!“, versuchte Cody es noch einmal mit Vernunft. „Wenn du da rausgehst, töten sie dich, und dann kommen sie erst recht durch den Gang in deine Höhle! Deine Schätze sind noch drin, also …“ Etwas traf ihn hart gegen die Rippen und schleuderte ihn gegen die Wand, in der er halb einsank. Stimmt ja, Scorpiomon ist für seine Dickköpfigkeit berühmt. Chichos schrie auf und tastete in der Dunkelheit nach ihm, und in dem Moment durchbrach Scorpiomon die Oberfläche. Sand rieselte an ihnen vorbei und nachtblauer Himmel tauchte auf, sauber und frei von Qualm und Feuer. Scorpiomon hatte sich noch nicht ganz in die Höhe gehievt, als der Alarm losging. Trommeln und Glockengeläute, und keine zwei Sekunden später schwappte etwas wie blaues Feuer über das Digimon. Als die blendende Helligkeit verschwand, war auch Scorpiomon nicht mehr da. Dafür hörte Cody Stimmen. Er zog Chichos an sich und versuchte irgendwie, mit der Dunkelheit und dem Sand zu verschmelzen. Dann erschienen zwei kleine, leuchtende Augen in der Öffnung, begleitet von Kettenrasseln. „Was haben wir denn da?“, ertönte eine rauchige Stimme. „Menschen? Zwei sogar!“ Heiseres Lachen. Das Nächste, was Cody sah, waren weitere leuchtende Augen, die in der Nacht auftauchten, und klebrige Spinnenfäden, die über ihn und Chichos spritzten.   Siege towers emerged Protruding from the ground Standing out against the threatening sky As if to mock all valiantness (Eluveitie – The Siege) Kapitel 26: Geformt aus Erde und Blut ------------------------------------- Tag 64   In Little Edo hatten Glasscherben unter seinen Stiefeln geknirscht, wie er sich erinnerte. Hier gab es nur Sand und gestampfte Erde. Seine Digimon hatten bereits begonnen, die Straßen freizuräumen. Hätte es Leichen gegeben, hätte das wesentlich länger gedauert. Der Morgen, der über Masla angebrochen war, brachte Hitze, die sich in den Rauchschwaden sammelte, sodass ihm unerträglich heiß war. Immerhin waren sie hier schon in der Wüste. Die Kampfarena war als Letztes gefallen. Als Kens Rammböcke die Tore gesprengt hatten, hatten sich die Soldaten darin ergeben. Keiko, mit der Nadine verhandelt hatte – sie hatte es für besser gehalten, wenn sie das erledigen würde –, war nicht mehr da gewesen. Sie musste Masla bereits verlassen haben. Und Ken stand nun vor der Aufgabe, in den Trümmern der Sklavenstadt nach Cody zu suchen. Er und Nadine hatten sich in den VIP-Räumen der Arena eingerichtet und überall Wachen postiert. Die Digimon hier von sich zu überzeugen würde schwierig werden. Ein Schwarzer Turm mitten in der Arena würde vielleicht notwendig sein. Die Sklavenhändler-Digimon hatten sich in ihren Häusern verkrochen. Er würde sie bald genug herausholen lassen, aber Cody ging vor. Spadamon hatte gesagt, dass er hier sein würde, wenn er nicht im Großen Kolosseum war, und dort war er nicht. Zephyrmon hatte das Kolosseum am Vortag erobert, wie es versprochen hatte. Begleitet von einem Schwarm wachsamer Commandramon ging er durch die Straßen. Die anderen wichtigen Gebäude in der Stadt waren das große Rathaus, der Turm der Zwölf, die Gilden und die Basarhalle, deren Decke allerdings eingestürzt war. Die Zwölf waren Sepikmon, affenähnliche Digimon mit großen bemalten Masken vor dem Gesicht, die etwas wie die Weisen der Stadt darstellten, aber anscheinend nur dem Namen nach; niemand gab etwas auf ihren Rat. Ohne die Territoriallords hatte ein Jagamon hier das Sagen, das so etwas wie der Bürgermeister oder der Vertreter der Fürsten war. Es war ein feiges Digimon, ganz in einen felsigen Panzer gehüllt, mit einem Schwanz, der eine Pflanze war, und das sich eingebuddelt hatte, als Sir Taomon, der neue Kommandant von Kens Leibwache, mit seinen Soldaten die Tür zum Keller des Rathauses aufgebrochen hatte. Nun trappelte es auf allen Vieren neben Ken her und war unterwürfig. „Eine Liste aller Menschen, die hier leben, das … das ist viel Arbeit, so etwas dauert“, sagte es eben. „So etwas dauert, mein Kaiser“, berichtigte es Taomon. Es sah aus wie ein Fuchs auf zwei Beinen in Mönchskleidung, und Ken hatte es schon vor einiger Zeit zum Ritter geschlagen. Seine Fähigkeiten waren für einen Leibwächter wie geschaffen. „Ihr habt den Kaiser mit mein Kaiser oder Majestät anzureden, verstanden?“ Es sprach nie besonders laut, aber Jagamon zuckte zusammen. „Ich … ja, Eure Majestät. Wie gesagt, es gibt recht viele Menschen unter den Sklaven … denke ich. Ich habe keinen Einblick in die Geschäfte der Händler, müsst Ihr wissen. Aber ich könnte Eurer Majestät empfehlen, die Suche in der Lotusblüte zu beginnen. Wir Digimon gehen nie dorthin, aber es heißt, dort arbeiten viele Menschen.“ „Führt mich dahin.“ Kens Augen weiteten sich, als er das Etablissement am Stadtrand sah, das von den Bränden gänzlich unversehrt geblieben war. Das Dach war mit rosa gefärbten Ziegeln gedeckt, die Fensterläden hatten die gleiche Farbe. Die Tür war mit blitzenden, falschen Edelsteinen besetzt, und vor den Fenstern warteten rote Laternen darauf, entzündet zu werden. Wenn das nicht genügte, sprachen die bemalten Schilder und die Bilder auf der Fassade Bände. Die Lotusblüte war ein Bordell. „Was hat das hier zu bedeuten?“, fuhr Ken Jagamon an. „Herr … Majestät, ich … mische mich nicht in die Angelegenheiten der …“ Jagamon sprach für Kens Geschmack zu langsam. „Wir gehen hinein. Kein Wort zu der Königin hierüber“, schärfte er Taomon ein. Der Fuchsmönch nickte. „Kein Wort.“ Ken betrat die Lotusblüte mit wehendem Mantel, der Ritter und die Soldatentierchen folgten ihm allesamt und schubsten Jagamon ebenfalls hinein. Das Innere sah nicht aus wie ein typisches maslanisches Gebäude. Die Wände waren mit Holz vertäfelt und rot bis rosa gestrichen. Sitzecken mit weichen Bezügen luden ein, exotische Pflanzen schmückten den Raum und eine ausladende Treppe führte in den ersten Stock. Exquisite Düfte drangen Ken in die Nase. „Kundschaft, so bald nach der Belagerung? Wie schön.“ Ken wirbelte herum. Auf einem großen gepolsterten Sessel saß ein hochgewachsenes Digimon. Wenn je ein Digimon als Zuhälterin durchgegangen wäre, dann wohl dieses. Es hatte üppige, weibliche Rundungen, trug eine Art knappes Korsett und Netzstrümpfe in Violett, und das weiße Faltenkleid klaffte unterhalb des Bauchnabels auseinander und offenbarte ein weißes Höschen. Die Haut des Digimons war von einem blassen Lila, und wie einen Hut trug es eine Art Blüte auf dem Kopf, die bis unter die Nase reichte, sodass man von seinem Gesicht nur die vollen, tiefroten Lippen sehen konnte. Selbst ohne Augen erkannte das Digimon Ken. Es ließ den Schlauch einer Wasserpfeife sinken und grünlicher Nebel entwich seinen verführerischen Lippen. „Sogar der neue Kaiser persönlich, ja? Welche Ehre für mein bescheidenes Etablissement. Wonach gelüstet es Euch? Ach, was frage ich, für Euch natürlich nur das Beste.“ Während Ken noch immer perplex war, klatschte es in die Hände. „Mina, Liebes, wir haben kaiserlichen Besuch! Die Kämpfe sind vorbei; genug gefaulenzt!“ „Wer bist du?“, platzte es aus Ken heraus. „Gehört dir dieser Laden?“ „Zum Glück nicht. Es lässt sich nichts verdienen hier, dazu kommen zu wenige Menschen her“, seufzte das Digimon. „Mein Name ist Lotusmon. Ich bin hier nur die Verwalterin.“ „Wem dann? Ich kann nicht glauben, dass Fürstin Keiko ein Bordell in ihrer Stadt duldet!“ Das war vollkommen verrückt. Es war verrückt, dass es überhaupt ein Bordell in der DigiWelt gab! „Die Lotusblüte gehört Fürst Hiroshi“, sagte Jagamon. „Er hat sie hier als neutrales Etablissement erbauen lassen. Ich hörte, er bekam große Schwierigkeiten mit der Territorialherrin, aber der König entschied schließlich, dass nichts dabei wäre.“ Ken schnaubte. Hiroshi. Der Junge, der Comiczeichner werden wollte. Unfassbar. Schritte erklangen auf der Treppe und die schlanke Gestalt eines Mädchens tappte den roten, mit Goldfäden bestickten Teppich herunter. Ken konnte immer weniger glauben, was er sah. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber Hiroshi hatte tatsächlich Menschenmädchen in der Lotusblüte angestellt. „Da bist du ja endlich“, sagte Lotusmon und nahm einen tiefen Zug von der Pfeife. „Das ist Mina, Euer Majestät. Mein Prachtstück. Ihr könnt auch gern die anderen ausprobieren, was immer ihr probieren wollt. Ihr Menschen seid mir in der Hinsicht ein Rätsel.“ Mina war eine dunkelhäutige Schönheit mit langem, seidigem Haar und asiatischer Abstammung. Sie war in einen gelben Seidensari indischer Machart gekleidet und vielleicht so alt wie er selbst. Sie sah ihn aus unglücklichen Augen an, aber ihre Lippen zeigten ein leises Lächeln, als sie sich verbeugte. „Es ist mir eine Ehre, mein Kaiser. Möchtet Ihr zuerst eine kleine Erfrischung? Ich kann Euch Limonade und Wein anbieten.“ Sie sprach mit indischem Akzent. „Wir haben jede Sorte, von der Brennenden Küste bis zur Eisregion. Von der Limonade müsste ich aber abraten. Wir hatten Probleme, sie während Eurer Belagerung kühl zu halten, also wird sie wenig erfrischend sein“, fügte Lotusmon hinzu. „Nein“, murmelte Ken. „Du hörst es, Liebes, der DigimonKaiser ist nicht hierhergekommen, um zu trinken. Führ ihn nach oben und lass ihn erst gehen, wenn er zufrieden ist.“ Mina verbeugte sich erneut. „Wenn Ihr mir folgen wollt.“ „Nein“, sagte Ken wieder und ballte wütend die Fäuste. „Nein. Nein, nein. Ich glaube das einfach nicht.“ Er wandte sich wieder an Taomon. „Auch hierüber kein Wort zur Königin.“ „Wir Ihr befehlt.“ „Es tut mir leid, wenn ich nicht gut genug für Euch bin“, meinte Mina bedauernd. „Sei ruhig!“, herrschte Ken sie grob an und verwünschte sich dafür. Ihm war plötzlich heißer als vorhin draußen. Etwas wie Säure kochte in seinem Magen. Lotusmon atmete Rauchkringel aus. Er tat etwas, das er lange nicht getan hatte. Er ließ die Barriere um seinen Geist fallen. Deemon! Was hat das hier zu bedeuten, du Schuft? Es dauerte, als müsste Deemon sich erst überlegen, ob es antworten sollte. Dann erschien es in der ausgegrauten Wirklichkeit, direkt neben Mina, ein flackernder Schatten, der die Augen hämisch zusammengekniffen hatte. „Was stört dich daran, Ken? Soweit ich weiß, praktizieren Menschen solche Dinge, und ihr habt großen Spaß dabei. Digimon gehen solchen schmutzigen Beschäftigungen nicht nach, aber wenn es ausreichend Menschen gibt, warum solltet ihr die DigiWelt dann nicht auch nach euren Vorstellungen formen?“ Es spielte wieder das Unschuldslamm, aber er erkannte allein daran, wie Deemons Stimme durch seine Gedanken scharrte, dass das ein weiterer Spielzug war. Von Anfang an hatte es ihn nur damit quälen wollen. Das Mädchen hier ist … Sie ist ein ganz normales, unschuldiges Mädchen! Du hast sie zur Prostitution gezwungen! „Hiroshi war das, falls du nicht zugehört hast. Der Junge, der einmal genauso werden wollte wie du. Er hat versucht, Geld hiermit zu machen. Ich habe ihm nur die Möglichkeiten gegeben, wie ich sie dir gegeben habe: Macht und Einfluss.“ Ken biss die Zähne zusammen. Dafür büßt du mir! „Mir war, als hätte ich das schon einmal gehört, Ken.“ Lachend zog sich Deemon zurück und verschwand. Du wirst büßen. Und Hiroshi wird auch büßen. „Haben schon viele Menschen eure … eure Dienste in Anspruch genommen?“, fragte er barsch. „Leider nein. Es gibt ja nicht viele, die es sich leisten können“, seufzte Lotusmon. „Meine Lieben müssen ja auch essen und trinken, wir haben also auch Ausgaben. Selbst Fürst Hiroshis Subventionen werden oft knapp. Und Digimon kommen nie hierher.“ Natürlich nicht, dachte Ken. Wozu auch? „Hat der …“ Fürst kam einfach nicht über seine Lippen. „Hat Hiroshi diesen Laden besucht?“ „Wann immer er in der Stadt war“, sagte Lotusmon. „Er ist mein liebster Kunde. Nach Euch, versteht sich.“ Kens Faust grub sich in den rosaroten Türrahmen. Er hatte die Zähne aufeinandergebissen, dass es schmerzte. Das hieß, dass die Mädchen hier … Dieser dämliche, naive, pubertierende Kerl! Hiroshi war nicht älter als er, das wusste er. Und er maßt sich sowas an … Wenn ich ihn in die Finger kriege … Er musste ein paar Mal durchatmen, ehe er weitersprechen konnte. „Bewacht die Tür. Niemand betritt oder verlässt das Gebäude“, befahl er seinen Commandramon dann kühl. Lotusmon fragte er: „Habt Ihr nur Mädchen hier? Oder auch Jungen?“ „Wir haben einen Jungen“, sagte es. „Ein prächtiger Kerl ist er, aber es hat sich nie passende Kundschaft für ihn gefunden. Er putzt und bedient.“ „Bringt ihn her.“ Lotusmons Lippen verzogen sich und Ken sah spitze Zähne blitzen. „Würde euch ein Junge also mehr zusagen?“ Ken knirschte wütend mit den Zähnen. „Nein, verdammt! Ruf ihn her. Und alle Mädchen, die hier arbeiten, auch. Du selbst bleibst sitzen.“ „Wie Ihr wünscht. Ich halte mich aus jedem Krieg heraus, müsst Ihr wissen. Mina, hol die anderen.“ Das Mädchen nickte und ging wieder die Treppe hoch. „Meine Lieben haben übrigens jedes ein Digimon. Kleine Dinger. Sie sind so etwas wie ihre Kindheitsfreunde, habe ich mir sagen lassen. Fürst Hiroshi sagte, es ginge es in Ordnung, wenn sie sie behalten“, erzählte Lotusmon. Außer Mina gab es noch drei Mädchen, allesamt internationale DigiRitter aus den verschiedensten Teilen der Welt. Der Junge war stämmig und sah amerikanisch aus. Wenigstens war es nicht Cody. Ken maß sie mit Blicken, während sie schwiegen. „Ihr scheint keine Freude mit ihnen zu haben, wenn man Euren verbissenen Gesichtsausdruck so sieht“, stellte Lotusmon fest. „Ich hoffe doch, das bedeutet nicht, dass ich die Lotusblüte schließen muss. Diese Armen müssten verhungern, versteht Ihr?“ Kens geistige Zahnräder klickten. „Nein“, sagte er schließlich. „Du musst die Lotusblüte nicht schließen. Du wirst sie fortführen wie bisher. Aber ab jetzt arbeitest du für mich. Jede menschliche Kundschaft, die den Laden betritt, wird sofort in Gewahrsam genommen. Ich schicke dir Soldaten, die dir helfen.“ Und dich überwachen werden. „Du wirst mich benachrichtigen, sobald du jemanden gefangen hast.“ „Wie harsch.“ „Der bisherige Betrieb wird aufgelöst. Wenn du irgendetwas tust, das mir missfällt, finde ich einen Weg, dich schwer zu bestrafen.“ Er straffte die Schultern und wandte sich zum Gehen. Er hielt die Luft hier drin plötzlich nicht mehr aus, die schweren, süßlichen Düfte. Deemon und Hiroshi haben ein Bordell in der DigiWelt gebaut. Um die weiblichen DigiRitter zu erniedrigen. Und um mich zu erniedrigen. Wenn Nadine das wüsste. Wenn Wormmon das wüsste. „Heute Nacht sorgt Ihr dafür, dass alle Menschen hier heraus und zum Rosenstein gebracht werden“, flüsterte Ken Taomon beim Hinausgehen zu. „Unbeobachtet.“ Sein Leibwächter nickte. „Und kein Wort zu der Königin?“ „Kein Wort zu der Königin.“   Der Wiederaufbau würde dauern. Ken brauchte noch jemanden, der Masla in seinem und Nadines Namen regieren würde, denn er konnte nicht hier bleiben. Er hatte die Osthälfte seines Reiches zu lange allein gelassen. Die neue Kommunikationsvariante war furchtbar. Schwarzring-Digimon brachten Nachrichten von einem Wegposten zum nächsten, wurden überprüft, dann wurden die Botschaften weitergereicht. Das war sein Los, wenn der Feind einen solchen Geheimdienst hatte. Izzy war eine Plage geworden und im Moment gefährlicher als alle anderen. Er saß mit Nadine beim Mittagessen. Es gab Trauben aus den Vorräten der Stadt, die sie um ihre eigenen ergänzt hatten. Niemand sollte Hunger leiden. Dazu aßen sie Fleisch und tranken Wein, weißen diesmal. Eine Ansprache war für den Nachmittag geplant. Ken schlug vor, dass Nadine das übernehmen sollte, doch sie winkte ab. „Du bist viel gefürchteter. Du kannst ihnen erstens zeigen, dass du kein Tyrann bist, und zweitens, dass du ein starker Herrscher bist. Die Sklaven werden dich dafür lieben.“ „Hoffentlich“, murmelte er. Nach der Überraschung heute Morgen schmeckte ihm das Essen nicht. Er kaute und würgte einen Bissen hinunter. „Wissen wir schon was Genaues über die Verluste?“ „Viele“, sagte sie düster. „Aber es ging nicht anders. Ich weiß, dass die Rettung deiner Freunde oberste Priorität hat. Und Digimon werden wiedergeboren.“ „Mit dieser Denkweise könnten wir aber alles rechtfertigen.“ „Das weiß ich leider auch.“ Die Sache mit Nadine war seltsam geworden. Sie sprachen die meiste Zeit rein geschäftlich miteinander, unter dem Vorwand, alles tun zu müssen, um das Spiel möglichst schnell zu beenden. Aber Ken konnte nicht leugnen, dass er wieder mit ihr über … andere, persönlichere Dinge sprechen wollte. Ihm fiel auf, dass sie Elecmon recht oft von ihm fernhielt, wie um ihn nicht an Wormmon zu erinnern, aber selbst darauf sprach er sie nicht an. Es konnte nur eine Schwäche sein, wenn er begann, mehr für sie zu empfinden. Sie waren die einzigen beiden Menschen in dieser Welt, die bei klarem Verstand waren, es war nur natürlich, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten. Aber musste es deswegen enden, wenn sie siegten? Ein Pochen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. „Herein“, rief Nadine und tupfte sich die Lippen ab, als Ken nicht reagierte. Es war SkullMeramon, eines von Nadines Hauptleuten. Taomon stand neben ihm, als es niederkniete. Ken war dieses metallische Digimon mit den vielen Ketten um den Körper nicht geheuer, aber er hatte selbst so einige eher ungewöhnliche Digimon in seiner Armee, mit der er die Welt retten wollte. „Meine Königin. Mein Kaiser.“ SkullMeramon nickte ihnen zu. „Ich wollt schon früher mit Euch sprechen. Ich bitt um eine Audienz.“ „Kann das nicht warten?“, fragte Nadine. „Es kann, Euer Hoheit. Aber man sagt, Euer Majestät der Kaiser hätt in der Stadt nach Menschen gesucht.“ Das hat sich ja schnell herumgesprochen. „Und?“, fragte Ken mit vager Hoffnung. „Ich hab zwei gefangen, wenn’s Euch beliebt. Sie sind im Lager.“     Man hatte sie in einem Holzkäfig eingesperrt. Von einem Käfig in den anderen. Cody fragte sich, warum man sie überhaupt am Leben ließ. Niemand sagte ihnen, was mit ihnen passieren würde. Das Schwert, so mühsam in den Straßen voller Blut, Feuer und Tod gefunden, war ihm wieder abgenommen worden. Chichos hatte mit großen Augen allem zugeschaut. Sie hatte nicht geweint. Mutig war sie, das musste er ihr lassen. Sie war sogar kurz eingeschlafen, auf weichem, gelbem Sand, als die Nacht dem Ende zuging. Als die Sonne aufging, fiel Cody auf, dass er noch nie so weit aus der Stadt weggewesen war, auch wenn er die rußgeschwärzten Mauern von hier sehen konnte. Er fand den Lärm und die Geschäftigkeit im Lager erlösend. Zwischen den Zelten, Holzbarrikaden und Löchern im Sand streunten Digimon umher, grunzten und scherzten und spielten etwas oder dösten einfach nur, während sie auf ihre Wache warteten. Aber es war eine andere Art von Lärm als letzte Nacht. Keine Todesschreie, kein Sterben, keine Schmerzen, kein Feuerknistern und kein Zerbrechen von ewigem Gestein. Die Belagerung und die Schlacht waren vorbei, die Rose und der DigimonKaiser hatten gewonnen, so viel wusste Cody. Für ihn änderte es nichts. Er würde von WaruMonzaemon getötet werden, wenn es nicht gerade in bester Laune war, sobald die Soldaten ihn gegen ein Lösegeld an es zurückgaben. Aber Chichos … Ihr letzter Herr war tot, vielleicht kam sie davon. Vielleicht fand sie einen Hinweis auf Gotsumon. Vielleicht wurde wenigstens sie glücklich. Als sie aufwachte, streckte sie die Hand nach seinem Anhänger auf. Das Morgenlicht brach sich darauf, obwohl das Material schmutzig und stumpf war. „Danke“, sagte sie leise. „Du hast dein Versprechen gehalten. Und der Anhänger bringt wirklich Glück. Ich wünschte, ich hätte auch einen.“ Cody streifte sich die Schnur ab und reichte ihr das Amulett. „Du kannst ihn haben.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Wirklich? Warum? Es ist dein Glücksbringer. Bei mir wirkt er sicher nicht.“ „Er wird wirken. Ich schenke ihn dir, also wirkt er.“ Er brauchte ihn schließlich nicht mehr. Kein Glück der Welt konnte ihn wahrscheinlich retten. Er war ein Sklave, schon so lange er denken konnte, und frei kam er nicht. Er schaffte es nicht einmal in einer tobenden Schlacht, mehr als hundert Meter von Masla und WaruMonzaemon wegzukommen. Menschen hatten unter all den Digimon einfach keine Zukunft. Nicht einmal in der Arena. Gegen Mittag, als die Sonne so heiß brannte, dass Cody schwindelte, und sie noch kein Wasser bekommen hatten, zischte ihnen das Dokugumon, das sie gefangen hatte, etwas zu, das er nicht verstand. Der Käfig wurde geöffnet, mit Gewehren bewaffnete Digimon fesselten ihm und Chichos die Hände auf den Rücken, dann wurden sie abgeführt. Und natürlich ging es wieder nach Masla. Er sah Chichos‘ Chancen schwinden. Wie hatte er nur glauben können, dass man ihr eine Wahl ließ? Das Tor stand weit offen, die Flügel waren praktisch nicht mehr vorhanden. Sie marschierten den langen Weg hinein und durch verwüstete Straßen. Chichos stolperte vor ihm her und schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. „Sie braucht Wasser“, sagte Cody seinen Bewachern. Er hatte auf keine Reaktion gehofft, aber die Digimon holten tatsächlich einen Wasserschlauch aus ihrem Gepäck und setzten ihn Chichos an die Lippen, die erst zögerlich, dann gierig davon trank. Kristallklares Wasser lief an ihrem Kinn vorbei und tropfte zu Boden, so rein, wie Sklaven es selten zu trinken bekamen. Wenig später wurde sie erneut langsamer. Als Dokugumon Chichos wütend anzischte, deutete sie mit Tränen in den Augen auf ihre Füße, die blutig von dem Marsch über den von kleinen Steinsplittern durchzogenen Sand waren. Da nahm das vorderste Digimon das Mädchen und setzte es auf Dokugumons Rücken, das sichtlich verstimmt war, aber dann auf seinen acht Beinen weiterlief, als wäre nichts geschehen. Sie folgten der Hauptstraße in den Stadtkern, bis zur Kampfarena. Ausgerechnet. Vor dem runden Gebäude, das einiges von der Schlacht abbekommen hatte, hatten sich viele Digimon in gespannter Erregung versammelt. Cody erkannte unter ihnen die Wohlhabendesten und die Sklavenhändler, und zog den Kopf zwischen die Schultern. Von der oberen Kante des Arenagebäudes hingen neue Banner, eine violette Blüte und eine schwarze, links und rechts des Haupteingangs. Die Soldaten bahnten sich einen Weg durch die Menge. „Macht Platz für die Krieger des Kaisers“, sagte das vorderste Digimon. Cody fand, dass jetzt wohl der geeignetste Zeitpunkt war, um unterzutauchen, als eine dröhnende, wütende Stimme seine Ohren erreichte. „Du!“ Erschrocken sah er, wie sich WaruMonzaemon seinen Weg durch die Menge freischaufelte. Ein Deramon wurde empört gackernd einfach von seiner Kralle in die Luft geworfen. Im Nu stand sein Besitzer neben ihm. „Da bist du ja, du verdammter Bengel!“ Es streckte die Pfote nach ihm aus, Chichos schrie, zuckte zusammen und schloss die Augen, und ihre Bewacher wandten sich um. „Was geht hier vor?“, fragte der vorderste und richtete sein Gewehr auf WaruMonzaemon. „Zurück zu den anderen, Unterworfener.“ WaruMonzaemon funkelte es wütend an. Seine Kralle blitzte. „Willst du, dass ich dich in der Mitte durchschneide? Der Bengel gehört mir. Er ist mein Kämpfer. Das Mädchen auch.“ „Nein!“, schrie Cody. „Du hast Chichos hergegeben! Lass sie in Ruhe!“ „Steh uns nicht im Weg“, sagte der Soldat. „Wir haben Befehle von oberster Stelle.“ „Eure Befehle interessieren mich einen feuchten Kehricht! Das sind …“ „Was ist da unten los, Troopmon?“, schallte eine Stimme laut über die Menge. Die Soldaten drehten sich um und salutierten. Cody wandte den Blick. Auf dem Balkon über dem Eingang zur Arena stand ein Mensch, der nur der DigimonKaiser sein konnte. Das Sonnenlicht glitzerte auf den vergoldeten Metallteilen seines Anzugs und auf etwas Goldenem in seinem Gesicht. Neben ihm glänzte das SkullMeramon, das Scorpiomon ausgelöscht hatte. Das Digimon, das er mit Troopmon angesprochen hatte, deutete auf WaruMonzaemon. „Dieses Digimon macht Schwierigkeiten, Herr.“ „Du wagst es?“, rief der DigimonKaiser. WaruMonzaemon knurrte, drehte sich einmal um seine Achse, wie um Worte zu sammeln. „Herr, das sind meine Sklaven!“ „Jetzt nicht mehr“, rief der Kaiser zurück. Cody stutzte. Wenn er sie nicht zurückverkaufen wollte, was hatte er dann vor? „Aber, aber Herr … Majestät …“, rief WaruMonzaemon empört. „Sie waren schon mein Eigentum, seit Fürstin Keiko den Oberbefehl über Masla bekommen hat. Das hat mit dem Krieg nichts zu tun.“ „Das interessiert mich nicht.“ Der DigimonKaiser beugte sich vor und wandte sich an alle Versammelten. „Im Namen des Kaisers ist die Sklaverei hiermit aufgehoben. Alle Sklaven, sowohl Menschen als auch Digimon, sind frei. Das ist das neue Gesetz.“ Überall brandeten wütende Rufe auf, Fäuste und Pranken reckten sich gen Himmel. WaruMonzaemon erkor sich selbst zum Sprecher der Sklavenhändler. „Das Halten von Sklaven ist seit jeher Tradition in Masla! Wir haben ein Recht auf Sklaven, und ohne uns sterben sie auf den Straßen! Ihr könnt nicht verlangen, dass wir etwas aufgeben, das schon immer besteht! Ihr könnt uns nicht berauben!“ „Ich kann. Eure Tradition ist eine Lüge, ihr wisst es nur nicht. Die Sklaven sind frei. Wer sich meinem Willen entgegenstellt, wird selbst ein Sklave durch einen Schwarzen Ring.“ „Ha!“, rief WaruMonzaemon und gestikulierte wild, um die anderen aufzustacheln. „Ihr spielt Euch selbst als Befreier auf, dabei haltet Ihr Euch mehr Sklaven als alle angesehenen Digimon hier zusammen!“ „Ich werde mich nicht vor euch rechtfertigen“, entgegnete der DigimonKaiser ruhig. „Meine Gesetze und die des Königreichs der Schwarzen Rose untersagen euch allen ab sofort, Sklaven zu halten, und damit hat es sich. Troopmon, bringt sie herein, aber schnell.“ „Zu Befehl!“ Die Troopmon salutierten erneut und winkten die Menge zur Seite. Das heißt, sie versuchten es. „Nicht so hastig!“ WaruMonzaemon streckte die Hand nach Cody aus, der versuchte auszuweichen, mit einem Troopmon zusammenprallte und ins Straucheln kam. Das Troopmon, das gesprochen hatte, wollte dazwischengehen, aber WaruMonzaemons Bärenkralle schlug ihm sauber den Kopf ab. Chichos kreischte, und das war das Signal für die anderen Sklavenhändler, heranzustürmen. „Zurück!“, riefen die Troopmon. Dokugumon zischte. Sie begannen in die Menge zu schießen, als die anderen Digimon sie wie eine kochende Masse überschwemmten. „Aufhören!“, schrie der DigimonKaiser von seinem Balkon, zuckte aber selbst zurück, als ein Digimon einen Feuerball in seine Richtung schoss. Er fluchte und hielt sich die Hand. Cody erkannte noch einen Schatten hinter ihm, dann sprang SkullMeramon vom Balkon und landete mitten in der wogenden Menge, knapp vor Cody und Chichos, die von den anstürmenden Digimon getrennt wurden, die versuchten, den Troopmon die Schädel einzuschlagen. Die Tore zur Arena öffneten sich. Weitere Troopmon marschierten heraus, dazu einige Monochromon mit Schwarzen Ringen, die schnell eine Schneise in den Auflauf schlugen. SkullMeramon schlug mit seinen brennenden Ketten um sich, prügelte die Aufständischen unbarmherzig nieder, aber es waren unglaublich viele. Cody sah das Troopmon neben sich von Togemon-Nadeln getroffen stürzen. Eines der Kaktusdigimon, ein recht kleines, nur knapp größer als ein Mensch, drosch mit seinen Handschuhen schon auf den nächsten Soldaten ein. Der Lärm war unbeschreiblich, wütender noch als gestern Nacht. Dokugumon schoss einen klebrigen Faden zu dem Balkon und begann, daran entlangzuklettern. Etwas Brennendes flog heran und setzte den Faden in Brand, und als er riss, stürzten das Digimon und Chichos in die Digimonrebellion zurück. Nein, dachte Cody. Wir haben es aus der Schlacht geschafft, jetzt soll es so enden? Etwas blendete ihn, als das allgemeine Schubsen ihn weiterstieß. Aus der Tasche, die das gestürzte und sich eben auflösende Troopmon bei sich getragen hatte, ragte ein goldener Schwertgriff … Cody ließ sich in die Richtung treiben wie von einem reißenden Fluss und hoffte, dass er nicht zu Tode getrampelt wurde, wenn er sich bückte … Schließlich hebelte er das Schwert mit der Fußspitze in die Höhe, ein Trick, den ihm Gladimon einmal gezeigt hatte. Nun war er bewaffnet. Nun konnte er selbst gegen die Knechtschaft kämpfen. Er senkte grimmig den Kopf und die Klinge. Er hoffte nur, dass sein Glücksbringer Chichos beschützte. Und er ihn selbst nicht brauchte.     Verdammt! Ken hastete ins Gebäudeinnere und steuerte auf die Treppen zu. „Das war so nicht geplant gewesen! Cody ist immer noch draußen!“ „Bist du verletzt?“, fragte Nadine besorgt. Er zeigte ihr seinen Handschuh. Das Gummi war geschmolzen und die Haut gerötet; sie würde Blasen bilden. „Nichts Ernstes. Es war nur ein ToyAgumon, glaube ich.“ Dass es dieselbe Hand war, die Hawkmon vor einiger Zeit mit seiner Feder durchbohrt hatte und die er seitdem nur unter Schmerzen bewegen konnte, verschwieg er. „Und was hast du jetzt vor?“, rief sie ihm hinterher, als er die Treppe hinunterhastete und nach Taomon rief. „Riegelt die Straßen ab“, befahl er und bedauerte, den Leibwächter nicht bei sich am Balkon gehabt zu haben, aber er hätte nie gedacht, dass es bei freien Digimon so einfach sein könnte, eine Rebellion auszulösen. „Ich will, dass keines von den Aufständischen fliehen kann. Und bringt Cody und das Mädchen sicher hier herein, verstanden?“ „Verstanden.“ „Und schickt die Ringe aus.“ Als er dem Erdgeschoss entgegen rannte, erklangen Nadines Schritte, die ihm folgte. „Keiko ist abgehauen, und jetzt können wir uns mit dem Mist herumschlagen, den sie hinterlassen hat“, hörte er sie murmeln.     Ein einziger Schwerthieb brachte dem Togemon eine grünen Saft spritzende Wunde bei. Die Sklavenhändler wichen zurück. „Dreschflegel“, schrien einige entsetzt, obwohl sie viel stärker waren als er. „Es ist Dreschflegel!“ Sofort bildete sich eine Gasse vor ihm. Das Schwert von sich gestreckt, rannte er dorthin, wo Dokugumon gelandet war – und sah sich plötzlich Auge in Auge mit WaruMonzaemon. Er schluckte. Plötzlich war das goldene Schwer dreimal so schwer, und er musste es mit beiden Händen nehmen. „Du wagst es, mich zu bedrohen?“, knurrte WaruMonzaemon. Es umkreiste ihn langsam, die scharfen Krallen erhoben. Von seiner Bärenkralle hingen brennende Ketten, die es mit SkullMeramon verbanden, das es zu bändigen versuchte, während das Metalldigimon gleichzeitig noch gegen andere kämpfte. Die Ketten klirrten wie seine eigenen, die Cody immer noch um das Handgelenk hatte. Er sah, wie sich weiter hinten etwas aus der Menge erhob. Eine durchscheinende Halbkugel, in der Chichos und Dokugumon saßen und in der ein weiteres Digimon in fremder Kleidung stand, eine Hand erhoben. Sie flog nach oben auf den Balkon und durch die geöffnete Tür, während alle Digimon-Attacken davon abprallten. Gleichzeitig schwärmten über der Arena Schwarze Ringe aus und schlossen sich um Hälse und Gliedmaßen aller Digimon, die sie erwischten. Er fühlte sich grenzenlos erleichtert und wandte sich nun vollends seinem ehemaligen Herrn zu. All die Momente der Qual und des Frusts brachen über Cody zusammen, all die Schläge, der brennende Streifen um Chichos‘ Knöchel, WaruMonzaemons erlesene Köstlichkeiten, von denen sie nur träumen durfte, die harte Arbeit bei Gladimon und das Blut und der Schmerz in der Arena. Die wütenden Rufe des Publikums drangen plötzlich wieder an sein Ohr, wie sie ihm zuriefen, er solle seinen Gegner töten. Cody stieß einen Kriegsschrei aus und stürzte los. Die Arena machte sich bezahlt. Er wich dem Stoß mit der Bärenkralle aus, die, beschwert mit den Ketten, langsamer war als üblich, packte den Arm des Bären und zog sich in einer fließenden Bewegung darauf, und ehe WaruMonzaemon ihn abschütteln konnte, sprang er und stieß ihm die Klinge ins wutverzerrte Gesicht. WaruMonzaemon heulte, als die Waffe mit einem reißenden Geräusch in seine Wange eindrang, und taumelte zurück, das Schwert immer noch in dem weichen Stoff. „Das büßt du mir!“, brüllte es. „Du bist mein Eigentum, ich bin dein Herr, ich gebe deinem Leben einen Sinn!“ Cody stand mit leeren Händen da, aber der nächste Hieb WaruMonzaemons war schlecht gezielt. Die Kralle stieß in den Sand und abermals konnte er sie als Rampe benutzen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich SkullMeramon den Weg zu ihm freikämpfte. An einem stinkenden Schwall heißer Luft vorbei, die in WaruMonzaemons Brüllen entwich, packte er den Schwertgriff, riss die Waffe heraus und brachte dem Bärendigimon einen tiefen Schnitt im Genick ein, aus dem Stoff quoll. Er landete etwas wackelig auf seinen Füßen, wirbelte herum und schlitzte auch die Waden des Digimons auf. Und es fiel. Sein Herr, der Honighändler und Sklavenbesitzer WaruMonzaemon, fiel vornüber. „Du elender Bursche … Du … Wie kannst du es nur wagen“, brachte es als tiefes Brummen heraus, den Kopf zur Seite geknickt. Es versuchte sich in die Höhe zu stemmen, aber weiter als bis zu den Knien kam es nicht. Es stieß die Luft aus. SkullMeramon war plötzlich da und schlang weitere feurig blaue Ketten um es. „Das war’s mit der Unruhestifterei“, sagte es blechern. Das Bärendigimon grunzte und seine roten Augen funkelten Cody an. „Na komm schon, Dreschflegel. Ich sterbe lieber, als so gedemütigt zu werden, in Ketten und vor meinem eigenen Sklaven im Dreck kriechend. Töte mich, bring’s endlich hinter dich. Darauf hast du doch lange gewartet, oder, du kleines Stück Abfall!“ „Ich werde dich nicht töten“, sagte er. „Es ist meine Entscheidung, hast du das vergessen?“ WaruMonzaemon heulte. Die anderen Digimon machten Cody und seiner Klinge respektvoll Platz, als er auf das Tor der Arena zuging, aus dem immer noch Troopmon strömen. Sie bildeten einen Spalier um ihn und er betrat das Gebäude zum ersten Mal nicht als Gladiator, sondern schon als Sieger.   One, two, free-fall, Down in the well with it all  I am not their slave anymore  Cut my leash, I´m not gonna bow and adore I will let them drown there (Sonata Arctica – One-Two-Free-Fall) Kapitel 27: An einem Tisch mit den Mächtigen -------------------------------------------- Tag 64 „Oh, so viele Gäste“, freute sich Digitamamon, als die bunte Schar bei der Tür in sein Restaurant hereinschneite. „Wir sind zwar nicht auf euch eingestellt, aber ihr werdet trotzdem vortrefflich versorgt!“ „Sie gehören zu mir!“, rief Yolei, die sich an zwei dicken Mushroomon vorbei drängte. Sofort wurde Digitamamons Stimme kühler. „Wenn sie alle hier übernachten wollen, wird das aber teuer.“ „Wir sind nur hier, um zu reden“, erklärte Kabukimon, das die Spitze der Kolonne aus Gekomon, Otamamon, Ninjamon, Floramon und Mushroomon bildete. Aus den Falten seiner Kleidung fischte es ein Geldbündel hervor. Wahrhaftige Dollar, wie es aussah. „Hinterher würden wir uns aber gerne an deinen Tischen stärken.“ Digitamamon trippelte zu den Scheinen, die der Rebellenführer auf die Theke legte, und seine Augen formten zufriedene Halbmonde. „Wenn das so ist“, schnarrte es, „dann werde ich alles vorbereiten.“ Als es in die Küche verschwunden war und Yolei die anderen die Treppe hoch zu den Schlafräumen führte, flüsterte sie Kabukimon zu: „Das war keine gute Idee. Wenn Digitamamon so viel Geld wittert, wird es euch nicht gehen lassen, ehe ihr alles ausgegeben habt. Es wird Wucherpreise für das Essen verlangen.“ „Und wir werden diese Wucherpreise bezahlen“, sagte Kabukimon. „Es ist gut, wenn die Digimon, die uns hier sehen, auf unserer Seite sind.“ Yolei zuckte mit den Schultern und lief die hölzerne Treppe voraus. Michael erwartete sie oben im Flur mit den gelb getünchten Wänden. Er musste ihr Kommen gehört haben. „Juhu, Sir Michael!“, rief Yolei und winkte ihm gut gelaunt zu. Michael verzog das Gesicht. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst den Sir nicht so laut hinausbrüllen?“ Yolei bremste vor ihm ab. „Entschuldige“, murmelte sie verlegen. Sie war einfach froh gewesen ihn wiederzusehen, einen anderen Menschen, der noch dazu auf ihrer Seite war. Die Erlebnisse in Little Edo steckten noch in ihren Knochen. „Ihr seid also der Ritter der Konföderation“, stellte Kabukimon fest, das ebenfalls den oberen Treppenabsatz erreicht hatte. „Und Ihr Kabukimon“, entgegnete Michael. Das Digimon verbeugte sich leicht. Der Ritter wandte sich an Yolei. „Was ist geschehen? Wir haben uns große Sorgen gemacht, als der Kontakt abgebrochen ist. Ehrlich gesagt hatte ich wenig Hoffnung, dass ihr wiederkommt. Mimi war außer sich. Ich konnte sie gerade so davon abhalten, Yasyamon auf eure Spur zu schicken.“ „Für Euch immer noch Prinzessin Mimi“, sagte Kabukimon sofort. Eigentlich ist sie schon die Königin, dachte Yolei. Michael starrte Kabukimon an. „Nicht hier. Hier ist sie bloß Mimi, ein Mensch, der sich kaum unter Digimon blicken lässt.“ Kabukimon begegnete seinem Blick mit seiner üblich starren Maske, dann brummte es zufrieden. „Ihr seid sehr besonnen. Gut. Dann lasst mich nun direkt mit der Prinzessin sprechen.“ Es machte Anstalten, an Michael vorbei den Flur entlangzugehen, doch der Junge versperrte ihm mit dem Arm den Weg. „Nicht so schnell. Können wir diesem Digimon trauen, Yolei?“ Seine hellen Augen fixierten sie. Ja, konnten sie das? Yolei war mit ihrem Grübeln noch nicht zuende gekommen. Seit sie Little Edo verlassen hatten, hatte sie sich den Kopf über Kabukimons Beweggründe zerbrochen. Sie klangen durchdacht, aber dass das Digimon Lügen in Kauf nahm, schmeckte ihr nicht. Sie hätte das auch sofort gesagt, hätte sie nicht daran gezweifelt, ob sie überhaupt erwachsen genug über den Krieg nachdachte. Hawkmon antwortete statt ihr. „Ihr habt uns doch schon Euren Segen gegeben, als wir losgezogen sind, Karatenmon zu befreien.“ Michael nickte. „Das ist richtig. Nur wo ist Karatenmon? Was ist passiert?“ „Es war, wie wir befürchtet hatten“, sagte Kabukimon. „Karatenmon wurde vom Usurpator gefoltert und war halbtot, als wir es fanden. Wir waren von Digimon umzingelt, und es wusste selbst, wie die Dinge um es standen. Karatenmon hat noch versucht, uns zu helfen, doch das war sein Untergang. Es starb als wahrer Held.“ Da Digimon straffte die Schultern. „Doch das sind Dinge, die wir eher der Prinzessin erzählen sollten, Ritter.“ Nun spazierte es einfach an Michael vorbei, der endlich zur Seite trat. Kabukimons Truppe folgte ihm. Keine zwei Sekunden später flog die Tür zu Mimis Zimmer auf. Yolei sah Mimi kurz mit Yasyamon rangeln; offenbar hatten sie alles mitgehört. Dann riss sie sich los und fiel Yolei mit Tränen in den Augen um den Hals, dass ihr fast die Brille von der Nase rutschte. „Yolei! Dem Himmel sei Dank, du lebst! Und ich dachte schon, ich würde dich nie wieder sehen!“ Yolei war ganz perplex. „Ach, das war doch gar nicht so wild … Na schön, es war schon ziemlich gefährlich, aber …“ „Nicht so wild?“ Mimi sah sie aus geröteten Augen an. Ihr Haar war unordentlich, ihr neues, einfaches, hellgelbes Kleid zerknittert. „Ich habe kein Auge zugetan! Ich hab schon gedacht, ich hätte auch dich verloren …“ Sie schniefte, während Palmon ebenfalls seine Erleichterung bekundete und Yasyamon in den Flur trat. Dann erst schien Mimi die vielen Digimon zu bemerken. „Das sind sie?“, fragte sie. „Prinzessin.“ Kabukimon und seine Anhänger gingen vor Mimi auf die Knie und verbeugten sich tief. „Es ist uns eine Ehre und eine Freude, Euch wohlauf zu sehen.“ „Sagt mal, müsst ihr dass hier wirklich auf dem Flur erledigen?“, fragte Michael vorsichtig, als sein Blick über die knienden Reihen von Digimon glitt. „Ich bin Euer treuer Diener Kabukimon. Leider bringe ich schlechte Kunde von unserer Mission. Wir haben es nicht geschafft, Karatenmon zu befreien.“ „Dann soll es bleiben, wo es ist“, meinte Mimi schnippisch und wandte ihnen den Rücken zu. Sie hatte dem Daimyo noch nicht verziehen – und offenbar doch nicht alles von ihrem Gespräch gerade eben mitbekommen. „Das wird es, fürchte ich“, sagte Kabukimon, immer noch demütig kniend. „Karatenmon ist tot.“ Yolei sah, wie Mimis Muskeln kurz zuckten, auch wenn sie sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Eine Weile schwieg die geflohene Prinzessin, dann sagte sie: „Lasst uns im Zimmer weiterreden.“ Die Digimon erhoben sich. Michael runzelte die Stirn, als Mimi sein Zimmer am Ende des Flurs ansteuerte, obwohl ihr eigenes größer war. Entweder schämte sie sich ihrer kärglichen Behausung wegen oder sie wollte die Horde der Widerstandskämpfer einfach nicht in ihr neues Allerheiligstes lassen. Der Ritter hatte sein Zimmer modifiziert, wie es wohl nur Anhänger der Wissens-Armee tun würden. Die Möbel waren in eine Ecke gerückt, um in der anderen Platz für allerlei technische Geräte zu schaffen. Der Rest war rein zweckmäßig. Auf dem ordentlich gemachten Bett saß Betamon und sah mit großen, wachsamen Augen zu, wie sich zwei Dutzend Digimon in den Raum quetschten. Mimi ließ sich neben ihm nieder. Sie schien mit den Gedanken ganz woanders. „Prinzessin, noch ist nicht alles verloren“, sagte Kabukimon, nachdem Michael die Tür geschlossen hatte. „Daimyo Karatenmon mag tot sein, doch es konnte uns noch seinen letzten Willen mitteilen. Es hat mich gebeten, seine Nachfolge anzutreten. Wir können immer noch kämpfen.“ Nun kam der Moment, in dem Yolei flau im Magen wurde. „Was soll das heißen?“ Michael unterdrückte sein Misstrauen ziemlich gut – oder er war gar nicht misstrauisch. So genau vermochte Yolei das nicht zu sagen. „Es hat Euch zu einem Fürsten gemacht?“ „Die Rede war nie von Fürstentümern, und selbst wenn, würde ich sie nicht für mich beanspruchen“, sagte Kabukimon großmütig. „Es ging ihm nur darum, dass ich unserer rechtmäßigen Herrscherin diene. So, wie ich es immer getan habe und immer tun werde. Wir alle werden für Euch kämpfen, Prinzessin.“ „Also hat sich im Grunde nichts geändert“, meinte Mimi und suchte Palmons Blick. „Ihr habt doch auch vorher schon gekämpft. Yolei wäre fast umsonst gestorben.“ „Es hat sich eine Menge verändert“, betonte Kabukimon. „Wir waren mehrere Gruppen, die wenig ausrichten konnten. Doch Eure Freundin Yolei kann bezeugen, dass Karatenmon, der letzte Getreue des alten Shoguns, uns seinen Segen gegeben hat, und den Auftrag, zu siegen. Und ein Ritter der Konföderation kann bezeugen, dass wir bis ins Herz von Little Edo vorgedrungen sind, um mit Karatenmon zu sprechen. Wenn Ihr als unser Leitbild nun aus der Versenkung tretet, werden sich uns all jene Digimon anschließen, die mit Musyamons Herrschaft nicht einverstanden sind. Gemeinsam können wir den Usurpator stürzen.“ Mimi überlegte nicht lange. „Nein“, sagte sie entschieden und wich sämtlichen Blicken aus. Yolei war überrascht. „Nein? Ich dachte, du freust dich?“ „Ich will nicht, dass ihr kämpft. Ich bin das Kämpfen leid“, sagte Mimi naserümpfend. „So viele sind meinetwegen schon gestorben. Ich nennt mich alle Prinzessin. Und eine Zeitlang habe ich alles getan, um wirklich eine Prinzessin zu sein. Darum war ich unglücklich. Als die beiden Ritter nach Little Edo kamen, habe ich geglaubt, meine Träume würden sich erfüllen.“ Yolei glaubte, dass sie damit Sir Taichi und Matt meinte. „Aber es ist alles ein Albtraum geworden. Und jeder, der wegen mir kämpft, wird verletzt oder stirbt. Ich kann das nicht mehr ertragen! Es ist besser für alle, wenn ich einfach verschwunden bleibe!“ Sie hatte sich so sehr in Rage geredet, dass sie erst mal Luft holen musste. „Aber es ist doch dein Reich …“, meinte Yolei verdattert. „Versuch sie zu verstehen, Yolei“, bat Palmon und ergriff Mimis zitternde Hände. Die beiden hatten wohl schon darüber gesprochen. „Selbst wenn ich auf dem Thron sitze, was bringt mir das? Überall um Little Edo herum sind Feinde. Eine Prinzessin zu sein habe ich mir immer als schön vorgestellt. Aber für eine Königin tauge ich nicht! Ich wüsste gar nicht, wie ich regieren sollte! Ich kann das nicht!“ „Mimi …“, murmelte Yolei. Ihre Freundin hatte sich verändert. Vielleicht, weil plötzlich jede Spur von Yolei gefehlt hatte? „Prinzessin, bitte überlegt es Euch. Dort draußen gibt es unzählige Digimon, die Hoffnung suchen. Viele haben ihre Freunde verloren, viele wurden von Schwarzen Ringen versklavt. Ihr wäret für sie die Sonne am Horizont, die nach der langen, kalten Nacht aufgeht.“ „Du hast immer wieder gesagt, dass du das Leben auf der Flucht hasst“, erinnerte sie Yolei. Sie wusste nicht, warum sie gegen Mimis Entscheidung redete. Alles, wofür sie selbst in letzter Zeit einstand, wirkte falsch auf sie. „Was würde sich denn ändern? Bis ihr gewonnen habt, muss ich mich sowieso verstecken. Solange jemand für mich kämpft, bin ich gefährlich. So können wir vielleicht in irgendeinen Teil der DigiWelt reisen, wo man uns nicht sucht. Wenn ich ein Mädchen ohne Namen und ohne Titel bin, sind wenigstens meine Freunde nicht in Gefahr!“ Yolei fiel kein Argument mehr ein. Mimis Veränderung berührte sie zutiefst. Sie war kein eitles Prinzesschen mehr. Im Gegenteil, sie wollte nur noch in Frieden leben. War das eine positive Entwicklung? Es war Michael, der auf Mimi zutrat und ihre Hände ergriff, sodass sie ihn anblickte und die Tränen aus ihren Augen blinzelte. „Es gibt einen Grund, warum Eure Freunde sich in den Kampf gestürzt haben. Warum diese Digimon ebenso bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie glauben an eine bessere Zukunft, an eine DigiWelt, in der sich niemand verstecken muss. Seht mich an“, sagte er, als sie den Blick abwenden wollte, und sank vor ihr auf ein Knie, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Seine Hände drückten die ihren fest. „Du glaubst, du kannst nicht alleine regieren. Vielleicht stimmt das. Doch du bist nicht allein. Wir alle stehen hinter dir, die gesamte Konföderation steht hinter dir, und wir werden dich unterstützen, so gut es geht. Wir wollen dich nicht einfach so auf einen Thron setzen. Wir wollen, dass du all den Digimon, die in Knechtschaft und Angst leben, Hoffnung gibst. Das würde eine wohlmeinende Herrscherin tun. Ein Leben in Ketten kann schlimmer sein als der Tod.“ Er sah Mimi eindringlich aus nächster Nähe an, und Yolei fühlte es plötzlich ein wenig in ihren Wangen kribbeln, als ihr bewusst wurde, dass Michael Mimi nicht mehr mit der gebotenen Höflichkeit angesprochen hatte. „Trotzdem …“, murmelte Mimi, doch nun gelang es ihr selbst nicht mehr, den Blick abzuwenden. „Ich kann das nicht …“ „Du musst nichts weiter tun. Du bist der Schlüssel zur Rebellion, aber wir sind es, die die Digimon durch die offene Tür führen werden.“ Yolei konnte Wortspielereien eigentlich nicht besonders gut leiden, aber sie fand Michael in dem Augenblick unheimlich cool. „Wie Sir Michael sagt“, fügte Kabukimon hinzu, „werden wir Euch nicht ins kalte Wasser werfen. Und damit Ihr nicht allein regieren müsst, wird das Erste, was wir tun, die Befreiung Eures Gemahls sein.“ „Mein … Gemahl?“ Mimi sah das Digimon blinzelnd an, das nicht zu bemerken schien, dass es soeben eine schöne Illusion zerstört hatte. „Er wird in der Festung des DigimonKaisers gefangengehalten, soweit wir wissen“, führte Kabukimon aus. „Der Kaiser will andere Menschen lebend in die Finger bekommen. Was er auch mit ihnen vorhat, höchstwahrscheinlich tötet er sie nicht einfach.“ „Das meint Ihr doch nicht ernst?“, fragte Michael mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Warum nicht? Der Eherne Wolf ist der rechtmäßige Shogun von Little Edo. Es ist nur natürlich, dass wir ihn an die Seite der Prinzessin stellen. So hat der DigimonKaiser auch kein Druckmittel gegen uns. Oder wolltet Ihr Prinzessin Mimi allein auf den Thron setzen, damit die Wissens-Armee ihr einflüstert, was sie zu tun hat?“, fragte es lauernd. Michael verzog das Gesicht. „Das ist eine dreiste Anschuldigung“, sagte er beherrscht. „Die Festung des DigimonKaisers liegt mitten in seinem Hoheitsgebiet. Niemand konnte sie bisher nehmen.“ „Wir müssen uns nur einschleichen und den Shogun befreien. Wenn es einen Weg gibt, werden wir ihn finden.“ Michael schien nicht begeistert, dass Kabukimon die Fortschritte, die er bei Mimi erzielt hatte, nun für seine eigenen Zwecke missbrauchte. Mimi jedoch ließ plötzlich seine Hand los und stand auf. „Tun wir es“, sagte sie mit leuchtenden Augen. „Matt ist wegen mir in diese Lage geraten. Ich will das wiedergutmachen!“ „Aber Prinzessin …“, murmelte Michael hilflos. „Ihr sagtet doch, dass Ihr den Ehernen Wolf nicht …“ Yolei machte große Augen. Worüber hatten die beiden gesprochen, während sie weg gewesen war? „Selbst wenn ich ihn nicht liebe und wir nur pro forma ein Ehepaar sind“, sagte Mimi entschlossen. „Ich will nicht, dass sich ständig andere für mich opfern. Ich will all das wiedergutmachen, und bei Matt fange ich an!“ Damit war das entschieden. Kabukimon und seine Anhänger nickten zufrieden, während Michael so elend aussah, wie Yolei sich fühlte. Immerhin bin ich nicht die Einzige, die Kabukimon nicht leiden kann, dachte sie.     Er hätte sich nie träumen lassen, einmal am selben Tisch wie der DigimonKaiser zu sitzen. Schon gar nicht hier, in der Loge der Reichen, von wo aus man einen guten Blick in die staubige Arena hatte. Tausend Erinnerungen lagen dort im Sand begraben. Jetzt wuchs auf ihnen ein gigantischer Schwarzer Turm. Cody hatte den DigimonKaiser nie gesehen, er kannte nur Geschichten darüber, wie er aussah. Weder war er so grobschlächtig noch so muskulös wie ein Boltmon, auch nicht hässlich wie ein Ogremon, und seinem Gesicht fehlte der grausame Zug eines Devimons. Stattdessen war er jung und schlank, und er lächelte Cody freundlich an, während Diener – ohne Schwarze Ringe, wohlgemerkt, also wurden sie vermutlich sogar bezahlt – Speis und Trank auftrugen. „Du hast auf Chichos aufgepasst“, sagte der Kaiser und deutete auf das Mädchen, das unsicher ob des plötzlichen Luxus‘ auf dem Stuhl neben ihm saß. „Und jetzt beschütze ich euch hier drin. Dann sind wir wohl Quitt.“ Er machte den Eindruck, als erwarte er irgendeine bestimmte Reaktion auf diese Worte. Cody hatte keine Ahnung, welche, aber Chichos hatte ihren Namen noch nicht genannt. „Woher kennst … Woher kennt Ihr Chichos?“ Der DigimonKaiser lehnte sich mit enttäuschter Miene zurück. „Sagen wir, ich kenne sie aus einem anderen Leben.“ „Aha“, murmelte Cody verständnislos, sein Blick wanderte zu Königin Nadine, die hinter dem Kaiser stand, in einem kostbaren schwarzen Kleid mit Goldmuster und ausladenden Röcken. „Hasst du mich, Cody?“, fragte der DigimonKaiser rundheraus. „Ich … weiß nicht“, murmelte er. „Ihr haltet selbst Sklaven, aber die Sklaverei in Masla wollt Ihr abschaffen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ Er konnte nicht verhindern, dass er vorwurfsvoll klang. „Meine Sklaven sind notwendig. Ich kann es nicht erklären, sodass du mir glaubst. Aber ich will, dass du weißt, dass die meisten Geschichten über mich Lügen sind.“ „Was Ken damit sagen will“, die Königin strich dem Kaiser mit einem verschmitzten Lächeln über die Brust und umklammerte seine Schultern, „ist, dass wir keine Tyrannen sein wollen. Und wir geben uns Mühe, gerecht zu sein. Das ist alles nicht so einfach, aber wir werden es hinbekommen. Und wir sind eure Freunde.“ Cody sah überrascht, wie der DigimonKaiser sich energisch aus der unverhofften Umarmung löste und ihre Hände abschüttelte. Er wirkte verärgert, und waren seine Wangen nicht ein klein wenig gerötet? Cody verstand die Welt nicht mehr. War das der Kaiser, der die DigiWelt in den Krieg gestürzt hatte und sie ein ums andere Mal erzittern ließ? Er wirkte so … menschlich. Cody fand ihn plötzlich sympathischer als noch vor einem Moment. „Also, hasst du mich?“ „Ich kann nicht gutheißen, was Ihr tut“, sagte Cody bestimmt. „Aber ich werde mir anhören, was Ihr zu sagen habt. Und wir sind nicht Quitt, Ihr habt noch etwas gut bei mir.“ Der DigimonKaiser lächelte fast schüchtern. „Das ist der Cody, den ich kenne. Obwohl ich gedacht habe, dass ich auf mehr Ablehnung stoße.“ „Ihr kennt mich nicht.“ „Doch.“ „Aus einem anderen Leben“, ergänzte die Königin. „Und sprich mich bitte nicht so formell an. Ich bin Ken.“ Meinte er das ernst? Cody schwieg, und er seufzte. „Ich kann dir, wie gesagt, nicht einfach alles so erklären, dass du es verstehst. Aber ich erobere die DigiWelt nicht aus Ehrgeiz oder aus Vergnügen. Eine dunkle Macht bedroht uns … Ja, so etwas Ähnliches wie der erste DigimonKaiser, falls du von ihm gehört hast. Die Schwarzen Türme sind der Schlüssel, wie man diese Dunkelheit besiegen kann. Darum muss ich viele davon bauen, verstehst du? Greif zu, Chichos“, forderte er das Mädchen freundlich auf, das den gefüllten Teller vor sich anstarrte. Glücklich aß sie mit den Fingern. Cody rührte seine Platte nicht an. „Ich weiß nicht, ob ich Euch glauben kann“, sagte er. „Man erzählt sich, Ihr wärt verrückt.“ „Höchstens ein kleines bisschen“, kam es von der Königin. „Nadine!“ Sie lachte. Cody lernte die beiden langsam neu einzuschätzen. „Wenn Ihr wirklich alle Sklaven in Masla befreit, dann kann ich Euch nicht böse sein, denke ich. Habt Ihr das wirklich vor?“ „Und ob“, sagte er sofort. „Nicht nur das, wir suchen Chichos‘ Gotsumon und dein Armadillomon.“ Armadillomon. Der Name brachte etwas wie eine Glaswand in Cody zum Schwingen, hinter der verschwommen etwas versteckt lag. Das kleine Wesen, dieser Jemand aus seinen frühesten Erinnerungen … „Ja“, sagte er, ohne darüber nachzudenken. „Ich meine, wenn Ihr das wirklich schafft, dann … dann unterstütze ich Euch.“ Der Kaiser nickte erlöst. „Gut. Fürs Erste ist es am besten, wenn du in der Stadt bleibst. Ich bleibe nicht lange, aber wir werden die öffentliche Ordnung wiederherstellen. Ich brauche jemanden, der Masla regiert. Du wärst, denke ich, als Berater ganz gut zu gebrauchen.“ Codys Mund klappte auf. „Berater?“ „Du hast einen klugen, besonnenen Kopf. Die direkte Führung überlasse ich jemand anderem, aber du kannst eines der hohen Ämter haben, die ich einführen werde. Was sagst du?“ Königin Nadine grinste wieder vielsagend und sagte etwas, auf das er sich keinen Reim machen konnte: „Es ist ja wohl unfair, dass deine Freunde alle Könige oder Ritter sind und du selbst nur ein befreiter Sklave.“ „Tu dein Bestes, wir passen einstweilen auf Chichos auf, und auf die ganze Stadt. Ich brauche jemanden wie dich, der etwas gegen ein neuerliches Aufkommen des Sklavenhandels tun kann. Du bekommst ein Quartier im Rathaus, oder hier, wenn du willst. Und eine Leibgarde. Du musst aber nicht, wenn du nicht willst.“ „Und wie passt Ihr auf Chichos auf?“ „Sie kommt auf den Rosenstein“, erklärte die Königin. „Als Gast in meinem Palast. Dort wird es ihr an nichts fehlen.“ Sie lächelte dem jüngeren Mädchen gewinnend zu. „Was meinst du?“ Chichos starrte sie mit großen Augen an. „Und … Gotsumon?“ „Kommt nach, sobald wir es gefunden haben.“ „Ich würde auch gern alles über weitere Menschensklaven wissen, von denen du gehört hast“, sagte der DigimonKaiser. „Du hast ein paar Tage Zeit, dir das zu überlegen. Wir wollen dir wirklich nichts Böses.“ „Ich möchte bei Cody bleiben“, sagte Chichos. „Kann er nicht auch mit auf diesen Stein?“ Das Herrscherpaar wechselte einen Blick. „Wenn er unbedingt möchte“, sagte der Kaiser. Wenn, dann würde Cody hierbleiben, um dafür zu sorgen, dass die Sklaven tatsächlich frei blieben. Er glaubte mittlerweile nicht mehr, dass man ihn hereinlegen wollte. Dafür war seit gestern Nacht zu viel geschehen, und so grausam konnte das Schicksal nicht sein. Außerdem hatte er etwas gesehen. Eine kleine Dose, aus der der DigimonKaiser eine Pille geschluckt und sie dann weggestellt hatte, als man Cody und Chichos in die Loge gebracht hatte. Er kannte den Zusammenhang nicht, und sicherlich war es bloßer Zufall, aber das Wappen der Zuverlässigkeit war darauf gemalt gewesen. Das Wappen auf seiner Halskette … Mit Sicherheit war es kein Omen, aber die jüngsten Ereignisse hatten ihn gelehrt, dass es angenehm war, an Omen glauben zu können. „Dann habe ich mich entschieden“, sagte er. „Ich will nur wissen, warum Ihr beide das alles für Chichos und mich tut.“ Der DigimonKaiser musterte sich nachdenklich, als müsste er sich erst eine Antwort überlegen, mit der sich Cody zufrieden geben konnte. „Weil wir Menschen schließlich zusammenhalten müssen.“   Tag 70 Seine Zelle war alles andere als luxuriös, aber sie war groß, und weder glaubte Matt, dass es in dieser toten Steinfestung so etwas wie Luxus gab, noch war er daran gewöhnt, es bequem zu haben. Zu seiner Verwirrung war er tatsächlich gut behandelt worden. Es gab dreimal am Tag warme Mahlzeiten, als versuchte ihn jemand für seine Gefangenschaft zu entschädigen. Einen getrennten Bereich mit Toilette gab es auch, aber diese Kabine ließ sich nicht abschließen. Er hatte ein Bett, das weicher war als alles, auf dem er in seiner Zeit bei den Wölfen geschlafen hatte, und Instrumente. Er wusste nicht, warum, aber der DigimonKaiser hatte ihm eine Mundharmonika und eine Gitarre bringen lassen. So etwas war in der DigiWelt sehr selten und schwer herzustellen; die Instrumente schienen zum größten Teil aus Knochen gebastelt worden zu sein, als Saiten dienten wohl Haare von Unimon oder anderen Digimon. Außerdem hatte man ihm ein Pult gebracht, eine Feder und ein Tintenfass und liniertes Papier, als wollte man, dass er Lieder komponierte. Welches Spiel spielte der Kaiser nun schon wieder mit ihm? Er rührte nichts davon an, aus Protest. Als der Hunger zu groß wurde, ließ er sich dazu herab, das Essen zu kosten. Es schmeckte nicht übel; meist war es eine Art Eintopf oder in Fleischsoße schwimmende Brotbrocken, würzige Suppe und dazu Salat und Gemüse, das sicher nicht aus der Kaiserwüste stammte. Der DigimonKaiser wollte ihn eindeutig verwöhnen, weichklopfen. Matt aß nur das, was seinen unmittelbaren Hunger stillte. Gabumon kannte da weniger Scheu; es schlang auch gern die Reste von Matts Portionen hinunter. Das war noch etwas, das er nicht verstand. Sie hatten ihm sein DigiVice abgenommen, aber Gabumon durfte bei ihm bleiben. Wären ihre Rollen vertauscht gewesen, hätte Matt den DigimonKaiser von jedem Kontakt zu seinen Vertrauten abgeschnitten, nur um sicher zu gehen. Der Wärter, der ihm das Essen brachte, war ein Kodokugumon, eine kleinere Ausgabe der haarigen Riesenspinnen, das von einem Schwarzen Ring kontrolliert wurde. Es sprach nicht mit ihm, und Matt hatte auch keine Lust, es etwas zu fragen. Gabumon versuchte anfangs noch, etwas von der Außenwelt in Erfahrung zu bringen. Umsonst. So vergingen die Tage in öder Eintönigkeit. Matt schwor sich, den DigimonKaiser zur Rechenschaft zu ziehen und Mimi zu finden. Ob sie in der Zelle gleich nebenan war? Die dicken Wände aus quaderförmigem Stein, die in der kalten Beleuchtung dunkelblau wirkten, ließen kein Geräusch hindurch. Von Rechts wegen war er nun der Shogun von Little Edo, aber die Chancen standen gut, dass das Shogunat mittlerweile in Trümmern lag, und es verband ihn auch nicht besonders viel damit. Er hätte nur gern gewusst, wie es zu diesem Verrat gekommen war. Wenn er daran dachte, stieß es ihm sauer auf. Musyamon war von Mimi verschmäht worden, das wusste er. Hatte das schon gereicht? Er fragte sich, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn Taichi an seiner Stelle die Braut bekommen hätte. Wo wäre er dann jetzt? Am meisten sorgte er sich um seine Wölfe. Sie waren entweder tot, durch Schwarze Ringe geknechtet oder versprengt. Ob er sie je wiedersehen würde? Alle bestimmt nicht. Aber so war wohl das Leben … Er musste wieder allein anfangen, allein mit Gabumon. Allein war es auch einfacher. Sie berieten sich kurz darüber, aber es war klar, dass sie nicht fliehen konnten. Wände und Boden waren aus Stein, die Decke hoch oben, aber ebenfalls aus Stein, sah man von den Kabelschächten ab, die so eng waren, dass er höchstens einen Arm hineinstecken konnten. Die Tür war aus massivem Metall, und immer, wenn sie aufglitt – eine Türschnalle oder etwas Vergleichbares gab es im Inneren gar nicht –, sah Matt vier Wachen davor stehen. Es waren nicht immer die Gleichen, aber sie sahen jedes Mal sehr schlagkräftig und grimmig aus. Er war über vier Wochen in Gefangenschaft gewesen – jeden Abend wurden die Neonröhren verdunkelt, so konnte er die Zeit abschätzen –, als er einen neuen Wärter bekam. Überrascht beobachtete er das Digimon, das in die Zelle gewatschelt kam und seinen Topf mit dem Mittagessen auf den Rückenstacheln balancierte. Ein Togemogumon. War das ein Zufall? Er glaubte, seinen alten Freund zu erkennen … aber dessen Augen glühten rot und an dem hellen, ungepanzerten Schwanz glitzerte ein Schwarzer Ring. Also hatte der DigimonKaiser es auch erwischt … und wollte Matt damit verhöhnen. Er fühlte Bedauern in sich aufsteigen, während er aß und das Stachelschwein die Zelle wieder verließ. Als es am Abend kam, den Topf einsammelte und ihm das Abendessen brachte, fielen Matt zufällig die tiefen Kratzer auf, die seinen rechten Vorderfuß zierten, dort auf der dunkelblauen Panzerung, knapp unter dem Zeichen der Freundschaft, jenem Wappen, mit dem die Wölfe ihre Zugehörigkeit zu ihrem Rudel gekennzeichnet hatten. Zunächst hielt er es für eine Verletzung, aber dafür schienen sie zu regelmäßig, zu … willkürlich zu sein. Togemogumon verließ ihn wortlos, aber er nahm sich vor, die Kratzer genauer zu untersuchen. Am nächsten Morgen wartete er gespannt darauf, dass Togemogumon wiederkehrte. Tatsächlich; es schien dauerhaft sein Gefängniswärter geworden sein. Auch Gabumon hatte er eingeweiht, und sie betrachteten die Kratzer gemeinsam. Hatten sie etwas zu bedeuten? „Der DigimonKaiser will meinen Willen brechen“, vermutete Matt, als das Digimon gegangen war. „Er nimmt unsere Kameraden gefangen und fügt ihnen Verletzungen zu, und zwingt uns, sie anzusehen.“ Es ekelte ihn vor diesem Jungen. „Ich glaube, da steckt etwas anders dahinter“, sagte Gabumon. „Togemogumon hat sich doch bisher immer versteckt, wenn es gefährlich wurde. Ich glaube nicht, dass er es gefangen hat. Wenn, würde er uns doch einen der wirklichen Wölfe zeigen.“ „Und was glaubst du, was es ist? Hat es überhaupt eine Bedeutung?“ „Hm.“ Gabumon verschränkte die Arme. Sein Horn wackelte, als es grübelnd die Stirn runzelte. „Es könnte ein Code sein.“ Da ging Matt ein Licht auf. Natürlich. Unter den Wölfen hatten sie sich Signale ausgedacht. Über weite Entfernungen konnten sie sich mit Heulen verständigen. Kurze Töne bedeuteten etwas anderes als lange oder mittellange, und der Abstand dazwischen war ebenfalls bedeutsam. So konnten Späher einfach und schnell das Rudel verständigen, wenn Gefahr im Verzug war, und im Falle einer Schlacht waren sie einfacher zu koordinieren. Beim Mittagessen zeichnete Matt die Kratzer auf Togemogumons Pfote ab. Plötzlich war er dem DigimonKaiser dankbar, dass er ihm Papier gegeben hatte. Es gab lange, mittlere und kurze Kratzer, und die Abstände … Die Botschaft war eindeutig. Sie hatten aber nicht für jedes Wort ein eigenes Signal, also war es nicht so einfach, denn Sinn herauszulesen. Das erste Signal bedeutete so viel wie: Ich habe einen Plan, es sieht nur verrückt aus, vertraut mir. Dann kam die kurze Strichfolge für die Schwarzen Ringe des DigimonKaisers, die auf freiem Feld bei der Evaluierung der Feinde wichtig war, und als Letztes das Signal, das er und Garurumon im Kampf dafür benutzten, um die anderen anzuweisen, dem Feind den Fluchtweg abzuschneiden, und dann der simple Code für Rückzug oder Flucht. Vertraut mir. Ich habe einen Plan. Das war gleichzusetzen mit: Es ist Absicht. „Hm.“ Matt grübelte eine Weile. Zeit genug hatte er; bis zum Abend wollte er den Code entschlüsselt haben. Er brauchte fünf Minuten. Dann wusste er es.   But one day time will come when war Period's suddenly completed The end of it is totally foreseen Conquerors will be defeated (Digimortal – The Ruins) Kapitel 28: In Dunkelheit getränkt ---------------------------------- Tag 70 Vertraut mir. Es ist Absicht. Schwarzer Ring. Schneidet ihnen den Fluchtweg ab. Flucht. Togemogumon war mutiger, als Matt immer geglaubt hatte. Es hatte sich mit Absicht einen Schwarzen Ring eingefangen, wahrscheinlich, als es offen über die Grenze spaziert war. Allein das war eine Heldentat für das eher ängstliche Digimon. Und es war auch viel selbstloser: Es war ein großes Risiko eingegangen und hatte versucht, den Ring an seinem Schwanz zuschnappen zu lassen, nachdem es sich, vermutlich mit seinen eigenen Krallen, die Nachricht eingeritzt hatte. Und Matt und Gabumon sollten diesen Schwanz nun abschneiden. Die Klingen auf seinem Rücken boten dazu gute Gelegenheit, und es wäre wieder frei, wenn auch verletzt und entstellt. Und es würde ihnen bei der Flucht helfen. Aber konnte es das? Und konnte Matt seinen Freund verletzen für ein aussichtsloses Unterfangen? Mit seinen Krallen konnte Togemogumon sogar durch Stein graben, und der hier in der Zelle war trocken und brüchiger als in den anderen Räumen, die Matt gesehen hatte, als man sie hierher gebracht hatte. Wieder beriet er sich mit Gabumon, und sie beschlossen, es zu versuchen. Togemogumon hatte seine Freiheit aufs Spiel gesetzt und erwartete nun, dass sie sie ihm zurückgaben. Als es kam, um das Abendessen zu holen, stapelten Matt und Gabumon das leere Geschirr in der Toilettenkabine. Togemogumon suchte schweigend danach und krabbelte darauf zu, langsam, wie es über der Erde nun mal war. Die Metalltür schloss sich einstweilen wieder. Kaum war es in ihrer Falle, stürzten sich die beiden auf es. Matt presste sein Kiefer zusammen, damit es keinen Laut von sich gab, und Gabumon bog seinen bleichen Schwanz und schabte ihn mit aller Kraft über die Rückenklingen. Togemogumon schrie, aber alles, was sein Maul verließ, war ein klägliches, dumpfes Geräusch. „Tut mir leid“, murmelte Gabumon, und noch einmal schnitt es. Dann hielt es plötzlich den blutenden Schwanz in der Hand, die grünliche Haut ausgefranst direkt unter dem Schwarzen Ring. Togemogumon riss die Augen auf, die allmählich wieder ihre normale Farbe bekamen, und Matt spürte, wie es von alleine die Zähne zusammenbiss. Vorsichtig ließ er los und griff schnell nach der bereitgelegten Rolle Toilettenpapier. So gut es ging band er die Wunde ab. Die dünnen Lagen stoppten den Blutfluss nicht, also riss er sein ohnehin zerfetztes Bräutigamgewand herunter und benutzte es. Eine Weile lag Togemogumon nur keuchend auf dem Bauch, mit Tränen in die Augen, und jedes Ausatmen wurde zu einem unterdrückten Stöhnen. „Alles in Ordnung?“, fragte Matt. Er reichte ihm den Becher mit Wasser, der ihm gehört hätte. „Schon … gut …“, ächzte Togemogumon. „Es hat … geklappt, oder?“ „Ja.“ Matt lächelte. „Alle Achtung.“ Das Digimon grinste schwach. „Wie hast du es geschafft, unser Wärter zu werden?“, fragte Gabumon. „Ich habe eine Empfehlung gestohlen“, sagte es piepsig. „Ein Schreiben von irgendeinem wichtigen Digimon an einen Ort, der Santa Caria heißt. Es hat einem Gizamon gehört, und man hat geschrieben, dass es ein vorzüglicher Gefängniswärter wäre, und wenn man dort in den Kerkern schwierige Digimon zu zähmen hätte, sei es genau das Richtige dafür, und mit Menschen würde es auch gut umgehen können. Ich habe gehofft, wenn die Truppen des DigimonKaisers das zwischen meinen Stacheln sehen, setzen sie mich als Wärter ein.“ Es sah sich um. „Es scheint, als hatte ich recht.“ „Das war brillant!“, rief Gabumon aus. „Es war verrückt“, sagte Matt trocken. „Wenn jemand merkt, dass du nicht mehr hier raus kommst, werden sie misstrauisch. Und der DigimonKaiser hat sicher Systeme, die Alarm schlagen, wenn ein Digimon mit Schwarzem Ring plötzlich ohne ihn auf den Gängen auftaucht. „Deswegen müssen wir uns beeilen.“ Togemogumon raffte sich auf und klimperte mit den Krallen. „Ich will mir die Wand ansehen und den Boden.“ Tatsächlich waren seine Krallen scharf und hart genug, um das weiche Gestein zu durchbohren. Im toten Winkel zur Tür grub es sich nach unten, aber es ging langsam. Matt bekam ein schlechtes Gewissen dabei, ihm zuzusehen. Es blutete immer noch aus der Wunde und war ohne Schwanz auch irgendwie wackelig auf den Beinen. Also half er mit, so gut es ging, räumte Schutt aus dem Weg und zwängte die Kabel, auf die es irgendwann traf, zur Seite. Die ganze Zeit erwartete er, dass jemand bei der Tür hereinkommen und sich erkundigen würde, wo der neue Wärter so lange blieb. Stunden, nachdem das Licht gedimmt worden war, stieß Togemogumon einen kleinen erfreuten Ruf aus. Es war durchgebrochen, wie Matt sah. Unter ihrer Zelle war ein düsterer Gang zu sehen. Togemogumon vergrößerte das Loch am Grund des Trichters, den es gegraben hatte, dann sprang als Erstes Gabumon hindurch, sah sich um und winkte den anderen. Matt packte einen Kabelstrang, der sich weit genug dehnte, dass er sich nur etwa anderthalb Meter in die Tiefe fallen lassen musste. Dennoch schmerzten seine Knie und sein Kreuz, als er aufprallte. Togemogumon folgte auf die gleiche Weise. In diesem Gang war es dunkel und unheimlich. Er war rund; die Wände waren unregelmäßig und wirkten erdig; alles war von einem warmen Rotton durchdrungen und dicke, fleischige Kabel schlängelten sich den Gang entlang, überwachsen von eklig aussehenden Flechten. Alles in allem sah es hier richtig … organisch aus. Es war, als wären sie in einen Teil der Festung geraten, der … falsch war. An einen Ort, an dem niemand sein sollte. Als Matt durch das erstickende, rötliche Licht den Gang entlang sah, kam er ihm wie die Speiseröhre eines riesigen, warzigen Ungeheuers vor. Ihn schauderte. „Schnell“, rief Togemogumon und lief wankend voraus in eine willkürliche Richtung. Gabumon und Matt folgten ihm; er hatte seine Gitarre mit, um wenigstens ein bisschen bewaffnet zu sein. Es sah auch nicht so aus, als würde ihnen hier unten jemand begegnen. Aber vielleicht gab es auch hier Überwachungsgeräte … Plötzlich blieb Gabumon stehen. „Hört ihr das?“ Sie hielten inne, und Gabumon schnupperte nun auch. Und Matt hörte die Schritte. „Verdammt“, zischte er. „Schnell, weiter!“ Es klang nicht nett, was da heranmarschierte. Sie hasteten den Gang entlang, der sich wie das Innere eines Wurmes vor ihnen her schlängelte. Der Boden unter Matts Füßen war weich, und es war ungewöhnlich feucht hier. Schließlich kamen sie zu einem Ausgang – in dem es so finster war, dass man nur Umrisse erkennen konnte. Etwas wie ein zertrümmerter Felsen ragte dort auf, und dahinter führten mehrere Treppen in verschiedene Gänge. Matt lotste die anderen durch den Raum und erklomm die erstbeste – und prallte zurück, als vor ihm plötzlich ein metallenes Mekanorimon auftauchte. Fast stolperte er die Treppe zurück hinunter. Gabumon drängte sich an ihm vorbei und tauchte das Maschinendigimon in blau glühendes Feuer, aber dessen Panzerung glühte nicht einmal auf. Stattdessen hob es die langen, krallenbewehrten Arme, um seine Opfer zurückzuscheuchen. Als Matt sich umsah, sah er auch von den anderen Treppen Mekanorimon herabsteigen. Sie waren umzingelt. Verdammt, nach allem, was Togemogumon durchmachen musste! „Was fällt euch eigentlich ein, euch hier herunter zu schleichen? Glaubt ihr, wir würden das nicht merken?“ Aus dem Gang, durch den sie gekommen waren, traten zwei weitere Mekanorimon, gefolgt von einem Clockmon; einer Uhr mit Armen und Beinen, auf der der Oberkörper einer Art Henker saß, der einen langen, simplen Hammer in den Händen hielt. „Wisst ihr nicht, dass es hier gefährlich ist?“, fragte es mit seinem Puppenmund. „Der DigimonKaiser hat hier die Macht der Dunkelheit besiegt. Er will euch wohlbehalten wiedersehen, wenn er zurückkehrt.“ Er hat die Macht der Dunkelheit besiegt? Das verwirrte Matt. Was mochte das bedeuten? Wichtiger war, dass der DigimonKaiser offenbar nicht da war – aber brachte sie das wirklich weiter? Clockmon seufzte. „Wir brauchen wohl eine neue Zelle für euch drei. Führt sie ab.“ Die Mekanorimon nahmen sie in ihre Mitte und stiegen mit ihnen eine bestimmte Treppe hinauf, die Hände erhoben, bereit, jederzeit zuzuschlagen. Matt wusste, dass ihre Flucht vorbei war. Würden sie je wieder eine Möglichkeit bekommen? „Hm. So.“ Clockmon stapfte ihnen sichtlich zufrieden hinterher. „Der Kaiser hat zwar für die Zeit seiner Abwesenheit keinen Kastellan ernannt, aber so wie ich das sehe, bin ich da der Kandidat, der am würdigsten ist.“ Matt verstand nicht, warum ein Digimon, das ihm nicht direkt böse vorkam, freiwillig vor dem DigimonKaiser glänzen wollen würde. Der DigimonKaiser hat hier die Macht der Dunkelheit besiegt. Wenn er selbst das Böse bekämpfte – wie böse war er dann selbst?     Tag 78 Tais Stiefel trat das zerfetzte Banner des Blutenden Herzens in die verkohlte Erde. Er sah sich um. Davis hatte den Überfall ein klein wenig zu spät entdeckt. Die meisten Digimon im Dorf lebten noch, aber die Häuser waren zumeist unrettbar verwüstet worden. Eine Schutthalde aus Asche war geblieben, mit angekokelten Holzbalken, die aus der schwarzen, teerigen Erde ragten. Die Luft stank nach Rauch. Er straffte die Schultern und marschierte auf das größte Gebäude zu, das noch stand, ein Lagerschuppen, dessen Strohdach verbrannt war und dessen Verstrebungen sich wie ein Gerippe in den Himmel reckten, aber der Brand war gelöscht worden, ehe er auf die Wände übergegriffen hatte. Die Reste der Einrichtungsgegenstände waren nach draußen geworfen worden, und nun diente er der Truppe aus dem Norden als Lager. Das Gelächter hörte er schon, ehe er eintrat. Davis hatte die kleine Truppe Monochromon und Allomon tatsächlich dazu gebracht, ihn zu mögen. Einige von ihnen hatten schon am Dornenwall mit ihm gekämpft. Es waren nur knapp zwanzig Digimon in der Langhütte, aber sie waren so groß, dass sie jeden freiem Raum ausfüllten, und sie machten so viel Lärm wie zweihundert. Tai hatte erwartet, dass sie sich an den Vorräten gütlich tun würden, aber nichts dergleichen war der Fall. Offenbar erzählten sie sich nur Geschichten und gingen die Schlacht noch einmal in all ihren heroischen Einzelheiten durch. Davis stand in ihrer Mitte, Veemon an seiner Seite. Sie tranken beide Bier aus Hörnern, beides Armeeeigentum. „Sir Taichi!“ Der Junge verschüttete Schaum, als er ihn sah. Seine Wangen waren leicht rot gefärbt. „Wie sieht es auf Eurer Seite des Nadelöhrs aus?“ „Ich bin hier, um mit den Gefangenen zu reden“, sagte Tai, nahm aber ein Horn, das ihm ein Allomon reichte. Schwarzbier, sehr stark. „Die Boten haben davon geredet, dass euch die Anführer ins Netz gegangen sind?“ „Allerdings!“, grollte das Allomon und deutete auf Davis. „Passt auf, Sir. Er wird der nächste sein, den König Leomon zum Ritter schlägt.“ „Zwei sogar“, antwortete Davis auf seine Frage. „Folgt mir. Ich bin gleich wieder da!“ Die anderen fassten seine Worte mit johlen auf. Wenn Tai nicht wüsste, dass Unmengen an Bier vonnöten gewesen wären, sie alle betrunken zu machen, nun, dann hätte er vermutet, dass sie sturzbesoffen waren. Davis führte ihn in eine Hinterkammer des Lagers. In zwei Koppeln gesperrt waren die Gefangenen der Brigantenhorde: eine ungeschlachte Meute aus Veggiemon, Numemon und anderen stinkenden Digimon in der einen, die Anführer in der zweiten. Es waren zwei Roachmon, Brüder, wie der Bote gesagt hatte, und sie hatten den Überfall gemeinsam durchgeführt. Offenbar waren sie gerade damit beschäftigt, sich gegenseitig die Schuld an ihrer Gefangennahme zu geben und sich auf die Rückenpanzer zu schlagen. „Ihr seid die Anführer?“, vergewisserte sich Tai. „Wir? Es gibt eventuell kein wir!“, blaffte die eine Küchenschabe. „Ich bin Anführer! Mein Bruder eventuell auch!“, setzte die andere dahinter. Tai fragte nicht nach, wo da der Unterschied war. „Ihr arbeitet für die Schwarze Königin, oder?“ Seit die ersten Brigantentruppen gut sichtbar die Standarten des Blutenden Herzens geschwenkt hatten, gab es daran keinen Zweifel mehr. „Ich stehe eventuell unter ihrem Schutz!“, sagte das eine Roachmon. „Ich eventuell auch!“, sagte das andere. „Aber weil mein Bruder den Überfall vermasselt hat, wird sie wohl eventuell nichts mehr mit uns zu tun haben wollen!“ „Wer hat ihn vermasselt, du Versager?“ „Na du, wer sonst? Ich hab dir eventuell gesagt, schlag nicht einfach von vorn drauf los! Nimm sie eventuell in die Zange, hab ich gesagt!“ „Das hab ich dir gesagt!“ „Lügner!“ „Schwächling!“ „Kennt ihr sie persönlich?“, unterbrach Tai den Streit. „Ja!“, riefen sie aus einem Mund und starrten einander hinterher finster an. „Dann wisst ihr, wo ihr Schloss liegt?“ „In den Nadelbergen!“ „Aber mein Bruder würde es eventuell nicht ohne meine Hilfe finden!“ „Selber!“ „Ruhe! Könnt ihr es mir auf einer Karte zeigen?“ „Selbst wenn.“ Die Digimon musterten ihn feindselig. „Was haben wir davon?“ „Ja, was haben wir davon?“ „Wisst ihr, wer ich bin?“ „Eventuell der Drachenritter. Wahrscheinlich.“ „Das wollte ich eventuell gerade sagen!“ „Schlafmütze!“ „Klugscheißer!“ Offenbar hatten sie ihn erkannt, zeigten aber trotzdem keinen Respekt. „Gib‘s auf, es ist hoffnungslos, mit denen reden zu wollen“, sagte Veemon. „Du kannst sie höchstens einzeln verhören.“ „Ich habe von unserem König die Vollmacht erhalten, euch freizulassen“, sagte Tai. Plötzlich waren die Streithähne ruhig – für einen Moment zumindest. „Was hast du gesagt?“ „Hast du ihm eventuell nicht zugehört, Idiot?“ „Ich sagte“, wiederholte Tai und betonte jedes Wort, „ich habe Vollmacht, euch freizulassen. Wenn ihr kooperiert.“ Davis sah ihn erschrocken an. Eben war er noch so triumphierend gewesen, nun wirkte er verwirrt. „Aber wir haben sie doch unter großer Mühe … Was hast du vor?“ Nun war es an Tai, triumphierend zu grinsen. „Du hast gute Arbeit geleistet, ja. König Leomon ist zufrieden. Du darfst weiter nach den Briganten suchen und ihre Stämme einen nach dem anderen bekämpfen. Was mich angeht, ich soll mich mit der Schwarzen Königin persönlich treffen.“     „Nicht so. Höher! Und schneller!“, rief T.K. ungeduldig, während das Schattenwesen sich abmühte, sein verkrüppeltes Stück Treibholz über den Kopf zu schwingen, und dabei vor Anstrengung schlürfende Geräusche von sich gab. „So erwischt dich ein Ring des DigimonKaisers doch schon beim ersten Versuch! Angemon, zeig es ihm nochmal.“ Er gab den Schattenwesen, die auf der Klippe standen, ein Zeichen. Von drei Seiten warfen sie faustgroße Steine auf Angemon, dessen Engelsaura majestätisch die Düsternis durchstrahlte. Mit zackigen und doch geschmeidigen Bewegungen ließ es seinen Stab wirbeln und traf einen Stein nach dem anderen im Flug. „Hast du gesehen? Du musst den ganzen Körper bewegen, nicht nur die Arme. Versuch es nochmal“, wies er das Schattenwesen an, das neben den zwei Dutzend anderen, deren Training er heute überwachte, mit seinen Stockübungen fortfuhr. T.K. hatte ein schlechtes Gewissen, diese im Grunde friedlichen Wesen im Kampf zu schulen. Aber wenn sie jemals in die DigiWelt kamen, musste er alles tun, um zu verhindern, dass der DigimonKaiser sie unter seine Kontrolle brachte. Ob sie sich mit ihren trägen Bewegungen und den unförmigen Stöcken gegen Schwarze Ringe oder gar Teufelsspiralen behaupten konnten, wagte er trotzdem zu bezweifeln – aber es war besser als nichts. Kari hatte gemeint, die Teufelsspiralen, mit denen Ken sie damals knechten wollte, hätten nicht ganz die erwünschte Wirkung gezeigt, aber in der DigiWelt mochte das anders sein. Er ging noch ein paarmal ihre Reihen ab. Die Schattenwesen machten kaum Fortschritte. Alles, was sie taten, wirkte halbherzig, und T.K. erwischt sich mehr als einmal dabei, wie er ungeduldig oder gar zornig wurde. Dieses verdammte Meer. Und diese verdammte Dunkelheit. Sie würden hier noch alle wahnsinnig werden. „Junge.“ Als T.K. sich umwandte, sah er Klecks auf sich zutrotten. Er erkannte ihn eigentlich nur an seinen beiden Begleitern, die größer waren als die meisten Schattenwesen. Wasser tropfte von ihrer wabernd grauen Haut. Während die Schattenwesen Kari ihre auserwählte Jungfrau, Lichtkönigin oder Braut nannten, sagten sie zu ihm immer nur schlicht Junge. Namen bedeuteten ihnen nichts, und es war auch nichts Abwertendes in dieser Bezeichnung, also hatte sich T.K. daran gewöhnt – fast. Junge. Von auserwählt keine Spur. „Habt ihr diesmal was gefunden?“, fragte er ohne viel Hoffnung. „Wir sind in jede Nische und jede Höhle des Riffs getaucht. Aber nirgendwo war etwas, das wir nicht schon woanders gesehen hätten“, sagte Klecks. T.K. seufzte. Es war einfach aussichtslos. Während Kari und er immer weiter verfielen, waren sie auf der Suche nach diesem ominösen Schlüssel noch keinen Deut vorwärtsgekommen. Sie hatten auch im Landesinneren nach Spuren gesucht, aber nach wenigen Kilometern war das Land nur noch eine braungraue Masse, ohne jedes Leben und ohne jede Abwechslung. Das Wort Einöde würde in höchsten Tönen loben, was sie gesehen hatten. Nein, wenn der Schlüssel irgendwo zu finden war, dann im Wasser. „Ich werde mir die Bücher nochmal ansehen. Ihr drei übt am besten mit den anderen mit.“ Er überließ sie Angemons Obhut und ging zum Leuchtturm zurück, den Kopf voller düsterer Gedanken. Vor der Tür traf er Gatomon, das die Beine über den Steg baumeln ließ. „Wie geht’s Kari?“, fragte er. „Es wird immer schlimmer“, sagte das Katzendigimon bedrückt und senkte den Kopf. „Ich mache mir große Sorgen. Wenn wir nicht bald in die DigiWelt kommen …“ Es ließ den Satz unbeendet, aber T.K. wusste, was ihnen dann blühte. Er fühlte es selbst. Ein verlorener Verstand wäre die rosigste Aussicht. Karis Träume hielten sie vom Schlafen ab. Sie war immer häufiger müde, dämmerte während dem Essen oder während eines Gesprächs weg und schlief mehrmals am Tag ein paar wenige Stunden, während der sie wieder Visionen plagten, aus denen sie nur noch erschöpfter erwachte. Sie wurde immer wortkarger und verlor immer mehr den Appetit. Gatomon machte sich nicht als Einziges Sorgen um sie. „Wenn wir nur von jemandem Hilfe bekämen“, seufzte er gequält. „Von Azulongmon oder Gennai … oder Izzy. Wenn uns nur irgendjemand sagen könnte, was los ist und was wir tun sollen! Wir irren nur in der Dunkelheit herum. Und Karis Visionen sind zu vage, als dass sie uns groß nutzen würden.“ Gatomons Blick wurde seltsam. Sein Schwanz zucke unruhig. „Darüber wollte ich mit dir reden“, sagte es leise. „In Wahrheit werden Karis Visionen immer deutlicher.“ „Was sagst du da?“ „Sie träumt jetzt von Digimon, die sie eindeutig erkennen kann, und auch die Landschaft wird immer klarer, und sie versteht die Gedanken von denen, die sie sieht“, sagte Gatomon gezwungen ruhig. „Es sind nicht mehr nur verworrene Bilder, die irgendeine Bedeutung haben könnten. Sie hat mir von einem Digimon erzählt, das neben ihr die Träume anderer Digimon aushorcht. Von Digimon, die an einer Seuche leiden, und von einem brennenden Bambuswald, von Menschen, die sich gegenseitig gefangen nehmen. Und von Tai … sie hat gemeint, er habe Schmerzen, und sie hat gefühlt, wie eine Hälfte ihres Gesichts brannte.“ „Wieso hat sie mir nichts davon gesagt?“ „Sie wollte dich nicht beunruhigen“, murmelte das Digimon beklommen. „Aber wir müssen etwas tun! Je schwächer sie wird, desto mehr kann sie erkennen. Dass sie so klare Dinge sieht, zeigt nur, dass sie am Ende ihrer Kräfte ist! Es ist, als würde ihr Geist mehr und mehr in die DigiWelt gezogen.“ „Aber wieso?“ T.K. verstand nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hatte. „Je mehr die DigiWelt in Dunkelheit versinkt, desto mehr ruft die DigiWelt nach einem Licht. Und dieses Licht ist Kari“, mutmaßte Gatomon. „Wer ruft sie? Die Digimon?“ „Ich glaube, etwas anderes … etwas Abstrakteres. Die DigiWelt selbst, oder die Heilige Macht, die Kraft zum Schutz der DigiWelt, etwas in der Art. Wir kommen von hier nicht weg, also zieht es sie in ihren Träumen dorthin. Je schwächer sie wird, desto weniger kann sie sich wehren … und je mehr sie in die Dunkelheit eintaucht, die sich in der DigiWelt zusammenballt, desto schlechter geht es ihr.“ T.K. schluckte hart. Wenn das stimmte, hatten sie noch viel weniger Zeit. Kari, warum hast du mir nur nicht gesagt, wie schlecht es dir geht? „Ich werde diesen Schlüssel finden“, versuchte er Gatomon Mut zuzusprechen. „Wenn uns niemand helfen kann, müssen wir uns selbst helfen.“ Im Untergeschoss des Turms vergrub er sich wieder in seinen Büchern. Dabei kannte er sie bereits in- und auswendig. Zum wiederholten Male überflog er die Originaldokumente, die direkt vor und nach dem Absatz mit dem Schlüssel ins Sammelwerk übertragen worden waren, aber sie schienen nichts damit zu tun zu haben. Als seine Augen und sein Genick schmerzten, lehnte er sich stöhnend zurück. Er wünschte sich, es würde einfach ein Wunder geschehen und sie von hier fortbringen. Oder wer auch immer diese Bücher hinterlassen hatte, würde plötzlich auftauchen und ihm alle Antworten geben, nach denen der suchte. Oder MagnaAngemon könnte ganz einfach ein Himmelstor in die DigiWelt öffnen, oder sie würden auf ein Tor wie das in Myotismons Schloss stoßen. Für einen kurzen Moment wünschte sich T.K. sogar Deemon herbei, damit es ihm zeigte, welchen Trick es selbst benutzt hatte, um von hier fortzukommen. Wenn wenigstens Dragomon noch leben würde. Es war der Gott dieser Welt und hat sicher all ihre Geheimnisse gekannt. Er setzte sich kerzengerade auf. Eben war ihm eine Idee gekommen – warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Er lief nach oben, nach draußen, und suchte Klecks. Der König der Schattenwesen war gerade auf dem Weg zum Leuchtturm. T.K. zerrte ihn nach unten in sein Studierzimmer. „Sag mir alles, was du über Dragomon weißt“, verlangte er. Klecks schwieg eine Weile und sah ihn aus klugen Augen an. „Unser Gott war hier, bevor wir hier waren. Und dann kamen wir, um ihm zu dienen.“ „Hat er zu euch gesprochen? Habt ihr ihn oft gesehen?“ „Manchmal erschien er, oder wir sahen seinen Umriss. Er befahl uns nie etwas, aber wir beteten ihn dennoch als unseren Gott an. Wir wussten, dass er uns vor Unheil beschützte, bis zu dem Tag, als uns gesagt wurde, ein anderer Gott würde nun über uns herrschen.“ „Aber das ging vorüber“, sagte T.K. ungeduldig. „Der DigimonKaiser wurde besiegt und ihr konntet wieder in Frieden leben. Und als Deemon auftauchte, hat sich auch nicht viel geändert, richtig?“ „Eines Tages kam ein Wesen aus einer fremden Welt zu uns, aber wir sahen es kaum, denn es gab sich nicht mit uns ab. Ich weiß nur, dass unser Gott von da an seltener vor uns erschien. Und eines Tages wussten wir plötzlich, dass unser Gott tot war, und wir spürten, dass diese andere Macht unsere Welt ebenfalls verlassen hatte.“ T.K. dachte fieberhaft nach. Vielleicht gab es zwischen Dragomons Tod und Deemons Entkommen tatsächlich eine Verbindung. Er hatte diesen Gedanken schon einmal gehabt, aber er war der Ansicht gewesen, Deemon hätte den Gott der Schattenwesen einfach im Kampf getötet. Schließlich waren beide Digimon. Er meinte sich an Deemons Worte zu erinnern, als Ken im Westend-Viertel das Tor zum Meer der Dunkelheit geöffnet hatte. Das Meer Dragomons hatte es diese Welt genannt. Deemon kannte Dragomon also bereits, vielleicht … „Hatte euer Gott irgendwelche Lieblingsplätze? Orte im Meer, an denen er sich oft aufgehalten hat?“, fragte er. „Es gibt einige Stellen, an denen er oft erschienen ist. Tiefe Gräben und hohe Grotten“, erwiderte Klecks. „Viele sind weit, weit weg von hier.“ „Nimm alle von deiner Sorte mit. Keiner braucht mehr zu trainieren. Untersucht diese Orte und haltet auch Ausschau nach einem Ei oder etwas Ähnlichem.“ Hier gab es keine Stadt des Ewigen Anfangs. Falls Dragomon tot war, war womöglich ein DigiEi an Ort und Stelle übriggeblieben. Klecks nickte und verzog sich, aber T.K.s Euphorie verflog recht schnell. Im Grunde hatte sich an ihrer Situation nicht viel verändert. Selbst wenn sie keinem Hirngespinst hinterherjagten, hatten sie, wenn überhaupt, ihre Suche nur etwas eingegrenzt. Bei der unendlichen Fläche, die das Meer einnahm, bedeutete das so gut wie nichts. Er fühlte sich müde, als er in der Lichtkammer ankam. Kari stand an der Brüstung und blickte auf das Meer hinaus. Sie sah bemitleidenswert aus, abgemagert und mit tiefen Ringen unter den Augen. T.K. wusste nicht, welchen Anblick er selbst bot, und er wollte es gar nicht wissen, aber ihr ging es eindeutig schlechter. Als sie sich zu ihm herumdrehte, wankte sie leicht. Die Hand, die sie auf die Brüstung gelegt hatte, schien sie als Stütze zu brauchen. „Devimon lebt“, sagte sie unvermittelt. T.K. riss die Augen auf. „Was sagst du da?“ „Es lebt. Ich habe es im Traum gesehen … Nur seine Umrisse, aber es war ganz sicher ein Devimon. Es arbeitet für den DigimonKaiser, das weiß ich.“ Erschüttert trat er zu ihr. Devimon … Das Digimon, das ihm immer als Inbegriff des Bösen in Erinnerung bleiben würde. Ihr allererster Feind in der DigiWelt, den zu bezwingen Angemon sein Leben gekostet hatte, vor so vielen Jahren. Das Wesen, das ihn lange Zeit in seinen Träumen verfolgt hatte. Er erinnerte sich, wie Ken seine Daten aus dem Dunklen Strudel gesaugt hatte, und wie zornig er darüber gewesen war. Dass der neue DigimonKaiser es ebenso in seine Dienste zwingen wollte, weckte alten Hass. „Bist du sicher, dass es dasselbe Devimon ist?“ Kari war damals immerhin nicht dabei gewesen, vielleicht … Sie schüttelte den Kopf. „Sicher bin ich mir nicht. Aber in den Raum, in dem es war, schwebten Zahnräder. Sie waren tintenschwarz.“ Zahnräder … T.K.s Hoffnung schwand dahin. Das wäre zu viel des Zufalls. „Es stand vor einer Steinplatte“, fuhr sie fort. „Irgendetwas war darauf geschrieben … Ich glaube, es war wichtig, aber ich weiß nicht, was es war. Wenn ich wieder schlafe, erfahre ich es vielleicht.“ Sie wandte sich ab und wollte auf ihre Liege zugehen, aber T.K. ergriff sie eilig am Handgelenk. „Nein, warte. Lass uns rausgehen.“ „Rausgehen?“ „Machen wir einen Spaziergang am Strand. Du warst ewig nicht mehr im Freien, du musst dir die Füße vertreten.“ Er würde sie nicht mehr einfach so schlafen lassen, nicht, wenn das bedeutete, dass er sie mehr und mehr an die Dunkelheit verlor. Bisher hatte er vor allem auf ihre Gesundheit Rücksicht genommen, aber nun ging es um ihr Leben. Er würde sie so lange wach halten, bis sie so erschöpft war, dass sie auf der Stelle tief und fest wie ein Stein einschlafen konnte. „Unsinn“, sagte sie und streifte seine Hand ab. „Wenn ich schlafe, verstehe ich besser, was in der DigiWelt vor sich geht. Vielleicht erfahre ich etwas, das uns hilft.“ „Und ich sage dir, wir gehen spazieren!“ „Was ist denn los mit dir?“, fragte sie und klang gereizt. „Vielleicht morgen. Ich bin müde, und du solltest auch ein wenig schlafen.“ „Du wirst dich auf keinen Fall einfach so opfern!“, platzte es aus T.K. heraus. „Wieso opfern?“ Dann weiteten sich ihre Augen, ehe sie schmal wurden. „Du hast mit Gatomon geredet.“ „Es macht sich große Sorgen! Und ich mir auch!“ „Von der DigiWelt zu träumen, ist alles, was ich tun kann. Also muss ich träumen.“ „Du hast schon Klecks geheiratet – reicht das nicht?“ „Und seit ich ihn geheiratet habe, kann ich nur mitansehen, wie diese armen Kreaturen sich auf den Krieg vorbereiten, in den wir sie schicken wollen, während ich mich wie eine dicke Bienenkönigin hier im Leuchtturm bedienen lasse!“ T.K. war sprachlos. Sie hatte allen Ernstes Mitleid mit den Schattenwesen! Mit diesen schmierigen, hässlichen Ungeheuern, die nichts anderes wollten, als mit ihr Nachwuchs zu zeugen! „Dann komm mit mir nach draußen“, knurrte er. „Üb dich auch im Kämpfen oder hilf ihnen suchen, wenn du es hier drin nicht mehr aushältst.“ „T.K, versteh doch endlich, es ist wichtig, dass ich …“ „Nein, ich verstehe es nicht!“, unterbrach er sie. Der Zorn war wieder da. „Ich verstehe dich nicht. Sorgst du dich kein bisschen um dich selbst? Ist dir völlig egal, was mit dir geschieht? Bitte! Tu doch, was du willst! Träume vom Ende der Welt, wenn es dich so glücklich macht!“ Und obwohl er wusste, dass er sie nun unter keinen Umständen allein lassen durfte, wandte er ihr den Rücken zu und stapfte davon.   Behind these shadows of mankind Waiting for the time when I can return, I return With you together, but never here I stand alone, waiting when you will learn, when you learn (Celesty – Legay of Hate Part 3) Kapitel 29: Knochen und Stahl ----------------------------- Tag 78   Nach den Tagen in der Wüste war es an der Felsenklaue beinahe kühl. Wolken standen am Himmel, rosa und verträumt im Abendlicht, und der Palast sah wieder einmal zauberhaft aus. Ken ließ Airdramon auf einem der Türme landen. Es hätte sich sonst so angefühlt wie letztes Mal. Die Dinge liefen gut. Nadine kümmerte sich noch darum, einen geeigneten Verwalter für Masla zu finden, nachdem sie Jagamon abgesetzt hatte – wegen Feigheit, wie sie betonte. Ansonsten hatte sie alle Hände voll zu tun, auch wenn Ken glaubte, dass sie es schaffen würde, die Stadt zu einen: Es hatte mehrere Revolten gegeben; die Sklavenhändler wollten sich nicht so einfach ihrer Rechte berauben lassen. Mehr als eines der reichen Digimon saß im Kerker oder in einem Pferch im Armeelager. Kriege endeten nicht mit gewonnenen Schlachten, sondern mit der Wiederherstellung der Ordnung. Cody würde der oberste Minister für Innere Angelegenheiten werden, darauf hatten sie sich geeinigt. Er und Chichos waren beide in Masla geblieben, aber es stellte sich als schwierig heraus, ihre Digimon zu finden. Ken wusste bei all den Gotsumon sowieso schon nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Armadillomon war vermutlich ziemlich einzigartig, zumindest hatte er noch keines gesehen, seit er in der DigiWelt war, aber das machte die Sache auch nicht einfacher. Kaum einer der Sklavenhändler hatte Buch geführt über seine Ein- und Verkäufe. Und einige Sachen konnte er nicht aufschieben. Als er mit Sir Taomon den Thronsaal erreichte, wartete ihm Nadines Kastellan auf, ein MudFrigimon, das bis auf seine braune Farbe seinen weißen Namensgenossen zum Verwechseln ähnlich sah. Es reichte ihm Unmengen an Schriftrollen und bedruckten Zetteln. Die Nachrichten der vergangenen Woche. Seine Botschaften waren angekommen, hier waren die Rückmeldungen. Seufzend zog sich Ken in eine Turmkammer, wo er einen Schreibtisch, Tinte und Feder fand, zurück, um die Berichte zu sortieren und sich durch sie hindurch zu quälen. Befehle darauf zu kritzeln oder auch nur sie zu unterzeichnen war eine Tortur sondergleichen – mit einem Federkiel zu schreiben klang viel einfacher, als es war. Seine Hand begann dabei schmerzhaft zu pochen, und er nahm ein paar von Joes Pillen, weil die auch ganz gut gegen den Schmerz halfen. Er musste sich endlich einen Füller besorgen. Während Taomon gewissenhaft vor der Tür Wache hielt, brach die Nacht herein. Die Nachrichten betrafen nur seinen Teil des Reiches, da Nadines Berater sich noch nicht ganz damit abgefunden hatten, dass sie mittlerweile nicht nur Verbündete, sondern ein großes Ganzes waren, aber nach den politischen und diplomatischen Anstrengungen der letzten Tage war ihm das nur recht. Ogremon war zurückgekehrt, lautete die erfreuliche Nachricht. Es war allein und verletzt gewesen, das war der wenig erfreuliche Teil daran. Es machte anscheinend auf starker Mann in der Festung, konnte aber kaum kämpfen. Er würde selbst mit ihm reden müssen, da es sich nicht von Jijimon behandeln ließ und unentwegt über alles und jeden fluchte. Dann eine Nachricht von Spadamon. Ihm war langweilig. Ken schmunzelte. Seine Antwort beinhaltete Anweisungen, dass es nach Norden ziehen sollte, um Tai und Davis im Auge zu behalten. Seine alten Freunde zu finden war das eine Problem gewesen – das andere war, dass sie natürlich nicht einfach auf der Landkarte stillhielten. Andere Nachrichten waren sogar alarmierend. Die Armee des Löwenkönigs hatte die Nordgrenze überschritten und seine Stützpunkte unterhalb des Bandes angegriffen. Briganten waren bis jenseits der Großen Ebene vorgestoßen, um in seinen Dörfern zu plündern. Die Flotte unter Großadmiral MegaSeadramon hatte etliche Seemeilen östlich der Knöchelküste eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht: eine nicht kartographierte Insel. Die Seadramon waren dann von einigen Tylomon der Wissensarmee abgelenkt worden, die ganz in der Nähe auf Erkundung waren, und hatten Gefangene gemacht. Bei der Jagd waren sie für Stunden vom Kurs abgekommen, und als sie zurückkehrten, hatten sie die Insel nicht mehr finden können. Ken legte die Nachricht stirnrunzelnd zur Seite. Er würde wohl selbst mit MegaSeadramon sprechen müssen. Unzuverlässige Berichte konnte er in diesen chaotischen Zeiten nicht brauchen. Musyamon schrieb wie immer von seinen wirtschaftlichen Erfolgen. Schön langsam kehrte wieder Ruhe ins stürmische Little Edo ein, und der Sake-Export begann wieder. Ken hoffte, durch die Wirtschaft in der belebten Gegend das stagnierende Wachstum seiner anderen, zumeist wüstenartigen Gebiete neu anzukurbeln. Er verfasste eine Antwort, in der er alles über Musyamons und seine eigenen politischen Gegner wissen wollte, um nichts zu verpassen. Der ehemalige Samurai berichtete nur ungern von seinen Problemen. Die lästigen Kleinigkeiten des Herrschens wie unzufriedene Bauern, Rechtsstreitigkeiten oder Bittstellungen hätte er für die Dauer seines Feldzuges auf die Hagurumon abgewälzt, aber die brauchten strikte Anweisungen und waren nicht flexibel genug, um alle Aspekte der jeweiligen Situation zu berücksichtigen. Also hatte er sich die wichtigsten zukommen lassen, während die anderen auf Eis gelegt wurden. Er brauchte bis zum Morgengrauen, ehe er alles durch hatte. Gähnend trat er schließlich wieder vor die Tür, wo ihn Taomon mit einem Nicken begrüßte. Das Digimon hatte wie er nicht eine Minute geschlafen. Auf dem Weg zu seinen Gemächern durchquerte er die Festhalle, um ein paar Bissen des Frühstücks zu essen, das die Diener eben auftrugen. Dort erwarteten ihn die DigiRitter, die er aus der Lotusblüte befreit hatte, die vier Mädchen und der Junge samt ihrer Digimon. Sie hatten sich nicht etwa schon gesetzt, sondern standen in Reih und Glied vor dem Tisch. „Ihr könnt ruhig schon essen. Fürs Erste seid ihr unsere Gäste hier“, sagte Ken. Er schnappte sich ein Fladenbrot mit Honig, das er auf dem Weg ins Bett kauen würde. Er war so müde, dass er wohl auch auf einem Esszimmerstuhl einschlafen würde. Mina verneigte sich leicht und sagte: „Wir wollten Euch dafür danken, dass Ihr uns aus der Lotusblüte geholt habt.“ Ken blieb stehen. „Das ist selbstverständlich.“ Ohne mich wärt ihr vielleicht niemals dort gelandet. Hätten wir Deemon damals besiegen können, anstatt es nur zu verbannen, wäre das alles nie passiert. Mina sah zögernd zu den anderen. „Wir haben uns gefragt, was Ihr nun mit uns anstellen wollt.“ „Das habe ich mich auch gefragt.“ Ken biss von seinem improvisierten Toast ab und dachte kauend nach. Was sollte er überhaupt mit den Menschen anstellen, die er in der DigiWelt traf? Sie waren ständig in Gefahr, da sie nicht wiedergeboren wurden. Er konnte Deemon immer noch nicht verzeihen, dass er diese Mädchen zu hilflosen, eingeschüchterten Spielobjekten gemacht hatte, aber im Moment war ihm das sogar lieber, als wenn jemand wie Yolei munter in der DigiWelt herumlief, als seine Feindin Unfrieden stiftete und sich höchstwahrscheinlich mit jedem zweiten Schritt, den sie machte, in Gefahr brachte. Oder dass jemand wie Mimi als rechtmäßige Königin des Gekomon-Reichs irgendwo auf der Ebene verschwunden war. Oder dass jemand wie Sora als dunkle Herrscherin Digimon und Menschen quälte … Einmal mehr wurde ihm klar, dass Deemon die Wahrheit gesagt hatte, als es von einem Spiel sprach. Wären sie keine Figuren zu seiner Unterhaltung und Kens Demütigung, hätte es sie auf dem Spielbrett einfach allesamt mitten in den Ozean gesetzt und ertrinken lassen. Zumindest diese fünf hier waren Kens Eroberungsplänen nicht im Wege. Er schob den Bissen von einer Backe zur anderen. Wenn sie hierblieben, würde Nadine gewiss von ihrem Schicksal erfahren, und das wollte er nicht. „Ihr könnt Speisen auftragen und Wein ausschenken, oder?“ Die ehemaligen Sklaven nickten unisono. „Ich werde euch hier als Diener einstellen. Es sollte euch an nichts fehlen, und auf dem Rosenstein ist es relativ ungefährlich. Aber ich will nicht, dass ihr Königin Nadine oder sonst irgendwem, der es nicht schon weiß, von eurer Herkunft erzählt. Verstanden?“ „Ihr seid sehr großzügig, Majestät“, sagte Mina so unterwürfig, dass er die Süße des Honigs in seinem Mund auf einmal grässlich fand. „Vielen Dank“, murmelte auch ein Mädchen chinesischer Abstammung. Ihr Name war Yuehon, wenn er sich nicht irrte. „Wir haben oft davon geträumt, Masla endlich zu verlassen. Nur eine von uns hat es je geschafft zu entkommen.“ „Ich fürchte nur, ich kann euch nicht einfach durch das Land ziehen lassen“, meinte Ken bedauernd. „Rosenstein wird in gewisser Weise auch eine Art Gefängnis für euch sein. Aber die Königin und ihre Digimon sind sehr nett“, beeilte er sich hinzuzufügen. Er wollte schon gehen, als er, müde, wie er war, erst jetzt verstand, was sie gesagt hatte. „Es ist eine Sklavin entkommen?“ „Als Lotusmon nicht aufgepasst hat, aber es ist schon lange her.“ Mina wich seinem Blick aus. „Wir anderen wurden hart dafür bestraft, aber Sora war damals so etwas wie eine Heldin für uns.“ Ken fühlte sich, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren. Sora … Er musste sich an einer Stuhllehne festhalten. Ein eisiger Schauer rieselte fast schmerzhaft über seinen Rücken. „Sag … sag ihren Namen nochmal. Sagtest du Sora?“ Wieder gleichzeitiges Nicken. „Beschreibt sie mir!“, befahl Ken hysterisch, obwohl es kaum einen Zweifel gab. Sein Atem ging schneller. Was ging hier vor … Das konnte doch nicht … „Sie war groß und sehr schlank. Sie hatte eine helle Stimme, ein weiches Herz, und orangerotes Haar …“ Ein weiches Herz. Ken fühlte sich so kraftlos, dass er nicht einmal wütend die Faust auf den Tisch donnern konnte, was er eigentlich tun wollte. Sora war in der Lotusblüte gewesen … Mit wackeligen Knien und unter den besorgten Blicken der fünf DigiRitter und ihrer Digimon stand er auf. „Entschuldigt mich. Erholt euch für den heutigen Tag, wir sprechen morgen weiter.“ In seinen Gemächern angekommen, warf er die Tür hinter sich zu und lehnte sich tief durchatmend dagegen. Deemon! „Du rufst mich in letzter Zeit erstaunlich oft, Ken. Kann es sein, dass dich meine Spielzüge überfordern?“ Deemon stand direkt vor seinem Bett, wie um zu symbolisieren, dass er keine Ruhe haben würde, solange er dieses Spiel nicht gewonnen hatte. Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Drehst du das Spielbrett so, wie es dir gerade passt? „Aber nicht doch, Ken. Ich dachte, ich hätte dir schon erklärt, dass ich die DigiWelt nicht mehr verändern kann. Alles, was du siehst, stand von Anfang an fest.“ Du hast gesagt, Sora wäre die Schwarze Königin! Sie herrscht in den Nadelbergen über eine Armee aus Geistdigimon! „Natürlich tut sie das.“ Deemon kicherte. „Ihr Thron und ihre Krone standen bereit, als das Spiel begann. Deine Freundin selbst befand sich aber in einer anderen Ausgangsposition.“ Während seinem angedeuteten Lachen drehten sich Kens Gedanken im Kreis. War sie deshalb so … böse geworden? Hatte sie ein traumatisierendes Erlebnis in der Lotusblüte? Er konnte sich Sora trotzdem nicht als eine so finstere Figur vorstellen. Etwas hakte immer noch an der Sache. Soll das heißen, sie ist aus Masla bis in die Nadelberge geflohen? Mit Piyomon? „Das heißt es, schätze ich.“ Und du hast ihr von vornherein diese Armee aus Geistern gegeben? Du wusstest, wie sie sich entwickeln würde? „Dir das zu verraten ginge wohl zu weit“, meinte Deemon amüsiert. „Glaub nicht, dass ich jede deiner Fragen beantworten würde, nur weil du es verlangst. Immerhin verbannst du mich immer wieder aus deinem Kopf, Ken.“ Wenn du nicht wieder verbannt werden willst, antworte mir! Aber Deemon lachte nur und zog sich von selbst zurück. Ken stand allein in seinem Schlafzimmer und schmeckte Galle auf der Zunge.     Tag 79   Das Schloss lag angeblich gut in den Bergen versteckt, aber wusste man, wo man zu suchen hatte, fand man es eigentlich ganz schnell. Mit seiner Drachenstaffel, den sieben Megadramon, auf dem Kopf von einem von ihnen sitzend, hielt Tai direkt auf den grauen, unförmigen Felsklotz zu. Obwohl der Flugwind so heftig war, dass ihm Tränen in die Augen stiegen und sein Umhang wie verrückt flatterte, hielt WarGreymon mühelos mit ihrer Geschwindigkeit mit. Als sie das Schloss erreichten, zogen die Megadramon brüllend und kreischend darüber ihre Kreise, sodass sie hoffentlich jeder im Schloss hörte, und Tai gab seinem Partner ein Zeichen, da es viel lauter rufen konnte als er. „Ergebt Euch, Schwarze Königin!“, rief es, als die Drachen wieder schwiegen, und seine Stimme hallte von den Bergen und in den Tälern der Nadelberge wider, ehe der allgegenwärtige Nebel sie verschluckte. „Wir sind genau über Euch. Kommt raus, oder wir zerstören Euer Schloss!“ Die Königin kam nicht heraus – allerdings eine Horde Bakemon und Phantomon, die direkt aus den Steinwänden flogen und sich auf die Drachenstaffel stürzten. Aussichtslos. Tai hob den Arm. Die Megadramon klappten ihre Raketenrohre auf und deckten die Digimon mit Explosionen ein. WarGreymon stieß, um die eigene Achse wirbelnd, ein Phantomon zur Seite, das Tai direkt angreifen wollte. Selbst als sich alle Geister in Rauch und Daten aufgelöst hatten, hörten die Megadramon nicht mit ihrem Bombardement auf. Raketen trafen die nahen Berghänge und die dicken Mauern des Schlosses, rissen riesige Krater hinein und ließen das ganze Bauwerk erzittern. Türme bröckelten, stürzten in die Tiefe, brachen zusammen, Zinnen und Wehrgänge wurden gesprengt, Raketen spalteten enge Scharten, flogen in Fenster und zerrissen die Räume des Schlosses von innen heraus. Jeder darin musste nun wissen, dass mit ihnen nicht zu spaßen war. Tai hatte vor, diese Aufgabe mit Bravour zu lösen. Als ein weiterer Geist aus dem Mauerwerk schwebte, wollten die Megadramon ihn sofort ins Visier nehmen, aber Tai hielt sie zurück. Das Bakemon trug einen seltsamen Hexenhut – und schwenkte eine weiße Fahne. Der Drachenritter hieß die Drachenstaffel, den Angriff einzustellen. Das Megadramon, auf dessen Kopf er ritt, mühte sich ab, mit heftigen Flügelschlägen auf der Stelle zu bleiben, was nicht gut gelang, aber immerhin war sein Flug nun langsam genug, dass das Soulmon mit Tai sprechen konnte. „Ich bin Soulmon. Die Königin wird Euch empfangen“, sagte es nuschelnd. WarGreymon schwebte zwischen das Digimon und Tai. „Sie soll herauskommen, haben wir gesagt.“ „Bedaure, die Königin verlässt ihr Schloss niemals. Sie wartet in ihrem Thronsaal auf Euer Anliegen.“ Tai war der Ansicht, sein Anliegen bereits klar genug vorgetragen zu haben. „Das ist eine Falle, Tai“, argwöhnte WarGreymon. Er überlegte kurz. „Vielleicht. Aber wenn du mit mir ins Schloss kommst, was kann dann passieren? Holen wir die Königin eben einfach ab.“ „Wenn Ihr mir dann bitte folgen würdet.“ Soulmon verneigte sich ein wenig, ehe es wieder zum Schloss hinabschwebte, von dem dichte Rauchschwaden aufstiegen. Tai stieg von Megadramon auf WarGreymons Rücken und ließ sich von ihm auf dem kraterübersäten Burghof absetzen, während seine Drachenstaffel weiter Kreise flog. Immerhin war Soulmon so schlau, nicht einfach wieder in eine der Wände zu verschwinden, sondern den menschlichen Weg zu nehmen. Es führte sie durch eine Holztür, die von den Angriffen aus den Angeln gerissen worden war, in einen Rundturm und dort eine Steintreppe in die Tiefe. Das Herz des Schlosses lag offenbar tiefer im Berg, als er gedacht hatte. Während Tai, gefolgt von WarGreymons laut trampelnden Schritten, sich durch die Gänge führen ließ, kamen sie an vielen eisenbeschlagenen Türen mit vergitterten Sichtluken vorbei. Viele davon waren mit schweren Vorhängeschlössern versehen. Er fragte sich, ob hier Gefangene eingesperrt waren, aber kein Laut war zu hören. Fackeln leuchteten ihnen den Weg. Sie gelangten zu einem Abgrund, der sich als eine riesige Halle des Schlosses entpuppte. Staunend sah sich Tai um: Verschlungene Brücken führten durch die Finsternis, es gab Fenster, die von der Halle in kleinere Kammern oder in die Gänge hinter den Wänden führten, von Düsternis zu Düsternis. Erker und Balkone reichten über den Abgrund hinaus, und Tai fragte sich unwillkürlich, ob man all diese desolaten Orte tatsächlich über die zahlreichen Treppen und Bögen erreichen konnte. Eine gebogene Steinbrücke führte über einen großen Teil des Abgrunds, und ihr folgten sie. Soulmon führte sie einen verschlungenen, engen Gang entlang, wie der Rest des Schlosses aus grauen, regelmäßigen Steinquadern gebaut, eine Treppe hinunter, dann schrägte sich der Weg kaum merklich ab, wurde schließlich wieder eben und führte erneut in die große, leere Halle mit den Brücken und Treppen hinaus. Tai meinte schon, Soulmon würde ihnen einen Streich spielen, aber als er genau hinsah, unterschied sich diese Halle von der vorigen, obwohl sie an der gleichen Stelle liegen musste – und als sie weitergingen, sah er die Fackeln von vorhin, nur dass sie diesmal nach unten brannten. Gleichzeitig blieben Tai und WarGreymon stehen. Der Drachenritter warf einen Blick über das steinerne Geländer der Brücke. Konnte es sein, dass sie eben noch auf der anderen Seite der Brücke gegangen waren – und nun kopfüber standen? „Tai, dieses Schloss ist unheimlich“, stellte WarGreymon fest. „Kommt bitte weiter“, murmelte Soulmon und wartete ungeduldig. Tai hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache, aber er würde den Teufel tun und jetzt umkehren. Der nächste Gang, der sie aufnahm, drehte sich ebenfalls wieder ein wenig, und als Tai sich umblickte, schauderte er. Der Gang war in sich gewunden wie eine Spirale, und als sie ihn entlanggegangen waren, schienen sie, ohne es zu merken, vom Boden zur Decke und wieder zurück gekommen zu sein. Mittlerweile wusste er nicht mehr, wo oben und unten war. Schließlich erfuhr er, dass oben tatsächlich unten war. Der nächste Gang war um einiges breiter, und der Boden mit Kopfsteinen ausgelegt – und die befanden sich über ihren Köpfen. Zu ihren Füßen lagen einige massive Arkadenbögen, die wohl eigentlich die Decke stützten. Tai schwirrte der Kopf, als sie über die Bögen kletterten – Soulmon schwebte einfach hindurch – und durch einen erneuten, gewundenen Seitengang eine Treppe erreichten, die noch weiter in die Tiefe reichte. Oder in die Höhe? Nein, es musste der Bereich unter dem Schloss sein, denn das Mauerwerk wurde von feuchtem, unbehauenem Gestein abgelöst. Eine unterirdische Höhle, das war der Thronsaal der Schwarzen Königin. Der Thron stand im Zentrum einer Halle, die vielleicht halb so groß wie die mit den Brücken, aber wenigstens logischer war. Er war ein schwarzgraues Monstrum, die mehrere Meter hohe Lehne mit steinernen Fledermausflügeln geschmückt. An den Wänden ragten furchteinflößende Drachenstatuen auf, die den finsteren Devidramon beunruhigend ähnlich sahen. Und ganz am anderen Ende des Saals war ein Tor zu sehen, größer als alle, die Tai je gesehen hatte, und aus dickem Eisen gefertigt. Es sah aus, als bräuchte man ein Dutzend Mammothmon, um es aufzuziehen. „Da wären wir. Wen darf ich ankündigen?“, fragte Soulmon leise. Tai straffte die Schultern. „Sir Taichi den Drachenritter, aus dem Nördlichen Königreich.“ Das Geistdigimon nickte und flog mit seiner Flagge voraus. Die Königin saß auf dem Thron, eine junge Frau, vielleicht so alt wie er selbst. Gekleidet war sie in eine kunstvoll bestickte, schwarze Königinnenrobe und Sandalen. Keine Krone oder Ähnliches zierte ihr Haupt. „Meine Königin, das sind Sir Taichi der Drachenritter, aus dem Nördlichen Königreich, und sein Begleiter WarGreymon“, nuschelte Soulmon und verschwand dann, kaum dass seine Arbeit getan war, im Boden. Mit raschen Schritten trat Tai näher. Ein wenig merkwürdig fand er es schon, dass Soulmon seine Herrin nicht ebenfalls vorgestellt habe, aber was machte das schon? Sie sah ihn aus glasigen Augen an. Zwanzig Schritte vor dem Thron blieb er stehen, WarGreymon direkt hinter ihm. Er beschloss, gleich zur Sache zu kommen. „Das Spiel ist aus, Schwarze Königin. Meine Drachenstaffel ist direkt über Eurem Schloss und kann es in einer Stunde zerstören, wenn Ihr Euch nicht ergebt. Keins Eurer Digimon kann mich aufhalten. Ich bin hier, um Euch gefangen zu nehmen. Auf Befehl von König Leomon.“ Die zwei PetitMamon, die zu ihren Füßen herumtollten, hielten in ihrem Spiel inne und schenkten ihm erstmals ihre Aufmerksamkeit. Die Königin neigte den Kopf. „Ein König?“ Ihre Stimme war spröde und brüchig, als wäre sie krank. „Wer ist dieser König?“ Tai war erst verdutzt, dann zornig. „Ihr greift unsere Städte und Dörfer an und wisst nicht einmal, wem sie gehören?“ Ihr Blick ging ins Leere. „Vielleicht wusste ich es einmal. Vielleicht habe ich es nur vergessen.“ Sie atmete die Worte mehr, als dass sie sie sprach. Tai warf WarGreymon einen fragenden Blick zu, fing sich aber schnell wieder. „Ich sage es noch einmal. Ergebt Euch und kommt mit mir.“ Die Schwarze Königin hob die Hand, kurz, dann ließ sie sie wieder auf ihren Schoß sinken, als hätte sie nicht die Kraft dazu. „Sir Taichi“, murmelte sie. „Das seid Ihr?“ Ich muss mich beherrschen. Sie wirkt nicht, als würde sie mich absichtlich zum Narren halten. „Ja.“ „Liebt Ihr mich, Sir Taichi?“ Tais Mund klappte auf. Wieder blickte er hilfesuchend zu WarGreymon, das nur die Schultern hob. „Ich, also …“, stotterte er. „Ihr lasst unser Land plündern und unsere Digimon töten. Ihr seid unser Feind. Wie könnte ich Euch da lieben?“ Sie seufzte, wirkte aber nicht sonderlich betroffen. Dafür machte eines der PetitMamon den Mund auf. „Er liebt sie nicht, sagt er. Warum ist er dann hierhergekommen?“ Bevor Tai entnervt seine Aufforderung wiederholen konnte, sagte das andere: „Er liebt sie nicht, weil sie ihm nicht gefällt.“ „Das stimmt doch gar nicht!“, rief er aus und verwünschte sich sofort dafür. Die Schwarze Königin wäre vielleicht ein hübsches Mädchen gewesen; ihr Haar hatte eine verträumte, orangerote Farbe, die in dieser Düsternis bei Fackellicht wie eine Flamme leuchtete. Aber es war zerzaust, strähnig, und die Haut der Königin war so blass, dass sie weiß wirkte. Tiefe, dunkle Ringe lagen unter ihren müden Augen. „Was wollt Ihr dann?“, fragte sie schwerfällig. Tai atmete tief durch. „Ich nehme Euch gefangen. Wehrt Euch nicht, und es wird umso einfacher. Ich bringe Euch zu meinem König nach Santa Caria.“ „Er will sie fortbringen! So ein ungehobelter Kerl!“, rief das eine PetitMamemon. „Fort aus dem Schloss!“, fügte das andere hinzu. Sie gingen Tai bereits jetzt auf die Nerven. „Ach so“, war der einzige Kommentar der Königin. Vor Tai flammte rotes Licht auf, eine Art magischer Kreis flirrte auf, elektrisch zuckend, und durch den Boden schmolz ein metallenes, furchteinflößendes Digimon. Langer Kapuzenumhang, blanke Knochen und ein Totenkopf mit winzigen, glühenden Augen in den Höhlen. So hatte Davis MetallPhantomon beschrieben. „Tai, Vorsicht!“ WarGreymon war sofort zwischen ihm und dem Digimon, das aber zur Königin zurückwich. „Meine Königin, ich habe alles mitangehört.“ Seine Stimme war grässlich, wie Blech, das über Blech schabte. „Geht nicht mit ihnen. Es würde Eure Niederlage bedeuten.“ Träge wandte sie den Kopf. „Wirklich?“ „Er will Euer Schloss zerstören und Euch von Eurem Thron stürzen. Ihr werdet irgendwo in eine Zelle geworfen, wo Ihr den Rest Eures Lebens verbringen werdet.“ „Das ist nicht wahr!“ Tai wusste nicht, was Leomon mit ihr vorhatte, aber es würde eine Königin ihrem Rang angemessen behandeln, da war er sich sicher. „Ich flehe Euch an, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, mir meine Sense zurückzugeben“, fuhr MetallPhantomon beschwörend fort. „Sein Digimon ist stark, anders kann ich es nicht besiegen. Noch die anderen, die über dem Schloss kreisen.“ „Die Sense“, murmelte die Königin. „Ja, die Sense. Es ist an der Zeit, sagst du?“ „Ich weiß, ich verdiene sie nicht, da ich versagt habe. Aber der Drachenritter hat ein starkes Partnerdigimon. Lasst mich Euer Partner sein und einmal mehr für Euch kämpfen. Ich zeige Euch, dass ich Euer ergebener Diener bin, würdig, für Euch zu siegen.“ Die Königin nickte schwerfällig. „Gut.“ Sie stand auf, wankend. „Tai, sie haben etwas vor!“, rief WarGreymon und machte sich zum Kampf bereit. „Das sehe ich selbst!“ Tai hatte sie Zähne zusammengebissen. MetallPhantomon war so nahe an der Königin, dass bei einem Angriff auch sie verletzt werden würde … Davis hatte gesagt, seine Attacken hätten das stählerne Digimon nicht einmal gekratzt. „Seid vernünftig, ergebt Euch!“ „Mischt euch nicht ein!“ MetallPhantomons Augen glühten kurz heller – und die Devidramon-Statuen an den Wänden erwachten zum Leben. Einer der schwarzen Drachen stürzte sich so schnell auf WarGreymon, dass es nicht rechtzeitig reagieren konnte, und schloss die gewaltigen, geifernden Kiefer um es. Mit einer einzigen Drehung um die eigene Achse kam WarGreymon frei und vernichtete das Digimon im selben Atemzug. Die anderen, die ihm entgegenflogen oder –liefen, schlug und trat es wuchtig zur Seite. Einen Krallenhieb wehrte es mit seinem Schild ab, nur um den Angreifer gleich darauf mit den eigenen Klauen zu töten. Sie waren keine Gegner für Tais Partner, aber sie waren viele. MetallPhantomon und die Königin erreichten das Tor. Scheinbar winzig klein davor stand eine Art steinerner Sarg, schmucklos und grau. Das Digimon schob die Platte scharrend herab. Tai rannte los, MetallPhantomon hin oder her. Was immer sie vorhatten, es war nicht gut! Die Schwarze Königin griff in den Sarg und holte einen grauen Stab heraus, dessen Spitze ein gehörnter Ziegenkopf bildete. Der Stab wurde von grauen Wolken wie von einem Spinnennetz umwabert, und MetallPhantomon wich respektvoll davor zurück. Die Königin sah ihn an und sagte dann nur: „Ich gebe sie Euch zurück, MetallPhantomon.“ „Tu das nicht!“, schrie Tai, der seinen höflichen Umgangston einfach vergaß. „Tai, bleib, wo du bist!“ WarGreymon schlitzte die Kehle eines weiteren Devidramons auf und flog über ihn hinweg. Der dunkle Nebel verschwand, und das Digimon wagte es, den Stab zu berühren. Gierig riss MetallPhantomon ihn der Königin aus den Händen – rotes Licht sprühte aus den beiden Enden des Ziegenkopfes, und nun wusste Tai, warum sie den Stab eine Sense genannt hatten. Das Digimon schwenkte die knisternde, leuchtende Waffe und verstreute blaue Lichtsicheln im Saal. WarGreymon schützte sich und Tai mit seinem Rückenschild, aber die Druckwelle reichte aus, um Tai trotzdem von den Füßen zu reißen. Die anderen Sicheln pflügten durch den Boden und töteten die beiden verbliebenen Devidramon. „Endlich“, krähte MetallPhantomon und schwebte in die Höhe. „Endlich wieder Macht!“ WarGreymon rappelte sich auf. Eine Energiekugel wurde zwischen seinen Pranken sichtbar, wuchs und wuchs und nahm bald die Ausmaße des Throns an. MetallPhantomon schwenkte sie Sense abermals, elektrische Funken sprangen in alle Richtungen – und der Boden brach auf, als abgebrochene Eisenstangen daraus hervorpeitschten und sich in WarGreymons Panzer bohrten. Knurrend wurde es so durchgeschüttelt, dass sein Energieball erlosch. „WarGreymon!“, rief Tai. Sein Blick flackerte zu der Königin, die teilnahmslos noch immer neben dem Sarg stand. Sollte er sie als Geisel nehmen? Sein Partner wirbelte rasend schnell um die eigene Achse, verbog kreischend die Eisenstangen und ließ sie zersplittern. Dann schoss es wie ein Tornado auf MetallPhantomon zu, wurde von seiner Sense aufgehalten und zurück zu Boden geworfen, wo es mit den Füßen landete und angriffslustig die krallenbewehrten Arme ausstreckte. „Es ist stark. Ich gebe mein Bestes, Tai, aber es kann ein wenig dauern.“ „Irrtum“, schnarrte MetallPhantomon. „Es ist bereits vorbei.“ Es hielt die Sense wie ein Mikrofon vor dem Mund und stieß einen Schrei aus, der das Metall vibrieren ließ. Tai hatte den Eindruck, dass etwas auf ihn zuflog, seinen Körper vollständig durchdrang … Eine bleierne Müdigkeit legte sich auf all seine Sinne. „Tai, was ist mit dir? Tai!“ WarGreymons Stimme erreichte ihn kaum. Während die Welt um ihn immer leiser wurde, sah er nur MetallPhantomon in aller Klarheit. Er merkte gar nicht mehr, wie seine Knie nachgaben und er zu Boden stürzte.   Chasing the end of the rainbow A search for the unholy lies A face that you’ll never forget Your nightmare will cover your eyes (Primal Fear – World On Fire) Kapitel 30: In Ketten --------------------- Tag 80 Es tat Mimi gut, frischen Wind in Digitamamons Restaurant zu spüren. Kabukimon und einige seiner Anhänger kamen fast täglich vorbei. Sie aßen und sprachen über die Lage in Little Edo, wenn Digitamamon nicht dabei war, und übers Wetter, wenn es dabei war. Für den Restaurantbesitzer musste das Digimon wie in guter Freund von Mimi wirken – auch wenn Michael ihm gegenüber eher kühl war. Die Rebellion lief gut voran – sofern man schon von einer Rebellion sprechen konnte, aber Kabukimon schilderte die Vorgänge in schillernden Farben: Immer mehr Digimon krochen aus ihren Löchern und schlossen sich zu kleinen Gruppen zusammen, die sich Kabukimon oder seinen Vertrauten unterstellten. Sie führten noch keinen offenen Krieg, aber sie rekrutierten fleißig Mitglieder. Immer wieder brachte Kabukimon fremde Digimon mit, denen es sehr vertrauen musste, und stellte sie Mimi vor. Diese wirkten immer sehr zufrieden und freuten sich, dass es ihr gut ging. Ein Gekomon warf sich sogar vor ihr auf den Boden und küsste ihre Füße. Das war eigentlich Mimis ganze Anteilnahme an ihrer Rebellion: Sich einfach nur skeptischen Anhängern zu zeigen, die die Kunde ihres Wohlergehens weitertrugen. Eine Rebellion sei wie ein Feuer, sagte Kabukimon, und mehrere Zünder konnten einen ganzen Flächenbrand verursachen, wenn man sie in die Welt hinausschickte. Mimi war einfach froh, endlich zu etwas nütze zu sein. Sie war besser gelaunt, wie sie selbst merkte, und kam auch öfters in die Gaststube hinunter, um zu essen. Kabukimon kümmerte sich jedes Mal um die Bezahlung. Digitamamon kassierte und schwieg. Bisher hatte Michael sie immer eingeladen, mit dem Geld, das er von seinen Vorgesetzten erhalten hatte. Von ihm entfremdete sich Mimi zusehends. Sie fand es schade, aber nicht zu ändern; schließlich wusste sie nicht, warum er plötzlich so abweisend war. Er ließ sich seltener außerhalb seines Zimmers blicken, und Mimi wusste, dass er lange Gespräche mit seiner Basis führte. Hinterher war er oft noch übellauniger. Ob er sich die Rebellion anders vorgestellt hatte? Auch Yolei verhielt sich seltsam. Obwohl Mimi voller Überschwang war und ihre beste Freundin damit anzustecken versuchte, schien sie die meiste Zeit über etwas zu brüten. Selbst Hawkmon gab Mimi keine Auskunft, obwohl es garantiert wusste, was sie beschäftigte, und als Mimi Yolei einmal direkt danach fragte, erteilte sie ihr eine rüde Abfuhr – gefolgt von einer Entschuldigung. „Ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue“, gestand Mimi Palmon einmal, als sie es wagten, sich im Wald hinter dem Restaurant die Beine zu vertreten. Es war ein warmer Tag, ein laues Lüftchen wehte vom See her, dessen kleine Kräuselwellen das Sonnenlicht in tausend Facetten spiegelten. „Es scheint alles gut zu laufen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass Michael und Yolei nicht damit einverstanden sind.“ „Ich glaube, Michael ist einfach nur besorgt, weil Kabukimon mitten in die Höhle des Löwen vorstoßen will“, sagte Palmon. „Es ist sicher eine gefährliche Operation.“ „Aber wir sind so im Nachteil, dass wir nur auf gefährliche Operationen setzen können“, sagte Mimi. Kabukimon hatte mal etwas in der Art gesagt. Das erklärte aber noch nicht Yoleis Verhalten. „Kann sein. Ich weiß es nicht, Mimi. Wir müssen einfach hoffen.“ Am Abend, als sie zu dritt noch nach Sperrstunde im Restaurant saßen, fragte Mimi Kabukimon selbst, für wie gefährlich es sein Vorhaben hielt. Das Digimon antwortete ehrlich und unverblümt. „Es ist verrückt. Aber genau darum rechnet niemand damit, selbst der DigimonKaiser nicht. Und mit dem Ehernen Wolf haben wir einen fähigen Kämpfer in unseren Reihen. Vielleicht findet sich seine alte Truppe auch wieder zusammen. Darauf müssen wir hoffen.“ „Hm.“ Mimi legte ihr Kinn in die Handfläche. „Sag mal, ist etwas in Little Edo passiert, das ihr mir nicht erzählen wollt?“ In Kabukimons Gesicht zu lesen war schwierig. Durch die Fenster fiel orangerotes Abendlicht in das Restaurant, ließ es aber nur umso leerer wirken. Auf Kabukimons Maske glänzte es wie Funken. „Was meint Ihr?“ „Yolei benimmt sich so seltsam, seit ihr zurück seid. Ist etwas passiert, von dem ihr glaubt, ich könnte es nicht ertragen?“ Plötzlich riss sie die Augen auf. „Hat man euch auch gefoltert?“ „Nein, keine Sorge“, beruhigte sie Kabukimon sofort. „Karatenmons Wunden waren kein schöner Anblick. Habt Ihr Yolei schon einmal danach gefragt?“ „Sie will mir nicht antworten“, meinte Mimi schmollend. „Gebt Ihr etwas Zeit. Eure Freundin ist sehr stark, aber wenn Ihr meinen Rat hören wollt, lasst sie ein wenig allein mit ihren Gedanken.“ „Hm“, machte Mimi wieder. „Und Michael? Es sieht so aus, als freue er sich gar nicht.“ Sie wollte eigentlich nicht mit Kabukimon über ihn reden, aber es war ihr so herausgerutscht. Das Digimon schwieg eine Weile. „Wie soll ich sagen … Ich würde mich Sir Michael an Eurer Stelle nur mit einiger Vorsicht nähern, wenn ich ehrlich bin.“ „Wieso?“, fragte Mimi überrascht. „Er hat mir und Yolei das Leben gerettet!“ „Das hat er zweifellos. Ich zweifle auch nicht daran, dass er Euch unterstützen wird. Aber er tut es im Auftrag einer der großen Fraktionen in diesem Krieg. Unsere Rebellion wird von Emotionen getragen, von der Sehnsucht nach Freiheit und dem aufrichtigen Wunsch, Euren Untertanen zu helfen. Die Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt jedoch … Nun, sie besteht zum größten Teil aus Maschinen und Computern. Sie berechnen, und sie sind gut darin … doch es fehlt ihnen an Wärme und Unmittelbarkeit. Ihr und Michael seid wie Tag und Nacht. Und in den Augen eines Computers seid Ihr wohl wirklich der Schlüssel, von dem er sprach … aber auch nicht mehr.“ Mimis Augen wurden feucht. Nicht, weil ihr nach Weinen zumute wäre, sondern weil ihr ein ungeheurer Gedanke gekommen war. Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme. „Du meinst … er will mich nur benutzen?“ „Er vielleicht nicht“, räumte Kabukimon ein. „Wie gesagt, er bekommt seine Befehle von jemandem, den wir nicht einmal kennen. Und die Großen in einem Krieg streben immer danach, sich die Kleinen untertan zu machen. Denkt nur an den DigimonKaiser.“ „Ich kann nicht glauben, dass Michael so etwas im Schilde führt“, sagte Palmon, doch Kabukimon hatte bereits eine Kerbe in Mimis Vertrauen zu dem Ritter geschlagen. Als es das merkte, versuchte es abzuwiegeln: „Bitte, Prinzessin, das sind nur die Worte eines Digimons, das grundsätzlich sehr misstrauisch ist. Vielleicht tue ich ihm Unrecht. Ich will nur nicht, dass Ihr später zur Marionette von jemand anderem werdet, dem Ihr glaubt, einen Gefallen zu schulden. Wir werden Euren Gemahl befreien und Little Edo für Euch beide zurückerobern. Dann wird die Wissens-Armee schon ihre wahren Farben zeigen. Denn wir brauchen sie unbedingt. Ich habe einen Plan, wie wir den Ehernen Wolf am schnellsten befreien können, doch ohne die Ressourcen der Konföderation …“ „Einen Plan?“, fragte Mimi hellhörig. „Haben wir denn schon genug Anhänger?“ „Es werden bald genug sein. Würdet Ihr mein Anliegen Sir Michael vortragen? Wir werden dann ja sehen, ob er bereit ist, uns wirklich bedingungslos und uneigennützig zu unterstützen.“ Und es erzählte Mimi von seinem Vorhaben.     Sein Schlaf war ein von Albträumen gequälter, aber selbst als er erwachte, wurde es nicht besser. Das Erste, was er spürte, waren gnadenlose Hitze und Schweiß, der auf seiner Stirn und seiner Oberlippe perlte. Träge blinzelte Tai. Sein Kopf fühlte sich an wie mit heißem Wachs gefüllt, und in seinem verschwommenen Blick stand die Welt Kopf. „Wo bin ich?“, krächzte er. „Tai!“ Agumon … nein, das war eher Koromons Stimme. Der Kampf hatte es wohl so weit geschwächt … Der Kampf! Die Schwarze Königin! MetallPhantomon! Er wollte sich nach seinem Partner umsehen, aber sein Versuch, sich umzudrehen, misslang. Stattdessen schwang sein Oberkörper hin und her wie ein Pendel. „Er ist aufgewacht!“ „Aufgewacht!“ Die Königin hing vor ihm von der Decke, zu ihren Füßen klebten die PetitMamon und daneben ein grässliches Dracmon. Ein seltsamer Anblick. Tai brauchte einen Moment, ehe der Schatten der Träume von ihm glitt und er seine Lage erkannte. Er selbst war es, der kopfüber hing. Eine Eisenkette band seine Knöchel und ließ ihn von der Decke baumeln. Seine Arme waren ihm an die Brust gefesselt, und die Hitze … Tai reckte den Hals und stieß ein entsetztes Keuchen aus. Direkt unter ihm, einen halben Meter vor seinem Gesicht, glühten Kohlen in einem schmiedeeisernen Becken. Die Hitze war so bestialisch, dass er meinte, flüssiges Feuer zu atmen, und seine Kopfhaut juckte unerträglich. Hätten sie ihm sein Cape gelassen, wäre es längst angesengt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Königin nähertrat, doch er musste Koromon finden. Er wand sich wie eine Raupe und schaffte es, sich an seiner Kette zu drehen. Da war es, und als sein Blick es traf, rief es wieder seinen Namen. Koromon steckte in einem eisernen Vogelkäfig, der in der Ecke auf dem Boden stand. Der Raum selbst ließ Tai einen Schauer über den Rücken laufen, trotz der Hitze. Foltergerät um Foltergerät stand hier aufgereiht, plumpes Metall und durstige Stacheln und schartige Klingen. „Lasst uns gefälligst frei!“, rief er atemlos. Die Königin blieb vor ihm stehen. Ihr Gesicht war genau vor seinem, nur verkehrt herum. Er sah nichts als Leere in ihren Augen. „Ihr verdient eine Bestrafung“, drang ihre gleichmütige Stimme an sein Ohr. „Was hast du mit uns vor? Du …“ Tai verstummte, als er sich windend zu befreien versuchte und das Folterinstrument direkt neben sich sah. Es war eine Art runder Käfig, in dem aufrecht ein Mädchen angekettet war – mit Ketten, gespickt mit Dornen, die ihren Körper umwickelten wie Würgeschlangen. Die Spitzen glänzten nass und rot, das Eisen war verkrustet. All ihre Glieder waren von Blutspuren gestreift, und unter ihr hatte sich eine eingetrocknete, tiefrote Pfütze gebildet. Tai blieb ob dieser grausigen Folter der Mund offen stehen. Das Mädchen war kreidebleich und rot, das lange Haar blond, und auf den ersten Blick hatte sie nichts Lebendiges an sich, wurde nur von ihren Ketten gehalten. Ihr Kopf war nach hinten gesunken, und wäre nicht in dem Moment ein leises Stöhnen über ihre Lippen gekommen, hätte Tai sie für tot gehalten. „Wo … Wo sind wir hier?“, brachte er über die Lippen, und er verwünschte sich dafür, dass seine Stimme zitterte. All sein Blut war wohl in seinem Kopf, er fühlte sich schwer und taub an, und diese Hitze … Er war wie ein Stück Fleisch, das gegrillt wurde, und neben ihm hauchte eine weitere Gefangene ihr Leben aus. Was er noch hatte sagen wollen, blieb ihm im Halse stecken. „Ich überlasse euch Dracmon“, hauchte die Königin und ging. Die PetitMamon folgten ihr, und kaum dass sie die Folterkammer verlassen hatte, schloss sich die Tür wie von selbst. Dracmon gackerte tonlos und trat dann zu einer Winde. Als seine mit Augäpfeln bewehrten Hände den Griff packten, erkannte Tai, dass die Kette daran seine eigene war. Das Digimon machte zwei Umdrehungen und er sackte mit einem Schrei tiefer, den glühenden Kohlen entgegen. „Lass uns sofort frei!“, stieß er aus, als die Hitze sich ins Unerträgliche steigerte. Koromon schrie wieder seinen Namen, und Dracmon schien den Lärm zum Anlass zu nehmen, der Kette noch ein paar Zentimeter Spiel zu geben. Tai spürte, wie der Schweiß ihm in Bächen übers Gesicht lief, er kitzelte sogar in seiner Nase. Er meinte, verbranntes Haar zu riechen. Dann wandte sich Dracmon zu der anderen Gefangenen um, maß sie mit einem schiefen Blick, streckte sich und trabte stattdessen zu Koromon. Mit einem Geräusch, das eine Mischung aus Kichern, Grunzen und Krächzen war, verpasste er dem Käfig einen heftigen Fußtritt, der Tais Partner gegen die Eisenstäbe prallen ließ. Dann sprang der kleine Folterknecht auf die Pritsche, die wohl seine Liegestatt war, kratzte sich gähnend am Hintern und schnarchte gleich darauf vor sich hin. Tai schaffte es nicht, erleichtert Luft zu holen – jeder Atemzug war eine Qual. „Koromon, bist du in Ordnung?“, brachte er gepresst heraus. „Geht schon“, murmelte sein Partner. „Verdammt, wir müssen hier raus! Das Mädchen ist mehr tot als lebendig! Sie ist sicher schon tagelang hier drin!“ „Es sind sogar schon Wochen.“ In den Schatten eines der anderen Käfige bewegte sich etwas, aber der Druck auf seinen Augäpfeln war zu groß, als dass er etwas Genaues erkennen konnte. „Wer ist da?“, stieß er hervor. Erneut versuchte er, seine Fesseln zu lockern und sich durch Anspannen der Bauchmuskeln von dem Kohlebecken fortzubringen, aber alles, was er erreichte, war, dass er sich langsam um sich selbst drehte. Es kam keine Antwort, aber etwas Rosafarbenes erschien hinter den Gitterstäben … ein Vogeldigimon? „Wer seid ihr?“ Die Stimme klang mutlos und entkräftet. „Ich bin Tai … Sir Taichi aus dem Nördlichen Königreich“, keuchte er, während er sich den Kopf nach dem Digimon verrenkte. „Das ist Koromon – und du?“ Lange kam keine Antwort. „Piyomon“, sagte das Digimon schließlich. „Bist du auch ein Feind der Schwarzen Königin?“, fragte Koromon. In Piyomons Augen meinte Tai etwas Trauriges funkeln zu sehen. „Ich glaube, sie hält mich für einen Feind.“ „Was hast du angestellt?“ Piyomon ließ sich leidvoll zu Boden sinken. „Ich habe versagt“, murmelte es nur mit gebrochener Stimme. Tai beschloss, nicht weiter nachzuhaken. Dass das Digimon hier ebenfalls gefangen war, machte sie zwangsläufig zu Verbündeten in der Not. „Wir müssen unbedingt von hier fliehen“, sagte er. Es war schwierig, sich kopfüber hängend in dieser Hitze zu konzentrieren. Er hatte das Gefühl, als schälte sich seine Haut ab. „Du hast nicht zufällig irgendeine Idee?“ Piyomon schüttelte nur den Kopf. „Es ist zwecklos.“ „Koromon, kannst du nochmal digitieren?“ Sein DigiVice war noch an seinem Gürtel, wie er sehen konnte. Es war noch nicht alles verloren. Sein Partner seufzte. „Meine ganze Energie ist futsch … Dieses MetallPhantomon hat mich erwischt, als ich nach dir sehen wollte. Ich durfte mich nicht mal wehren, hat es gesagt, sonst hätte es dir etwas angetan. Es tut mir leid“, fügte es kleinlaut hinzu. Tai gab nicht auf. „Aber du bist ausgeruht, oder?“ Er wollte nachfragen, ob sie Koromon auch schon gefoltert hatten, aber es sah auf den ersten Blick gesund, wenn auch erschöpft aus. „Wenn du etwas zu essen bekommst, würde es gehen?“ Es zuckte mit den Fühlern. „Vielleicht.“ „Piyomon – wir bekommen doch etwas zu essen, oder?“ Wenn das Mädchen nach Wochen der Folter noch lebte, hielt die Schwarze Königin wohl nichts davon, sie verhungern zu lassen. „Am Abend bringen die Bakemon uns was“, erklärte Piyomon. „Aber Dracmon isst das meiste selbst.“ „Wenn wir unsere Rationen alle Koromon abgeben, kann es vielleicht zu Agumon digitieren und ausbrechen!“, beharrte Tai. „Digitieren?“ Piyomon sah das kleine Digimon fragend an. Tai war bereits fleißig am Pläneschmieden. Er hoffte, dass er sich keine Illusionen machte – oder unter der Hitze falsche Entscheidungen traf. Aber er musste hier raus, sie alle mussten hier raus, und am dringendsten dieses Mädchen! „Gegen MetallPhantomon kommen wir nicht an, wahrscheinlich nicht mal gegen die Bakemon. Kennst du dich zufällig im Schloss aus, Piyomon? Weißt du, wie man nach draußen kommt?“ Er hatte die Frage ohne viel Hoffnung gestellt, aber überraschenderweise nickte das Vogeldigimon. Etwas war in seinem Blick erschienen, etwas wie vorsichtige Zuversicht. „Verwahrt dieses Dracmon die Schlüssel zu deinem Käfig?“, fragte er weiter und deutete auf den schnarchenden Folterknecht. Im selben Moment sah er den Schlüsselbund, den Dracmon um die Hüfte trug. Sie mussten es versuchen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sah er Koromon in die Augen. „Bist du bereit, es heute Abend zu versuchen?“, fragte er, und sein Partner nickte grimmig. „Gut. Hör mir zu Piyomon: Heute Abend befreien wir dich. Du fliehst aus dem Schloss.“ „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, meinte das Digimon kleinlaut. „Ich bin lange nicht mehr geflogen, und …“ „Du musst es einfach schaffen!“, unterbrach Tai es. Dracmon grunzte und wälzte sich herum, aber er vergewisserte sich schnell, dass es noch schlief. „Sobald du draußen bist, flieg ins Nördliche Königreich. Sprich mit irgendjemandem von der Armee, und sag ihm, dass Sir Taichi hier gefangen gehalten wird und dringend Hilfe braucht! Und dass es um Leben und Tod geht!“ Er hatte keine Ahnung, was mit seiner Drachenstaffel geschehen war, aber selbst wenn sie den König schon erreicht hatte, musste er dazu bewogen werden, schnellstens etwas zu unternehmen. „Das Nördliche Königreich?“, fragte Piyomon. „Wo ist das?“ Tai war verdutzt. „Du kennst das Nördliche Königreich nicht? König Leomon?“ Zaghaftes Kopfschütteln. „Aber du kennst das Band? Den großen Fluss im Osten!“ Diesmal nickte Piyomon. „Nördlich davon! Halt nach Bannern Ausschau, die eine orangerote Sonne zeigen! Das ist König Leomons Armee! Lass dich nicht abwimmeln, sag, du weißt, was mit dem Drachenritter passiert ist, und dann schick sie hierher!“ Jetzt war das Nicken langsamer und weniger zuversichtlich. Tai hoffte, dass er sich auf dieses Digimon verlassen konnte, aber es sah nicht wie jemand aus, der sich einfach aus dem Staub machen würde, kaum dass er aus dem Schloss war. „Tai, meinst du, das funktioniert?“, fragte Koromon zweifelnd. „Es muss einfach funktionieren.“ Er warf einen Blick auf die jämmerliche, blutüberströmte Gestalt neben ihm und presste grimmig die Lippen aufeinander. „Es muss.“      „Ein Whamon?“, fragte Michael stirnrunzelnd. „Kabukimon hat schon Kontakte geknüpft. Es wird ein Whamon bereit stehen, wenn wir es brauchen.“ „Aber die Whamon mischen sich in die Kriege nicht ein. Sie sind so was wie Söldner. Man kann ihnen nicht wirklich trauen“, warf er ein. „Diesem schon. Wenn wir ihm genügend bezahlen, bringt es uns überall hin“, sagte Mimi überzeugt. „Das hat dir Kabukimon eingeflüstert“, stellte Michael trocken fest. „Es ist zu unsicher, Mimi.“ „Ja, hat es“, zischte Mimi böse. „Und für Euch bin ich immer noch Prinzessin Mimi. Ich habe jetzt wieder ein Volk!“ „Ich verstehe das nicht ganz“, gab Yolei zu, die bisher schweigend an der Wand von Mimis Zimmer gelehnt hatte – genauso wie Yasyamon, das sich jedoch aus dem Gespräch heraushielt. „Was verlangen die Whamon denn? Können die mit Geld überhaupt was anfangen?“ „Sie nehmen vor allem Fisch als Bezahlung. Oder Sake“, lautete die verblüffende Antwort von Michael. „Glaubt mir, bevor der Krieg ausgebrochen ist, haben sie nie so gut gegessen oder waren so oft betrunken wie jetzt. Ab und zu geraten sie ins Kreuzfeuer und einige sind auch schon gestorben, aber es gibt da einen Whamon-Spruch: Besser mit vollem Magen sterben.“ „Aha.“ Yolei erstaunten die neuen Gewohnheiten der riesigen Meeresdigimon wohl ebenso wie Mimi. „Darum glaubt Kabukimon auch, dass es funktionieren wird. Wenn Ihr uns Eure Ressourcen zur Verfügung stellt.“ „Ich?“, fragte Michael. „Wer sonst? Kabukimon hat nur wenig Geld übrig. Ihr habt eine ganze Organisation, eine ganze Nation hinter Euch! Wenn Euch wirklich was an uns gelegen ist, helft Ihr uns, das Whamon zu bezahlen.“ Michael schwieg, aber Yolei brachte ihre Bedenken vor. „Na, ich weiß nicht. Und Kabukimon will wirklich unsere ganzen Truppen aufs Meer hinausbringen? Ist das nicht für sich schon riskant?“ „Es ist am besten, wenn wir alle zusammenbleiben. Ein großes Heer ist besser als viele einzelne Gruppen“, sagte Mimi überzeugt. „Seit wann seid Ihr so sehr in Strategie bewandert?“, fragte Michael lauernd. „Glaubt Ihr etwa, ich sei zu dämlich, um so etwas zu verstehen?“, fauchte Mimi ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Der DigimonKaiser hat auch eine Flotte“, erinnerte sie Michael, wirkte aber ehrlich verletzt ob ihrer schroffen Art. „Aber die weiß nichts von uns. Niemand rechnet damit, dass wir einen Gegenschlag planen. Die Rebellen halten sich schließlich noch bedeckt. Und von der Seeseite her sind unsere Chancen besser. Von der Küste aus ist es nicht so weit bis zur Festung des DigimonKaisers, und der Weg wird weniger gut bewacht sein. Und dann brauchen wir nur noch Glück, um hineinzukommen und Matt zu befreien!“ „Glück“, murmelte Michael. „Genau das macht mir Sorgen.“ „Weil so etwas wie Glück für Maschinen nicht existiert?“, fragte sie schnippisch. „Das habe ich doch überhaupt nicht …“, wollte er erregt entgegnen, doch sie fiel ihm ins Wort. „Dann helft Ihr uns? Es ist der Wille der rechtmäßigen Herrscherin des Shogunats, das Ihr geschworen habt zu unterstützten.“ Michael atmete tief durch. „Ich muss das noch mit der Basis und mit Willis besprechen“, sagte er leise und stapfte durch das Zimmer. „Braucht Ihr eigentlich für alles deren Erlaubnis?“, warf Mimi ihm noch gereizt hinterher. Er verlangsamte seine Schritte um eine Spur, ging aber zielstrebig in sein eigenes Quartier. Mimi hörte ihn die Tür zuschlagen. „Du springst ziemlich grob mit ihm um“, sagte Yolei vorsichtig. „Wenn er ein echter Mann ist, macht ihm das nichts aus“, meinte Mimi leichtfertig, warf sich auf ihr Bett und erkannte, dass sie sich doch ein wenig schlecht fühlte, ihre Karten so unverschämt gegen ihn auszuspielen. Die Antwort kam ganze zwei Stunden später. Mimi hatte schon an seine Tür klopfen wollen, als Michael sie von alleine öffnete. Im Zimmer war es stockdunkel, nur die Bildschirme verströmten mattes Licht. Michaels Gesicht wirkte müde, aber vielleicht lag das an der Düsternis. „Und?“, fragte Mimi. „Sie sind einverstanden“, murmelte er. „Entschuldigt mich.“ Er drängte sich an ihr vorbei und stapfte den Flur entlang und die Treppe hinunter. Digitamamon, das einen hungrigen Gast und sein Geld witterte, schnarrte ihm freudig ein besonderes Angebot entgegen. Mimi schüttelte den Kopf über sein kühles Verhalten. Hatte Kabukimon vielleicht recht und Michael lag nur das Wohl seiner geliebten Konföderation am Herzen? Mochten sich die beiden deswegen nicht? In dem Moment kam Yolei, die an der frischen Luft war, die Treppe heraufgestampft. „So ein unverschämter Kerl“, schimpfte sie. „Da will man freundlich sein, weil er so allein an der Theke sitzt, und dann lässt er einen einfach abblitzen wie ein … wie ein …“ Ihr fiel kein Vergleich ein, also warf sie wütend stöhnend die Arme in die Luft und marschierte in ihr eigenes Zimmer. „Ich möchte wissen, was eigentlich sein Problem ist“, sagte Mimi halblaut, mehr zu sich selbst, während sie die Treppe hinuntersah. Es hatte sie aber jemand gehört. Ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung, als plötzlich Betamons Augen in der Dunkelheit von Michaels Zimmer auftauchten. „Ich glaube, Ihr seid sein Problem, Prinzessin“, sagte es kleinlaut. Mimi kannte diese Tonlage von Palmon. Es wollte aus Rücksicht auf seinen Partner eigentlich nichts sagen, hielt es aber für das Richtige. „Wie bitte?“, fragte sie ungläubig. „Was soll das denn jetzt wieder heißen?“ „Die Basis war gegen Euren Vorschlag“, sagte Betamon leise. „Sie haben sofort alle Argumente abgeschmettert, aber Michael hat sich für Euch eingesetzt und ihnen gedroht, seine Ritterwürde zurückzulegen. Zum Schluss haben sie zugestimmt.“ Betamon verkroch sich wieder in die Finsternis, und Mimi blieb wie mit kaltem Wasser übergossen auf dem Flur stehen und versuchte, das Gehörte zu verdauen.     Die Tür schwenkte ein kleines Stück auf, als zwei Bakemon das Essen brachten. Tai hatte keine Ahnung, wie lange sie gewartet hatten. Hätte Piyomon nicht gesagt, dass man ihnen abends etwas bringen würde, hätte er geschätzt, dass Tage vergangen waren. Die Hitze hatte seinen Kopf leergefegt und mehrmals hatte er geglaubt, sich gleich übergeben zu müssen. Vielleicht hatte er auch ein- oder zweimal das Bewusstsein verloren. Er wusste nicht, wie lange er noch durchhalten würde – wusste nicht einmal, wie er es überhaupt bisher ausgehalten hatte. Sein Gesicht musste aussehen wie die Kruste des Brotes, das die Bakemon in den Händen hielten. Zwei Wecken, die so flaumig und frisch aussahen, dass Tai das Wasser im Mund zusammenlief, und zwei Schalen mit einer breiähnlichen, braunen Substanz. Das war ihr Abendessen? Eine einzige Portion konnte gar nicht sattmachen, und es sollte wohl für zwei Menschen und zwei Digimon reichen. Drei Digimon. Denn kaum, dass die Bakemon wieder zur Tür hinausgehuscht waren, streckte sich Dracmon grunzend, tappte zu den kargen Mahlzeiten, die die Geistdigimon auf dem Boden abgeladen hatten, und biss mit einem Haps die Hälfte eines der Brote ab, ehe er Koromon den Rest zuwarf. Auch Piyomons Anteil verdrückte er halb. Das Vogeldigimon hielt sich an den Plan; kaum dass Dracmon sich seinen menschlichen Gefangenen zuwandte, lies es den angebissenen Wecken Koromon zukommen. Dracmon musterte Tai und das Mädchen und schien dann plötzlich zu der Erkenntnis zu gelangen, dass keiner der beiden in der Lage war, zu essen. Es zuckte mit den Schultern, zischelte erfreut und machte sich daran, den Brei mit bloßen Händen in sich hinein zu schaufeln – auf eine Art, die klarmachte, dass es diesmal nicht zum Teilen bereit war. „Hey!“, keuchte Tai empört. „Das ist mein Anteil! Was fällt dir ein?“ Dracmon gab einen genervten Laut von sich und aß weiter. „Die Königin wird wütend, wenn du die Gefangenen hungern lässt!“, rief Tai aufs Geratewohl. „Gib uns sofort was ab, du kleiner Mistkerl!“ Knurrend stellte das Digimon die Schale ab, trippelte zu der Seilwinde und ließ Tai prompt wieder tiefer wandern. Er schrie erschrocken auf. Dass er noch mehr Hitze vertragen würde, hätte er nicht gedacht. Vielleicht waren die Kohlen auch etwas abgekühlt … Zufrieden hockte sich der Folterknecht wieder auf den Boden und wollte weiteressen – als eine Seifenblase aus Koromons Maul ihn traf und ihm fast die Schale aus den Händen riss. Erbost fauchte Dracmon auf – es hörte sich fast nach einem menschlichen „Bäh!“ an –, ging zu dem Digimon, das die Frechheit besessen hatte, ihm ins Essen zu spucken, trat wuchtig gegen den Käfig und schleuderte dann die Schale nach Koromon. Zäher Brei spritzte das Digimon voll, das die beiden Brote schon verschlungen hatte und den Nachschlag sofort gierig aufleckte. So weit, so gut. Dracmon schien seine Meinung nun doch geändert zu haben. Es ging mit der zweiten Schale zu dem Mädchen und streckte sie ihm hin. „Du musst essen!“, sagte Tai gepresst. „Hörst du mich?“ Ihre Augen waren geschlossen und zuckten unter den Lidern hin und her. Schweiß stand ihr auf dem kreidebleichen Gesicht, und sie war nicht mehr als ein Gerippe. Wenn sie nichts zu sich nahm, würde es ihr noch elender gehen … Dracmon schien es aber gar nicht in den Sinn zu kommen, dass sie zu schwach war, um selbst zu essen. Knurrend leerte es die Schale auf dem Boden aus, trat zu der Kurbel, die vor ihrem Foltergerät stand, und drehte daran. Sofort zogen sich die Eisenbänder zusammen und die Dornen gruben sich tiefer in ihre Haut, förderten neues, helles Rot aus ihren Wunden. Das Mädchen stöhnte gedämpft auf. „Aufhören!“, schrie Tai und wand sich in seinen Ketten. Kurz wurde ihm vor Anstrengung und Hitze schwarz vor Augen. „Lass sie in Ruhe! Koromon!“ Er verrenkte sich den Hals, um nach seinem Partner zu sehen, das sich bereits abmühte, zu digitieren. Die eiserne Tür schwang auf, und die Schwarze Königin betrat die Folterkammer. Dracmon hielt inne, als sie mitten im Raum stehen blieb und sich umsah, als wüsste sie nicht, was sie hier tat. Tai fiel auf, dass ihre Haut krebsrot und ihre Haare feucht waren. „Meine Königin!“, schrie er heiser. „Bitte, lasst das Mädchen frei! Ihr tötet sie! Sie ist jetzt schon mehr tot als lebendig!“ Die Königin sah ihn aus ihren leeren, unergründlichen Augen an. „Mehr tot als lebendig … Wie schön für sie …“ Tai biss sich auf die Lippen. Es hatte keinen Zweck, sie war eindeutig verrückt! Endlich gab ihm grelles Licht Hoffnung, das in Koromons Käfig erstrahlte. Sein Partner verwandelte sich und wuchs zu Agumon heran. Der Käfig war ihm nun zu klein, aber doch zu stabil, um ihn zu durchbrechen – stattdessen streckte es Arme und Beine durch die Stäbe, kippte ihn um und lief los, die Wölbung des Käfigs verlieh seinem Körper etwas von einer Schildkröte. Ein Feuerball verließ fauchend sein Maul und traf Dracmon, das wie erstarrt glotzte, frontal. Der Folterknecht wurde gegen die Wand geschleudert, der Schlüsselbund segelte klimpernd davon. Agumon fing ihn auf und warf ihn Piyomon zu. „Hier!“ Obwohl die Schlüssel direkt vor dem Gesicht der Königin vorbeiflogen, zuckte sie nicht einmal mit den Wimpern. Piyomon fing den eisernen Ring auf, bekam mit seinen Flügelkrallen den richtigen Schlüssel zu fassen und sperrte das Schloss zu seinem Käfig auf. Als es ins Freie fliegen wollte, verließ es jedoch die Kraft, und es polterte hart zu Boden. „Nein!“, schrie Tai. „Steh wieder auf, schnell! Du schaffst es!“ Mit verzerrter Miene kam Piyomon wieder auf die Beine, stieß sich erneut ab und flatterte an der Königin vorbei, die es kaum registrierte. Dabei warf es ihr einen langen, traurigen Blick zu. Dann war der rosa Vogel bei der Tür draußen und verschwand in den Tiefen des Schlosses. Tai atmete erleichtert auf. Agumon rangelte derweilen mit Dracmon, aber sein Kräfteschub war nur von kurzer Dauer gewesen. Dracmon stieß es mitsamt seinem Käfig zu Boden und schlug und trat immer wieder auf es ein. „Agumon!“, rief Tai aufgelöst. Selbst als sein Partner längst das Bewusstsein verloren hatte, prügelte und kratzte das blauschwarze Scheusal wüst zischend weiter. „Hör auf! Königin, sagt etwas, es ist genug!“ Mit wachsender Verzweiflung musste Tai beobachten, wie sein Freund sich immer mehr blutige Schrammen einfing. Von dem Radau angelockt stürmten nun auch die PetitMamon in den Kerker. „Was ist los?“, riefen sie wie aus einem Mund. „Sie haben dem Digimon zur Flucht verholfen“, sagte die Königin tonlos, und ihre Stimme ließ Dracmon endlich innehalten. Die Ruhe, mit der sie sprach, ließ etwas in Tais Magen zu einem Klumpen werden. „Sie gehören bestraft!“, rief eines der kleinen Biester eifrig. „Jawohl!“ „Bitte, hört mich an!“, rief Tai in das Geschrei der kleinen Giftzwerge. „Dieses Mädchen hat genug gelitten! Ich flehe Euch an, lasst sie frei! Und verschont Agumon – es war mein Plan!“ Eine zähe, heiße Ewigkeit sah ihn die Königin nur an. „Freilassen?“, murmelte sie. „Freilassen. In der Höllenkammer, dort gibt es Freiheit.“ Kaum, wenn es Höllenkammer heißt, dachte er. „Bitte, verschont sie!“ Er musste Zeit gewinnen, für sie alle, damit Piyomon seine Aufgabe erfüllen konnte. Wieder eine Pause, ehe sie schleppend sagte: „Hitze.“ Tai blinzelte schwer atmend. „Hitze?“, fragte er. „Du hängst in Hitze. Ist sie nicht angenehm?“ Er brachte nur ein ersticktes Krächzen zustande. Diese Frau brachte ihn noch um den Verstand! „Hitze ist eine Belohnung. Du verdienst eine Bestrafung. Soulmon.“ Kaum dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte, schwebte das Geistdigimon mit dem Hexenhut durch die Decke. „Ihr habt gerufen, Hoheit?“ „Das Mädchen, das mich nicht liebt, soll in die Höllenkammer gebracht werden“, sagte sie apathisch. „Und der Junge, der mich nicht liebt, soll fort von der Hitze.“ Gottseidank! Der Schweiß auf Tais Gesicht tropfte bereits ständig zischend in die Kohlen. „Sehr wohl.“ Soulmon schnippte mit den Fingern. Aus den Wänden tauchten Bakemon auf, die mit geschickten Handgriffen die Apparatur aufschlossen, in der das Mädchen gefangen war. Weniger vorsichtig gingen sie mit den Dornenketten um. Als sie sie aus ihrem Fleisch rissen, vergrößerten sich ihre Wunden nur noch. Tai biss wütend die Zähne zusammen, aber er zwang sich, zu schweigen. Irgendwann zahl ich dir das heim! Unversehens wurde er hochgehoben, die Ketten wurden von seinem Körper gelöst, und stattdessen packten ihn harte, kalte Geisterkrallen. Lautlos schwebten einige Bakemon, den reglosen Körper des Mädchens zwischen sich tragend, aus dem Raum. „Wo sollen wir mit dem Jungen hin, Eure Hoheit?“, näselte Soulmon. „Ich weiß es nicht“, murmelte die Königin. Wieder sah sie sich um, als sähe sie den Raum zum ersten Mal. „Darf ich dann einen Vorschlag machen? Spannen wir ihn in den Nadelkäfig, auf dass er das Mädchen ablöst. Ein passendes Schicksal für einen edlen Ritter.“ Nun, da er etwas abseits der Hitze der Glut festgehalten wurde, wurde ihm eiskalt zumute. Bitte nicht! Doch als die Königin schwach nickte, schoben ihn die kräftigen Arme zu dem Rundkäfig, egal, wie sehr er sich wehrte. Tai schrie zornig, verwünschte sie alle und rief nach Agumon, doch sein Partner lag mit zahllosen Schwellungen am Kopf bewusstlos am Boden. Die Arme fixierten Tai in der Mitte des Käfigs, zwei andere Bakemon legten ihm die Ketten um. Piyomon, beeil dich!, konnte er noch flehen, ehe sie einen kurzen Ruck an der Kurbel taten, damit die Dornen festsaßen. Er stieß ein ersticktes Stöhnen aus, als die blutigen Stacheln in seine Haut bissen, aber noch war es nicht zu vergleichen mit den Schmerzen, die die vorige Gefangene hatte erdulden müssen. Das Schlimmste kam jedoch noch. „Härter! Er muss härter bestraft werden!“, drängte eines der PetitMamon. „Ja!“, rief das zweite. Dracmon sprang auf Tais Brust und krächzte ihm etwas ins Gesicht. Es schien derselben Ansicht zu sein. Soulmon wandte sich an die Königin. „Eure Hoheit?“ „Das reicht doch wohl!“, schrie Tai atemlos. Er fühlte die groben Dornen brennen, als wäre er in einen Brombeerstrauch gefallen. „Was seid ihr nur alle für Digimon? Was bist du für ein Mensch?!“ Sie schien nicht richtig zuzuhören. „Ja“, murmelte sie. „Bestrafen. Dracmon soll ihn bestrafen.“ Das bösartige Digimon grunzte erfreut und starrte in sein Gesicht, als suche es nach einer Möglichkeit, ihn zu quälen. Es fand eine. Mit einem fauchenden Kichern ließ es seine Krallen über seinem rechten Auge kreisen. Tai zerrte an seinen Ketten, erreichte dadurch aber nur, dass die Dornen tiefer in seine Haut drangen. Er öffnete entsetzt den Mund, um etwas zu rufen, und Dracmon stieß zu. Sein Brüllen hallte in den Gängen des dunklen Schlosses wider. Die Königin verzog keine Miene.   She is the queen of the damned You’re just a puppet in her hand She’s the lady of the night (Gallows End – Kingdom Of The Damned) Kapitel 31: Der Traum der Schwarzen Königin ------------------------------------------- Tag 81   Davis schüttete sich den halben Trinkschlauch auf einmal in den Rachen. Es war ein heißer Tag am Fuße der Nadelberge angebrochen, und die schweren Füße der Tyrannomon und Monochromon hatten das Gras und die Erde im Lager der Truppe so festgetreten, dass es genausogut staubiger Beton sein könnte – kein Funken saftiges Grün war mehr zu sehen. Die Bäume hatten sie gefällt und damit einen behelfsmäßigen Wall hochgezogen, zum Schutz, falls die Briganten sie nachts aus dem Nichts angriffen. Veemon sah wehmütig auf die spiegelnde Oberfläche des Nadelöhr. Der See wirkte so frisch und klar wie die Versuchung selbst. „Was gäb ich darum, ein paar Runden zu schwimmen“, seufzte es. „Das darfst du nicht“, erwiderte Davis, obwohl auch er sich zu gern den Staub vom Leib waschen wollte. „Ich weiß. Leider.“ Ein Seemonster war im Nadelöhr gesichtet worden. Irgendein Digimon, das sowohl im Wasser als auch an Land lebte, und Berichten zufolge gehörte es zu einer der Brigantenbanden. Darum waren sie hier – auch wenn weit und breit kein Digimon zu sehen war außer ihren eigenen, die in der Sonne dösten. Ein befestigtes Heerlager ohne Feind, dachte Davis. „Schau mal, Davis!“ Veemons ausgestreckter Finger deutete in den Himmel. Sie standen auf einem aufgestellten Baumstamm, dessen Äste man als Stufen benutzen konnte und der somit als Ausguck diente. Eigentlich sollten sie den See überwachen, aber da kam ein Schatten über den klarblauen Himmel angeflogen, wie eine Wolke, die sie herbeigesehnt hatten – nur wesentlich kleiner. „Das ist nur ein Piyomon“, sagte Davis, als er dahinter etwas in der Sonne aufblitzen sah. War das etwa … Mitten im Flug fiel das Digimon wie ein Stein aus dem Himmel. Davis schnappte nach Luft. „Komm mit, Veemon, schnell!“ Seit sie hier waren, tat sich im See sowieso nichts. Sie kletterten die Äste hinunter und rannten aus dem Lager, fort vom Nadelöhr, bemerkt nur vom müde blinzelnden Auge eines Tuskmons. Das Piyomon war noch im Wald abgestürzt; zumindest sah er es auf der grasbewachsenen Ebene nicht. Hier war es überraschend angenehm, als käme die Kühle von den nahen Berghängen herab. Lange mussten sie nicht suchen: Piyomon lag ausgestreckt auf einem Busch, nicht weit vom Waldrand entfernt. „Hey!“, rief Veemon, der es als Erstes erreichte. „Alles in Ordnung mit dir?“ Davis untersuchte schnell sein Gefieder, doch nirgends war ein Schwarzer Ring zu sehen. Dann hatte er sich wohl doch getäuscht, als er das Licht spiegeln gesehen hatte. Es war ja auch weit und breit kein Schwarzer Turm in Sicht; das hier war das Land des Blutenden Herzens. Piyomon hob träge ein Lid. „Die Nördliche Armee … Gehört ihr zur Nördlichen Armee?“ Meinte es das Nördliche Königreich? „Ja!“, sagte Davis eifrig. „Brauchst du Hilfe? Willst du Wasser?“ „Ich muss sofort … sofort …“ Piyomon versuchte sich mit den Flügeln hochzustemmen, doch es war zu erschöpft, und sein Gefieder verfing sich im Busch. „Sofort mit eurem König sprechen!“ „Oh“, murmelte Davis. „Das … ist im Moment nicht so einfach.“ König Leomon hatte sie heute Morgen benachrichtigt, dass es in See gestochen war. Es wollte eine Sache erledigen, die es schon viel zu lange aufgeschoben hatte, wie es sagte. Nach allem, was Davis gehört hatte, standen die Chancen gut, dass es versuchte, seine Heimat zurückzuerobern – die File-Insel, die seit zwei Monaten im Joch des DigimonKaisers stand. „Du kannst es uns sagen“, bot Veemon an. „Wir stehen dem König recht nahe.“ Das war übertrieben, hörte sich aber gut an. „Und dem Drachenritter“, fügte Davis hinzu. „Nein“, murmelte Piyomon. „Der Drachenritter … Der Drachenritter ist …“ „Was?“ „In der Gewalt von … Sora …“ „Wer ist Sora?“, fragte Davis. „Die Schwarze Königin“, wisperte Piyomon und klang dabei unendlich traurig. „Was sagst du da?“ Sir Taichi war vor zwei Tagen aufgebrochen, um die Königin gefangen zu nehmen, aber erst gestern hatten sie am fernen Himmel die Drachenstaffel in Richtung Santa Caria zurückfliegen sehen. Jeder aus seiner Truppe hatte angenommen, Taichi wäre erfolgreich gewesen und der Krieg gegen das Blutende Herz damit so gut wie gewonnen – sollte das heißen, sie hatten versagt? Und waren ohne Taichi zurückgekehrt? „Ihr müsst ihm helfen, er ist im Kerker und es … Es ist schrecklich …“ Piyomons Stimme war brüchig und matt. „Wir … Wir machen uns sofort auf dem Weg!“ Trotz ihrer gelegentlichen Differenzen waren sie Kameraden. Davis würde Taichi nicht im Stich lassen! „Was machen wir wegen der Briganten?“, fragte Veemon. „Die anderen kommen schon ohne uns zurecht. Wir müssen doch sicherlich fliegen, oder? Ich hab gehört, das Düsterschloss liegt mitten in den Bergen?“ Piyomon nickte. „Aber es ist gefährlich … Allein schafft ihr es vielleicht nicht … Ich war selbst im Kerker, aber Sir Taichi und Koromon haben mir erzählt, dass MetallPhantomon dort ist.“ „MetallPhantomon? Das haben wir schon bei der Schlacht um den Dornenwall besiegt“, sagte Davis mit stolzgeschwellter Brust. „Nur keine Sorge! Wir sind die Auserwählten, weißt du?“ „Ihr solltet trotzdem nicht alleine gehen.“ Davis wandte sich verdutzt um, als er die fremde Stimme hörte – und erstarrte. „Der DigimonKaiser!“, stieß Veemon hervor. „Wie ist das möglich?“ Der Schwarze Ring von vorhin war doch keine Einbildung gewesen. Nicht weit von ihnen entfernt lag er auf dem Boden, und über ihm schwebte, flackernd und unstet, ein Hologramm des Tyrannen, wie er erst auf den zweiten Blick erkannte. „Was willst du?“, fragte Davis feindselig. „Piyomon“, sagte der DigimonKaiser, „erzähl uns bitte, was mit Sora geschehen ist, seit ihr Masla verlassen habt.“ Das Vogeldigimon starrte ihn mit großen Augen an. „Was redest du da?“, ereiferte sich Davis. „Es ist aus dem Kerker geflohen! Tu nicht so, als stünde es mit der Schwarzen Königin unter einer Decke!“ „Piyomon ist Soras Digimon-Partner“, behauptete der Kaiser. „Erzähle es uns bitte. Ihr glaubt mir vielleicht nicht, aber ich will euch helfen.“ Davis war baff. „Lügner!“, brachte er heraus. „Er hat recht“, sagte Piyomon kleinlaut. Davis und Veemon wandten sich verblüfft zu ihm um. „Ich … Ich habe versagt.“     Er wusste, dass er keinen Informationen trauen konnte, die nicht ausschließlich über Papier weitergegeben wurden, aber Ken glaubte dennoch nicht, dass es eine weitere Falschmeldung war, erfunden von der Wissens-Armee, die sich wieder in sein System gehackt hatte. Niemand in der DigiWelt wusste noch von der Vergangenheit, außer ihm selbst, Nadine und ihrem Elecmon. Die Wissens-Armee hätte keinen Grund, ihm vorzumachen, dass einer seiner Spionage-Ringe ein einzelnes Piyomon gesichtet hatte. Spadamon war noch in der Mobilen Festung gewesen, als der Bericht an den Hagurumon vorbeiglitt, und da es wusste, nach wem er suchte, hatte es ihn sofort an ihn weitergeleitet, obwohl Ken Sofortnachrichten untersagt hatte. Aber Spadamon war gewitzt. Damit die einzelne Nachricht über ein einzelnes Digimon der Wissens-Armee nicht ins Netz ging, hatte es auch die Nachrichten von rund zwanzig weiteren Ringen an ihn gesendet, die Rookie-Digimon beobachteten. Ken hatte Hoffnung geschöpft. Piyomon gab es zwar viele, aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass eines die Nadelberge verließ, fliehend, allem Anschein nach? Er hatte die Verfolgung aller zwanzig Digimon in Auftrag gegeben. Das Hologramm überließ er dafür dem Risiko, abgehört oder manipuliert zu werden, aber vermutlich verstand nicht einmal Izzy, was er damit bezweckte. Er hatte sich in die Turmkammer zurückgezogen, um ungestört zu sein. Sein Herz pochte bereits heftig. Nun würde er erfahren, was Sora zugestoßen war, und die Aussicht ließ ihm ganz beklommen zumute werden. „Es ist dir gar keine Rechenschaft schuldig, hörst du?“, rief Davis, den er auf dem Bildschirm seines Connectors sah. „Du wirst auch etwas mit der Information anfangen können, wenn du Tai retten willst“, sagte Ken ungeduldig. Musste sein Freund sich ausgerechnet jetzt quer stellen? Doch Piyomon begann zu erzählen. „Wir sind zuerst nach Norden geflogen, möglichst weit weg von Masla. Als wir die Nadelberge erreicht haben, waren wir dann müde und hungrig und wollten eine Rast einlegen. Wir konnten nirgendwo hin, wir kannten ja auch niemanden in der DigiWelt! Dann hat Sora eine Höhle gefunden. Sie schien sicher zu sein, also wollten wir darin übernachten.“ Piyomon rutschte unbehaglich hin und her. Veemon hatte es vom Busch gehoben und ihm einen Wasserschlauch angeboten. „Da drin ist dann … irgendetwas mit Sora passiert. Sie wollte plötzlich nicht mehr weitergehen und hat nur noch vor sich hin gemurmelt, dass niemand sie lieben würde und dass sie ganz alleine in dieser Welt wäre, und dass es solche Dinge wie Liebe gar nicht gäbe und das ganze Leben nur ein einziges, großes Leid wäre.“ In Ken zog sich etwas zusammen, gleichzeitig klopfte sein Herz schmerzhaft in seinem Hals. Gut möglich, dass diese Gedanken ihren Ursprung schon in der Lotusblüte gehabt hatten, aber er hatte plötzlich auch eine vage Vorstellung von dieser Höhle. „Was ist dann passiert?“ Piyomon wurde mit jedem Wort niedergeschlagener. „Ich habe alles getan, aber ich konnte sie nicht aus der Höhle bringen. Digitieren konnte ich auch nicht, also habe ich ihr nur Essen und Trinken gebracht, doch sie hat drei Tage lang nichts angerührt.“ Drei Tage … „Irgendwann ist sie aufgestanden und hat gemeint, es wäre sinnlos, und wir sollten weitergehen. Sie wollte sich beschäftigen, hat sie gesagt, weil der Gedanke, dass niemand sie liebte, so unerträglich geworden wäre. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie sehr wohl liebe, doch sie wollte mir nicht glauben. Sie war nicht mehr sie selbst, als wir aus der Höhle gingen.“ Nun war sich Ken sicher. Er hatte die Geschichte vor Jahren von T.K. gehört. Während Tai und WarGreymon auf der Spitze des Spiralbergs gegen Piedmon, den letzten Meister der Dunkelheit, gekämpft hatten, waren er, Joe, Matt und Sora schon einmal in dieser merkwürdigen, dunklen Höhle gewesen, die ihre Gedanken trübte und um negative Emotionen kreisen ließ. Matt war ihr zum Opfer gefallen und danach auch Sora, aber beide waren nach Kurzem wieder davon losgekommen. Dass Sora diesmal drei Tage lang darin ausgeharrt hatte … Ken stellte sich vor, wie es wäre, wieder und wieder mit seinen übelsten Gedanken konfrontiert zu werden, tagein, tagaus, etwa mit der Schuld, die er am Leid so vieler Digimon hatte. Es musste gereicht haben, ihr eine Gehirnwäsche zu verpassen. Deemon, öffnete er seinen Geist für das finstere Digimon, ist das wahr? Ist es die gleiche Höhle wie vor zehn Jahren? Deemon klang nachdenklich, als es antwortete. „Das ist sie. Ich wusste nicht, dass sie bei Menschen solche Auswirkungen hat. Das erklärt das Verhalten meines Spielsteins.“ Es machte Ken zornig, dass es von Sora als seinem Spielstein sprach, aber er schluckte seinen Ärger hinunter. „Was ist danach passiert?“, fragte er Piyomon. Das arme Digimon wurde immer unglücklicher, obwohl er gedacht hatte, dass das gar nicht mehr möglich wäre. „Wir haben das Düsterschloss entdeckt, im Südwesten der Berge auf einem großen Felsen, in der Nähe eines bewaldeten Tals, aber damals war es noch nicht von den Geistdigimon bewohnt. Eine ganze Schar Sethmon und Aurumon haben uns empfangen und begonnen, Sora ihre Königin zu nennen. Sie konnten sogar beweisen, dass sie eine Überlebende der alten Königsfamilie war: Deren Wappen war dasselbe wie das, das manchmal in Soras Brust aufglüht, wenn ich digitiere. Wir wussten immer, dass es etwas Besonderes zu bedeuten hat. Ich war ganz aufgeregt, aber Sora … Sie hat nicht mal mit der Wimper gezuckt, als die Sethmon ihr das eröffnet hatten. Sie ließ sich nur den Thronsaal zeigen. Die Digimon baten sie sogar, das Schloss etwas schöner herzurichten, damit es gemütlicher wird – nur die Königin darf das, sagten sie. Aber Sora tat nichts, außer stumm herumzusitzen und nachts in den Gängen herumzuwandern. Sie verbrachte auch viel Zeit in den Kellern, wo es heiße Becken und Dampf gibt, und jeden Tag fragte sie mich, warum ich sie nicht liebe.“ Tränen kullerten aus Piyomons Augenwinkeln. „Ich habe ihr jedes Mal gesagt, dass ich das tue, aber sie hat mir nie geglaubt.“ „Aber was ist mit MetallPhantomon?“, fragte Davis aufgeregt. „Und warum bist du im Kerker gelandet?“ Piyomon schüttelte sich, als wollte es böse Erinnerungen vertreiben. Vielleicht fröstelte es aber auch nur. „Sie kamen drei Tage, nachdem wir das Schloss gefunden hatten. MetallPhantomon und seine Geisterhorde waren damals nur eine Bande, die etwas vom Kuchen abhaben wollte, um den man in der DigiWelt ficht. Es hat das Schloss belagert und eine Audienz bei Sora verlangt, und als es im Thronsaal war, wollte es uns überrumpeln. Es kann in die Albträume anderer eindringen und sie verstärken und mehrt damit seine Macht … und es wollte Sora damit zum Aufgeben zwingen. Aber was die Höhle mit Sora angestellt hat … Es war so furchtbar, so verquer, dass nicht einmal MetallPhantomon es ausgehalten hat. Es las in ihrem Traum ihr ganzes Leid, hat es gesagt, und die unendliche Schwermut in Soras Gedanken hat seine Macht so sehr gebrochen, dass es seine Sense nicht mehr heben konnte. Dieses Ding hat einen eigenen Willen, hat es gesagt … und seit Sora diesen besiegt hat, gehorcht es nur mehr ihr. Darum ist MetallPhantomon danach immer um sie herumscharwenzelt und hat sie angefleht, ihm die Sense wiederzugeben! Es war so überwältigt, dass es sich sogar ihrer Armee angeschlossen hat. Alles wäre vielleicht gut geworden, hätte Sora nicht beschlossen, dass die Sethmon, Aurumon und ich ihre Feinde wären … Sie hat gemeint, wir würden sie niemals lieben, und wir hätten sie nur belogen. Letztendlich vertraute sie fremden Digimon, die sich ihr unterworfen hatten, mehr als ihrer eigenen … Familie, ihrer Familie, die behauptete, sie zu lieben! Dann hat sie ihr Wappen abgeändert. Damit es besser zu ihr passt, hat sie gesagt, und es war auf Ratschlag von MetallPhantomon. Sie hat viele von den Aurumon und Sethmon eingesperrt, und viele sind gestorben … Einige konnten auch fliehen. Und mich … mich hat sie …“ Piyomon sah aus, als würde es einen Weinkrampf bekommen, und Ken wurde ganz weh ums Herz, aber es riss sich sichtlich zusammen. „Seither befehligt sie die Geisterarmee. Ich glaube, sie fällt nur Entscheidungen, wenn sie direkt jemand etwas fragt. Ich habe sie verloren. Ich habe als ihr Partner versagt.“ Es ließ den Kopf hängen. „Sag das nicht!“, rief Davis aus. „Veemon und ich werden das schon wieder geradebiegen, stimmt’s?“ „Und wie!“ „Das dürfte nicht einfach sein“, sagte Ken sachlich. Davis funkelte sein Hologramm böse an, aber er ignorierte ihn. Nichts hätte er lieber, als mit ihm zusammenzuarbeiten, um dieses dunkle Knäuel aufzulösen, aber … Du wirst mir kaum sagen, wie ich den Bann brechen kann, der Sora gefangen hält, nicht wahr? Sollte er sie einfach angreifen und gefangen nehmen? Wenn sie Tai eingesperrt hatte, wer wusste schon, was sie mit ihm anstellte. Sora war eine herzensgute Person, aber die Schwarze Königin war grausam – ohne sich dessen bewusst zu sein, wie es aussah. Er konnte Tai und Agumon auf keinen Fall in ihren Fängen lassen. Aber selbst wenn er sie zu Matt und Gabumon sperrte, war sie nicht von diesem Fluch befreit, der sie innerlich aufzufressen schien … Welche Qualen litt sie wohl? Welche Qualen würde er selbst erleiden, wenn er diese Höhle betreten würde, oder all die anderen? Deemon überraschte ihn, als es nach einer schweigenden Weile antwortete: „Ich werde dir hierbei helfen, Ken.“ Ken glaubte, sich verhört zu haben, und Deemon lachte leise. „Die Schwarze Königin ist eine abtrünnige Spielfigur. Sie hätte sich deinen Freunden anschließen und dich bekämpfen sollen, aber so nützt sie mir nichts. Sie hockt auf ihrem Felsen und schickt Räuberbanden ins Feld. Es wäre besser für mich, wenn in ihrem Schloss bald ein Schwarzer Turm steht, der meine Macht vergrößert. Ich werde eine Ausnahme machen und dir unter die Arme greifen, Ken.“ Als ob ich so dämlich wäre, dachte er sarkastisch. „Es ist ein Spiel im Spiel, Ken“, warf Deemon ein. „Das Schloss ist im Moment für mehrere Fraktionen interessant. Denk darüber nach, ich gewinne tatsächlich mehr, wenn ich dir das Geheimnis der Höhle enthülle.“ Welches Geheimnis?, fragte er lauernd. „Der finstere Bann kann gelöst werden, indem ein anderer das Opfer zur Vernunft bringt, doch je länger man sich darin aufgehalten hat, desto schwieriger wird es. Man kann die Macht der Höhle aber für alle Zeiten zerschlagen, wenn man sie herausfordert.“ Wie das? Nein – das ist eine Falle von dir, gib’s zu! „Ich habe geschworen, dich über die Spielregeln niemals anzulügen, Ken. Jemand muss die Höhle herausfordern und sie besiegen. Die Höhle versucht, den Verstand derjenigen zu brechen, die sie betreten. Wenn ihr das nicht gelingt, ist der Fluch gebrochen. Bisher hat es noch niemand geschafft, ich warne dich.“ Mit einem heiseren Lachen zog sich Deemon zurück und ließ Ken mit diesem Wissen alleine. Er grübelte darüber nach, während er sah, wie sich Davis und Veemon weiter um Piyomon kümmerten. Wenn ich die Höhle betrete, bin ich verloren, erkannte er. Mein Gewissen wird mich plagen und ich werden den Menschen verachten, den ich war, und den Menschen, der ich bin, und daran zerbrechen. Das wäre schon einmal fast geschehen, in MaloMyotismons Illusion, hätte Davis nicht … Er fühlte sich wie von einem Blitz getroffen.     „Davis, hör mir genau zu“, sagte der DigimonKaiser plötzlich – genauer gesagt, sein Hologramm sagte es mit regloser Miene. „Was denn noch?“, fragte er gereizt, ohne daran zu denken, woher der Tyrann eigentlich seinen Namen kannte. Er und Veemon wollten soeben das völlig erschöpfte Piyomon ins Lager bringen, damit es sich ausruhen konnte. Den Ring würde er mitnehmen und ihn König Leomon bei dessen Rückkehr zeigen. „Ich nehme an, dass du nun sofort losziehen willst, um den Drachenritter zu befreien?“ „Natürlich! Wag es ja nicht, uns in die Quere zu kommen!“ Der Kaiser seufzte tief. Davis lief eine Gänsehaut über den Rücken, als ihm bewusst wurde, dass er eben mit dem schlimmsten Feind der ganzen DigiWelt sprach. „Tu das nicht, für Sir Taichis und Agumons Wohlergehen. Du musst den Fluch, der auf der Schwarzen Königin liegt, brechen, das ist der einzige Weg.“ „Und seit wann interessierst du dich für sie?“, fragte Veemon an Davis‘ Stelle, der eben dasselbe gedacht hatte. „Wir sind deine Feinde!“ „Das mag sein, aber hier geht es um mehr als das“, sagte der DigimonKaiser rätselhaft. „Du könntest auch Sora retten, und viele andere auch. Du, und nur du. Ich kenne dich, Davis, glaub mir – du bist der eine, der Erfolg haben kann.“ „Wie lange spionierst du mich schon aus?“, wollte er wissen. „Lange genug“, seufzte der DigimonKaiser, als würde es ihn große Überwindung kosten, ihm die Wahrheit zu sagen. „Hör zu, du wirst mir nicht vertrauen, ich weiß. Aber was hältst du von einem Handel? Du willst Sir Taichi, Agumon und Sora nicht im Stich lassen, oder?“ Er würde tatsächlich am liebsten alle retten, die in diesem Krieg zu leiden hatten … auch wenn er nicht bereit war, der Schwarzen Königin ihre Taten so schnell zu verzeihen! „Und was willst du?“ „Mir ist daran gelegen, meine Feinde zu besiegen. Die Schwarze Königin ist für mich eine größere Bedrohung als das Nördliche Königreich. Ich sage dir, was du tun musst, du rettest deine Freunde, dein Reich bekommt mehr Land, und ich habe einen gefährlichen Feind weniger, so einfach ist das. Ich würde es selbst versuchen, aber mir fehlt die Zeit und ein geeignetes Transportmittel dazu.“ Davis konnte sich nicht vorstellen, warum das Blutende Herz gefährlicher sein sollte als der Löwe, andererseits waren Taktik und Strategie auch nicht seine große Stärke. Er biss sich auf die Lippen. „Wir müssen mit dem König reden, um sowas zu entscheiden.“ „Tut das, aber schnell. Tai hat womöglich nicht lange Zeit.“ „Aber der …“ Er konnte es ihm ruhig sagen. Der DigimonKaiser würde nie den Schluss ziehen, dass König Leomon es auf die File-Insel abgesehen hatte – warum auch? Es fuhren so einige Flotten auf dem Net Ocean umher. „Der König ist auf See! Es würde eine Ewigkeit dauern …“ „Dann musst du es ohne seine Zustimmung erledigen, sonst stirbt der Drachenritter höchstwahrscheinlich“, sagte der DigimonKaiser, und für einen kurzen Moment hatte Davis das Gefühl, dass seine Kälte geschauspielert war. Dennoch, war sollte er tun? Seufzend lief er im Kreis und fragte dann Veemon: „Was sagst du?“ „Hören wir uns doch einfach an, was er zu sagen hat“, meinte sein Partner wesentlich ruhiger. „Wenn es ungefährlich ist, können wir ja vielleicht zustimmen.“ „Es ist wesentlich ungefährlicher, als das Schloss der Schwarzen Königin anzugreifen“, behauptete der DigimonKaiser. „Du musst nur dieselbe Höhle betreten wie sie. Das ist alles.“ „Damit ich auch verrückt werde?“ „Sie wird keine Wirkung auf dich haben, und ihr Fluch wird verpuffen. Davon bin ich überzeugt.“ „Wie schön!“, schnaubte Davis. „Du willst mich nur aus dem Weg haben, weil ich auch eine Gefahr für dich bin!“ „Überschätze dich nicht. Aber es ist dein Freund. Ich kann auch warten, bis sich eine neue Gelegenheit bietet, die Königin zu besiegen. Wenn ich es mir recht überlege, ist es wohl sogar besser, wenn der Drachenritter stirbt.“ Davis biss die Zähne zusammen, als der DigimonKaiser teuflisch lachte und das Hologramm erlosch. Den Ring ließ er davonfliegen. Innerlich hatte er sich schon entschieden.     Izzy fuhr sich seufzend mit dem Handrücken über die Stirn, nachdem er die Kabel fertig angeschlossen hatte. Ihr Trupp war recht klein, also musste er selbst kräftig mit anpacken. Hier sind wir viel weiter nördlich, und trotzdem ist es so heiß. Die Sonne knallte auf sie herab, die vielen Fenster reflektierten sie und die Betonwände und –böden hatten sich längst aufgeheizt. Es war ein heißer Tag in der DigiWelt. „Es ist alles geregelt“, sagte Tentomon, das herangeschwirrt kam. „Die Truppen des Kaisers sind zu uns übergelaufen. Da waren nur ein paar, die noch Widerstand geleistet haben. Die Mothmon halten sie in Schach.“ „Gut. Wir sperren sie ein, sobald wir wissen, wo.“ Izzy zog sich unter die Plane zurück, die die Pioniere an der Hauswand aufgebaut hatten, und klappte seinen Laptop auf. Er wollte sich so schnell wie möglich wieder mit dem Hauptrechner der Konföderation vernetzen – zu lange offline zu sein und sich dabei noch unter freiem Himmel aufzuhalten, bereitete ihm ein gewisses Gefühl des Unwohlseins. Immerhin waren sie hier in feindlichem Gebiet. „Hat man den Übergelaufenen schon Anweisungen gegeben, wie sie sich verhalten sollen?“ „Das machen die Searchmon gerade“, sagte Tentomon und flog weiter, um den Bau der Basis zu beaufsichtigen. Izzy war erstaunt, wie einfach es gewesen war, in der Voxel-Stadt Fuß zu fassen. Das Gebiet hatte Fürst Musyamon gehört und war nach dem Fall von Little Edo an den DigimonKaiser gegangen, der es dem Digimon als Lehen zurückgegeben hatte. Zu Beginn des Krieges hatte Musyamon sein Eigen eindrucksvoll verteidigt, aber mit seiner gestiegenen Verantwortung war es nun relativ schwach bewacht gewesen. Es hatte sogar einige Revolten gegeben, als der Verrat des Stadtherrn publik geworden war, und der Großteil der Digimon war hinterher mit den Schwarzen Ringen des DigimonKaisers gezähmt worden. Dennoch hatte Izzy mehr Widerstand erwartet. Die Operation Seemonster war ein ausgeklügelter Plan gewesen, von ihm selbst, Tentomon und Andromon entwickelt und von zahlreichen Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Simulationsstatistiken der Rechner der Konföderation abgesegnet. Ein Spähtrupp hatte die Flotte des DigimonKaisers fortgelockt, und ein recht kleines Whamon hatte die Pioniere am nördlichen Rand des Bambuswaldes an Land gebracht: Izzy selbst als Generaloperator und Missionskoordinator, Tentomon als seine rechte Hand, einige insektenartigen Mothmon mit ihren Gatling-Kanonen als Kampfeinheiten und die grauen, metallischen Searchmon-Käfer für die technischen Aufgaben. Da sie die Verschlüsselung des Nachrichtendienstes des DigimonKaisers erneut geknackt hatten, beherrschten sie noch immer seine Radargeräte. Somit waren die Pioniere für ihn zu einer Phantomeinheit geworden. Blitzschnell hatten sie in einer Untergrundoperation gehandelt, waren von Keller zu Keller gehuscht und hatten schließlich den Schwarzen Turm im Stadtzentrum zerstört und die Voxel-Stadt eingenommen. Nun hatten sie einen hochtechnisierten Brückenkopf, von dem aus sie weitere Angriffe auf das Reich starten konnten, und die meisten Verluste stammten rein aus der Köder-Flotte. Izzy fand, dass er sich belobigend selbst auf die Schulter klopfen konnte. Natürlich wurde das Signal, dass der Schwarze Turm aktiv war, weiterhin gesendet. Nichts in den Systemen des Kaiserreichs deutete darauf hin, dass die Stadt eingenommen worden war. Die befreiten Digimon waren angewiesen worden, ihre nun funktionsunfähigen Ringe weiterhin zu tragen, und Izzy war sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Eine belastbare Konstruktion aus Stahlträgern stützte den durchtrennten Rumpf des Schwarzen Turms und hielt ihn an Ort und Stelle. Von der Ferne sah man ihn immer noch zwischen den Hochhäusern der Stadt aufragen. Eine Konferenzanfrage von Willis war eingegangen. Izzy hatte schon gehört, dass der Anschlag auf den DigimonKaiser fehlgeschlagen war, aber die Stellungnahme des Zwillingsritters hatte bisher nur Andromon entgegengenommen. Dabei hatten sie sich beide große Mühe gegeben, dem Kaiser das Szenario mit dem Ebemon möglichst perfekt vorzugaukeln. Allein die Vorbereitungen des Hinterhalts hatten Izzy tatsächlich eine volle Nacht ohne Schlaf gekostet, obwohl er sich noch auf Operation Seemonster hatte vorbereiten wollen. Er wartete, bis die verschlüsselte Verbindung aufgebaut war, und sah Willis vor seinem Handterminal sitzen. „Da bist du ja“, begrüßte ihn der Blondschopf. „Andromon sagte, du hattest eine Spezialmission? Wie ist es gelaufen? Gut, schätze ich?“ „Bestens. Ein voller Erfolg.“ Izzy lächelte, aber Willis wirkte nicht allzu froh. „Dann hatte wenigstens einer von uns Erfolg.“ „Aber ihr habt Prinzessin Mimi doch gerettet, oder?“ Sie hatten beim letzten Mal keine Gelegenheit gehabt, darüber zu sprechen. „Das schon.“ Willis grinste. „Sie ist übrigens nicht ganz so hübsch, wie immer gesagt wird. Trotzdem, im Moment räkelt sie sich irgendwo in den Bergen, und darf mich hier im Busch herumschlagen.“ Izzy zog den Mundwinkel hoch. „Wo bist du denn?“ „Frag mich was Leichteres. Irgendwo zwischen dem Stiefel und dem Trugwald. Wir versuchen, wenig Aufsehen zu erregen und irgendwie zu Michael und der Froschprinzessin zurückzugelangen, aber hier ist das Pflaster heiß. Die Front wütet im Westen, immer noch, und die Digimon hier mussten vieles für die Versorgung des kaiserlichen Heers aufgeben. Sie sind ziemlich gereizt, hassen Fremde und rauben einen aus, wenn man schläft. Also gebe ich mir Mühe, nicht zu schlafen.“ Izzy bemerkte die dunklen Ringe unter Willis‘ Augen. Seine Zwillingsdigimon, die er schräg hinten im Bild sah, wirkten ebenfalls erschöpft. Sie waren an einem recht dunklen Ort, und er meinte, Wasser rauschen zu hören. „Und alles nur, weil mir der verdammte DigimonKaiser durch die Lappen gegangen ist!“, fuhr Willis wütend fort und knackte mit den Knöcheln. „Ich hab dich gewarnt“, seufzte Izzy. „Hätten wir länger gewartet, hättest du mehr Unterstützung mitbekommen …“ „Ich brauche keine Unterstützung, und die Zeit wäre auch egal gewesen“, widersprach Willis. „Die Falle war perfekt. Ich hatte einfach Pech. Oder der Kerl hatte Glück, das wohl eher. Immerhin haben wir seinen Digimon-Partner erwischt.“ „Oh.“ Das wusste Izzy gar nicht. Er sah zu Tentomon hinüber, das hinter der Glasfront in der Eingangshalle eines Wolkenkratzers den Searchmon Anleitungen gab, wo sie welche technischen und militärischen Stationen hinbauen sollten. Wie würde er sich wohl fühlen, wenn sein Partner sterben würde? Er wäre am Boden zerstört. Aber dem DigimonKaiser war es vermutlich gleichgültig, wer sich für ihn opferte. „Naja“, seufzte Willis. „Wir werden versuchen, hier in diesem Loch was fürs Abendessen aufzutreiben. Wenn du Michael erreichst, sag ihm, wie die Dinge stehen, ich bekomme keine Verbindung zu ihm. Vermutlich ist ein Berg dazwischen, oder die Batterien geben langsam den Geist auf.“ „Passt auf euch auf“, sagte Izzy zum Abschied. „Machen wir. Man sieht sich.“ Die Verbindung brach knackend ab und der Rotschopf blickte wieder seufzend in den strahlend blauen Himmel und überlegte, was noch alles zu tun war, ehe er einen wohlverdienten, von ständiger Wachsamkeit geprägten Feierabend machen konnte.   All you love is a lie You one-night butterfly Hurt me, be the one  Whoever brings the night (Nightwish – Whoever Brings The Night) Kapitel 32: Viertausend Volt ---------------------------- Tag 81   Es war Ken unverhofft leicht gefallen, den bösen Imperator zu spielen – zu leicht. Aber immerhin hatte Davis nun angebissen. Kaum dass sein Gespräch vorbei war, traf Ken Vorkehrungen für seine Reise in den Norden, obwohl er seinem Freund gegenüber Gegenteiliges behauptet hatte. Wenn er das richtige Timing erwischte, konnte er Tai und Sora in seine Gewalt bringen – und Davis vielleicht auch noch. Er gab sich keinen Illusionen hin: Seine Datenbanken beschrieben MetallPhantomon als furchteinflößenden Gegner. Ohne seine Sense war es vermutlich nicht ganz so stark, aber er würde trotzdem einen Weg suchen, es zu umgehen … Doch wie er Davis kannte, verlor der keine Zeit, also musste er selbst ebenfalls schnell handeln. Er nahm ein paar technische Spielereien mit, auch den Prototyp einer behelfsmäßigen Teufelsspirale, den er mühsam entwickelt hatte und von dem er sich nicht allzu viel versprach. Gegen ein Mega-Digimon würde er ihm sowieso nichts bringen. Eine kleine Garde Dokugumon, die er rasch zusammentrommelte und die sich in Myotismons ehemaligem Schloss mit seinen merkwürdigen physikalischen Gesetzen und verwinkelten Gängen gut würden bewegen können, nahm er mit, und natürlich Taomon. Auf einem Airdramon flogen sie los, als die Sonne noch hoch am Himmel stand. Ihre Flugroute sollte über die Wildwest-Stadt und Masla führen. Die Nadelberge lagen weit hinter den Linien des Einhornkönigs, und es war wohl fast unmöglich, die Front ungesehen zu passieren. Ken hoffte, dass die Linien im umstrittenen Bereich der ehemaligen Sklavenstadt genug ins Wanken gekommen waren, damit einem einzelnen Airdramon nicht viel Beachtung geschenkt wurde. Er wäre ein gefundenes Fressen für die drei Saatkinder, die sich irgendwo in diesem Gebiet aufhielten, und sollte er in ihnen in die Hände fallen, wäre alles aus – aber dieses Risiko musste er eingehen! Die Wüste kam als sandiger Streifen am Horizont in Sicht, als er eine Nachricht auf seinem Connector empfing, vom Rosenstein. Verwirrt nahm er ihn entgegen. War etwas Wichtiges passiert? „Sag mal, wo steckst du eigentlich?“, ertönte eine genervte Stimme. „Nadine?“, fragte er überrascht. „Du bist schon zurück?“ „Ich schon! Ich bin im Palast – wo zum Teufel bist du? Wieso sagt mir mein Kastellan, dass du Hals über Kopf irgendwohin aufgebrochen bist? Was hast du vor? Wieso erfahre ich davon nichts?“ Sie klang eindeutig gereizt, und Ken bekam plötzlich den Anflug eines schlechten Gewissens. Er hatte versprochen, auf dem Rosenstein zu bleiben, bis sie die Angelegenheiten in Masla geregelt hatte. „Ich muss etwas Dringendes erledigen“, sagte er in versöhnlichem Ton. „Ich bin in spätestens zwei Tagen zurück.“ „Sitzt du auf einem Airdramon? Ich höre den Flugwind rauschen! Hast du vergessen, was das letzte Mal passiert ist, als du allein …“ Sie verstummte, als wäre ihr klar geworden, dass sie in offenen Wunden bohrte. „Ich bin nicht allein“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Und ich passe auf mich auf. Ich muss ein paar meiner alten Freunde retten, verstehst du? Du musst dir keine Sorgen machen.“ Fast keine. „Tu ich ja gar nicht“, murmelte sie. „Schmollst du?“, fragte er vorsichtig, ehe er sich auf die Zunge beißen konnte. „Ich schmolle nicht!“, versetzte sie. „Ich bin nur so schnell wie möglich wieder zum Palast zurückgeflogen, damit wir wieder …“ Sie unterbrach sich, suchte nach Worten. „Ach, vergiss es.“ Ken hob überrascht die Augenbrauen. Wie sollte er darauf reagieren? Ein leichter, wohliger Schauer wanderte durch seinen Körper, als er ihren Satz in Gedanken vervollständigte. Nadine räusperte sich vernehmlich. „Und was ist das für eine Geschichte mit den neuen Dienern?“ „Was meinst du?“ „Tu nicht so unschuldig! Kaum setze ich einen Fuß in den Speisesaal, begrüßt mich eine Horde neuer menschlicher Diener, alles Mädchen! Und alle sagen, du hättest sie eingestellt.“ Alles Mädchen und ein Junge, verkniff sich Ken gerade noch. „Es sind eben auch Menschen, und im Palast sind sie in Sicherheit. Außerdem dachte ich, du könntest ein paar neue Diener gebrauchen.“ Es fühlte sich seltsam an, von anderen DigiRittern als ihren Dienern zu sprechen, aber es war am einfachsten, ein Schema für sie zu finden, in dem niemand Fragen stellte. „Ich? Oder eher du?“, fragte sie spitz. Die Frage machte ihn stutzig. Dachte sie, er würde den Palast immer noch als einzig ihr Eigen betrachten? Sie hatten schon vor langem geklärt, dass sie sich alles darin teilen würden – Himmel, sie hatten sogar schon zusammen gebadet! Und auch ihr Reich sollte ein großes Ganzes sein. „Für uns beide natürlich“, erwiderte er beruhigend. „Wenn wir mehr Digimon zur Front schicken wollen, sind menschliche Diener doch am besten.“ „Vor allem, wenn sie vorher in einem Bordell gearbeitet haben, oder was?“ „Nein, für sie selbst ist es einfach besser, wenn …“ Ken stockte. „Was … Was hast du gesagt?“ „Du hast mich schon verstanden! Du hast diese Mädchen aus einem Bordell in Masla freigekauft und in den Palast gebracht, damit sie dir zu Diensten sind? Das hätte ich dir nie zugetraut!“, sagte Nadine böse. Ken war für den Moment zu perplex, um sich zu rechtfertigen. „Ich … Woher weißt du das mit dem Bordell?“ Er hatte doch klar genug gemacht, dass sie nicht von seinem Besuch in der Lotusblüte zu erfahren hatte! Hatten die DigiRitter selbst geplaudert? Ein trockenes Lachen drang aus den Lautsprechern. „Glaubst du, ich weiß nicht, was ich vor mir habe, wenn mir ein Digimon, das wie eine geborene Puffmutter aussieht, erzählt, dass der DigimonKaiser ihre Angestellten gekauft hat?“ Lotusmon! Das würde ein Nachspiel geben. Immerhin wusste er jetzt, warum Nadine so aufgebracht war, aber er wusste nicht, ob ihn diese Gefühlsregung ehren sollte. „Du … du hast das falsch verstanden“, stammelte er und spürte, wie er rot wurde. Gut, dass sie ihn nicht sehen konnte. „Ach ja? Sie wollte mich festhalten, dieses hässliche, violette Weibsbild! Auf Order des DigimonKaisers, kannst du dir das vorstellen? Es war ihr völlig egal, dass ich ihre Königin bin!“ Autsch. Sie klang wirklich, wirklich gereizt … Ken konnte sich Lotusmon gut vorstellen, wie es sich bei der Sache ins Fäustchen lachte. „Das … das war nur, um … um andere … Was machst du überhaupt in einem Bordell?“, platzte er heraus. „Dasselbe könnte ich dich fragen – wobei, Moment, ich glaube, ich weiß es schon.“ „Nadine, das ist … Ich wollte mir nur ansehen, was das für ein Laden ist!“ Seine Stimme war lauter geworden, und kaum hatte er ausgesprochen, merkte er, dass er ins nächste Fettnäpfchen getreten war. „Und? Hat er deinen Vorstellungen entsprochen?“, fragte sie mit schneidender Stimme. „Nein, Nadine, glaub mir, ich wusste nicht … Ich meine, ich wusste schon, aber ich wollte nicht … Ich wollte mich nur davon überzeugen, was Hiroshi getan hat!“ „Ich auch“, sagte sie kühl. „Kannst du mir verraten, wie ich mich verhalten soll, wenn mir dieses Lotusmon brühwarm sagt: Guten Tag, Eure Hoheit, schön, dass Ihr Euch für mein Etablissement interessiert, leider hat Euer Gemahl meine Ware beschlagnahmt?“ Ken biss sich auf die Lippe. Gemahl … Ja, er würde ein ernstes Wörtchen mit Lotusmon reden müssen, ein sehr ernstes. Er atmete tief durch. „Nadine, glaub mir, ich habe dir nur nichts gesagt, damit du mich nicht für einen … für so jemanden hältst. Ich habe die Mädchen da rausgeholt, und weil ich nicht wusste, wohin mit ihnen, habe ich sie auf den Rosenstein bringen lassen. Ich hab nicht mit ihnen … Du weißt schon.“ Sie schwieg eine Weile, schien sich aber beruhig zu haben. „Und ich hab jetzt einen Haufen Teilzeitprostituierter als meine Kammerzofen? Vielen Dank auch.“ „Es sind immer noch DigiRitter wie wir“, stellte Ken seufzend fest. „Und sie sind hübsch, zumindest ein paar.“ „Nadine!“ „Schon gut“, grummelte sie. „Wann kommst du wieder zurück?“ „In ein oder zwei Tagen“, wiederholte er. „Ich weiß, wo ich Sora und Tai finde. Erinnerst du dich an sie?“ „Klar. Die zwei, die dabei waren, als sie mich in die DigiWelt hinterhergebracht haben, oder?“ „Genau“, sagte er, erleichtert, dass die Sache vom Tisch war. „Gut. Dann pass auf dich auf“ sagte sie leise. „Und komm schnell zurück.“ Damit legte sie auf. Ken atmete einen Stoßseufzer aus. „Wo … wo sind wir gerade?“, fragte er matt. Er hatte sich so auf das Gespräch konzentriert, dass er nun lediglich wusste, dass sie schon Wüstengebiet überflogen. „Wir kommen bald zu der Ebene vor dem Trugwald, Majestät“, sagte Taomon, das reglos hinter ihm stand. Seufzend ließ er sich nach vorn gegen die Hörner des Airdramon sinken. Als er die Landschaft beobachtete, tauchte immer wieder Nadine vor seinem inneren Auge auf. War sie auch nur darüber verärgert, dass Deemon ein Bordell in die DigiWelt gepflanzt hatte, oder eher, weil sie glaubte, Ken hätte sich das zunutze gemacht? Er war nun aus irgendeinem Grund froh, in den saftig grünen Norden zu fliegen.     Piyomon war zu erschöpft gewesen, um sie zu begleiten, aber es hatte ihnen den Weg genau beschrieben. Auf der Schulter von Ex-Veemon sitzend flog Davis in die Nadelberge, von denen trotz des heißen Tags eine Kühle herab wehte, die ihn frösteln ließ. Er würde diese seltsame Höhle finden, den Fluch zerschlagen und Taichi und Piyomons Freundin retten, das hatte er geschworen! Seine Truppe hatte beschlossen, ihn zu unterstützen, selbst ohne Befehle von oben. Sie würden das Düsterschloss belagern und MetallPhantomon herauszulocken versuchen. Davis hatte es schon einmal in die Flucht geschlagen, das würde ihm wieder gelingen! „Ist es hier?“ Sie waren auf einer Lichtung in einem recht düsteren Wald angekommen und Veemon war zurückdigitiert. Nirgendwo öffnete sich der Schlund einer Höhle – hatten sie die Wegbeschreibung missverstanden? „Wir sind an den Felsen und dem hohen Baum vorbeigekommen“, überlegte Veemon. „Es müsste eigentlich hier sein.“ Davis trat noch einen Schritt weiter auf die Lichtung, als es passierte: Der Boden tat sich von einem Moment auf den anderen auf, unter ihren Füßen prangte plötzlich ein perfekt kreisförmiges, schwarzes Loch. Mit einem Aufschrei stürzten die beiden hinein. Die Welt stand plötzlich Kopf, und Davis rutschte und schlitterte über eine harte Schräge, stieß sich den Kopf und schmeckte Blut. Blinzelnd und stöhnend richtete er sich auf. „Ich glaube, wir haben sie gefunden.“ Die Öffnung hatte sich wieder geschlossen, kaum dass sie sie geschluckt hatte. Plötzlich wurde er doch nervös. Wie sollten sie den Ausgang wiederfinden? Es gab nur einen einzigen Weg, dem sie folgen konnten, und es war fast stockfinster. Klammen Herzens tasteten sie sich an der Felswand entlang. „Du, Veemon …“ „Was?“ „Wenn ich … Wenn ich mich irgendwie komisch zu benehmen beginne, schnapp mich und zerr mich hier raus, ja?“ „Mach ich.“ Es war eine Falle, natürlich war es das, was konnte es anders sein? Wenn der DigimonKaiser ihnen seine Hilfe anbot, war es entweder ein übler Trick oder ein Traum, und wie ein Traum wirkte das hier nicht … Weiter und weiter gingen sie in die neblige Finsternis. Er hatte gesagt, Davis müsse nur in die Höhle gehen, um sie zu besiegen, aber was genau sollte er jetzt tun? Die Wände einreißen? Er konnte doch nicht … Plötzlich blieb er stehen. „Ist das … Wasser?“, stieß er hervor. Veemon hielt ebenfalls an. „Was meinst du?“ „Na das!“ Davis deutete zu seinen Füßen. Ein schmaler Film schien die Felsen zu bedecken, aber die Felsen schienen dennoch so weit weg … Es war, als stünde er auf der Oberfläche eines riesigen, tiefen, unterirdischen Sees. Weiße Blasen stiegen von unten auf und blubberten zwischen seinen Füßen. „Das Wasser, auf dem wir gehen.“ „Du siehst hier Wasser?“, fragte Veemon verwirrt. „Das hier ist gewöhnlicher Höhlenboden, weiter nichts!“ Davis schwindelte. Wurde er verrückt? Vielleicht war das schon die Magie der Höhle, und er … Ich habe die Getreuen des Staubes sterben lassen. Der Gedanke kam ihm so plötzlich, dass er nach Luft schnappte. Sie waren tot, weil er sie nicht hatte beschützen können. Und jetzt kämpfe ich für ihre Mörder. Ich bin doppelt schuldig. „Davis?“, hörte er Veemon gedämpft, wie aus weiter Ferne. Mit einem Platschen sank er bis zu den Knöcheln im Wasser ein. Ich habe meine Freunde sterben lassen, und jetzt kann ich Taichi nicht retten. Es herrscht immer noch Krieg. Viele Menschen und Digimon leiden. Ich habe nichts ändern können. Ich habe versagt. Warum hatte er nie darüber nachgedacht? Er hatte sich ablenken lassen von kurzen, bedeutungslosen Erfolgen, wie leichtsinnig. Dabei war nichts wichtiger, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Die Getreuen des Staubes sind tot, Taichi ist bald tot, und die DigiWelt verwüstet, und ich bin hilflos und lebe in einer düsteren, verwüsteten Welt. Er meinte zu hören, wie jemand nach ihm rief, und irgendjemand packte ihn unter den Achseln, oder bildete er sich das ein? Mittlerweile stand er bis zur Hüfte im eiskalten, blubbernden Wasser. Die Briganten überfallen immer noch hilflose Digimon, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Der DigimonKaiser ist zu mächtig, wir können ihn niemals besiegen. Ich verhöhne nur das Vermächtnis der Getreuen. Tiefer und tiefer glitt er, die Kälte umschloss ihn immer mehr, und er merkte, dass er auch tiefer in seine Gedanken eindrang. Je mehr er grübelte, desto mehr erkannte er, wie schlecht es um ihn und die DigiWelt bestellt war. Es war wichtig, auszuloten, inwieweit er dafür verantwortlich war, es gab nichts Wichtigeres, er musste wissen, wie tief seine Schuld reichte. Doch egal, wie weit er darin tauchte, er erreichte den Grund nicht. Seine Verantwortung war bodenlos, und diese Tiefe zerrte ihn immer weiter ins Wasser. Bin ich also wertlos? Zukunftslos? Das bin ich wohl. Die Kälte umklammerte bereits seine Brust. Sie sind tot, die Getreuen des Staubes, weil ich sie nicht gerettet habe. Sie wussten nicht … Er stutzte. Sie wussten es! Jeder von uns war bereit zu sterben, und jeder war bereit, als Einziger zu überleben, für unser Ziel! Was denke ich da? Das Blubbern hörte fast auf. Das Wasser stieg auch nicht weiter. Es läuft doch eigentlich ganz gut? Was sollte ich mich beschweren? Ich kann mehr für die Unschuldigen tun als je zuvor, und das Nördliche Königreich ist jung und blüht trotzdem auf. Und mir selbst, mir geht es doch auch gut! Ich habe neue Freunde gefunden, Veemon ist immer noch bei mir. Löwemon und meine Truppe unterstützen mich, Leomon ist ein guter König, und ich werde auch Taichi retten! Ich weiß nicht, was morgen sein wird, und gestern war vielleicht düster, aber im Moment ist alles in Ordnung! Ich finde aus dieser dämlichen Höhle heraus, und am Abend zünden wir ein Lagerfeuer an und feiern unsere jüngsten Siege! Veemon und ich leben so sicher wie lange nicht, und wir können nachts schlafen und haben genug zu essen! Solange mein Leben so schön ist, ist es auch was wert! Aber ich verdiene das Essen und das Glück nicht, wenn ich nicht auch andere glücklich machen kann. Das Blubbern wollte nicht aufhören. Und genau das werde ich! Es gibt nichts, was Veemon und ich nicht schaffen könnten! Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und was ich bin, denn das reicht allemal! Mit einem Bersten splitterte das Wasser auseinander. Nicht nur das - die ganze Höhle zerbrach vor Davis' Augen, als hätte es sie nie gegeben. Er und Veemon standen wieder auf der Lichtung. Überrascht stellte Davis fest, dass seine Kleidung nicht im Geringsten nass geworden war. Veemon wirkte außer Atem. „Davis“, seufzte es erleichtert. „Was ist los?“ „Ich dachte, die Höhle erwischt dich! Du hast dich plötzlich zusammengekauert und nicht bewegen lassen!“ „Echt?“ Davis sah sich stirnrunzelnd um. „War es das jetzt schon?“ Veemon sah ihn großäugig an. Wie als Antwort glomm zu Davis‘ Füßen ein Licht auf. Etwas war dort erschienen, etwas Längliches, das vage Ähnlichkeit mit einem schwarzen Schuh hatte. Aus der Spitze ragte ein blitzförmiger Dorn. „Was ist das denn?“ Davis drehte es in der Hand. „Da! Erkennst du das Wappen?“, rief Veemon aufgeregt. Verdutzt betrachtete er das blaue Symbol. Das war das Wappen der Ehernen Wölfe – was hatte das zu bedeuten? Die Wölfe waren doch längst zerschlagen! „Meinst du, das ist auch ein ... ArmorEi?“ „Vielleicht hast du es als Belohnung bekommen, weil du die Höhle zerstört hast. Vielleicht hat die Höhle es ja auch bewacht.“ Unschlüssig wog Davis das seltsame Artefakt in der Hand, dann strich sein Blick über die grauen, nadeldünnen Bergspitzen. „Wenn die Höhle wirklich besiegt ist, sollten wir schnell zu den anderen stoßen und Taichi befreien.“ Er grinste. „Was meinst du, Veemon – probieren wir dieses Ding gleich aus?“     Davis‘ Digimon waren schon eifrig am Werk. Es war einfach, das Düsterschloss zu finden, das Airdramon musste nur den Kampfgeräuschen folgen. Als sich das Schloss aus dem Nebel auf den Bergspitzen schälte, wurde es heftig umkämpft. Monochromon und Tyrannomon rannten gegen sein Fundament an oder schossen Feuerbälle von unten hinauf, und eine Horde Bakemon versuchte, sie auf Abstand zu halten. Als Ken über das Schloss flog, nahmen zwei Phantomon ihn ins Visier. Rotierend und mit schwarz blitzenden Sensen griffen sie an. Taomon musste nur seine Pfote heben, und die Geister prallten von einem Schutzschirm ab, in dem Yin und Yang verschlungen waren. „Es geht los. Sichert uns die Wege“, wies Ken seine Dokugumon an. Die Spinnen wurden nicht von Schwarzen Ringen beherrscht, so weit außerhalb seines Territoriums wäre das nicht möglich gewesen, aber sie folgten ihm seiner schieren Macht wegen. Fauchend gehorchten sie, sprangen ab, spien klebrige Fäden an die Türme und schwangen sich in verschiedene Fensteröffnungen. Falls sie auf Geister stießen, würden sie sie erledigen. Airdramon landete im Innenhof. Ken fiel auf, dass die Zinnen und Wehrgänge allesamt ziemlich ramponiert aussahen. Als Tai hierhergekommen war, hatte er wohl seine Handschrift hinterlassen. Er wies das Drachendigimon an, in sicherer Ferne auf sein Zeichen zu warten, und betrat mit Taomon das Schloss. Er hatte eine ziemlich starke Vermutung, dass Deemon Soras Thron im Torraum aufgestellt hatte, aber es würde schwierig werden, dorthin zu finden. Auch wenn die Dokugumon den Weg auskundschafteten, gab es keine Garantie, dass sie Erfolg hatten und ihm den rechten Pfad mitteilen konnten. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit. Wieder profitierte er von seinem Wissen, das niemandem sonst in der DigiWelt beschieden war. Fast wünschte er sich, Deemon könnte nun seine Gedanken lesen, aber womöglich beobachtete es ohnehin seine Schritte auf seine Art. Es war nur eine kurze Anekdote gewesen, aber Ken erinnerte sich daran. Gatomon hatte Wormmon in seinem Beisein einmal von seiner Zeit bei Myotismon erzählt. Das Vampirdigimon hatte in seinem Arbeitszimmer einen Geheimgang gehabt, der auch in den Raum mit dem Weltentor führte. Dieses Wissen würden sie sich nun zunutze machen. Einmal mehr fragte sich Ken voller Sorge, wo Kari und Gatomon überhaupt steckten. Er hoffte, dass sie am Leben waren. „Wir suchen ein Arbeitszimmer oder eine Art Bibliothek“, sagte er zu Taomon. „Wie Ihr befehlt.“ Es war nicht schwierig zu finden, da es ziemlich zentral lag. Indem sie den größten Gängen folgen, stießen sie knapp unterhalb der Erdoberfläche darauf. Das Zimmer war verlassen, auch wenn Kerzen auf dem Schreibtisch brannten. Die Bücher in den Regalen waren allesamt verstaubt. Ken fragte sich, wovon sie handeln mochten, doch sie hatten keine Zeit, es herauszufinden. Systematisch klopften sie die Steinwände ab. Taomon stieß auf einen Hohlraum. „Hierhinter“, vermutete es. Ken nickte. „Mach dich an die Arbeit.“ „Sehr wohl, Majestät.“ Sie kannten den Mechanismus nicht, mit dem man die versteckte Tür öffnete. Womöglich funktionierte es nur einem Zauber, den allein Myotismon gekannt hatte. Aber in so einem Fall konnte sich Ken schließlich auch auf die rohe Gewalt seines Leibwächters verlassen. Taomon holte einen geradezu absurd langen Schreibpinsel aus seinem Ärmel und malte damit ein einzelnes Zeichen auf die sorgfältig übereinander geschichteten Steine. Das Symbol glühte kurz auf, und sofort bröckelte ein kantiges Loch aus der Mauer. Zufrieden stapfte Ken hindurch. Sie folgte einer kurzen Treppe, ehe sie auf eine größere Steinstiege stießen, und kurz danach öffnete sich der riesige Torraum vor ihnen. Wie Ken vermutet hatte, war er gleichzeitig Soras Thronsaal. Er konnte seine Freundin in der Dunkelheit hinter der Tönung seiner Brille nur undeutlich sehen, aber sie schien auf einem Monstrum von Thron in der Mitte des Saals zusammengesunken zu sein. Wachen waren keine zu sehen, nur zwei ratlose, kleine Digimon, die zu ihren Füßen hockten und zu ihr hochstarrten. Eilig taten Ken und Taomon die letzten Schritte in den Saal hinein. „Welche Ehre, wir haben hohen Besuch!“ Kens Blick ruckte zur Decke. In einem Kreis aus roter Elektrizität schob sich ein abscheuliches Digimon aus schwarzen Fetzen und Metall in den Raum - in der Hand hielt es eine rot glühende Sense. MetallPhantomon! Es wäre ja auch zu schön gewesen. Und es hatte seine Sense wohl schon zurück. Piyomons Informationen waren ungenau gewesen. Verdammt! „Ich nehme an, Ihr seid MetallPhantomon?“ „Wie seid Ihr an den Wachen vorbeigekommen?“, knurrte das Digimon blechern, als es zwischen ihnen und Sora zu Boden schwebte. Ken zwang sich zu einem überheblichen Lächeln. „Ihr scheint Euer Schloss nicht so gut zu kennen, wie ich glaubte. Ich bin enttäuscht. Aber es ist ja genau genommen auch nicht Euer Schloss, und deshalb habe ich auch nichts mit Euch zu tun. Ich bin gekommen, die Königin zu sprechen.“ „Die Königin empfängt gerade niemanden!“, fauchte MetallPhantomon. „Seht Ihr nicht, dass sie nicht ansprechbar ist?“ Das sah Ken nur zu gut, und es bereitete ihm große Sorgen. Bedeutete das, dass Davis schon Erfolg hatte? „Ich bin ihr oberster General! Sprecht mit mir, wenn Ihr etwas wollt!“ Ken tat, als müsste er überlegen, dann seufzte er. „Nun gut, es spielt wohl keine Rolle. Vielleicht ist es so auch besser. Es sieht aus, das Schloss wird hart umkämpft, General.“ Das Geistdigimon machte ein abfälliges Geräusch. „Nur Ungeziefer. Ich muss nicht einmal selbst eingreifen, meine Truppen schaffen das mit Leichtigkeit.“ „Das will ich hoffen. Ein halbes Dutzend meiner Dokugumon befindet sich innerhalb der Schlossmauern. Sollte der Kampf sich zu Euren Ungunsten wenden, zögert nicht, sie zu kommandieren. Sie werden Euch bei der Verteidigung helfen – sofern Eure Geister aufhören, sie anzugreifen.“ Das brachte MetallPhantomon aus der Fassung. „Was soll das heißen? Was wollt Ihr?“ Die respektvolle Anrede, die es gebrauchte, ließ Ken hoffen, dass sein Plan Erfolg hatte. „Ich werde es kurz machen. Ihr kennt mich. Mein Reich ist das größte in der gesamten DigiWelt. Fast der gesamte Süden ist mein. Meine Armee und die meiner Verbündeten zusammen sind unaufhaltbar. Ich bin die Macht der Dunkelheit in dieser Welt.“ MetallPhantomon lachte metallisch. „Spielt Euch nicht so auf. Die Macht der Dunkelheit? Ihr seid nur ein Mensch, was wisst Ihr davon?“ „Das stimmt, ich bin ein Mensch. Und die Schwarzen Türme, die ich baue, senden die Macht der Dunkelheit mehr aus als irgendetwas anderes. Wollt Ihr leugnen, dass ich die Dunkelheit bringe?“ Deemon hatte das schließlich klargemacht. Ken schmunzelte innerlich. Er war kaum mehr nervös, so gewöhnt war er mittlerweile daran, Kaiser zu spielen. „Wenn ich wollte, könnte ich dieses Schloss und das armselige Königreich, das von ihm regiert wird, an einem einzigen Tag in Trümmer legen. Selbst ein Bruchteil meiner Truppen würde genügen.“ „Und warum tut Ihr es dann nicht?“, fragte MetallPhantomon misstrauisch. Ken hoffte, dass es schlau genug war, um seine Worte zu verstehen und ernst zu nehmen und für seinen Vorschlag empfänglich zu sein, aber nicht schlau genug, um die Lücken in seiner Argumentation zu erkennen. Oder die tatsächliche Lage seiner Armeen. „Weil ich nichts davon hätte. Muss ich Euch das erst erklären? Als oberster General solltet Ihr doch wohl etwas von Strategie verstehen? Oder seid Ihr einer dieser unfähigen Heißblüter?“ „Passt auf, was Ihr sagt!“, fauchte MetallPhantomon und wackelte mit der Sense. Taomon war klug genug, sich nicht einmal zu bewegen. Das schuf Eindruck. „Sonst was?“, fragte Ken kühl. „Versetzt Ihr mich in Schlaf und dringt in meine Träume ein? Nur zu. Wenn es Euch nichts ausmacht, Eure Sense gleich wieder zu verlieren.“ Das wirkte. MetallPhantomon knurrte reglos. Wer wusste schon von seinem unrühmlichen Missgeschick? Es musste glauben, Ken besäße und verstünde dieselbe Macht, die von Sora Besitz ergriffen hatte. Als es weitersprach, wirkte es deutlich vorsichtiger. „Also, warum?“ „Das Königreich des Blutenden Herzens zu erobern, bringt mir nichts ein. Es liegt zu weit nördlich, um für mich von strategischem Wert zu sein. Aber es schwächt meine Feinde hier im Norden – darum liegt mir auch nichts daran, es zu zerstören. Das Problem ist die Königin. Nehmt es mir nicht übel, aber sie ist eine schwache Herrscherin. Ich habe mich über ihre Aktionen informiert. Sie handelt ohne Taktik und tut, was ihr gerade einfällt. Sie plänkelt mit dem Löwenkönig, ohne ein Ziel dabei zu verfolgen. Und in wichtigen Angelegenheiten ist sie nicht ansprechbar. So bringt mir dieses Königreich nichts. Deshalb habe ich beschlossen, die Schwarze Königin abzusetzen und einen Kastellan an ihrer statt zu ernennen – oder einen neuen König. Ich wollte mein treues Taomon hier einsetzen, aber … Ihr kennt dieses Gebirge doch wohl besser? Sieht man von den Geheimgängen in diesem Schloss ab“, sagte er trocken. MetallPhantomon horchte auf, als es verstand, was Ken ihm da vorschlug. Piyomon hatte gesagt, dass es ursprünglich selbst hinter dem Schloss her gewesen war. Dieses Wissen würde er nutzen. „Ich wäre die beste Wahl!“, behauptete es impulsiv. „Die Bakemon und Phantomon folgen mir.“ Ken ging nachdenklich im Thronsaal auf und ab und störte sich nicht daran, dass er MetallPhantomon dabei seinen Rücken entblößte. Es würde ihm nichts tun, bis die Sache erledigt war. „Ich weiß nicht. Ihr habt in meinen Augen nicht gerade strategisches Geschick bewiesen. Woher weiß ich, dass ihr das Reich nicht genauso herunterwirtschaftet? Es ist nicht einfach, zu herrschen. Es gehört mehr dazu, als Befehle zu erteilen.“ „Das alles weiß ich! Ich werde den Löwen zurückdrängen und das Heer richtig einsetzen! Ich werde diese tölpelhaften Briganten zurückrufen und sie darin eingliedern, damit es mehr Schlagkraft hat!“ Wie eifrig es plötzlich ist. „Nun, ich bin gewillt, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Ich gebe Euch einen Monat Zeit. Ihr müsst nichts weiter tun, als zu regieren. In einem Monat komme ich wieder, und wenn Ihr unzuverlässig seid, werde ich Taomon einsetzen.“ Nichts von dem meinte er ernst. Zum Ersten hoffte er, dass MetallPhantomon möglichst wenig gegen Davis und Tai ausrichtete, zum Zweiten würde in einem Monat wohl die ganze Armee des Digimons sein Empfangskomitee sein. „Eines will ich aber klarstellen“, sagte MetallPhantomon mit vor Stolz blitzenden Augen. „Ich werde nicht vor Euch kriechen! Ich regiere das Land als alleiniger König!“ Der Klang dieses Wortes scheint ihm zu gefallen. Ken lachte. „Ich bin nicht an einem Vasallen hier oben interessiert. Und ein Bündnis werden wir auch nicht schließen. Wenn Ihr Euch in Schwierigkeiten manövriert, müsst Ihr selbst damit fertig werden. Ein Nichtangriffspakt, mündlich, so etwas wird es sein. Nennt Euch meinetwegen König von Kaisers Gnaden, dazu habt Ihr meine Erlaubnis. Aber verteidigt Eure Rechte selbst. Seid Ihr einverstanden?“ MetallPhantomon kicherte. „Ich hatte mir Euch eigentlich als kleinen Jungen vorgestellt, der in der Sicherheit seiner Festung mit Digimon spielt. Ich habe mich wohl getäuscht.“ „Und ich hoffe, dass ich mich nicht in Euch täusche. Ist das ein Ja?“ MetallPhantomon nickte fauchend. „Gut. Dann habe ich noch eine Bedingung. Übergebt mir die Königin. Und alle anderen Menschen, die sich hier im Schloss befinden. Ich weiß, dass Ihr den Drachenritter gefangen haltet.“ „Was wollt Ihr denn mit ihnen?“, fragte MetallPhantomon misstrauisch. Ken seufzte. „Ihr kennt die Träume der Menschen, trotzdem versteht Ihr sie nicht. Zerbrecht Euch nicht den Kopf darüber. Ich kann sie noch auf verschiedene Weise brauchen, und für Euch sind sie wertlos.“ „Ihr solltet sie einfach töten“, schlug das Digimon vor. Ken sah es abfällig an. „Seid Ihr sicher, dass Ihr auch nur einen Funken Verständnis für Strategie und Taktik habt? Ich werde die alte Königin schon nicht gegen Euch einsetzen, darauf habt Ihr mein Wort. Ich hoffe doch, Euer Vorschlag entsprang rein dieser Sorge.“ MetallPhantomon sah ihn noch eine Weile an, ehe es sich grummelnd und klappernd in die Höhe schwang. „Tut, was Ihr wollt. Die kleinen Biester sollen Euch den Weg zum Kerker zeigen“, sagte es, ehe es wieder in der Decke verschwand und Ken ein Stein vom Herzen fiel. Er hatte es geschafft! Endlich konnte er an Sora herantreten. Sie schien zu schlafen, auf dem schwarzen Thron, in ihrem schwarzen Kleid, ihre Haut ganz weiß. „Sora? Hörst du mich?“, fragte er leise und rüttelte an ihrer Schulter. Äußerlich schien ihr nichts zu fehlen. „Wer ist das denn?“, fauchte eines der kleinen Digimon, die bei ihr waren. „Ja, wer ist das?“, fragte das andere. „Das hab ich dich gefragt, Dummkopf!“ „Selber Dummkopf! Ken ignorierte ihren Streit. Es galt, keine Zeit zu verlieren. „Taomon, ich muss dich bitten, sie zu tragen. Vorsichtig.“ „Wie Ihr wünscht.“ Behutsam hob Taomon Sora hoch. Da es über zwei Meter groß war, fiel ihm das nicht schwer. „Und ihr beiden bringt mich zum Kerker. Sofort“, sagte Ken scharf. „Pah! Wer bist du überhaupt?“ „Vor euch steht seine Majestät der DigimonKaiser. Also lasst Respekt walten“, sagte Taomon bedeutungsschwer. Das kleine Digimon zeigte ihm die Zunge. „Muss ich erst einen von euch töten, damit der andere redet?“, fragte Ken wütend. Er hoffte, dass er es mit seinen Spielen nicht zu weit trieb. Wormmon war nicht da, um ihn zurückzuhalten, wenn er zu sehr in seine alte Rolle verfiel. Als er merkte, wie Sora im Schlaf matt seufzte, versetzte er einem der beiden einen Tritt, der es durch den Raum schleuderte. Das andere stob mit einem Aufschrei davon. „Hierher! Hierher!“ Ken und Taomon mussten sich beeilen, mit ihm Schritt zu halten, während das andere so erbärmlich schluchzend hinterherhumpelte, dass Ken Mitleid bekam. Wenigstens etwas. Bald standen sie in einem Kellergang vor einer breiten Tür, die Ken entschlossen aufstieß. Beim Anblick der Foltergeräte dahinter rieselte ein Schauer über seinen Rücken. Hoffentlich kam er nicht zu spät ... Im hinteren Ende des Raumes meinte er im Halbdunkel eine Gestalt auszumachen, aber jemand stellte sich ihm in den Weg: ein kleines, gehässig grinsendes Dracmon, das ihn schief ansah. „Er ist gemein! Pass auf!“, sagte das Digimon, das ihn hergeführt hatte, und Ken war sich nicht sicher, wen es nun meinte. Als Dracmon zu Taomon hochblickte, krächzte es etwas und trat zur Seite, ohne dass er es hätte auffordern müssen. Der Gestalt vorne entkam ein Stöhnen, und klopfenden Herzens beschleunigte Ken seine Schritte. Es war tatsächlich Tai, und er war in einem grausamen Käfig mit eisernen Dornenranken gefesselt. „Tai!“ Ken stürzte zu ihm. Sein Freund war halb bewusstlos und drehte mühsam den Kopf in seine Richtung. Kens Herz setzte einen Schlag aus, und er fühlte sich, als verknoteten sich seine Eingeweide. Nur eines von Tais Augen folgte seinen Bewegungen. Das andere war nichts als ein leeres, blutiges Loch. „Tai! Mein Gott!“ Das darf nicht sein! Himmel, das darf doch nicht wahr sein! Kens Finger flogen über die Stachelketten und zerrten daran, aber sie saßen fest. Blut sickerte langsam aus einem Dutzend Wunden überall an Tais Körper. „Tai, halte durch! Du da!“, herrschte Ken Dracmon an. Seine Stimme war plötzlich so rau, dass die Worte schmerzend durch seine Kehle schabten. „Hast du ihm das angetan? Mach ihn sofort los!“ Dracmon verschränkte trotzig die Arme. Die Geste war eindeutig. „Du sollst ihn losmachen!“ Rasend vor Wut packte Ken eine große eiserne Zange, die auf einer nahen Streckbank lag, und verpasste dem sturen Digimon einen wuchtigen Hieb. In seinem Innersten kreischte etwas verzweifelt auf. Er ließ sich auf dieser Reise zu sehr in Dunkelheit verstricken, es verlangte ihm sein Letztes ab, nicht einfach wieder der alte, grausame Tyrann zu werden, der er gewesen war, und am erschreckendsten war, dass es ihm im Moment nichts ausmachte, er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Dracmon sprang sofort wieder auf und hob angriffslustig fauchend die Hände, dass Ken die Augäpfel darin sehen konnte, aber Taomon schob sich sofort zwischen es und den Kaiser, Sora immer noch in den Armen. „Hast du nicht gehört?“, brüllte Ken. „Ich lasse dir alle Gliedmaßen einzeln ausreißen, wenn du ihn nicht sofort losmachst!“ „Tai ...“, ertönte eine schwache Stimme aus einer Ecke. Ken sah Agumon in seinem Käfig liegen, grün und blau geprügelt und mit geschwollenem Kopf. „Agumon! Keine Sorge, ich ... Wir ...“ Ken riss sich zusammen. Er meinte, plötzlich nicht genug Luft zu bekommen, als der Schock erneut über ihm zusammenschlug wie eine eisige Meereswelle. Großer Gott, das kann doch alles nicht wahr sein ... Tai ... was haben sie dir nur angetan? Widerwillig fügte sich Dracmon, kurbelte an einer Winde und löste die Ketten. Tai brach schlaff zusammen und wäre fast auf den nach innen gerichteten Stacheln des Käfigs aufgespießt worden, hätte Ken ihn nicht an den Schultern gepackt und herausgezerrt. Als er ihn auf den Boden legte, zwang er sich, die schreckliche Wunde anzusehen. Ein Auge, das rechte Auge ... Deemon, das büßt du mir!, schrie Kens Geist erbost, obwohl es ihn nicht hören konnte. „Wer bist du ...“, murmelte sein Freund mühsam. Ken spürte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen, unter seinem Brillenrand tropften sie zu Boden. „Ein Freund. Ich hole dich hier raus, hab keine Angst. Du! Befrei sofort Agumon, sonst kannst du was erleben!“ Während Dracmon den Käfig aufschloss, nicht ohne ihm vorher noch einen Tritt zu verpassen, packte Tai Kens Ärmel mit erstaunlicher Kraft. „Die Höllenkammer“, flüsterte er mit gebrochener Stimme. „Ken ... Du musst zur Höllenkammer … Sie ist dort ...“ Zum zweiten Mal binnen Minuten setzte Kens Herz einen Schlag aus. Tai hatte ihn beim Namen genannt. Er hatte ihn erkannt! Sein Freund war nicht ganz bei Sinnen, war etwas von seinem früheren Ich an die Oberfläche gesickert? Er wagte es kaum zu hoffen. Dann erst begriff er, was Tai ihm zu sagen versuchte. „Sie?“ War noch jemand hier eingesperrt gewesen? Oder meinte er Sora? Kens Gedanken rasten. „Die Höllenkammer … in der Höllenkammer …“, flüsterte Tai. „Wo ist diese Höllenkammer?“, fuhr Ken das Dracmon und das kleine schwarze Digimon an, das erschrocken zurückzuckte. „Bringt mich sofort hin, wenn euch euer Leben lieb ist!“ Dracmon zuckte nur knurrgrunzend die Schultern, aber das andere sah sich hilfesuchend um und bedeutete ihm dann duckmäuserisch, ihm zu folgen. Unter Soras Regentschaft hatte es wohl Narrenfreiheit genossen, doch nun zog Ken andere Seiten auf. „Taomon, du bleibst bei Sora und Tai. Wenn Dracmon Schwierigkeiten macht, töte es“, kommandierte er auf dem Weg nach draußen. „Wie Ihr befehlt.“ Das kleine Digimon – Ken wollte sein Name einfach nicht einfallen – und sein Zwilling, der wieder zu ihnen gestoßen war, führten ihn noch tiefer unter die Erde. Nach einer weiteren Geheimtür führte eine steinerne Wendeltreppe nach unten. Es wurde beständig wärmer. Ken berührte den Stein und spürte die Hitze durch seine Handschuhe. Stand das Schloss auf einem See aus Lava? Schließlich gelangten sie in einen feuchten Vorraum, von dem zwei Türen abgingen. Ein eiserner Kleiderständer war das einzige Möbelstück, und es roch hier nach Schwefel. Die Digimon zeigten beide auf die linke Tür. Energisch stieß Ken sie auf. Die Hitze, die ihm entgegenschlug, raubte ihm den Atem. Gelblicher Dampf kroch ihm auf Augenhöhe entgegen und seine Brillengläser beschlugen. Dennoch trat er ein, die Brille kurzerhand abnehmend. Die Kammer war gerade so groß, dass vier Menschen darin Platz hätten, ohne aneinander zu stoßen. Eine steinerne Bank diente als Sitzgelegenheit, und der Dampf fauchte regelmäßig durch schmale Ritzen im Boden. Es war stickig und heiß wie in einer Sauna – und vielleicht sollte es genau das darstellen. Als er vorsichtig einen weiteren Schritt tat, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Weiches. Durch den Nebel sah er ein Mädchen reglos am Boden liegen, verrenkt und kreideweiß. Blonde, verfilzte Locken rahmten ihr Gesicht ein, ihr kostbares Gewand war zerfetzt und ihr ganzer Körper mit Wunden übersät, tiefer und gröber noch als Tais. „Nein!“ Mit einem Aufschrei ging Ken in die Knie. Er meinte sie sogar zu erkennen – manche der internationalen DigiRitter hatten nach Myotismons Fall E-Mail-Kontakt aufrechterhalten oder sich, als Soziale Netzwerke aufgekommen waren, darin unterhalten und Bilder ausgetauscht. Ken vermutete, dass er das Mädchen vor sich hatte, das Tai und T.K. in Frankreich getroffen hatten – zu Letzterem hatte sie eine Weile regen Kontakt gehabt. Wie war ihr Name noch gleich? Katrina? Catherine? Die Haut des Mädchens war feucht und überraschend kalt, aber sie regte sich nicht, als Ken sie schüttelte. Das Blut rauschte in seinen Schläfen, als er auf ihren Atem lauschte, aber weder drang Luft aus ihrer Nase, noch hob oder senkte sich ihr Brustkorb. Sie hatte die Augen geschlossen, das Gesicht war wie Wachs. Mit zitternden Fingern tastete Ken nach ihrem Handgelenk und hoffte, einen Puls zu spüren. Nichts. Sein eigenes Herz jagte, er riss sich die Handschuhe herunter und tastete erneut. Immer noch kein Puls. Ken stieß einen wortlosen Wutschrei aus und raufte sich die Haare. Verdammt, das Mädchen war tot! Deemons teuflisches Spiel hatte ihr das Leben geraubt, ohne ihr die Chance zu geben, es zu verteidigen! Als sein Hals schmerzte, verfiel er in ein tonloses Schluchzen. Alle Kraft war aus ihm gewichen, als er zu Boden sank. Catherine war tot. Er war zu spät gekommen. Und sie würde nicht wiedergeboren werden. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit unbändiger Wut. Er würde das nicht akzeptieren! Er wollte das einfach nicht wahrhaben! Wenn sie nicht wiedergeboren werden konnte, würde er sie selbst wieder ins Leben zurückholen! In der Realen Welt, wo der Tod etwas Endgültiges war, kämpfte man mit einem Eifer ums Leben, den viele Digimon vielleicht gar nicht verstanden! Zornig über seine eigene Ohnmacht zog Ken Catherine an den Knöcheln aus der dampfumwaberten Höllenkammer. Im Vergleich zu drinnen war es hier fröstelnd kalt. Er kniete sich über sie, riss ihr die letzten Reste ihres Kleides von der Brust, verschränkte die Finger ineinander und presste die Hände mit aller Kraft auf ihren Brustkorb, wieder und wieder, schneller und schneller. Ihr Körper war noch nicht starr, vielleicht gab es noch Hoffnung ... Ken zwang sich, mitzuzählen. Als er bei zwanzig war, schob er ihr Kinn zurück und beatmete sie, einmal, zweimal, ehe er mit der Herzdruckmassage weitermachte. Nach nur wenigen Sekunden war ihm so heiß, dass ihn schwindelte. Schwer keuchend ließ er es zu, dass ihm bald die Haare im Gesicht und der Anzug auf der Haut klebten. Doch sooft er Catherine auch beatmete, sie gab kein Lebenszeichen von sich. „Ihr scheint Probleme zu haben.“ Im ersten Moment glaubte Ken, Deemons Stimme zu hören, aber als er MetallPhantomon sah, das durch die Decke schwebte, erstarrte er kurz. Weinte er? Nein, sein Gesicht war vor Schweiß nass. Er bemühte sich um einen grimmigen Ausdruck und machte weiter. „Was tut Ihr da?“ Das Geistdigimon, das er zum neuen König des Düsterschlosses gemacht hatte, legte misstrauisch den Kopf schief. „Ihr als Digimon versteht das nicht. Ich hauche ihr wieder Leben ein“, brachte Ken ächzend hervor. Nur nicht aufhören, keine Sekunde aufhören, nicht aus dem Takt fallen ... Vielleicht fand MetallPhantomon es ja beeindruckend, wenn er von Wiederbelebung sprach. „Und wozu?“, knarzte die hässliche Stimme. „Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, wer das ist?“, keuchte Ken. Die Hitze setzte ihm schwer zu, aber der Adrenalinschock ließ seinen Verstand zu Hochformen auflaufen. „Das ist eine hohe Adelige von der Brennenden Küste, mit Verbindungen zur Wissens-Armee! Wenn wir sie lebend hätten, könnten wir sie als Druckmittel einsetzen!“ Er unterbrach sich und hauchte Catherine erneut seinen Atem ein. Es war hoffnungslos. „Sie würde uns eine Menge Vorteile in diesem Krieg bringen, und Eure alte Königin hat sie so behandelt!“ Seine Stimme wurde immer lauter, je mehr seine Kräfte schwanden. Trotz allem war er plötzlich über die Maßen zornig auf Sora, und diesmal hoffte er, dass dieses Gefühl seinem begrabenen Selbst entsprang. MetallPhantomon schwieg, aber er sah nicht in seine Richtung. Es brachte nichts. Ihr Herz mochte erst vor kurzem aufgehört haben zu schlagen, aber er konnte sie nicht ins Leben zurückholen. Ken wünschte sich, dass alles nur ein böser Traum wäre, oder zumindest eine Illusion – dass er tatsächlich in der Realen Welt war und ein Sanitäterteam unterwegs sein würde, mit Medikamenten und reinem Sauerstoff und Defibrillator und sonstwas ... Ein Defibrillator. Ken fuhr zu MetallPhantomon herum. „Ihr könnt Strom erzeugen, richtig?“ „Was ist das für eine Frage?“, schnaubte das Digimon. „Könnt Ihr Spannung und Stromstärke kontrollieren? Dann brauche ich Euch. Helft mir, diesen Menschen zurückzuholen, und es soll Euer Schaden nicht sein. Ich würde sie nur ungern hier verrotten lassen.“ Er war selbst erschrocken, wie gefühlskalt er darüber sprechen konnte, doch all seine Gedanken kreisten im Moment um das Leben dieses bleichen Mädchens. „Und warum sollte ich Euch helfen?“, schnarrte MetallPhantomon. „Ich habe mit diesen Wissens-Leuten nichts zu tun.“ „Wie kann man so dumm sein? Soll ich Euch nicht doch gleich ebenfalls absetzen? Die Wissens-Armee sind meine Feinde, wie der Löwenkönig auch! Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich längst verbündet hätten. Auch Euer Königreich wäre in Gefahr, wenn sie ihre Kräfte vereinen, begreift Ihr nicht?“ MetallPhantomon dachte nach, zur Hölle, warum dachte es so lange nach? Es ging um jede Sekunde! „Die Hälfte des Lösegeldes“, verlangte es. „Aber in Form von etwas Nützlichem. Ich lasse Euch ausrichten, was ich brauche.“ „Einverstanden. Wenn ich das Mädchen auf andere Weise nutze, bekommt ihr etwas Entsprechendes. Kommt her.“ Gehorsam schwebte MetallPhantomon näher. Ken hatte nicht mehr viel Hoffnung, und seine Arme und Schultern schmerzten entsetzlich, aber er würde nicht aufgeben. Alles würde er ausprobieren, alles, was ihm einfiel! Angestrengt dachte er darüber nach, was er über Defibrillatoren wusste. Sie würden nur Erfolg haben, wenn Catherines Herz noch irgendwelche krampfenden Bewegungen machte, aber die konnte er weder untersuchen, noch war das jetzt von Belang. „Lasst den Strom von hier nach hier fließen“, sagte er und deutete auf ihre rechte Schulter und dann auf ihre linke Seite. „Durch ihren Körper. Ganz kurz. Sobald ich das Signal gebe. Viertausend Volt und fünfzig Ampere. Könnt Ihr das einrichten?“ „Aber ja“, murrte MetallPhantomon, und Ken hoffte, dass es in etwa eine Vorstellung davon hatte, was Volt und Ampere waren. Und dass ein kleiner Fehler nicht gleich fatale Auswirkungen hatte. Er pumpte noch kurz weiter und riss dann die Hände fort. „Jetzt!“ Die Blitze, der aus MetallPhantomons Kugel zuckten, waren rot und schmal. Es legte die Hände dort auf, wo Ken es angewiesen hatte, und Catherines Körper bäumte sich auf. „Warten!“, befahl Ken und begann wieder mit der Herzdruckmassage. Nach einem erneuten Beatmungsversuch nickte er MetallPhantomon wieder zu, da er völlig außer Atem war. Ein neuer Schock, ein neues Aufbäumen. Und plötzlich verließ ein Röcheln Catherines Kehle. „Aufhören!“, rief Ken MetallPhantomon zu, das bereits fertig war. Er stürzte zu dem Mädchen, tastete nach dem Puls – und diesmal fühlte er tatsächlich etwas. Grenzenlose Erleichterung durchströmte ihn. Das war zu schön, um wahr zu sein! Mehr als zuvor kam es ihm wie ein Traum vor. Glückstränen fanden nun doch den Weg seine Wangen hinab, aber er störte sich nicht an MetallPhantomons Entgeisterung. Sollte es ihn für verrückt halten, umso besser. Jetzt durfte er keinen Fehler machen, um den winzigen Lebensfunken nicht gleich wieder zu ersticken. Catherine atmete wieder selbstständig, wenn auch sehr flach. Er überlegte, ihrem Herz noch Unterstützung zu leisten, indem er dagegen presste, wenn es sich anschickte zu schlagen, aber das wagte er dann nicht. „Ihr könnt gehen“, sagte er zu MetallPhantomon. Es blieb. Hoffentlich war es nun nicht zu misstrauisch ... aber das war ihm fast egal. Vorsichtig brachte er Catherine in die stabile Seitenlage, wie er es in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, der viel zu lange zurücklag. Sie atmete weiter, und als er alle paar Sekunden ängstlich ihren Puls fühlte, schlug ihr Herz immer noch. War sie über den Berg? Vermutlich nicht. Sie brauchte so schnell wie möglich irgendwelche ärztliche Hilfe. So behutsam wie möglich hievte er sie in die Höhe. Sie war so sehr abgemagert, dass es ihm nicht schwer fiel, sie in den Armen die Treppe hinauf zu tragen. MetallPhantomons glühender Blick folgte ihm stumm. „Wir brechen sofort auf, Taomon“, rief er in die Folterkammer hinein. Sein Leibwächter brachte Tai und Sora mit sich, Tai hatte wieder das Bewusstsein verloren. Drei Menschen, und alle bewusstlos. Das ist ein großes Problem. Agumon ging auf zwei Beinen, wenn auch wankend, aber seine Augen waren weit aufgerissen, seine Pranken gefesselt und das Maul geknebelt. Ken würde Taomon beizeiten fragen, was geschehen war. Die Kämpfe hatten noch nicht aufgehört, als sie den Innenhof erreichten. Seine Dokugumon liefen geschäftig von Zinne zu Zinne, und in regelmäßigen Abständen flackerten von jenseits der Mauer die Feuerstöße der feindlichen Tyrannomon. Taomon pfiff auf zwei Fingern, und nur wenig später landete Kens Airdramon. Kens Gedanken drehten sich im Kreis. Wenn sie die Dokugumon hier ließen, hätten er, Taomon, Sora, Tai und Catherine zwar Platz auf dem Digimon, aber wie sie sich festhalten sollten, war eine andere Sache. „Ihr habt es plötzlich sehr eilig“, schnarrte MetallPhantomon, das durch den Boden schwebte. Die Enden seiner Sense zuckten, und das beunruhigte Ken. „Wir haben auch keine Zeit zu verlieren. Das Mädchen braucht richtige Behandlung. Sollte sie sterben, ist sie wertlos.“ „Ich habe das Gefühl, dass Ihr mich betrügt, DigimonKaiser“, stellte MetallPhantomon fest und Ken überlief ein Schauer. „Für wen haltet Ihr mich?“, fragte er und klang richtig gereizt. „Ihr werdet das Mädchen der Wissens-Armee zurückverkaufen, und mir werdet Ihr erzählen, sie sei gestorben. Ihr wollt meinen Anteil an Lösegeld sparen.“ Ken war trotz der Umstände erleichtert. Für einen Moment hatte er gedacht, MetallPhantomon hätte gemerkt, dass er nicht der kalte Bösewicht war, als der er sich ausgab. Vielleicht spielte er seine Rolle sogar zu überzeugend … „Da müsst Ihr mir wohl oder übel vertrauen. Ich bin vieles, aber kein Wortbrecher.“ „Nein. Nein, muss ich nicht. Lasst mir einen anderen hier, zur Absicherung. Ihr könnt ihn abholen, wenn Ihr mir meinen Anteil bringt.“ Ken blieb nichts anderes übrig, als das Gespräch im Kreis zu drehen. In Wahrheit packte ihn die kalte Angst, wenn er an Catherines Zustand dachte. „Das kommt nicht infrage. Ich muss ein Ultimatum stellen, und es kann dauern, bis ich alles erhalten habe. Wenn Ihr stümperhaft Euer neues Reich regiert, fallen meine Gefangenen dem Löwen in die Hände. Ihr könnt stattdessen meine Dokugumon behalten. Die bringen Euch in Eurer Lage weit mehr, mir aber nutzen sie nicht mehr viel.“ „Hm.“ Das Geistdigimon ließ sich das durch den Kopf gehen. Ken fragte sich, ob er sein Glück nicht schon überstrapaziert hatte. „Aber wenn Ihr sie nicht braucht, werdet Ihr sie auch kaum holen kommen.“ „Nein. Seht es als Zeichen meines guten Willens, dass ich Euch unterstütze. Reicht das?“, fragte er barsch. MetallPhantomon sah ihn nur durchdringend an, und er seufzte. „Ich bin es müde, mit Euch zu verhandeln. Ich lasse Euch einen Schuldschein ausstellen.“ „Was für ein Schuldschein?“ Ken gab Taomon ein Zeichen. Es lud Tai und Sora vorsichtig ab und begann mit einem wesentlich kleineren Pinsel als seinem üblichen einen weißen Zettel zu beschriften. Verdammt, wir müssen endlich von hier weg! Irgendwo brüllten Digimon – oder war es ein Jubelgebrüll? Noch hatte niemand die Mauern gestürmt. „Dieses Papier garantiert, dass das Kaiserreich Euch in zwei Monaten hunderttausend Dollar zukommen lassen wird. Wenn ich auf dem Papier lüge, verlieren alle meine Verbündeten ihr Vertrauen in mich. Hunderttausend ist sogar mehr als die Hälfte von dem, was ich zu bekommen hoffe. Mit dem Geld könnt Ihr in meinem Reich nach Belieben einkaufen, und wenn Ihr wünscht, liefere ich Euch stattdessen persönlich etwas anderes. Für mich macht es keinen Unterschied. Ist Euch das Absicherung genug?“ MetallPhantomon sagte wieder nichts dazu, aber es nahm den Schuldschein entgegen. In diesem Moment krachte etwas ganz in der Nähe, dann noch etwas, und Ken war sich sicher, kurz zuvor einen blauen Blitz gesehen zu haben. Ein Schwall Datenreste fegte wie eine Welle über die Mauer, und mit einem riesigen Satz landete ein Digimon auf dem Wehrgang, das Ken zu seinem Leidwesen sofort erkannte. Raidramon, und Davis auf seinem Rücken, der etwas schrie, das im jubelnden Röhren der Dinosaurierdigimon unterging, die den Fuß des Schlosses angriffen. Ken fluchte innerlich, resigniert. Sein bester Freund war das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte.     Die Digimon stießen lauten Jubel aus, als Davis auf Raidramon über Berghänge und durch Unterholz geprescht kam und mit ein paar gewaltigen Sprüngen auf den Zinnen des Schlosses landete. Davis war nicht der Einzige, der von Veemons neuer Form begeistert war. Seine Gefolgsdigimon kämpften nun noch erbitterter gegen die Bakemon, Dokugumon und sogar die Phantomon, die sich ihnen entgegen warfen. Mehr als Ablenkung brachte der Angriff allerdings nicht; die Tyrannomon und Monochromon kamen wohl kaum in das Bauwerk, da es keinen offensichtlichen ebenerdigen Eingang gab. Davis sah sich gehetzt um. Er musste so schnell wie möglich in dieses verdammte Schloss und Taichi finden! „In dem Wehrturm dort drüben gibt es vielleicht eine Treppe!“, rief er Raidramon zu, und sein Partner bewegte sich, ohne dass er ihm die Sporen hätte geben müssen. Seine Krallen kratzten über den steinernen Wehrgang, und schon nach zwei Schritten wurde es von einem Phantomon bedrängt, das seine Sense durch die Luft sausen ließ. Doch Raidramon war schnell wie der Wind und wendig wie ein Blitz. Der vermummte Geist wurde allein vom Luftzug fortgeweht, die Sense kam nicht einmal in Davis‘ Nähe. Als Nächstes griffen zwei Bakemon von vorne an. Davis duckte sich, und aus der Klinge in Raidramons Stirn zuckte ein Blitz, der sie entzwei schlug und in Datenwolken verpuffen ließ. Sie hatten den Turm fast erreicht, als Raidramon grollte: „Davis, sieh mal, dort unten!“ Schlitternd blieb es stehen und Davis reckte den Hals. Er hatte bisher noch nicht in den Schlosshof gesehen – aber nun überlief es ihn eiskalt. Ein Airdramon stieg mit energisch schlagenden Flügeln von dort auf, und auf seinem knöchernen Kopf stand der DigimonKaiser. Als sie auf einer Höhe waren, begegneten sich ihre Blicke. Der Tyrann trug seine Brille, aber Davis meinte dahinter etwas aufblitzen zu sehen. Den nachtblauen Umhang hatte er abgenommen, und eine Gestalt lag, völlig darin eingewickelt, neben ihn. Mit einer Hand hielt der Kaiser das Bündel fest, die andere umklammerte das Horn seines Flugdigimons. „Du!“, schrie Davis ihm entgegen. Das Airdramon wendete und flog knapp über den Zinnen davon Richtung Süden. „Hinterher!“ Raidramon stürmte los, noch ehe er den Befehl dazu geben konnte. Der DigimonKaiser hatte ihn angelogen! Wie hatte er nur so dumm sein können? Er hatte Taichi in seine Gewalt gebracht, kaum dass Davis für Verwirrung gesorgt hatte, indem er die Höhle besiegt hatte. „Zieht euch zurück!“, schrie er seinen Digimon zu. „Wir treffen uns im Lager!“ Es hatte keinen Sinn mehr, das Schloss zu belagern, wenn das Ziel eben davonflog. Die Schwarze Königin war wohl noch irgendwo dort, aber an sie kamen sie wohl ohnehin nicht heran. Mit rauschenden Schwingen flog das Airdramon über den kleinen Wald und dann zwischen den hochaufragenden Berghängen. Raidramons Pranken donnerten auf den Stein, dann stieß es sich von den Zinnen ab. Davis kniff die Augen zusammen und klammerte sich an den Schultern seines Partners fest. Mit einem brutalen Ruck landete Raidramon vor dem Schloss und nahm die Verfolgung auf. Äste und Zweige peitschten und kratzten über Davis‘ Gesicht, als es durch das Unterholz brach. Dann tat sich ein Tal vor ihnen auf. Airdramon flog wenige Meter über ihnen, aber sie holten rasch auf. Raidramon war mindestens so schnell wie das Drachendigimon. Mit gewaltigen Sprüngen setzte es von Berghang zu Berghang, fand auf rutschenden Felsen Halt und arbeitete sich immer höher. „Schneller!“, brüllte Davis, bis sein Hals heiser schmerzte. „Schneller, Raidramon!“ Das Airdramon kam näher, schon konnte er die bläuliche Haarmähne des DigimonKaisers im Wind wehen sehen. Es war ein Fehler gewesen, ihm zu vertrauen. Er würde ihm Taichi nicht überlassen! Airdramon musste immer wieder scharfen Felskanten ausweichen, die Raidramon hingegen als Trittbretter nutzte. Der Drache flog in halsbrecherischem Tempo und der Kaiser hatte sich auf seinem Kopf geduckt und hielt seinen Gefangenen fest umklammert. Mit einem einstimmigen Schrei erreichten Davis und Raidramon dieselbe Höhe und rannten auf einem schmalen Bergpfad neben ihnen her. „Bleib hier, du Feigling!“, schrie Davis, aber der Wind trug seine Worte davon. „Du hast mich belogen! Du hast gesagt, du würdest im Süden bei deinen Türmen bleiben!“ Raidramons Horn blitzte elektrisch, aber es wusste so gut wie Davis, dass es den DigimonKaiser nicht angreifen durfte. Das armselige Bündel, das Taichi war, lag viel zu nahe bei ihm. Wenn sie auch nur abstürzten, würde der Drachenritter das nicht überleben. Airdramon kannte keine Hemmungen. Es wandte fauchend den Kopf, und ein Schwall violetter Flammen wehte Raidramon entgegen. Sie versuchten auszuweichen, aber der Angriff streifte sie und brachte sie ins Taumeln. Davis schrie auf, als er den Abgrund plötzlich direkt neben sich sah, dann sprang Raidramon von seiner unglücklichen Schräglage auf den gegenüberliegenden Berghang, landete dort so hart, dass Davis‘ Zähne schmerzhaft klapperten, und setzte noch ein paar Meter tiefer, von wo es wieder das Tal entlang preschte. Das Flugungeheuer und der Kaiser hatten nun wieder einen beträchtlichen Vorsprung, aber Davis war schwindelig von diesem Beinahe-Absturz, und er begriff, wie gefährlich diese Jagd war. Dennoch durfte er nicht aufgeben. „Wir müssen sie erwischen, bevor sie das Gebirge verlassen!“, rief er seinem Digimon zu. Auf offenem Gelände konnte das fliegende Digimon allzu leicht entkommen. Raidramon knurrte etwas Zustimmendes und erklomm wieder im Sturmschritt die Felsen. Vor ihnen erblickte Davis das Ende des Tals, eine grün angehauchte Senke, in der wieder Wald auf sie wartete und dahinter kleinere Hügel. Sie hatten die Nadelberge fast hinter sich gebracht. Endlich, nach einer zähen Ewigkeit, erreichte Raidramon den fliehenden Kaiser wieder, der sich mit zusammengebissenen Zähnen nach ihnen umsah. Diesmal gab Davis‘ Partner seinem Feind keine Gelegenheit mehr, anzugreifen. „Halt dich gut fest, Davis!“ Kaum dass sie auf einer Höhe waren, sprang es auf den schlangengleichen Leib des Drachen und schlug fest die Krallen in dessen schuppigen Körper, knapp über den Flügeln sodass Airdramon schmerzerfüllt aufröhrte. Der DigimonKaiser und Taichi waren fast in greifbarer Nähe … Der Tyrann rief ihm irgendetwas entgegen, das er nicht verstand, wankte über den Kopf seines Flugdigimons und begann trotz der schwindelnden Höhe und dem rauschenden Flugwind auf Raidramon einzutreten. Davis warf sich nach vorn, um ihn zu packen und ihm die Seele aus dem Leib zu prügeln. Die Hand des DigimonKaisers glitt in seine Hosentasche und er warf Davis irgendetwas entgegen, das wie schwarzer Staub aussah. Für einen Moment war er geblendet, und er spürte harte Körner in seinem Mund. Als er an seinen Tränen vorbei blinzelte, sah er gerade noch, wie das Airdramon sich in der Luft aufbäumte. Der DigimonKaiser taumelte zurück, umklammerte das knöcherne Horn – und das Drachendigimon warf sich selbst seitlich gegen die Felswand. Raidramon brüllte auf und Davis spürte scharfe Felszacken und losgerissene Steine über seine Haut kratzen. Ein heftiger, schmerzhafter Stoß zuckte durch seine Wirbelsäule und er schlug sich den Kopf, schmeckte Blut auf der Zunge. Das felsige Krachen hörte er erst später. Sie fielen. Das Airdramon, der DigimonKaiser und sein gefangener Freund wurden immer kleiner, ebenso die vom Abend orange gefärbten Wolken und der helle Himmel. Davis hörte den Schrei des DigimonKaisers in den Ohren klingeln, der wohl nur ein Schrei des Triumphs sein konnte. Er schloss die Augen … und Raidramon drehte sich in der Luft wie eine Katze und landete auf allen Vieren. Davis prallte mit der Nase gegen den gepanzerten Hals seines Freundes und sah bunte Flecken vor seinen Augen tanzen. Raidramon schüttelte sich und jagte weiter. Sein Durchhaltevermögen war unglaublich. Davis wurde auf seinem Rücken durchgeschüttelt wie eine Puppe. Er fühlte sich so benommen, dass er sich kaum aufrecht halten konnte. Kurz wurde es dunkler, und wieder peitschte ihm dunkles Grün entgegen. Sie hatten das Tal und die Berghänge hinter sich gelassen. Nur Minuten später endete auch der Wald in einer grasbewachsenen Ebene. Hoch über ihnen flog der DigimonKaiser, unerreichbar, es sei denn, sie würden ihn mit Blitzen angreifen, und das wagte Raidramon nicht. Schließlich, als sich Davis‘ Kopf wieder klärte, endete die Jagd. Ein spiegelglatter, breiter See tat sich vor ihnen auf, die Sonne feurig rot im Abendlicht auf der Oberfläche glitzernd. Airdramon flog geradeaus weiter, hin nach Süden, hinein ins Hoheitsgebiet des DigimonKaisers, hinein in die größte Kriegszone der DigiWelt. Raidramon blieb an seinem Ufer stehen. Den See zu umrunden würde zu viel Zeit kosten. Sie würden das Airdramon verlieren … Sie hatten es längst verloren. Es und den DigimonKaiser. Und Taichi. Davis fiel mehr von Raidramons Rücken, als dass er abstieg. Während sein Freund zurückdigitierte, stieß er einen rauen Wutschrei aus und stieß die Faust in den weichen Boden.     Die Dämmerung senkte sich über das Düsterschloss und die Schatten, die sie brachte, erinnerten daran, warum es diesen Namen trug. „Sie sind weg“, stellte MetallPhantomon schnarrend fest. „Diese Feiglinge haben tatsächlich Reißaus genommen.“ Es hätte ihnen gerne eine ordentliche Lektion erteilt, aber das würde schon noch kommen. Schließlich war es nun König. „Ich hoffe, Ihr wisst, wem Ihr ihren Rückzug zu verdanken habt“, sagte Taomon, das in den Innenhof trat. MetallPhantomon wandte sich ihm unwillig zu. Es trug die beiden Menschen über den Schultern, die Königin und den jungen Mann mit dem toten Auge, und hielt das ermattete, geknebelte Agumon fest in der Hand. „Ich verstehe nicht, warum der Kaiser Euch mit denen beiden betraut und nur diese Adelige mitgenommen hat. Die hier müssen doch viel mehr wert sein als sie, oder?“, sagte der metallene Geist. „Ihr scheint die Gedanken meines Kaisers tatsächlich nicht nachvollziehen zu können. Vertraut darauf, dass er einen genialen Schachzug im Sinn hat.“ Taomon zögerte. „Ich werde mich nun auf den Weg machen. Ich habe eine Mission zu erfüllen. Kümmert Euch um alles hier, und vergesst nicht den Pakt, den Ihr mit seiner Majestät geschlossen habt.“ „Sonst nehmt Ihr mir meine Krone weg?“, fragte MetallPhantomon feindselig. „Ich tue, was immer mein Gebieter mir aufträgt“, sagte Taomon demütig, schwebte langsam in die Höhe und machte sich mit seinen Gefangenen auf den Weg nach Süden.   From the holy sea of golden flames Flies the last winged unicorn With its magic breath of innocence Rising to the crystal throne (Rhapsody Of Fire – The Last Winged Unicorn) Kapitel 33: Der Herr der Träume ------------------------------- Tag 81   Ken fühlte sich ein wenig wie ein sprichwörtlicher verrückter Hund. Nicht nur, dass er in einer riskanten Täuschungsaktion Davis zu seiner Marionette gemacht hatte und sich allein durch sein Schauspieltalent MetallPhantomon, den gefürchteten General der Geisterarmee, gefügig gemacht hatte, er hatte auch noch drei DigiRitter aus Deemons Spiel befreit. Das allein war ein kleines Wunder. Und dann hatte er Davis erneut ausgetrickst, während einer halsbrecherischen Flucht, und wie nebenbei noch Catherines Leben gerettet. Wenn er sein Glück noch einmal so strapazierte, würde ihn das Pech mit ganzer Breitseite erschlagen, da war er sich sicher. Taomon war mit Tai, Agumon und Sora zurückgeblieben, damit das Airdramon schneller fliegen konnte. Ken konnte nur hoffen, dass es sich allein durchschlagen konnte. Wieder und wieder fühlte er Catherines Puls. Nur der Kopf des Mädchens ragte aus seinem Umhang, und eine einzelne Locke ihres blonden Haares tanzte im Wind. Airdramon glitt ruhig durch die Luft, trotzdem konnte Ken ihren Puls nicht fühlen. Catherines sanfter Atem wurde vom Flugwind fortgeweht. Er konnte nur hoffen, dass sie durchhielt. Er entschied sich, eine Nachricht an Nadine zu senden. „Hier ist Ken. Triff mich dort, wo wir Orangen gegessen haben. Erzähl niemandem davon, und gib auf gar keinen Fall die Koordinaten weiter! Komm selbst und bring die besten Heil-Digimon mit. Es ist ein Notfall.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, beendete er die Verbindung auf seinem Connector. Nun blieb ihm nur zu hoffen. Er hatte keinen Fehler machen wollen. Überall konnten ihn feindliche Digimon abfangen, Soldaten von König Leomon, König Takashi oder der Wissens-Armee. Es war stockdunkle Nacht, als sie den Treffpunkt erreichten: ein kleines Dorf, etwas südlich von Masla, am Rand der Kaktuswüste. Hier hatten er und Nadine kurz vor dem Angriff auf die Sklavenhalterstadt genächtigt, und sie hatten saftige Orangen von den Bäumen gepflückt. Außerhalb ihrer Reihen wusste kaum jemand davon, und selbst wenn, wäre die Information nicht wichtig genug für Izzy gewesen. Als er das einzelne Licht sah, wusste er, dass er erwartet wurde. Airdramon ging zwischen den Orangenbäumen nieder und breitete die Flügel aus. Der Drache keuchte erschöpft. Ken bedankte sich bei ihm mit knappen Worten. Die Dunkelheit teilte sich raschelnd, und Nadine kam in ihrem schwarzen Kleid angerannt. Ihr folgten etliche Cutemon, rosa Kaninchendigimon mit Heilkräften, und sein persönlicher Jijimon-Arzt. In einiger Entfernung sah er die Umrisse Ookuwamons. „Ken! Was ist geschehen? Bist du verletzt?“, rief Nadine und klang atemlos. Auf ihrem Gesicht war tiefe Sorge eingraviert. „Mir geht es gut. Aber sie braucht dringend Behandlung.“ Ken hob Catherine hoch und reichte sie den Cutemon, die zu acht eine behelfsmäßige Bahre trugen. Nadine warf einen kurzen Blick auf das ältere Mädchen, dann nickte sie knapp und wies die Cutemon an: „Kümmert euch um sie. Wir fliegen sofort zum Rosenstein.“ Airdramon blieb noch, um sich auszuruhen. Nadine hatte noch ein Kuwagamon mitgebracht, und rasch bauten sie die große Sänfte auf Ookuwamons Kopf zu einem Krankenlager um, an dem Jijimon und die Cutemon für Catherine sorgten. Ken und Nadine zogen sich in die wesentlich kleinere Sänfte auf dem zweiten Insektendigimon zurück, und sofort stiegen die beiden mit surrenden Flügeln in die Höhe. Ken fühlte sich plötzlich so ausgelaugt, als hätte er einen monatelangen Marathonlauf hinter sich. Seufzend lehnte er sich gegen die Stoffwand der Sänfte, die sich im Flugwind bauschte. „Du hast mir richtig Angst gemacht“, sagte Nadine vorwurfsvoll. „Ich dachte, ich bekomme dich vielleicht nicht mehr in einem Stück zurück.“ „Tut mir leid.“ Ken war zu müde, um mehr zu sagen. „Was ist mit deinen anderen Freunden? Du wolltest doch Sora und Tai suchen gehen, oder?“ Ihr Gesicht verschwamm vor Kens Augen. Jeder Blinzler war mühseliger als der vorherige. „Sie sind bei Taomon.“ Er hoffte inständig, dass sein Leibwächter es schaffte … immerhin musste er durch die halbe DigiWelt reisen, an den feindlichen Stellungen vorbei, um wieder zu ihm zu gelangen … Er würde endlich die Wüste erobern müssen, um ihm eine Schneise zu schaffen … Nein, er fühlte sich nicht in der Lage, solche Entscheidungen jetzt zu treffen. „Übrigens ist eine Nachricht von Zephyrmon eingetroffen, deinem General“, fuhr Nadine fort. „Sie haben Probleme. Ihr Vorankommen stagniert, und der Nachschub aus deinen Ländereien im Osten ist nicht eingetroffen. Takashis Soldaten sind die Wüste und ihre Entbehrungen gewohnt. Wenn wir Pech haben, muss Zephyrmon sich zurückziehen, und wir verlieren allen Boden, den es in den letzten Wochen gutgemacht hat.“ Sie biss die Zähne zusammen. „Und weißt du, wer dahintersteckt? Gerüchte gehen um von einem RiseGreymon, das in der Großen Ebene die Nachschublinien überfällt. Das heißt, es sind meine Truppen die die Probleme verursachen. Ich werde mich selbst darum kümmern, versprochen. Und ich schicke von der Felsenklaue aus Vorräte zur Front.“ Ken hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Er nickte noch schwach, dann war er wohl für Sekunden eingeschlafen, denn plötzlich saß Nadine neben ihn und hielt ihn fest, damit er nicht von der Sitzbank fiel. „Hey, alles okay?“, murmelte sie. „Bin nur … müde.“ Sein Kopf sank wie von selbst gegen ihre Schulter.   Tai öffnete den Mund, aber kein Ton verließ ihn. Er starrte ihn an, hasserfüllt, vorwurfsvoll, dann, plötzlich, erbebte eines seiner Augen, quoll aus der Höhle und tropfte weiß und rot und schleimig zu Boden. „Ken …“, röchelte er. „Das ist deine Schuld …“ Sein Gesicht verschwand im Schatten, sodass nur die leere Augenhöhle ihm entgegenklaffte. Ken schrak mit einem Ruck hoch. Er war eingeschlafen … Feuchte Hitze kroch über seine Wangen. Die Höllenkammer? Nein … Warmes Wasser schwemmte die Gänsehaut fort, die sich als Nachbote des Traums auf seiner Haut bilden wollte. Süßer Duft drang in seine Nase, und die Helligkeit, reflektiert von sandfarbenen Fliesen, holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er war auf dem Rosenstein, in Nadines Palast. Man hatte ihm ein heißes Bad bereitet, damit er sich erholen konnte, richtig, doch die Wärme hatte ihn wieder schläfrig gemacht. Draußen war es immer noch stockfinster, aber der Raum war hell und warm erleuchtet und verhieß nichts als Entspannung. Eine Weile sah er dem Dampf zu, wie er durch die Luft waberte. Er dachte an Tai. Catherines Beinahe-Tod hatte ihn von seinem Freund abgelenkt. Sein Auge ist ausgestochen … Wie konnten sie nur … Seine Gedanken wurden immer düsterer, als jemand an die Tür pochte und Nadine ihren Kopf hereinsteckte. „Störe ich?“ „Äh, nein, komm ruhig herein.“ Auch heute war der Dampf wieder sehr dicht und viele schwarze Blütenblätter trieben auf der Wasseroberfläche. Außerdem war das Wasser durch die vielen Badesalze und Kräuter trübe … und überhaupt hatte Ken im Moment andere Probleme, als sich darüber Gedanken zu machen. Nadine zog die Tür hinter sich zu, stand eine Weile verloren in dem Raum, ohne ihn anzusehen, und ließ sich dann auf dem Hocker vor dem Fenster nieder. „Du machst dir bestimmt Sorgen“, murmelte sie. Auch er starrte nur ins Leere und beschloss nach einer schweigsamen Weile, das auszusprechen, was ihm am schwersten auf der Seele lag. „Ich habe Tai im Kerker gefunden. Als ich ihn befreit habe, da … Sie haben ihm das Auge ausgestochen, Nadine, das Auge! Ein Auge, das ist …“ Er brach ab, kraftlos, zu mutlos, um weiterzusprechen. „Furchtbar“, murmelte sie. „Es war eine Qual, ihn anzusehen“, sagte Ken düster. „Tai war der Anführer der Älteren, hast du das gewusst? Er war immer voller Tatendrang, hat immer sein Bestes für andere gegeben … Und da hing er, in diesem Käfig im Kerker, blutend, mit nur einem Auge …“ Er merkte, wie aus seinen eigenen Augen Tränen strömten. Ein Kloß schmerzte in seiner Kehle. „Tut mir leid“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Du hast dir auch Sorgen um mich gemacht. Tai lebt, und Catherine geht es besser. Ich sollte nur daran denken. Aber ich kann nicht.“ „Das ist nur verständlich“, sagte sie besänftigend. „Wenn du reden willst, ich höre dir zu. Sooft du willst.“ Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Salziges Badewasser brannte nun darin, aber es vertrieb die Weinerlichkeit. „Sora war auch bewusstlos. Ich habe gesagt, ich hätte sie gerettet, aber ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht, ob sie in Sicherheit sind, ich weiß nicht, ob sie noch leben, ich weiß nicht, ob sie je wieder lachen können … Deemons Spiel wird von Tag zu Tag grausamer. Obwohl wir auf der Siegerstraße sind, liegt alles um uns herum in Trümmern.“ Eine Weile schwiegen sie beide, wie zwei Statuen, stumm in verschiedene Richtungen blickend. Das Wasser wurde kühler, der Rosenduft schwächer, Kens Gedanken wieder klarer. „Wenn das Spiel vorbei ist“, begann er dann wieder, „meinst du, alles wird wieder wie früher?“ Er stellte die Frage, obwohl er die Antwort schon kannte. Tai würde nicht einfach wieder sein Auge ersetzt bekommen. Und wer auch immer von ihnen in der DigiWelt starb, war für alle Ewigkeit tot. „Vielleicht.“ Auch Nadine klang halbherzig. Wieder Schweigen. Der Dampf lichtete sich ein wenig, und Ken meinte zu erkennen, wie die Dunkelheit vor dem Fenster heller wurde. „Sag mal“, sagte Nadine und räusperte sich. „Weil du es schon angesprochen hast … Wenn das Spiel erst vorbei ist, also wenn wir Deemon besiegt haben … dann möchte ich dich meinen Eltern vorstellen.“ Sie sagte es so plötzlich, dass Ken stutzte und einen Moment brauchte, um zu begreifen, was sie sagte. Für einen Moment war ihm sogar entfallen, dass sie beide eine Familie hatten, die außerhalb dieses verrückten Spiels auf sie wartete. „Wenn dich das nicht stört“, fügte Nadine schnell hinzu. Sie wich seinem Blick immer noch aus, hielt aber nun den Kopf gesenkt und betrachtete ihre Zehenspitzen. „Und … ich würde auch gern deine Eltern kennen lernen.“ Erst nach und nach verstand er die Tragweite ihres Vorschlags. Ihn ihren Eltern vorstellen … das klang so sehr nach … Obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war, musste er plötzlich lächeln. „Wir regieren unser Reich Seite an Seite, und ich weiß trotzdem kaum etwas über sich. Was du privat machst, und so. Bist du schon an der Oberschule?“ Sie nickte und sah ihn nun endlich an. „Ja, in der zweiten Klasse. In Odaiba. Und danach soll ich auf die Uni. Meine Eltern erwarten eine Top-Schülerin. Ich … Ich bin längst nicht mehr so klug wie damals, als ich unter dem Einfluss der Saat stand, aber ich bin gut genug, um nicht meine ganze Freizeit mit Nachhilfestunden zu verplempern. Wenn du Lust hast, könnten wir an Wochenenden was unternehmen – oder auch unter der Woche, je nachdem.“ Sie interpretierte sein Schweigen falsch und hob abwehrend die Hände. „Wir müssen natürlich nicht, wenn du nicht willst. War nur ein Vorschlag. Kino, oder Karaoke, so unter Freunden eben. Wir können auch noch jemanden mitnehmen, wenn du willst, oder eben zu zweit gehen. Das soll nicht heißen, dass …“ Sie seufzte. „Meine Stammelei ist nicht sehr königlich, was?“ Er lächelte schmal. „Ungefähr so königlich wie ich, als du mich zu meinem ersten Bad hier überredet hast.“ Sie lachte leise und seufzte dann tief, spielte mit den Ärmeln ihres Kleides. „Weißt du, ich fände es nur schade, wenn es enden würde, sobald wir das Spiel gewonnen haben. Wenn danach zwischen uns nichts mehr wäre.“ Diesmal versuchte sie nicht, die Bedeutung ihrer Worte zu verschleiern. „Wir sind danach vielleicht nicht mehr dieselben“, warf Ken ein. „Und wennschon. Wir stehen das gemeinsam durch und sind wieder frei. Frei genug, um uns selbst zu treffen – ohne über das Schicksal zweier Reiche philosophieren zu müssen.“ Ken erforschte sein Innerstes. Es lag in Scherben, war rau und hatte spitze Kanten neben bereits abgestumpften, aber er wusste, dass er das, was er nun sagte, wirklich empfand. „Ich würde das wirklich gern tun. Ich würde dich wirklich gern näher kennen lernen, ganz normal mit dir Spaß haben und … und mit dir ausgehen. Aber wir sollten jetzt nicht darüber sprechen. Das Spiel ist noch lange nicht vorbei, und wenn einem von uns etwas zustößt … Es wäre einfach zu traurig, uns jetzt Hoffnungen zu machen.“ „Das ist nicht wahr!“, begehrte sie auf. „Mit dir darüber so zu reden, das ist … Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich habe auch eine Menge durchgemacht. Die ewigen Rechtsprechungen, das Leid des Krieges. Die ständige Angst um dich, weil du einfach nicht stillsitzen willst. Es tut gut, eine gemeinsame Zukunft zu planen, zumindest geht es mir so. Und wenn wir etwas haben, auf das wir uns freuen können, dann können wir noch erbitterter darum kämpfen!“ Ken wünschte sich, er könnte ihr zustimmen. Aber die Geschehnisse der letzten Wochen hatten ihm schwer zugesetzt. Vielleicht würde er nie wieder derselbe sein … Als Nadine nach einer Weile aufstand und zur Tür eilte, als wollte sie dringend fort von hier, gab er sich einen Ruck. „Ich will auch nicht, dass es einfach endet“, gestand er. „Was danach kommt, werden wir sehen.“ Nadine verharrte kurz in der Tür, ehe sie verschwand und sie leise hinter sich schloss. Tag 85   Die Berge wurden nicht weniger, aber sie wurden zumindest flacher. Das Ende der Nadelberge kam allmählich in Reichweite, nur wusste Tai nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Tagein, tagaus marschierten sie. Taomon ließ ihnen zwar mehr Rast, als notwendig gewesen wäre, und auf jeden Fall mehr Rast, als es selbst gebraucht hätte, aber wenn sie gingen, dann gingen sie stramm. Sobald die Sonne unterging, hielten sie an, und alle drei Gefangenen brauchten diese Schonzeit auch. Sie entzündeten nur ein Feuer, wenn sie in einer Höhle oder Felsnische nächtigten, und Tai hatte ihren Aufpasser noch nie schlafen gesehen. Das Fuchsdigimon in der weiten Kleidung hatte ihre Fesseln gelöst, aber das bewies wohl nur, wie überlegen es sich glaubte. Agumon trottete neben ihm und der Schwarzen Königin her, seine Schwellungen klangen allmählich ab. „Wir bleiben nicht lange deine Gefangenen“, hatte Tai zu Taomon gesagt, gar nicht lange, nachdem der das Bewusstsein wiedererlangt und erkannt hatte, in welcher Lage sie sich befanden. „Bald kommen wir in unser Land. Wenn wir auch nur in die Nähe eines Dorfes kommen, genügt es, wenn ich schreie, dass ich der Drachenritter in Gefangenschaft bin, und dann hast du mehr Digimon am Hals, als du dir vorstellen kannst. Und Agumons Flamme kann gut als Signal dienen.“ Vielleicht war es nicht sonderlich weise gewesen, ihm das zu verraten, aber Tai hielt das duckmäuserische Schweigen nicht mehr aus. Taomon hatte eben seine Verbände erneuert, auf die es scheußlich brennende Kräuter gestrichen hatte, und war vor ihm auf ein Knie gegangen, damit sie auf einer Höhe waren. „Ich habe vom Kaiser die Erlaubnis, Euch oder Euer Digimon ruhig zu stellen, wenn es sein muss. Außerdem“, es knotete überraschend sanft die Enden des Verbandes an seinem Hinterkopf zusammen, „seht Ihr in diesen Kleidern und ohne Eure Drachenstaffel wenig ritterlich aus, Sir.“ Es hatte wohl recht. Sein kostbares goldschwarzes Gewand war zerrissen, dreckig und blutbesudelt, sein Cape hatte das Digimon ihm weggenommen. Taomon war außerdem schlauer als MetallPhantomon: Als er zu sich gekommen war, konnte er sein DigiVice nirgends finden. Vermutlich bewahrte Taomon das Ding irgendwo in den Falten seiner Kleidung auf. Oder der DigimonKaiser hatte es bereits mit sich genommen. Während sie wanderten, sprach auch das Mädchen, das die Königin war, ihn irgendwann an – nur hatte sie nur noch wenig Königliches an sich, gerade mal ihr Kleid, und selbst das war verhältnismäßig einfach, wenn er es mit Mimis Garderobe verglich. Mit abwechselnd besorgtem, beschämtem und gehetztem Blick sah sie sich um, als müsste sie sich jeden Steilhang und jeden Baum merken. „Du … Ihr seid ein Ritter?“, fragte sie heiser. „Ich habe mich Euch schon vorgestellt“, brummte er missmutig. Taomon ging ein paar Schritte vor ihnen, sich sicher, dass sie ihm nicht entkommen konnten, aber es schien sich nicht an ihrem Gespräch zu stören. „Oh. Tut mir leid“, sagte sie traurig. „Wieso redet Ihr so respektvoll mit mir?“ Ja, warum eigentlich? Er hatte allen Grund, sie zu hassen. „Ihr seid schließlich eine Königin, oder?“ Sie wich seinem Blick aus. „Ich fühle mich aber nicht wie eine Königin“, sagte sie leise. „Sagt einfach Sora zu mir, ja?“ Tai könnte es eigentlich nicht egaler sein, wie er sie nennen sollte. Trotzdem nickte er. „Ich bin Tai.“ „Tai.“ Ein schmales Lächeln entwich kurz ihrer finsteren Miene. Dann wurde sie umso düsterer, als sie sein Antlitz studierte. „Ich … war ich das?“ Er biss die Zähne zusammen. „Einer deiner Lakaien.“ Sie machte große, entsetzte Augen. „Nein …“ „Dieses Dracmon hat Tai das Auge ausgekratzt!“, fuhr Agumon sie an. Es schien noch wütender als Tai, dem der ständige Schmerz fast alle Empfindungen raubte. „Und du bist danebengestanden und hast nur zustimmend genickt!“ Sora schlug die Hand vor den Mund. „Das … Das ist …“ Tränen schimmerten in ihren Augen und sie wurde noch bleicher. „Du hast ja schöne Untertanen!“, fuhr Agumon zornig fort. „Und überhaupt, was machst du hier auf unschuldig?“ Matt hätte seinen Digimon-Partner vielleicht beschwichtigt. Er hätte gemeint, es wäre jetzt nicht mehr zu ändern. So schätzte Tai ihn zumindest ein. Er selbst war viel zu aufgewühlt, um Agumon zurückzuhalten. Am liebsten hätte er Sora nie wieder gesehen – doch sie steckten hier gemeinsam im Schlamassel. „Es … Es tut mir so leid …“ Sora blieb wohl nichts anderes übrig, als noch weinerlicher zu klingen. „Ich erinnere mich an viele Dinge nur schemenhaft … Ich weiß, dass ich schreckliche Sachen getan habe. Es tut mir so leid, ich wünschte … Ich wünschte, ich könnte es wieder gut machen …“ „Dafür ist es zu spät!“, sagte Agumon unbarmherzig. Es hätte noch weitergeschimpft, aber Taomon legte plötzlich den Finger auf die Schnauze und duckte sich gegen eine Felswand. Geradezu abartig brav taten sie es ihm gleich. Die Vorsicht erwies sich als weise; keine zwei Minuten später brummten einige Snimon vor ihnen über die schmale, mit grünen Pflanzen überwucherte Schlucht. Sie gehörten eindeutig nicht zum Nördlichen Königreich. Tai vermutete, dass sie Briganten waren. Schweigend ging die Reise weiter. „Was weißt du über den DigimonKaiser?“, fragte Tai Sora irgendwann. „Immerhin werden wir sicher gerade zu ihm gebracht.“ Er wusste selbst nicht genau, warum er mit dieser Frau sprach, die ihm all das hier angetan hatte, aber er schaffte es einfach nicht, nichts zu sagen. Er musste sich ablenken, musste sich ablenken von dem grauenhaften, nagenden Schmerz in seiner Augenhöhle, der sich anfühlte, als wüteten gefräßige Maden darin. Taomon hatte die Wunde gesäubert, als er noch bewusstlos war, und ihm den Verband verpasst, aber nichts davon schien die Schmerzen gelindert zu haben. Anfangs hatte er kaum gehen können, so sehr hatten sie ihn daran gehindert, seine Muskeln zu kontrollieren, und er wäre fast wahnsinnig geworden. Auch jetzt fiel ihm das Gehen schwer. Sein Sichtfeld begann immer wieder zu verschwimmen oder körnig zu werden, und er musste höllisch aufpassen, wohin er die Füße setzte, weil er Entfernungen nicht mehr richtig abschätzen konnte. Auch innerlich fühlte er sich zerstochen. Der erste Horror über dem Verlust seines Auges war auch jetzt noch nicht ganz abgeklungen. Immerhin fühlte er sich nicht mehr wie ein Häuflein Elend, das resigniert auf den Tod wartete, sein Schicksal und alle, die daran beteiligt waren, verfluchte und abwechselnd schrie und weinte, so wie er es in Gefangenschaft im Düsterschloss getan hatte. „Nicht viel“, murmelte sie. „Ich habe seinen Namen immer wieder mal gehört, vor allem, wenn MetallPhantomon mir irgendwelche Berichte gegeben hat. Ich glaube, es hat ihn bewundert.“ „Ich weiß wenig Gutes über ihn zu berichten“, sagte Tai mit zusammengebissenen Zähnen. Jeder Schritt schlug dumpf wie ein Hammer gegen sein fehlendes Auge. „Eigentlich gar nichts Gutes. Er ist ein machtgieriger Tyrann. Er wollte sogar König Leomon zu seinem Vasallen machen, aber es hat sich geweigert und stattdessen sein eigenes Königreich gegründet.“ „Das ist … beeindruckend“, sagte sie. „Ich musste für mein Königreich keinen Finger rühren … Da waren diese Digimon, und sie haben mich einfach so Königin genannt … dabei wollte ich nie Königin sein.“ „Und wir wollten nie deine Gefangenen sein!“, giftete Agumon. „Hast du von Little Edo gehört?“ Tai würde Agumon nicht dazu auffordern, mit seinen Anfeindungen aufzuhören, aber er musste sich immer noch ablenken. Sora schüttelte den Kopf. „MetallPhantomon hat es vielleicht ein paarmal erwähnt … Es ist an den DigimonKaiser gefallen?“ „Das war bisher sein dreistestes Stück.“ Tai behielt Taomon genau im Auge, aber es ließ sich nicht provozieren. Es wirkte nicht einmal, als hörte es zu, aber es würde seinem Herrn zweifellos über jedes gefallene Wort Bericht erstatten. „Er hat sich mit einem von ShogunGekomons Vasallen verschworen und bei der Hochzeit von Mimi, dem Mündel des Shoguns, einen Schwarzen Turm in den Festpavillon geschmuggelt.“ Dass eigentlich auch er an dieser Hochzeit hätte teilnehmen sollen, verschwieg er. Allein bei dem Gedanken daran kochte Wut in ihm hoch, Wut auf Matt, auf Mimi, den DigimonKaiser natürlich, und auf sich selbst. Sora schwieg eine Weile. „Trotzdem“, meinte sie niedergeschlagen. „Du bist wahrscheinlich lieber sein Gefangener als meiner.“ Irgendwie verspürte Tai das Bedürfnis, sie zu trösten. Sie war plötzlich so sehr anders als die Schwarze Königin, die ihn gefangen gehalten hatte – menschlicher. Und man konnte sich tatsächlich mit ihr unterhalten. „Ich wäre lieber niemandes Gefangener“, knurrte er und fixierte Taomons Haube von hinten. „Hör zu, Taomon, ich werde auf jeden Fall entkommen und wieder in mein eigenes Land zurückkehren, und ich werde euch besiegen, dich und deinen Kaiser, das schwör ich dir!“ Taomon reagierte auf diese Drohung wie auf alle anderen im Laufe dieser Reise, nämlich mit überlegenem Schweigen. Tag 95   Davis‘ Träume waren ein Wirrwarr aus Schwarz, gekrümmtem Metall und rotem Glühen. Er gab selten viel auf Träume, aber diese waren beunruhigend, da sie so sehr anders waren als übliche Schlafwelten. Als er an diesem Morgen aufwachte, war das Wetter diesig und kühl, die Luft feucht, und es war merkwürdig still in Santa Caria. Als wäre die Stille eine Warnung. Auch Veemon schien schlecht geschlafen zu haben. „Sag mal, hast du auch dieses komische Gefühl?“, fragte es beim Frühstück. „Ich weiß genau, was du meinst“, murmelte er, ohne nachfragen zu müssen. Irgendetwas war heute anders. Als versteckte sich hinter dem Dunst nicht die Sonne, sondern etwas Düsteres, Unheilvolles. Die Tage waren eintönig gewesen, seit sie vom Düsterschloss zurückgekommen waren. Mit seiner Truppe war es ihm nicht möglich gewesen, die Feste einzunehmen, und auch der Grund hatte sich verflüchtigt, als der verdammte DigimonKaiser mit Tai in den Süden geflogen war. Zurück am Ratstisch hatte Davis sofort den anderen davon erzählt. Suchtrupps waren losgeschickt, Patrouillen neu koordiniert worden. An alledem hatte er wenig Anteil getragen. Davis fühlte, dass ihn die anderen eher als Kämpfer denn als Strategen sahen. Sollten sie. Seine schlechte Laune hatte mehr oder weniger bis heute angehalten – bis das neue Gefühl von vager Vorahnung und Nervosität ihn gepackt hatte. Die Antwort auf die ungestellte Frage kam gegen Mittag. Centarumon galoppierte das Band entlang und jagte kurz darauf durch die Tore der Stadt. Sofort eilten die Piximon-Wächter herbei. Centarumon war eigentlich ein eher gemütliches Digimon – wenn keine Gefahr drohte. „Was ist los?“, fragte Davis, als er und Veemon über den gepflasterten Platz zu ihm liefen, auf dem Tai sie einst mit Stricken gefesselt Leomon vorgeführt hatte. „Ist was passiert?“ Centarumon war nicht außer Atem, obwohl es in so halsbrecherischer Geschwindigkeit unterwegs gewesen war. „Ruft Meramon“, wies es die Piximon an und trabte auf den Ratssaal zu. Davis folgte ihm ungeduldig, und kaum dass die kleinen Feendigimon außer Reichweite waren, begann es zu sprechen. „Die Westgrenze wird angegriffen.“ „Was?“, riefen Davis und Veemon aus einem Munde und blieben fast stehen. Die Westgrenze, damit meinte es den Mori-Mori-Wald nördlich der Nadelberge. „Aber – wer ist es? Der DigimonKaiser?“ Jemand anders wollte Davis nicht einfallen. König Takashi hatte einen Nichtangriffspakt mit ihnen, und die Schwarze Königin war aus dem Verkehr gezogen – oder? „Es würde mich wundern, wenn ich mich irre, aber ich denke, die Angreifer waren dieselben Briganten, die uns schon länger Schwierigkeiten bereitet haben. Diesmal jedoch gingen sie geordnet vor, als sie unsere Stellungen überfielen. Heute Nacht haben sie uns gefährlich zurückgedrängt.“ Sie erreichten das Rathaus und Centarumon stieß die Torflügel auf. Der leere Tisch wartete dahinter, kalt und wenig einladend. In letzter Zeit war er selten benutzt worden. „Aber der DigimonKaiser hat die Königin des Blutenden Herzens mit sich genommen! Ganz sicher!“ Davis hatte das zwar nicht gesehen, aber warum hätte der Kaiser sich damit begnügen sollen, nur Tai aus dem Düsterschloss mitzunehmen? Er hatte sich doch nicht mit der Königin verbündet, oder? Was hatte sich alles geändert, weil er in diese dunkle Höhle gestiegen war? Verdammt, er hätte dem DigimonKaiser nie trauen dürfen! „Die Angreifer trugen andere Banner, und es waren auch viele Bakemon unter ihnen. Ich vermute, sie kämpfen für einen neuen Anführer – und es scheint mir jemand zu sein, den du kennst.“ „MetallPhantomon“, murmelte Veemon. „Unser Erzfeind.“ „Richtig.“ „Worauf warten wir dann noch?“ Davis warf Veemon einen auffordernden Blick zu. „Wir werden sofort nach Westen reisen und uns um ihn kümmern.“ „Nein“, sagte Centarumon sofort. „Das ist unklug, Davis.“ „Was? Wieso denn?“ Er war verwirrt. MetallPhantomon war seit jeher seine Aufgabe gewesen. Seine und Veemons. „Ich bin hierhergekommen, um Verstärkung mit in den Westen zu nehmen, ja. Und euch zu unterrichten. Aber ich möchte, dass ihr beide hier in Santa Caria bleibt. Wir brauchen jemanden, der das Königreich zusammenhält, jetzt in König Leomons Abwesenheit.“ Davis klappte der Mund auf. „Aber wieso müssen wir das sein? Nehmt doch Meramon!“ Er deutete auf das Flammendigimon, das eben über den Platz marschierte. „Auch das wäre unklug.“ Centarumon senkte die Stimme. „Ich zweifle nicht an seiner Entschlossenheit, doch Meramon ist für ein Temperament bekannt. Es ist zu stürmisch, zu heißblütig, und es ist ein Fremder in diesem Land. König Leomon stammt wie wir auch von der Insel, zu der es gegenwärtig unterwegs ist, doch es ist der König, würdevoll in Tat und Äußerem. Die Digimon unseres Königreichs vertrauen ihm. Gewiss bauen sie auch auf Meramon, aber wenn es als einziger von König Leomons Beratern hier bleibt und alleine die Geschicke des Reiches lenkt, wird sich bald Unmut zeigen. Wir haben seit langem keinen Sieg mehr errungen, der König ist fort und hat lange nichts von sich hören lassen, und im Westen tobt wieder Krieg. Ich befürchte einen Aufstand, sollten wir auch nur einen winzigen Fehler machen.“ „Aber Veemon und ich sind doch in euren Augen Banditen, oder?“, konnte sich Davis nicht verkneifen zu fragen. „Vielleicht wart ihr das einmal. Doch ihr seid die Helden des Dornenwalds und habt erfolgreich gegen die Briganten gekämpft. Und ihr stammt aus diesen Landen. Die Digimon vertrauen euch mehr als Meramon. Darum möchte ich, dass ihr hier bleibt. Fällt Entscheidungen gemeinsam, wie es sich für einen Rat gehört. Leitet Berichte weiter. Und versichert dem Volk, dass wir alles tun, um sie zu schützen.“ Es konnte nicht mehr weitersprechen, da Meramon im Rathaus angekommen war. Schlagartig wurde es wärmer, aber noch heißer kribbelte es unter Davis‘ Fingernägeln. Er wollte nicht untätig hier herumsitzen, er wollte kämpfen! Da fiel ihm ein, dass er vielleicht nicht als Einziger ein Anrecht auf diesen Kampf hatte. Centarumon und die anderen regierten dieses Land schon viel länger, als er Teil ihrer Armee war. Es kostete ihn einige Überwindung, doch als Centarumon vor Meramon noch einmal den Bericht über den Angriff vortrug, versprach er, mit Meramon in Santa Caria zu bleiben, zumindest bis der König endlich zurück war.   Der unruhigen Nacht und dem unruhigeren Tag folgte eine weitere Nacht, die noch um vieles unangenehmer war, mit einem weiteren düsteren Traum. Diesmal nahm die Dunkelheit, das Metall und das Glühen von Augen Form an. Auf der nadeldünnen Spitze eines riesigen Berges schwebte MetallPhantomon, eine vernichtende Sense in der Hand, und breitete die Arme auf das Land aus, über das seine Armeen schwappten. „Fürchtet mich!“, krächzte es. Die Worte schienen nicht allein an Davis gerichtet zu sein, aber er fasste sie dennoch so auf. „Ich bin der Herr eurer Träume! König von Kaisers Gnaden! Der Norden soll überrollt werden, ein Albtraum, Tag und Nacht!“ Dann lachte es, seine Kiefer schepperten, und Davis meinte zu spüren, wie seine Geister über schwarze, verbrannte Erde krochen, schnell und lautlos. Und als er die geballte Gewalt fühlte, die aus den Nadelbergen strömte, wusste Davis, dass er bisher nur einen Funken von MetallPhantomons wahrer Macht kennengelernt hatte. Die schwere Sense, die es hielt, funkelte im Licht des roten Mondes.   I’m hiding in the shadows Always by your side In the dark of the night Covering the light (Sinbreed – Shadows) Kapitel 34: Die Prophezeiung ---------------------------- Tag 104   Die letzten Bomben der Pteramon fielen noch und schlugen irgendwo im dichten Gelb und Grün des Waldes des Abendlichts ein, als ihre Digimon die Gefangenen schon zu ihrer Basis auf der Waldlichtung brachten. Sie hatten einen halben Tag gebraucht, um die feindliche Stellung auszuräuchern, hatten den Bambuswald stellenweise gerodet und Nadines Häscher in den Kampf geschickt, während sie von einem Hügel aus auf altmodische Weise die Truppen koordiniert hatten. Der Schwarze Turm des Einhornkönigreiches war zerstört worden, und hinter dem Kommandozelt ragte Kens eigener Turm auf. Fürst Hiroshi wurde von seinen eigenen Digimon ins Lager geführt, die nun Schwarze Ringe um den Leib trugen; das war die erste Demütigung, die ihm nach seiner Niederlage zuteilwurde. Es waren Ekakimon, Digimon, die Ken noch nie zuvor gesehen hatte und die wie Buntstifte mit Armen und Beinen aussahen. Buntstifte für den Comic-Zeichner. Das passt. Ein Lalamon schwebte hinter ihm her. Selbst Hiroshis Digimon-Partner hatte Ken in seiner Gewalt. Die Prozession blieb vor Ken und Nadine stehen, die unter der Zeltplane warteten, die sie zum Schutz gegen die Sonne aufgespannt hatten. Der Junge hatte sich wenig verändert. Dunkle Augen, dunkelbraunes Haar. Er war gewachsen und nun ein klein wenig größer als Ken. Das war er nun also – sein Feind, dem er die Vernichtung geschworen hatte. Die Territoriallords hatten ihren Angriffen und listenreichen Taktiken nicht lange standhalten können. Keiko war zu gewitzt gewesen, um ihnen in die Falle zu gehen, aber Hiroshi hatte sich ihnen mit seinem Heer hier im Wald des Abendlichts gestellt – und hatte mit Pauken und Trompeten verloren. Nun konnte er endlich Urteil über diesen Jungen sprechen. Ken holte tief Luft. „Hiroshi!“, platzte Nadine wütend heraus. „Du verdammtes, kleines Ekelpaket, was fällt dir eigentlich ein?“ Ken atmete wieder aus. Nadine schien gegen den Jungen mehr Groll zu hegen als er selbst. „Wie kommst du dazu, ein Bordell mitten in der DigiWelt aufzumachen?“, setzte sie ihre Tirade fort. „Hast du gar kein Ehrgefühl mehr? Hat sich dein Hirn in Daten aufgelöst? Nein, warte, ich weiß schon – ist doch toll, wenn man den großen Macker spielen kann, oder? Du spielst dich auf als Vasall des ach so großen und trotzdem mindestens einen Kopf kleineren Königs Takashi, und meinst, du kannst dir alles erlauben, nur weil du plötzlich Territoriallord bist, was? Klar, wenn man so viel Macht hat, kann man ja mit seinen perversen Fantasien rumspielen, ohne dass jemand was sagt. Du warst immer ein anständiger Junge, Hiroshi! Hat Deemon dir diese Flausen in den Kopf gesetzt? Wie zum Teufel hast du dich nur so verändern können?“ Hiroshis Miene wurde mit jedem Wort, das sie sagte, abfälliger. „Tu nicht so, als würdest du mich kennen“, knurrte er, auf jede Form von Höflichkeit verzichten. „Ich hätte dich wirklich auch in die Lotusblüte stecken sollen, als du auf meinem Land warst.“ Nadine schnappte erbost nach Luft, die Wangen vor Zorn gerötet. Ihre Digimon packten ihre Waffen fester, und sie sah aus, als würde sie Hiroshi im nächsten Moment eine Ohrfeige verpassen wollen. Ken berührte sie sachte am Arm. „Denk an das, was du gerade gesagt hast. Vielleicht hat ihn wirklich Deemons Stimme umgekrempelt. Er ist nicht er selbst. Bleib ruhig.“ „Ruhig bleiben? Der Kerl verdient eine Strafe, eine saftige!“ „Und die wird er bekommen, keine Sorge.“ Hiroshi legte stirnrunzelnd den Kopf schief. „Ihr seid ja wirklich ein ulkiges Pärchen. Der DigimonKaiser und die Schwarze Rose. Wisst ihr eigentlich, dass die ganze DigiWelt über euch lacht?“ Niemand wagt es, zu lachen, dachte Ken. Hiroshi deutete mit dem Finger auf ihn. „Du da, DigimonKaiser. Glaub bloß nicht, dass sie sich mit dir verbündet hat, weil sie etwas an dir findet. Im Gegenteil. Sie ist zuerst bei König Takashi und bei mir und bei allen möglichen anderen Menschen gewesen und hat sie angebettelt, an ihrer Seite kämpfen zu dürfen, diese schwächliche Möchtegernkönigin. Was glaubst du, was sie uns alles geboten hat, wenn wir sie aufnehmen? Das kannst du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen!“ „Das ist nicht wahr!“, zischte Nadine. „Ken, er lügt!“ „Ich weiß.“ Ken zwang sich, ruhig zu bleiben, auch wenn es ihm schwerfiel. Irgendwann, vor langer Zeit, mochte er ein genauso großes Scheusal gewesen sein, wie Hiroshi es nun war. „Mach die Augen auf“, höhnte das Saatkind weiter. „Du warst nur der Einzige, der dumm genug war sich nicht zu wehren, als sie sich um deinen Hals geworfen hat.“ Nadine biss sich auf die Lippen. Ken beschloss, nicht auf seine Provokation einzugehen. „So dumm scheint das nicht gewesen zu sein. Hier stehen wir, und du bist unser Gefangener, nicht umgekehrt.“ Der entmachtete Fürst schnaubte. „Hast du mir nicht zugehört? Du warst ihre vierte oder fünfte Wahl. Das Flittchen wollte sich zuerst beim König einschleimen, dann bei mir, und sogar bei Keiko! Du bist nur ein trauriger Ersatz, nichts weiter.“ Ken fragte sich, ob diese rebellische Ader einfach Hiroshis Art war, selbst nach seiner Niederlage gegen sie beide zu kämpfen. „Ich weiß, dass sie zuerst bei euch war. Nadine hat mir davon erzählt.“ „Ken ist der Einzige, der nicht glaubt, dass das hier alles nur ein Spiel ist“, fauchte Nadine. „Anders als ihr hat er Augen im Kopf. Für euch sind die Digimon und die andere Menschen nur Spielsteine, mit denen ihr jonglieren könnt. Ich wette, du verstehst nicht mal das Konzept vom Sterben!“ „Sagt mir nicht, dass ihr wirklich glaubt, das hier wäre real.“ Hiroshi rollte die Augen. „Könnt ihr nicht mehr zwischen Spiel und Realität unterscheiden? Ich würde an eurer Stelle aufpassen. Leute, die sich zu sehr in einem Spiel versenken, laufen irgendwann Amok.“ Und das aus deinem Mund, dachte Ken. „Wie du meinst“, sagte er. „So oder so, du hast verloren. Für deine Missetaten werden wir eine geeignete Strafe finden.“ „Die sich gewaschen hat“, fügte Nadine hinzu. Sie war tatsächlich um einiges aufgebrachter ob der Lotusblüte als Ken selbst. Hiroshi zuckte nur mit den Schultern, dann veränderte sich etwas in seinem Blick. „Ich habe eine Nachricht für dich“, sagte er plötzlich. „Vom Spielmacher. Für Ken – das bist doch du, oder?“ „Vom Spielmacher?“, wiederholte Ken. „Deemon“, murmelte Nadine düster. Breit grinsend hob Hiroshi die Arme. „Das Kaiserreich wird bald vernichtet sein“, verkündete er. „Du sollst besser gleich aufgeben. Der Spielmacher steht hinter uns und informiert uns über alles, was wir wissen müssen. Datamon hilft König Takashi dabei, seine Truppen zu koordinieren, und König Leomon hat uns seine Unterstützung zugesagt, sobald es seine momentane Mission erledigt hat. Eure Armee im Osten ist viel schwächer, als ihr glaubt, schwächer noch als diese hier. Wir werden sie bald aus der Wüste getrieben haben, und dann führen wir Krieg auf eurem Land. Wir werden eure Türme ausreißen und unsere eigenen aufbauen, und von deinen Schwarzen Ringen werden bald nur noch Scherben übrig sein! Keiko wird im Nu eine neue Armee aufgebaut haben, dann vertreibt sie euch aus unserer Goldenen Zone. Dann sind wir es, die angreifen!“ Ken ließ sich von nichts, was er sagte, beeindrucken. Er wusste nicht, was von dieser Ankündigung wirklich Deemons und was Hiroshis eigene Worte waren, aber nun hatte er die Gewissheit, dass sein einziger wahrer Feind in diesem Krieg tatsächlich auch zu den Saatkindern sprach – und momentan benutzte er Hiroshi als Sprachrohr, weil Ken seine Gedanken vor ihm verschlossen hatte. „Du wirst jedenfalls niemanden mehr angreifen“, sagte er kühl. „Bringt ihn fort und sperrt ihn ein. Über seine Bestrafung werden wir noch nachdenken.“ Als sie beobachteten, wie Hiroshi sich folgsam fortführen ließ, sagte Nadine trocken: „Wenn es nicht unköniginnenhaft wäre, würde ich ihm in die Weichteile treten. Das hätte er verdient.“ Sie zögerte. „Ich hoffe, du glaubst ihm nicht. Ich habe nicht … Ich bin nur an den Königshof gegangen, um herauszufinden, ob sie den Ernst der Lage erkennen.“ „Ich weiß, keine Sorge.“ Ken massierte sich die Nasenwurzel. In letzter Zeit spürte er seine Brille schwer darauf liegen. „Wir sollten jetzt zuallererst das Lager hier befestigen und Außenposten im Wald errichten. Und Patrouillen aussenden. Es war ziemlich gewagt, so schnell so weit in den Norden vorzustoßen. Um Hiroshis Bestrafung können wir uns nachher noch kümmern.“ „Am besten wäre es, du ließest ihn kastrieren.“ „Nadine!“ „Verdient hätte er’s“, entgegnete sie patzig. „Das kann man so nicht sagen …“ „Nimmst du ihn etwa in Schutz?“, fragte sie mit schmalen Augen. Er seufzte und betrachtete die Wolken, die am Himmel vorbeizogen. „Ich habe damals auch viel Böses getan. Und es ist das größte Glück meines Lebens, dass man mir verziehen hat.“ Sie dachte lange darüber nach, ehe sie sich einen sichtlichen Ruck gab. „Na gut. Verschieben wir seine Bestrafung ein wenig und lassen wir ihn zappeln. Wenn das Spiel vorbei ist und er womöglich begreift, was er getan hat, schämt er sich sicher in Grund und Boden.“ Nadine sah ihn an. „Du willst jetzt wieder in deine Festung zurück, oder?“ Ken nickte. Er hatte die Osthälfte seines Reiches schon zu lange ohne Obhut gelassen. Er riskierte eine Rebellion, wenn er nicht wieder Hof hielt, Bitten erhörte und Urteile fällte. Außerdem war in den letzten Tagen ein Bote eingetroffen. Devimon hatte auf der File-Insel eine alte Inschrift entdeckt, anscheinend eine Prophezeiung. Es hatte den Text abschreiben lassen, und seither versuchten die Hagurumon in der Mobilen Festung, ihn zu entschlüsseln, aber Ken wollte sich auch selbst ein Bild davon machen. Und er musste sich darum kümmern, dass an der Westfront alles glattlief. Vielleicht würde er Zephyrmon ebenfalls einen Besuch abstatten … „Ich komme mit“, beschloss Nadine. Er lächelte. „Das muss aber nicht sein.“ „Nein, muss es nicht. Aber ich will gerne in deiner Nähe blieben – sonst passiert dir nur wieder was. Es sei denn, du hast etwas dagegen.“ „Natürlich nicht.“ Er ergriff zärtlich ihre Hand. „Ich habe dich auch gern in meiner Nähe.“ „Du Schmeichler.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Was machen wir in der Zwischenzeit mit Keiko?“ Territorialherrin Keiko war nach Nordosten geflohen und hatte sich in Chinatown verschanzt. Diese Gegend ist voller Erinnerungen. Hier haben wir gegen BlackWarGreymon gekämpft, den letzten Heiligen Stein beschützt und Azulongmon getroffen. Deemon hatte den Heiligen Steinen nichts anhaben können, also hatte es sie einfach weit weg verfrachtet, wo sie keine Rolle in diesem Spiel spielten. „Wir weisen dein Heer an, sie zu belagern. Eine kleine Kompanie müsste reichen. Keiko hat kaum noch Truppen, immerhin hat sie bei der Schlacht um Masla eine ganze Menge davon verloren. Dann können wir sie getrost links liegen lassen und Takashi in die Zange nehmen.“ „Klingt einfach.“ „Sollte es auch sein … Mir macht nur dieses Datamon Sorgen, das Hiroshi erwähnt hat.“ Er hatte das Gefühl, es könnte sich um dasselbe Datamon handeln, das Tai und die anderen seinerzeit ausgenutzt hatte, um Etemon zu bekämpfen – immerhin war das ebenfalls in dieser Wüste gewesen. Etwas an diesem Gedanken verursachte ihm Bauchschmerzen. „Meinst du, wir müssen Deemons Drohung ernst nehmen?“, fragte Nadine. Er zuckte beklommen mit den Schultern. „Du hast Hiroshi gehört – Deemon ist der Spielmacher. Ich kann nicht glauben, dass es keinen Trumpf in der Hinterhand hat. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“ Nadine nickte nachdenklich.     Es musste etwas Wichtiges sein, wenn Tentomon ihn mitten in der Nacht aus dem Feldbett riss, das er sich vor seinen ganzen elektronischen Geräten in der ansonsten leeren Lobby des Hochhauses aufgestellt hatte, um möglichst schnell bei seinen Computern zu sein. Nein, das ist ein falscher Gedankengang. Wir sind der Brückenkopf. Alles, was passiert, ist wichtig. In bequemen Trainingsklamotten folgte er gähnend seinem Partner ins Freie. Nach dem heißen Tag war die Kühle eine Wohltat. Man hatte sie durch die Stadt hierher geführt, und nun standen sie, scharf von zwei Reihen Mothmon bewacht, auf dem Platz und sahen sich mit großen Augen um. Die verblichene Standarte, die eines von ihnen trug, wäre gar nicht nötig gewesen, um Izzy erkennen zu lassen, dass er den Orden der Zuverlässigen vor sich hatte. Der Späte Nachschub. „Was ist hier geschehen?“ Ein junger Mann im grauen Mantel warf ihm einen beunruhigten, bebrillten Blick zu. „Wir dachten, der DigimonKaiser kontrolliert diese Stadt?“ „Nicht mehr“, sagte Izzy schlicht. Das Aufgebot seiner Pioniertrupps, das Fehlen Schwarzer Ringe und die Hackerausstattung sprachen wohl Bände. „Ich bin Koshiro. Ich habe jetzt hier das Sagen.“ Der Mensch tauschte einen Blick mit einem Gomamon. Die beiden waren die einzigen bunten Flecken in der grauen Gesandtschaft von Orcamon. „Ich heiße Joe. Wir … Also …“ Er schien etwas mit der Situation überfordert, daher sprang Gomamon ein. „Wir vom Orden der Zuverlässigen sind neutral. Also egal, wer ihr seid, wir würden gern Geschäfte mit euch machen.“ Das ist gar nicht gut. „Was habt ihr hier überhaupt zu suchen?“ Er wollte schärfer klingen, schaffte es aber nicht. Die Zuverlässigen hatten trotz allem einen guten Ruf, und er war nicht dazu gemacht, sich mit harschen Worten Respekt zu verschaffen. „Ihr solltet doch in der Kaktuswüste sein?“ Joe schob seine Brille zurecht. Ein Lichtklecks, vom Mond gespiegelt, funkelte darin auf. „Der DigimonKaiser und der Einhornkönig liefern sich momentan einen zermürbenden Stellungskrieg. Es gibt viele Verletzte auf beiden Seiten, und wir können längst nicht mehr alle versorgen. Darum sind ein paar von uns losmarschiert, um Nachschub zu besorgen. Verbandsmittel und Medizin.“ „Warum seid ihr dann in die Voxel-Stadt gekommen? Es gibt doch viele Städte, die näher an der Wüste liegen.“ „Wir sind hier eigentlich immer willkommen gewesen. Sonst freut man sich, uns zu sehen“, sagte Gomamon keck. „Was Gomamon sagen will“, meinte Joe langsam, „ist, dass die Voxel-Stadt am besten ausgestattet ist, was medizinische Ausrüstung angeht. Da sucht sie ihresgleichen. Und wir konnten hier immer unsere Geschäfte abwickeln. ShogunGekomon hat uns stets unterstützt, und nach dem Fall von Little Edo hat auch Musyamon im Namen des DigimonKaisers verkündet, dass wir hier willkommen wären. Außerdem haben wir kranke Digimon bei uns, die wir nur hier behandeln können.“ „Kranke Digimon?“, fragte Izzy alarmiert. „Wo sind diese Digimon?“ „Wir haben sie schon unter Quarantäne gestellt. Zwei, drei Orcamon kümmern sich schon um sie, wir haben ihnen Zugriff auf ein paar Medikamente gewährt“, berichtete Tentomon. Izzy nickte dankbar. Das war ganz in seinem Sinne – aber es war auf jeden Fall gefährlich, solche Krankheitsfälle hier zu haben. „Was ist das für eine Krankheit?“ „Wir wissen es nicht genau. Sie ist in einem der Lager des DigimonKaisers ausgebrochen. Viele haben sich seither damit angesteckt. Wir haben gehofft, hier einen Impfstoff zu finden, das ist auch einer der Gründe, warum wir die Kranken hergebracht haben“, sagte Joe. Das alles gefiel Izzy von Sekunde zu Sekunde weniger. Eine Seuche also. „Ihr könnt alles haben, was ihr braucht, um sie zu heilen und einen Impfstoff zu entwickeln“, sagte er. „Wir werden euch sogar dabei helfen. Aber wir können nicht erlauben, dass ihr die Stadt so bald wieder verlasst.“ Joe wirkte äußerst unglücklich. „Geht das wirklich nicht? An der Front erwartet man uns. Es ist sehr wichtig, dass wir ihnen Nachschub bringen.“ „Tut mir leid.“ Izzy gefiel es auch nicht, sie Sanitäter der DigiWelt festzuhalten, aber er hatte keine Wahl. „Wie ihr selbst gemerkt habt, ist diese Stadt nicht mehr unter der Kontrolle des DigimonKaisers, und unser Aufenthalt hier muss unter allen Umständen geheim gehalten werden.“ „Und wenn wir versprechen, nichts zu sagen?“ Izzy seufzte tief. „Tut mir leid“, wiederholte er, „aber irgendetwas dringt immer durch, und ich kann kein Risiko eingehen. Ihr bekommt Unterkünfte, Essen und alles, was ihr sonst noch verlangt. Aber ihr müsst euch damit abfinden, bewacht zu werden.“ Die Orcamon brummten unwillig, aber als die Mothmon ihre Kanonen auf sie richteten, wurden sie schnell ruhig. „Kannst du uns wenigstens sagen, wir lange wir hier bleiben sollen?“, fragte Joe, nachdem er einen Blick in die Runde geworfen hatte. „Leider nein. Aber euch wird nichts passieren, das garantiere ich euch.“ Izzy überlegte. „Allerdings werdet ihr wohl sterben müssen.“ „Ster–“ Joe stieß die Luft aus und sah ihn entsetzt an. „Nicht wirklich, natürlich!“, sagte Izzy hastig. „Aber es muss für euren Orden so aussehen. Ihr dürft diese Stadt nicht mehr verlassen, aber es darf auch niemand erfahren, dass ihr hier festgehalten werdet. Am besten wäre es, wenn man euch für tot halten würde.“ Ihm kam ein Gedanke, sein strategisches Gehirn arbeitete sogar so spät in der Nacht noch. „Wir haben von einer Truppe gehört, die hier in der Nähe marodieren soll. Wir werden es so aussehen lassen, als ob ihr denen zum Opfer gefallen wärt. Und wir werden euch übrigens entschädigen, wenn alles vorbei ist.“ Das war er ihnen schuldig. „Uns kannst du entschädigen“, rief eines der Orcamon. „Aber wie entschädigst du die Digimon, die sterben, weil wir sie nicht rechtzeitig behandeln konnten?“ Darauf hatte Izzy keine Antwort, und schon lange hatte ihn nichts mehr so gewurmt. Er ließ den Kopf genauso hängen wie Joe, als man ihnen ihre Quartiere zeigte. Tag 106   Deinen Blick sollst du zum Anfang des Himmels richten Großer Künstler, der du Eisen zu Gold machst Wie sehr bist du zu bedauern Nie schließt deine Liebsten du in die Arme, nie möge sich dir etwas entziehen Wo andere ihre Freunde überdauern, lachst du nur bitter über ihr Leid Leid, das du ersehnst Die beiden Sieger zanken sich seit Jahrhunderten Keiner noch errang den Preis Vergraben, bis das Schicksal erwacht Zu sehen in goldener Morgenstund ist der Anbeginn Goldenes Licht die Dunkelheit verdrängt Zwei der Schätze, drei der Suchenden Mit Füßen treten, um zu befreien, ist es Magie? Magisch ist der Besiegten Mühe Nicht umsonst ihr Opfer sei Magisch ist des Feindes Macht An allen Ecken regiert das Böse Magisch sind stets Ende und Anfang.   Ken und Nadine standen im Dunkel der Brücke vor dem hellen, überdimensionalen Foto der Steintafel, das Devimon ihm geschickt hatte. „Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Und es ist von der File-Insel?“ „Ja. Anscheinend war es irgendwo in Centarumons Tempel versteckt.“ Als er von Leomons Invasionsversuch gehört hatte, hatte er seinen Verwalter warnen lassen, und über die quälend langsamen neuen Informationswege hatte er als Antwort dieses Bild erhalten. Die Hagurumon hatten die Zeichen des Digimon-Alphabets mit japanischen Schriftzeichen ersetzt, damit er den Text problemlos lesen konnte – was nicht bedeutete, dass er ihn ansatzweise verstand. „Wir sollten versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Vielleicht ist es wichtig.“ „Wichtig wofür?“ „Ich habe mir das schon seit einer Weile gedacht.“ Ken kratzte sich am Kinn. „Als das letzte Mal ein Digimon von jenseits der Feuerwand die DigiWelt bedroht hat, gab es auch eine Prophezeiung. Sie verhieß im Prinzip nur, dass es acht DigiRitter brauchen würde, um die Dunkelheit von jenseits der Feuerwand zu besiegen. Ich weiß nicht, warum diese hier so … so rätselhaft ist, aber vielleicht kann sie uns helfen, falls wir …“ Er musste tief durchatmen, um es über die Lippen zu bringen. „Falls wir versagen und Deemon in die DigiWelt gelangt.“ Eine Weile starrten sie noch schweigend das Rätsel an, doch Ken konnte sich keinen Reim darauf machen. Sprach es von einem Digimon? Einem DigiRitter? Oder irgendeinem Ort? Hatte Deemon von der Prophezeiung gewusst? Warum hatte es sie dann nicht verschwinden lassen? Womöglich verhielt es sich damit wie mit den Heiligen Steinen, und alles, was es tun konnte, war, den Text in ein Rätsel zu ändern. Aber Ken glaubte nicht, dass es so einfach war. Nur gut, dass Deemon unsere Gedanken nicht mehr ausspionieren kann. Er wies die Hagurumon an, den Text nach allen möglichen Algorithmen zu entschlüsseln zu versuchen. Vielleicht war zwischen den Zeilen ein Hinweis versteckt. Dann verließen Nadine und er die Brücke. Nach der langen Zeit im sonnigen Süden und in all der Pracht von Nadines Palast kam ihm seine Festung noch schäbiger und dunkler vor. Er hatte schon mit Ogremon gesprochen, das ihn um einen neuen Auftrag gebeten hatte. Es hatte sein Versagen mehr oder weniger als Kens eigene Schuld hingestellt, weil es erstens unter Ogremons Würde wäre, entlaufene Prinzessinnen zu suchen, und es zweitens nur Schwächlinge unter sich gehabt hätte. Dass diese Digimon seine selbstgewählten Getreuen gewesen waren, schien es vergessen zu haben, und es wirkte ob ihres Todes auch nicht sonderlich betrübt. Ein Treffen mit Matt schob er noch vor sich her. Er wagte es aus irgendeinem Grund nicht, seinem Freund, den er wochenlang bei Kunstlicht in einer Zelle eingesperrt hatte, einen Besuch abzustatten. Was sollte er überhaupt mit ihm reden? Matt würde ihm kaum vergeben, in seinen Augen war Ken der Böse. Aber er wusste, dass er seinem Freund ein Gespräch schuldig war. Es war Abend, und Ken hatte für sich, Nadine und ihr Elecmon ein Essen vorbereiten lassen. Sie setzten sich in seiner Kantine an den Tisch, und mit seinen steinernen Schritten kam sein Gotsumon-Diener, tischte saftiges Fleisch auf, bei dessen würzigem Duft Ken das Wasser im Mund zusammenlief, und schenkte in zwei Kristallkelche dunkelroten Wein ein. Nadine schnupperte daran, während ihr Digimon-Partner sich sogleich übers Essen hermachte. „Feuerwein?“, fragte sie. „Der beste, den ich bekommen konnte. Immerhin müssen wir unseren Sieg über Hiroshi feiern.“ „Du genießt es wohl wirklich, dass du hier nicht unter die Minderjährigenregelung fällst“, stellte sie spielerisch tadelnd fest. Ken lächelte. „Ab und zu dürfen wir uns auch etwas gönnen.“ Sein Blick schweifte in die Ferne. „Ich hoffe, mit der File-Insel ist noch alles in Ordnung.“ „Ich dachte, du wusstest, dass Leomon diesen Schritt irgendwann tun würde?“ Er seufzte. Natürlich hatte er das gewusst. Er hatte mit Devimon seit seiner Übernahme Taktiken für jedes erdenkliche Szenario ausgearbeitet. Den besten Teil der Rekruten aus der Stadt des Ewigen Anfangs behielt es als Inselwache, und Ken hatte einige Truppen zur Unterstützung mobil gemacht. Aber bisher waren sie nur auf der faulen Haut gelegen, und wenn er die Insel verlor … Wormmon würde unter einem anderem Banner wiedergeboren werden. „Du hast recht. Wenn Leomon schon in See gestochen ist, muss die Besatzung der Insel reichen. Ich werde trotzdem MegaSeadramon mit der Flotte hinterherschicken. Vielleicht kann es Devimon unterstützen.“ In diese Gedanken versunken wollte er nach dem Wein greifen, um die Sorgen mit einem brennenden Schluck fortzuspülen, als Nadine ihre Hand auf seine legte. „Lass uns einen Ball geben.“ „Was?“, fragte er überrumpelt. „Wie kommst du jetzt darauf?“ „Jedes Reich sollte sein Volk mit Festlichkeiten bei Laune halten. Wir führen einen Feiertag ein, ja? Es gibt ein Fest, und es wird Musik gespielt und getanzt. Dann haben wir endlich mal ein wenig Spaß.“ „Nadine, das ...“ „Doch. Das geht. Auf uns lastet das Schicksal der DigiWelt. Wir müssen auch mal abschalten, sonst gehen wir an dem Gewicht zugrunde. Selbst jetzt, wo wir mal Zeit für uns alleine haben, reden wir über die weiteren Pläne, Digimon und Eroberungen.“ Ken überlegte. Warum eigentlich nicht? Irgendwie hatte sie recht. Aber er durfte seine Aufgabe nicht vernachlässigen … „Wir können doch auch einfach nur einen netten Abend verbringen. Heute. Ich halte einfach erst morgen Hof, das macht ohnehin keinen Unterschied mehr. Für heute ist alles erledigt.“ „Wir sollten trotzdem auch irgendwann einen festlichen Empfang abhalten. Von mir aus, wenn die Zeiten ruhig sind“, beharrte Nadine. „Aber wenn, dann machen wir das in meinem Palast. Hier bei dir kann man ja kaum ein Fest geben. Hast du dir schon überlegt, der Festung einen Neuanstrich zu geben? Das sind ja furchtbare Zustände hier. Man kann hier nicht mal ein ordentliches Bad nehmen, und die Duschen sind billiger als die in der Sportumkleide meiner Schule.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Dabei würde es dir doch gefallen, während unseres gemeinsamen Abends gemeinsam mit mir ein Bad zu nehmen, oder?“ Ich sollte mit der Antwort vorsichtig sein. „Es würde mir … nicht nicht gefallen.“ Sie lachte. „Du bist so süß, wenn du rot wirst, Ken.“ Er war also schon wieder rot geworden. Warum tat seine Gesichtsfarbe nur immer genau das, was sie erwartete? „Wenn wir uns dann tatsächlich sehen, nachdem Deemons Spiel vorbei ist, habe ich hoffentlich ausreichend Gelegenheit, mich an deine Sticheleien zu gewöhnen.“ „Das sind keine Sticheleien! Ich will nur … Oder bin ich zu fies?“ Ken wurde einfach nicht schlau aus ihr. Das Essen wurde langsam kalt, und Elecmon war bereits fertig, sprang von seinem Hocker und lief nach draußen, wie um sie nicht zu stören – wobei auch immer. Nadine rutschte unbehaglich auf ihrem Sessel herum. „Ich muss dir übrigens etwas sagen“, begann sie und fuhr dann mit dem Zeigefinger den Rand ihres Kelches nach, Runde um Runde. „Vermutlich kannst du es dir schon denken …. oder auch nicht. Aber ich finde, so etwas soll man aussprechen. Und ich weiß schon, man sollte es eher in einer romantischen Atmosphäre sagen und so … Und wir haben ja schon festgestellt, dass deine Festung nicht wirklich ein romantischer Ort ist“, lachte sie unglücklich. Ken fühlte etwas in seiner Brust aufsteigen, das zwischen Freude und Angst schwankte. Allein, was sie bisher gesagt hatte, ließ einen gewissen Verdacht auf das Weitere zu. Er schwieg, sah nur auf seinen Wein hinab und betrachtete sein Spiegelbild darin. „Ich will es einfach loswerden, weißt du?“, sagte sie. „Wir sehen uns fast jeden Tag und sprechen über alles Mögliche, aber irgendwie konnte ich meine Gefühle nie anbringen. Und ich will es nicht mehr … nicht mehr länger verbergen, verstehst du? Wenn wir heute tatsächlich einen gemeinsamen Abend, ohne das ganze Regieren und diesen Schnickschnack verbringen wollen, dann … Dann wäre eindeutig heute der richtige Zeitpunkt.“ Sie holte tief Luft. „Kann sein, dass ich wirklich ein wenig … ein wenig zu direkt bin, wenn ich mit dir flirte. Ich will dich auch nicht wirklich in Verlegenheit bringen, es ist nur so, dass ich … Also …“ Sie schien mit sich zu ringen, ob sie ihn nun ansehen sollte oder nicht. Letztendlich wandte sie den Blick ab. „Ich liebe dich, Ken.“ Und das Gefühl in seiner Brust verdichtete sich zu einem warmen Nebel, der bis in seinen Kopf stieg und ihn alles vergessen ließ, was nicht mit ihr zu tun hatte. Ich liebe dich, Ken … Hatte er nicht gehofft, genau diese Worte jetzt zu hören? Hatte er nicht vor jedem anderen Geständnis Angst gehabt? Er wusste so gut wie nichts mehr. Sein Kopf war wie leergefegt, aber ihm war warm, gar heiß. Nadine stieß die Luft aus. „So, es ist raus. Und jetzt warte ich auf deine Antwort.“ Sie lachte unecht. „Meine größte Sorge ist, dass du sagst, zwischen uns, das wäre alles nur zweckgebunden, wegen dem Spiel“, gab sie freimütig zu. „Aber selbst wenn es so ist, will ich es wissen. Was empfindest du für mich?“ Ken musste antworten. Er musste unbedingt sagen, dass er ihre Gefühle erwiderte, nichts anderes war im Moment wichtiger … Aber warum war es so schwierig, über solche Sachen zu reden? „Das ist doch offensichtlich, oder?“, fragte er. „Nein“, sagte sie ernst. „Offensichtlich ist so was nur, wenn man es jemandem direkt sagt. Alles andere zählt nicht.“ Ken fühlte, wie ihm schwindlig wurde, dabei hatte er seinen Wein noch nicht einmal angerührt. Wenn er heute noch einen einzigen Tropfen trank, würde er gewiss verglühen. Wie sollte er es sagen? Es waren nur so wenige Wörter, aber einfacher wäre dennoch gewesen, ihr alles aufzuzählen, was sie für ihn war. Du bist meine Stütze, hätte er sagen können. Du hast mir immer beigestanden, wenn ich deprimiert war, du hast dir Sorgen um mich gemacht, du hast meinen Alltag bunter werden lassen, du hast mich immer wieder an meine Aufgabe erinnert. Ich finde dich wunderschön, ich mag dein Lachen; du bist viel königlicher, als ich es je sein könnte, in jeder Hinsicht, und ich würde gerne noch mehr mit dir teilen, dich besser kennenlernen. Es ist ein Traum, dass du mich liebst, denn ich liebe dich auch. Das alles hätte er sagen können, hätte er sagen sollen, doch als er den Mund aufmachte, kam nur ein Stottern über seine Lippen. Warum fiel es ihm nur so schwer, wo er doch das Gefühl hatte, ihr alles sagen zu können? Sie lehnte sich vor und sah ihn erwartungsvoll an. „Ja? Sag schon.“ Schließlich gab er es auf. Er beugte sich zu ihr, schob sanft die Hand in ihren Nacken und küsste sie auf den Mund. Ihre Augen weiteten sich überrascht, fast entsetzt, dann schloss sie sie genießerisch, und Ken tat es ihr gleich, bis er im Dunkel nur ihre Lippen fühlte, den Duft ihres Haares einsog – diesen Duft nach Orangen, den er so liebgewonnen hatte – und der Feuersbrunst lauschte, sie sich in seinem Herzen ausgebreitet hatte. War es eine Sekunde oder eine halbe Ewigkeit gewesen? Als sie sich langsam wieder lösten, lächelte Nadine ihn an, und er erwiderte ihr Lächeln. Als er etwas sagen wollte, musste er sich erst räuspern, was sie zum Kichern brachte. „Hat das gezählt?“ „Gute Frage“, gab Nadine schelmisch zurück. „Bei euch Männern muss es ja nicht gleich heißen, dass ihr eine Frau liebt, nur weil ihr sie küsst.“ „Nadine“, sagte er gequält. „Schon gut“, lachte sie abwehrend. „Mir ist es auch nicht leichtgefallen, das kannst du mir glauben.“ Sie sah ihm tief in die Augen. „Wenn das Spiel vorbei ist und wir uns das erste Mal in der Menschenwelt treffen, erwarte ich aber von dir, dass du es mir dann ins Gesicht sagen kannst. Ohne Ausflüchte.“ Er seufzte erleichtert auf. „Ich war noch nie gut in solchen Sachen. Tut mir leid. Ich könnte es versuchen, aber wenn ich sage, ich liebe dich, würde es sicher hölzern und wie ein Roboter klingen …“ „Aber du hast es gerade gesagt“, jubelte sie. „Der gefürchtete DigimonKaiser hat die drei magischen Worte gesagt!“ Erst fühlte er sich gekränkt, dann lachte er mit. Was für ein Dummkopf er doch war. Würde er sich ab jetzt jedes Mal zum Affen machen, wenn er mit ihr sprach? Das konnte ja heiter werden. „Darauf trinke ich“, verkündete Nadine und schwenkte ihren Kelch. „Darauf, dass es einer einfachen Frau wie mir gelungen ist, das Herz aus Stein des größten Tyrannen der DigiWelt zu erweichen!“ „Einfache Frau ist untertrieben“, sagte er und stieß mit ihr an. „Auf uns“, sagte sie. „Auf uns.“ Er roch die Gewürze in seinem Feuerwein und beschloss, doch einen Schluck zu trinken, auch wenn ihm nach wie vor so heiß war, als würde flüssiges Feuer durch seine Adern kriechen, sein Kopf sich nebelig anfühlte und sein Herz nicht aufhörte, die Hitze weiter zu verbreiten. Zaghaft nippte er an seinem Kelch. Und bereute es sofort. Der Wein war wirklich höllisch scharf, brannte auf seiner Zunge und schmerzte regelrecht an seinem Gaumen. Prompt verschluckte er sich, ein Tropfen rutschte die falsche Kehle hinunter, und Ken musste heftig husten. Gleichzeitig schmeckte er etwas anderes, Schleimiges, das das Brennen auf seiner Zunge erst verursachte … Das ist nicht nur Wein. Würgend und hustend schleuderte er den Kelch von sich, der eine rote Spur durch die Luft zog wie eine Wolke. „… nicht …“, brachte er heraus, während er sich vornüber beugte und nach Luft schnappte. Schweiß trat auf seine Stirn. Nadine, die ihren Kelch gerade an die Lippen gesetzt hatte, erstarrte wie versteinert und sah ihn aus großen Augen an. Dann ließ sie den Kelch fallen, er prallte auf dem Tisch auf und verunzierte ihr kostbares Kleid mit dunklen Flecken. „Ken?“ Er hustete und hustete und fasste sich an die Kehle. Von seiner Mundhöhle ausgehend wucherte er ein taubes Gefühl durch seinen Hals. Gift!, wollte er rufen, doch er bekam kein Wort heraus. Mit zittrigen Fingern tastete er nach seinem Connector und drückte den Alarm-Knopf, den er installiert hatte. Falls sich nicht wieder jemand ins System gehackt hatte und seine Nachrichten abfing, würden die Hagurumon auf der Brücke über seinen Standort informiert werden und Hilfe schicken können. „Ken! Was ist los? Geht es dir gut?“ Nadine stürzte zu ihm, machte Anstalten, ihm auf den Rücken zu klopfen, schrie aber dann stattdessen laut: „Hilfe! Helft uns, irgendjemand! Elecmon!“ „Geht … schon …“, brachte Ken heraus, der nach Atem ringend aufstand. Sich am Tisch abstützend, bekam er wieder Luft, auch wenn es plötzlich unglaublich anstrengend war. Seine Lungen wollten irgendwie nicht von selbst atmen. Die Tür flog auf und Elecmon flitzte herein, gefolgt von etlichen von Kens Soldaten und Nadines Leibgarde. „Was ist geschehen?“, fragte Clockmon. „Der Wein!“, rief Nadine. „Er hat den Wein gekostet und plötzlich … ich weiß auch nicht …“ „Es war Gift“, stieß er hervor. „Gift …“ Seine Finger zitterten. Jemand hatte ihn vergiften wollen … Er hatte es wohl vornehmlich über die Mundschleimhaut aufgenommen. Wenn er sich nicht verschluckt hätte, hätte es ihn wirklich umbringen können … Er war bestürzt. Plötzlich begriff er, dass dies ein weiterer Nachteil war, Digimon ohne Schwarze Ringe zu seinen Untertanen zu machen. Sie hatten freien Willen und konnten ihn täuschen – Clockmon hatte sogar erzählt, dass ein Schwarzring-Digimon versucht hatte, Matt zu befreien, indem es sich in einem ausgeklügelten Plan selbst hatte versklaven lassen … Er hatte einen neuerlichen Hacker-Angriff erwartet, einen Hinterhalt von Willis, einen Überfall auf die Festung oder auf seine Flugrouten … aber niemals hätte er sich träumen lassen, dass ihn jemand innerhalb dieser schützenden Mauern heimtückisch vergiften könnte. Und diese Naivität hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Lebte so ein wahrer Herrscher? Ständig in Angst vor einem Attentat? „Wer hat das Essen zubereitet? Und den Wein?“, fragte Nadine Clockmon. „Das … Das muss Gotsumon gewesen sein, Herrin“, sagte das Uhrendigimon mit der Henkersmaske. „Unmöglich“, murmelte Ken. „Gotsumon … Dieses Gotsumon hat mich schon lange bekocht, es hätte gar keinen Grund …“ „Vielleicht hat man ihm eine hohe Belohnung geboten“, brummte Clockmon. „Jedes Digimon hat seinen Preis, sei er auch noch so hoch.“ „Ich …“, begann Elecmon vorsichtig, „ich habe vorhin etwas gesehen. Ich wollte zur Küche, mir einen Nachschlag holen. Da war ein Tapirmon, das aus der Tür huschte, gerade, als ich hinein wollte. Ich hab mir nichts dabei gedacht …“ „Sucht sofort nach diesem Tapirmon!“, befahl Nadine mit lauter Stimme. Ken fühlte sich noch nicht imstande, Befehle zu geben. Die Garde rauschte ab, und Nadine streichelte seinen Rücken. „Du hast mich echt zu Tode erschrocken. Geht’s wieder?“ Es gibt viele Tapirmon in Takashis Armee, erinnerte sich Ken. Hat er sich für Hiroshi rächen wollen? „Wir sollten alles, was wir essen und trinken, in Zukunft vorkosten lassen“, sagte er zähneknirschend. Nadine nickte. Und es hätte ein gemeinsamer, gemütlicher Abend werden sollen. Sein Mund brannte immer noch, als wären viele kleine Bläschen darin. Vielleicht war dem ja auch so.   Wir liegen zusammen am Ende der Nacht Die Geister, die wir riefen, waren wir Wir stehen am Abgrund und blicken hinab Die Tiefe hält uns nicht mehr (Faun – 2 Falken) Kapitel 35: Das Lied des Wolfes ------------------------------- Tag 106   „Ich beschwöre Euch, überlegt Euch das noch einmal. Ich traue ihm zu, dass er Euch mit bloßen Händen angreift, und er ist listenreich“, lag ihm Clockmon in den Ohren. Ken schwieg, als seine neue Leibgarde ihm zur Tür von Matts Zelle folgte. Es waren allesamt Champion-Digimon, kein Vergleich zur defensiven Wucht von Taomon, aber wenn die Feinde ein Tapirmon geschickt hatten, um ihn zu vergiften, würden sie ihn ohnehin nicht mit roher Gewalt überraschen. „Er ist wirklich gefährlich“, beharrte Clockmon. „Er hat in all der Zeit nichts von seiner Wildheit verloren. Er ist immer noch ein Eherner Wolf. Der Eherne Wolf. Nur wirklich geübte Kämpfer und geschickte Fallensteller können ihn bändigen.“ Genau diesen Satz hatte Ken von ihm erwartet. Seit er wieder in der Festung war, spielte es sich als großer Held auf und schielte auf die Ritterwürde, einen Titel und womöglich Land. Immer wieder durfte Ken sich anhören, wie genial Clockmon vorgegangen war, um den flüchtigen Matt wieder einzufangen. „Willst du damit sagen, ich bin nicht geübt und geschickt?“, fragte er schneidend. Das Uhrendigimon zuckte zusammen. „Natürlich nicht, ich …“ „Dann folgt meinem Befehl.“ „Ja, Eure Majestät. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich Euch natürlich beschützen.“ Sie standen vor der Tür, die zusätzlich vakuumverriegelt war. Wenn er sie öffnete, würde sie ein zischendes Geräusch von sich geben. Er streckte die Hand nach dem Schalter aus, als er von drinnen eine Stimme hörte. Matt sang, erkannte er, laut genug, dass er ihn durch die Tür hören konnte. Im Hintergrund erklangen sanfte Gitarrentöne. Offenbar hatte er sein Geschenk angenommen – wahrscheinlich aber nur, um sich die Zeit zu vertreiben. Er würde auch sofort aufhören, wenn er wüsste, dass Ken ihm zuhörte. „Wir mussten ihm eine neue bauen“, berichtete Clockmon. „Die alte hat er kaputtgeschlagen.“ „Schsch“, machte Ken. Er wollte warten, bis Matt aufhörte zu spielen. Wenn er ihn in die Verlegenheit brachte, genau dann hineinzuplatzen, wenn er auf seinem Geschenk spielte, wäre er sicher ungehalten. Während sie warteten, lauschte Ken Matts Gesang. Etliche der Lieder seiner Band waren in Englisch gehalten, wie er wusste, aber in Deemons Spiel gab es nur noch eine einzige Sprache, und dies hier war wohl eine Neukomposition.   „Stürmisch war die Nacht Sengend war der Tag als des Wolfes Rudel seiner Beute unterlag Ja, ich weiß was dein Joch verspricht Doch du bist nicht der der das Eisen bricht Einsam zwar, verlassen Der Wind das Schilf nur beugt Der Tag wird wieder kommen da der Wolf die Zähne zeigt   Wisse, deine Ketten fürcht‘ ich nicht Denn du bist nicht der der das Eisen bricht …“   Ken schluckte, als er die letzten Zeilen hörte. In dem Moment erkannte er, dass ein Gespräch keine Früchte tragen würde, und sein Mut, mit Matt zu reden, verblasste. Er straffte die Schultern. „Wir gehen“, sagte er und ließ die verdutzte Garde hinter ihm her zu seinen Gemächern zurückeilen.   Seine Kammer kam ihm kalt vor. Es liegt am Licht, dachte er. In Nadines Palast hatte er ein Fenster, und alles war hell und fröhlich. Er sollte wirklich überlegen, die Festung zu renovieren, oder sie gleich nur noch als Zweitwohnsitz benutzen. Er streifte sich die DigimonKaiser-Kleidung ab, hängte sie über den Stuhl und legte sich in Unterwäsche ins Bett. Dort blieb er wach und grübelte über den Mordversuch nach. Nadine und er hatten beschlossen, das Attentat nicht zu verheimlichen, sondern im Gegenteil öffentlich zu verkünden, dass sie ihr Essen nun vorkosten lassen würden. Das würde die Drahtzieher hoffentlich davon abhalten, es erneut zu versuchen und dabei ihre Vorkoster-Digimon zu töten. Ihre Digimon hatten die ganze Festung durchsucht, aber das Tapirmon war nirgends zu finden gewesen. Wahrscheinlich war es längst wieder auf dem Weg in seine Heimat. Weder auf dem Radar noch auf Überwachungskameras war es zu sehen, daher vermutete Ken, dass sich Takashi mit der Wissens-Armee verbündet hatte, die wieder sein System befallen hatte wie ein lästiger Parasit. Seufzend wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Er würde Zephyrmon noch mehr Truppen schicken müssen, um endlich die ermüdenden Grubenkämpfe rund um das Kolosseum zu beenden und das Herz des Server-Kontinents in seine Gewalt zu bringen. Fürst Musyamon würde sicherlich einige Rekruten entbehren, und Ken würde Botschafter durch sein Reich schicken, um Soldaten anzuwerben. Dabei wollte er doch heute gar nicht über den Krieg nachdenken … Der Tag war doch so gut verlaufen. Nadine hatte ihm ihre Liebe gestanden. Fast wog das mehr als die Gefahr, der sie beide ausgesetzt gewesen waren, aber nur fast. Seine Gedanken kreisten um seine Freunde. Tai und Sora waren mit Taomon unterwegs. Hoffentlich ging es ihnen gut. Er hatte nichts mehr von ihnen gehört, auch nicht von MetallPhantomon. Spadamon war auf der Ebene unterwegs, hatte ihm aber noch keine neuen Berichte geschickt. Irgendwo weit östlich von hier segelten zwei Kriegsflotten um die Wette, wer als Erstes die File-Insel erreichte, den einen Ort der DigiWelt, den er unter gar keinen Umständen verlieren wollte. Und irgendwo im Westen versteckten sich die beiden letzten Saatkinder. Und von Mimi und Yolei fehlte seit einer Weile ebenfalls jede Spur – von Kari und T.K. hingegen seit Spielbeginn. Wo mochten sie nur sein? Hatte Deemon sie gleich am Anfang irgendwie getötet, um ihn noch mehr zu entmutigen? Der Gedanke war so schrecklich, dass Ken den Kopf schüttelte, um ihn zu vertreiben. In dem Moment klopfte es an seine Tür. Er hob den Kopf. Zwei Starmon hielten Wache vor seiner Kammer, zur Sicherheit, und es gab nur eine Person, die sie durchlassen würden. „Komm rein“, sagte er und setzte sich auf. Die Tür glitt auf, ein Lichtstreifen aus dem Gang wurde breiter, ein dicker Strahl, der durch die Finsternis stach. „Ich hab dich doch nicht geweckt, oder?“ Als sie eintrat, wirkte Nadine wie ein Gespenst. Statt ihres Königinnenkleids trug sie ein blütenweißes Nachthemd und Pantoffeln, und sie sah blass aus. „Nein. Ich war wach.“ „Gut.“ Sie betätigte den Lichtschalter und dimmte die Deckenlampen dann auf ein dämmriges Halbdunkel. Die Tür schloss sich hinter ihr und für einen Moment stand sie verloren im Raum. „Ich konnte auch nicht schlafen. Ich habe ... nein, das kann ich nicht sagen. Das ist einer Königin nicht würdig.“ „Wir sind unter uns“, erinnerte Ken sie. Nadine atmete tief durch. „Gut. Dann geb ich‘s zu. Ich hab Angst, Ken. Ich will nicht alleine sein – zumindest nicht heute Nacht.“ Ein warmes Gefühl durchlief ihn, aber Nervosität nagte plötzlich daran. Nein, so meint sie das nicht. Es ist nichts dabei. „Du hast nichts zu befürchten“, sagte er trotzdem. „An deinen Digimon kommt ein einzelnes Tapirmon sicher nicht vorbei.“ Außerdem hatte sie im Moment sogar mehr Wachen als Ken; da die Versorgungswege zur Front immer noch unsicher waren, hatten die Hagurumon den größten Teil der Besatzung der Festung ausgeschickt, sie zu sichern und Karawanen zu bewachen. Erst in den nächsten Tagen würde Nadines neue Kavallerie, mit der sie RiseGreymon fangen wollte, mobil sein und sie ablösen. Sie zupfte an ihren Ärmeln. „Heißt das, du wirfst mich raus?“ „Natürlich nicht!“, sagte er schnell. „Willst du …“ „Ich würde gerne heute bei dir schlafen, wenn es dir nichts ausmacht. Es macht dir doch nichts aus, oder?“ „Ich ... Das ... Nein, das macht mir nichts aus.“ „Danke“, seufzte sie erleichtert und kam zögerlich näher. Ken rutschte zur Wand, damit sie unter die Decke kriechen konnte. Er spürte ihre Wärme und fühlte, wie sein Herz in seinen Schläfen pochte. Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. „Was ist mit Elecmon?“, fragte er, weil es das Erste war, das ihm einfiel. „Ist bei der Garde. Ich wollte es nicht mitnehmen. Ich habe sie alle wichtigen Gänge überwachen lassen.“ Ihn schauderte, als er ihre Hand auf seinem Rücken fühlte. Nadine presste sich gegen seine Brust, ihre Haare kitzelten seine Nasenspitze. „Ich weiß, ich bin sicher ... Aber hier bei dir fühle ich mich auch sicher. Nur heute Nacht, ja? Morgen bin ich wieder eine Königin. Lass mich nur heute Nacht ein kleines Mädchen sein, das ein wenig Schutz sucht.“ „Jederzeit.“ Und er gab sich einen Ruck und schloss die Arme um sie. Eng an sie geschmiegt, ihren Duft in der Nase, der ein wenig anders war als beim Abendessen, ihre Wärme fühlend und ihr Atmen, den sanften Lufthauch auf seiner Haut und das Heben und Senken ihres Brustkorbs … so fand er noch weniger in den Schlaf als vorhin, aber das störte ihn nicht länger. Irgendwann dämmerte er schließlich doch weg und träumte von wirren Dingen, von Wormmon und Nadine, aber auch von Kelchen. Immer wieder meinte er den Geschmack des Giftes auf der Zunge zu spüren, und einmal zuckte er so heftig zusammen, dass er aufwachte. Er lag auf dem Rücken. Das Licht war immer noch gedimmt, gerade so hell, dass er es in der Klinge des Messers spiegeln sah, ehe es herabfuhr. Es war ein Reflex, der ihn sich herumwerfen ließ, noch ehe er einen erstickten Schrei ausstoßen konnte. War der Traum noch nicht zu Ende? Das Messer bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch neben ihm in die Matratze. Als er aus dem Bett fiel, bemerkte er, dass Nadine nicht mehr neben ihm lag. Seine Beine verhedderten sich in der Decke, die seinen Sturz einen Moment lang abfing, ehe sie nachgab und er hart auf den Boden schlug. Für einen Moment sah er Sterne, sein Herz versuchte seinen Brustkorb mit stechenden Schlägen zu durchbrechen und jagte flüssige Glut durch seine Adern, und er meinte das Adrenalin auf seinen Sehnerven tanzen zu sehen. Sicher erblickte er nur deswegen Nadines Gesicht über sich, die Augenbrauen zusammengezogen, als das Messer in ihrer Hand wieder auf ihn herabstieß wie ein Greifvogel. Ken riss die Hände hoch, spürte einen brennenden Schnitt am Unterarm, eher er ihre Handgelenke packen konnte. „Verdammt, hast du Glück“, zischte sie. Er bäumte sich mit einem atemlosen Schrei auf, wollte sie von sich fortschieben, doch die Decke hielt seine Knöchel immer noch umfangen. Kaum dass er aufsprang, verlor er wieder das Gleichgewicht und landete mit Nadine wieder auf der Matratze. Sie nutzte seine vollkommene Orientierungslosigkeit, um sich und ihn herumzuwälzen und sich auf seine Brust zu knien. Das Messer schimmerte nur wenige Zentimeter über seiner Nasenspitze, nur von seinen eigenen Händen in der Schwebe gehalten, doch Nadine drückte es erbarmungslos tiefer. „Was … Was tust du da?“, stieß Ken ungläubig keuchend hervor. „Wenn Gift nicht funktioniert, muss wohl Stahl ran“, gab sie schwer atmend zurück und legte ihr ganzes Gewicht hinter das Messer. „Du warst …?“ Nein, das konnte nicht sein, das war unmöglich, er träumte noch immer … Während jede Faser seines Geistes vor Verständnislosigkeit und Ohnmacht aufbrüllte, zog sich dieser einzige Gedanke durch seinen Kopf. Nur ein Traum, es ist so unlogisch, dass es nur ein Traum sein kann … Als man ihnen den Wein gebracht hatte, war er schon vergiftet gewesen, natürlich, dieses Tapirmon war es … Nur Elecmon hat dieses Tapirmon gesehen. Ken biss die Zähne zusammen. Tränen wollten in seine Augen treten, während er an der Messerspitze vorbei in Nadines wild entschlossenes Gesicht blickte. Nein, sie hätte nie die Gelegenheit gehabt … Der Kuss. Er hatte die Augen geschlossen, und der Kelch stand direkt vor ihnen. Es war diese Erkenntnis, die ihn laut aufjaulen ließ und Bärenkräfte in ihm weckte. Er bäumte sich einmal mehr auf und stieß Nadine mit aller Macht von sich. Sie landete mit einem dumpfen Schlag am Boden, ihr blasser, zerbrechlicher, wunderschöner Körper … Ken sprang vom Bett, bekam sein DigiVice zu fassen und drückte auf seinen Connector. „Alarm!“, schrie er, konnte kaum glauben, was er da gerade tat … Er kam gar nicht auf die Idee, gegen sie zu kämpfen. Mit wenigen Schritten war er bei der Tür, die sich fauchend vor ihm öffnete. „Gib dir keine Mühe!“, rief Nadine ihm abfällig hinterher. „Du kannst mir nicht entkommen!“ Die Wachen, seine Wachen … Als er aus seiner Kammer stürmte, glaubte er, plötzlich freier atmen zu können, als ließe er einen grauenhaften Albtraum hinter sich. Doch es war noch nicht vorbei. Seine Starmon waren fort. Es gab ein paar Brandflecken dort, wo sie Wache gehalten hatten, als hätte sie irgendeine leise Attacke an Ort und Stelle pulverisiert. In der Ferne hörte er Schreie und Lärm. Dort wurde gekämpft. Und Nadines Truppen sind heute in der Überzahl. Ken stieß einen Fluch aus, und seine Stimme klang genauso verzweifelt und weinerlich, wie er sich fühlte. Wahllos rannte er nach links, folgte dem Gang, sprintete, so schnell er konnte, während sich Tränen unter seinen Lidern hervorkämpften und sein Blick verschwamm. Von seinem Schreck war er noch halb gelähmt, und er taumelte mehr, als dass er geradeaus lief. Ein Traum, ich träume nur, oh bitte, lass mich aufwachen … Nicht Nadine, warum sollte ausgerechnet sie so etwas tun? Er hörte ein Knacken in den Lautsprechern, die in der ganzen Festung angebracht waren. „Hier spricht die Königin“, erklang Nadines Stimme verzerrt. Sie musste das Kommunikationssystem in seiner Kammer benutzen. „Der DigimonKaiser ist auf der Flucht in den Gängen der Festung. Verriegelt alle Ausgänge. Lasst nicht zu, dass er entkommt.“ Ihre Stimme, die einst Balsam für seine wunden Nerven war, stach nun wie tausend Glassplitter in sein Herz. „Warum?“, rief er in den Gang hinein, als könnte er sie hören. „Warum tust du mir das an?“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als ein knarrendes Lachen in seinem Kopf immer lauter wurde. „Du bist zu leichtgläubig, Ken.“ Sofort versuchte er sich zu konzentrieren und Deemon seine Gedanken zu verschließen. Es funktionierte nicht. Obwohl er alles genauso machte wie immer, funktionierte es nicht. Deemon! Es saß am Rand seines Bewusstseins wie ein giftiger, schwarzer Polyp. „Hast du geglaubt, ich ließe mich so einfach aus deinem Kopf aussperren, Ken? Vergiss nicht, wer hier die Regeln gemacht hat!“ Die ganze Scharade, die zusammenfiel, stürzte tonnenschwer auf Ken ein. Das Lachen in seinem Kopf, das er endlich für alle Zeiten abgewehrt zu haben glaubte, dröhnte mit einem Mal so laut, dass er gegen die Wand prallte und sich erst nach Atem ringend sammeln musste. Irgendwo in der Ferne trötete eine Alarmsirene. Ken versuchte sich wenigstens auf dieses Geräusch zu konzentrieren. Dennoch hallte Deemons triumphales Lachen noch lange in seinen Ohren nach. Ziellos irrte er in der Festung umher, seine Gedanken um Nadines Verrat kreisend, ohne dass er verstehen konnte, warum sie so etwas tun könnte. Und was sollte er nun tun? Die Brücke, fiel ihm ein. Er musste den Hagurumon befehlen, irgendwie seinen Rückzug zu arrangieren, und seine Truppen koordinieren … Immer noch fühlte er sich wie in einem Traum, taumelnd in einem Meer aus Watte, bis endlich die schweren Türflügel vor ihm zur Seite glitten und er den Raum betrat, an dem er vor wenigen Stunden mit Nadine vor Devimons Rätsel gegrübelt hatte. Er trat sein, seine nackten Füße auf kaltem Metallboden … Ein Centarumon stand inmitten zerstörter und zerschossener Maschinen. Keines von Kens Digimon war noch am Leben. Der Zentaur erkannte ihn sofort und wandte sich zu ihm um. Er wusste, dass es Nadines Elecmon war, das er hier vor sich hatte. Aus Centarumons Hand wuchs eine Lichtkugel, und Ken wäre beinahe zu spät ausgewichen, so sehr zog ihn der Anblick der Verwüstung in seinen Bann. Der Energieball sauste neben ihm in den Türrahmen. Ken schrie auf, stolperte zurück und machte Hals über Kopf kehrt, irrte wieder wahllos in den Gängen der Festung umher. Keine Hufe verfolgten ihn, aber er wusste, er war nicht sicher, ehe er nicht im Freien war … Aber war er dort außer Gefahr? Gab es überhaupt noch irgendeinen Ort, an dem er in Sicherheit wäre? Mit wirbelnden Gedanken und einem bitteren Geschmack auf der Zunge wich er den Kampfherden aus, die er schon von weitem hörte, und gelangte irgendwann in Schlangenlinien zur Treppe um den Maschinenraum. Ohne die Macht der Dunkelheit, die die Festung bewegte, war es hier nicht kalt, sondern nur kühl. Der gewaltige Generator, der die Fliegende Festung fliegend gemacht und in dem Davis einst das DigiArmorEi des Wunders gefunden hatte, stand still. Deemon hatte klargemacht, dass er, selbst wenn er wieder eine Antriebsmöglichkeit fände, ohne den Zugang zur Macht der Dunkelheit nicht arbeiten würde. An einem der großen Sichtfenster, die rund um den Generator in jeder Höhe zu finden waren, hielt er an und rang nach Luft. Überall fühlte er das Seitenstechen, und bei jedem Atemzug hustete er mittlerweile. Zwei Ebenen weiter unten war ein Kampf im Gange. Durch die Luke sah er Clockmon, das sich als großer Kastellan aufgespielt hatte und nun von zwei Gargoylemon aus Nadines Garde in Stücke gerissen wurde. Kaum dass es sich in Daten aufgelöst hatte, trat auch Nadine selbst in sein Sichtfeld. Sie trug immer noch ihr Nachtkleid, gespenstisch weiß, und wurde von vier Revolvermon von der Felsenklaue begleitet – und sie blickte zufällig in Kens Richtung. „Da oben!“, rief sie. „Schießt!“ Wieder fühlte Ken diesen Stich, als er sich zu Boden warf und in Deckung rollte, während hinter ihm die Kugeln einschlugen. Nadine wollte ihn verletzen. Sie wollte ihn töten … Der Schnitt an seinem Unterarm brannte wieder. Kopflos rannte er die Treppe weiter und gelangte in eine große, finstere Halle. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, was das hier war: irgendein Hangar, in dem sich abholbereit Container mit Kriegsausrüstung und Schwarzem Granulat stapelten. Das gewaltige Tor aus DigiChrom war fest vakuumverriegelt. Dort lag die Freiheit, hinter dieser einen halben Meter dicken Hoffnungslosigkeit. Es war sicherlich vom Zentralcomputer aus verschlossen worden. Nie und nimmer würde er es aufbekommen. Ken ließ sich mutlos auf einem der Container nieder und schluchzte. Er wollte nicht mehr. Alles war dahin, all sein Vertrauen und seine Liebe zu Nadine waren eine Verschwendung gewesen. Dass das nur ein schlimmer Traum war, glaubte er selbst nicht mehr. Wenn du reden willst, ich höre dir zu. Sooft du willst. Das hatte sie gesagt, irgendwann einmal. Er hatte sich so oft an ihrer Schulter ausgeweint, sie hatte ihn so oft getröstet, seine dunklen Gedanken vertrieben … Ich will gerne in deiner Nähe blieben. Ein neuerlicher Schluchzer entfuhr ihm, als er das Gesicht in den Händen vergrub. In der Dunkelheit rückten die Schatten näher. War das alles gelogen gewesen? Er konnte es nicht begreifen! Ich liebe dich, Ken. Ich liebe dich … Irgendwo in der Ferne knirschte und quietschte etwas, aber er hatte nicht die Kraft, weiter davonzulaufen. Vielleicht würden sie ihn hier nicht finden. Vielleicht würden sie ihn hier einfach in Ruhe lassen, den zerbrochenen Kaiser mit dem zerbrochenen Herzen, der für niemanden mehr eine Gefahr war. Ich bin froh, dass du zu mir zurückgekommen bist. Sie war alles gewesen, was ihm nach Wormmons Tod geblieben war, das letzte bisschen Menschlichkeit in dieser kalten, rauen Welt … Du bist nicht allein, Dummkopf. Du hast doch noch mich. Ich bin immer bei dir, vergiss das nie. Er hielt es nicht mehr aus. So fest raufte er sich die Haare, dass es wehtat, als er laut in die Dunkelheit schrie: „Warum? Warum, Nadine? Erkläre es mir, bitte!“ „Du willst eine Erklärung? Schön.“ Ken fuhr herum. Dort, wo das Licht vom Flur in den Hangar fiel, stand sie, Kleid und Haut mit der Helligkeit, das Haar mit den Schatten verschmelzend. Für einen Moment, als er ihr Gesicht sah, glaubte Ken, es wäre tatsächlich wieder alles in Ordnung und sie würde im nächsten Augenblick über einen Scherz lächeln, trotz des kalten Tons in ihrer Stimme. Doch als hinter ihr ein halbes Dutzend Digimon aufmarschierte, darunter ihr Centarumon, wurde diese Illusion zerfetzt wie Spinnweben im Wind. Etwas surrte, und die Deckenlampen flammten auf und betonten, wie armselig Ken allein in dieser Halle hockte. „Es ist eigentlich ganz einfach“, sagte Nadine und trat näher. „Sieh dich nur an. Lächerlich, wie du hier einen auf Drama-Queen machst. Weißt du eigentlich, wie schwer es war, die ganze Zeit an deiner Seite ernst zu bleiben? Dir in allem zuzustimmen, obwohl du als Einziger keine Ahnung hast, was hier eigentlich läuft?“ „Wie … meinst du das?“, fragte Ken heiser. Nadine lachte trocken. „Was glaubst du, wie wenig ich begeistert war, als Deemon mir aufgetragen hat, mich an dich ranzumachen. Du bist einfach nur ein Spielverderber – wenn du endlich aus dem Weg geräumt bist, werden wir anderen noch viel Spaß mit der DigiWelt haben. Warum zur Hölle glaubst du nur, das hier wäre real? Du bist doch nicht ganz dicht.“ „Nein …“, hauchte Ken kraftlos. „Das kann nicht sein … Warum …?“ Deemon hatte alle Saatkinder umgekrempelt, natürlich – wie hatte er nur glauben können, bei Nadine wäre es anders gewesen? Oder hatte sie recht? War in Wirklichkeit er es, der verrückt war? War das Ganze nur ein Spiel, wie Hiroshi gesagt hatte? Sie lachte wieder, ihr helles Lachen, das er so geliebt hatte. „Du solltest dein Gesicht sehen. Warum? Deemon hat es uns doch über Hiroshi ausrichten lassen. Du bist zu mächtig geworden, und es war an der Zeit, dass dein Kaiserreich fällt. Es ist vorbei, mein Lieber. Deine Festung steht so gut wie unter meiner Kontrolle, und die Digimon sind es mittlerweile so gewohnt, von mir mitregiert zu werden, dass sie den Verlust ihres Kaisers verschmerzen werden. Allerdings werde ich wohl deine Türme wieder durch meine ersetzen. Deine sind mir nämlich ein wenig unheimlich – du hast mit deinen Schwarzen Ringen und deinen Schnellbau-Türmen ja einen ungehörigen Startbonus von Deemon bekommen.“ Sie zwinkerte ihm zu. Ken konnte von Sekunde zu Sekunde weniger glauben, was er da hörte. „Dann war das … War alles zwischen uns … gelogen?“ „Nicht alles.“ Plötzlich war sie wieder ernst. „Du bist mir schon sympathisch und so – auch wenn ich ein wenig übertreiben musste. Und als du so eine Szene um dein ach so armes Wormmon gemacht hast, hab ich tatsächlich versucht, mich in dich einzufühlen. Wie würde ich denken, wenn meinem Partner etwas zustößt?“ Sie legte Centarumon die Hand auf die Flanke und lächelte dann hämisch. „Ich habe übrigens gehofft, dass du dich tatsächlich vom Turm stürzen würdest. Es würde mich brennend interessieren, ob du es getan hättest, wenn du mich nicht gesehen hättest.“ Ken biss die Zähne zusammen, dass sie schmerzend knirschten. Sein Unterkiefer zitterte, neue Tränen liefen über seine Wangen, diesmal auch von Wut durchtränkt. Nicht nur, dass sie wie alle anderen glaubte, das hier wäre nur ein Spiel – sie hatte auch mit ihm gespielt. Mit seinem Leben. „Genug der Worte, es gibt noch viel zu tun“, sagte Nadine und winkte ihre Soldaten näher. „Ohne dich fängt das Spiel erst richtig an.“ Sie schenkte ihm noch ein verschmitztes Lächeln. „Wenn du willst, können wir uns wirklich mal im echten Leben treffen. Ich nehme an, du wirst in Kürze vor deinem Computer aufwachen. Tötet ihn.“ Ken verspürte für einen Augenblick den Wunsch, sich mit einem Schrei auf sie zu stürzen, doch die Waffen der Digimon, die sich auf ihn richteten, ließen ihn den Impuls umkehren. Der Schrei verließ dennoch seine Kehle, als er sich rücklings über den Container rollte. Revolverkugeln schlugen dumpf darin ein, und eine Energiekugel von Centarumon durchdrang den Behälter. Ken fühlte die Hitze auf der Haut, als sie auf seiner Seite knapp neben seiner Schulter wieder auftauchte, dann hörte er das Granulat aus dem Container rieseln. Und fasste einen letzten, verzweifelten Plan, der nur durch die Sturheit geboren wurde, mit der er sich weigerte zu glauben, was er eben gehört hatte. Er rannte weiter, tiefer in den Wald aus Containern, immer Deckung suchend, und gelangte nahe an das Schleusentor. Hinter ihm spritzte und regnete es Granulat, die Schüsse hallten laut wider, und Nadine rief ihre Befehle. Noch ein Behälter wurde gesprengt. Ken öffnete mit ganzer Kraft die Drehriegel auf den beiden nächsten, stemmte sich dagegen und kippte ihren Inhalt auf den Boden, bis er in glänzend schwarzen Dünen watete. Dann richtete er sein DigiVice darauf. Das Granulat schlug Wellen unter seinen Füßen und nahm Form an. Komm schon, komm schon, schneller! Ein Schwarzer Turm wuchs direkt neben ihm in die Höhe, dick und mächtig wie ein uralter Baum. Nadines Truppen kamen näher, Schüsse schlugen Kerben und Löcher in die glatte, schwarze Oberfläche. Der Turm erreichte die Decke des Hangars und fraß sich schabend hinein. Das schwarze Material war nicht ganz so stabil wie der Stein, aus dem die Festung hier war, aber auch gewöhnlicher Sand und Steinmehl rieselten auf Ken herab. Sein DigiVice sandte das kalte, schwarze Licht aus, als er noch inniger flehte. Bitte, komm schon, los, los, los! Was vom Turm oben abbrach, wuchs unten nach, und irgendwann hörte Ken das verheißungsvolle Knirschen, als der Turm den Stein durchbrach. In dem Moment kam Centarumon an den Containern vorbei, auf seinem Rücken saß Nadine. Ihr grimmiger Blick streifte seinen. Ich liebe dich, Ken. „Ich war so dumm“, flüsterte er bitter. Centarumon schoss als Allererstes auf den Schwarzen Turm, als ahnte es, dass Ken irgendetwas vorhatte, doch noch bevor die Lichtkugel ihn erreichte, wanderten elektrische Blitze über seine Oberfläche, als seine Spitze das Kabelgeflecht in der Decke durchstieß und die Verriegelung des Schleusentores kurzschloss. Mehrere Lichter auf dem Tor begannen wild durcheinander zu blinken, und es öffnete sich gerade ein klitzekleines Stückchen … Ken rannte wieder los, fort von seinen Verfolgern, seiner Herrschaft, seinem Kaiserreich. „Bleib sofort stehen! Du hast verloren!“, rief Nadine ihm hinterher. Er dachte an ihr Lächeln und weinte stumm. Durch den Spalt im Hangartor wurde heftig Sand hereingeweht. Dahinter war es stockdunkel, und ein prasselnder Wind heulte. Obwohl er wusste, dass er sich in der oberen Hälfte der Festung befand, sprang Ken nach draußen.   Second time your evil soul filled my mind with these black holes We were close to see your end, but now I hear your voice again You were waiting for surrender, found yourself a big pretender Can you hear the sound of rain? It keeps my mind away from pain (Celesty – Legacy of Hate Part 3) Kapitel 36: Bohnen und Bohnen mit Speck --------------------------------------- Tag 107   Er hatte Glück im Unglück. Der Sturm draußen hatte hohe Sandwehen vor der Festung aufgeschichtet, und in eine davon fiel Ken. Noch während seines Falles verlor er das Bewusstsein und erwachte erst am Fuße der Düne, Sand und Staub in Mund und Nase und Ohren und einem brennenden Schmerz im Oberschenkel. Ein scharfkantiges Metallstück, das halb im Sand begraben lag, hatte ihm sie Haut aufgeritzt. Nur wenig Blut hatte den Sand rot gefärbt, lange war er also nicht bewusstlos gewesen. Er kniff die Augen zusammen und sah sich um, versuchte in den tobenden Sandmassen etwas zu erkennen. Ein grauer, unförmiger Kasten zog seinen Blick förmlich an. Auf allen Vieren kroch er durch den Sand und fand die Überreste eines Mekanorimons. Es war wohl einmal eines seiner Digimon gewesen. Nadines Truppen hatten auch außerhalb der Festung Tod und Zerstörung gesät. Sicherlich waren all die Türme in der Nähe schon zertrümmert. Ken betrachtete die leere Metallhülle. Sie hatte sich noch nicht aufgelöst, vielleicht lebte das Digimon noch. Mekanorimon waren in dieser Hinsicht seltsam. Dieses hier hatte wohl jeden freien Willen verloren und lag nur mit abgebrochenen, verkohlten Gliedmaßen im Sand herum. Aus seinem Inneren kräuselte sich eine dünne Rauchfahne, und ab und zu blitzten die Armstummel elektrisch auf. Kurzerhand zog sich Ken ins Innere. Selbst ohne ihr Zutun konnte man Mekanorimon steuern. Die Kopfklappe war verschwunden, also war es auch in den Eingeweiden des Metalldigimons voller Sand. Ken fand dennoch die richtigen Knöpfe, um das Jetpack zu aktivieren. Stotternd reagierten die Maschinen. Er machte sich nichts vor: In diesem Sturm war es Wahnsinn, mit einem beschädigten Digimon zu fliegen. Andererseits – was blieb ihm noch, außer Wahnsinn? Er schaffte es, das Mekanorimon in die Höhe zu manövrieren. Er hatte keine Anzeige, wo es hinflog, also drückte er die Steuerknüppel auf gut Glück und spürte den Flugwind, der bei der Öffnung herein pfiff. Eine Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu, es doch gut sein zu lassen. Er hatte alles verloren, es war vorbei. Er konnte nirgendwo hin, jedermann in der DigiWelt hasste ihn. Ohne seine Festung war er ein Nichts. Irgendwann krachte er mit dem Mekanorimon wieder in eine Düne, die ungewöhnlich hoch vor ihm aufragte. Erschöpft und zerschlagen schloss er die Augen, während Sand auf ihn rieselte. Ein Grab in der Wüste. Das hier war schon immer sein Kaisergrab gewesen.     Izzy saß mit Joe an einem der Plastiktische in der Mensa, die an den großen Rechnerraum grenzte – und die er nur deswegen so nannte, weil es dann nicht so ungemütlich klang, wie es war. Tagein, tagaus riss die Pioniertruppe neue Konservendosen auf. Heute waren es Bohnen mit Speck. Wäre nur etwas weniger von Letzterem vorhanden gewesen, hätte man sie explizit Bohnen ohne Speck nennen müssen. Und sie schmeckten grauenhaft. Joe beklagte sich nicht, also hielt auch Izzy den Mund, obwohl er die scharfe Soße kaum hinunterbekam. Gomamon war ehrlicher und hielt sich sehr mit seiner Portion zurück, und selbst Tentomon schien auf Diät zu sein. Anfangs hatte Joe Izzy noch ermahnt, für ausgewogenere Ernährung zu sorgen, doch woher sollten sie die nehmen? Die Voxel-Stadt hatte selbst erstaunlich schlechte Lebensmittelvorräte. Was es nicht in Supermärkten gab, wurde wohl bisher erst gekauft, wenn es gebraucht wurde. Und was Izzys Digimon von dort geholt und in einem gekühlten Lagerraum gebunkert hatten, musste unter Umständen lange reichen, weshalb alles streng rationalisiert wurde. Nur Konservendosen hatten sie im Überfluss. Izzy fühlte sich, als würden sie sich auf eine Belagerung einstellen, obwohl niemand wusste, dass sie überhaupt hier waren. Das Blinken seines Laptops, den er selbst beim Essen neben sich stehen hatte, war ihm eine willkommene Abwechslung von dem fahlen Geschmack in seinem Mund. Überrascht merkte er, dass die Basis ihm eine Nachricht geschickt hatte, und er war noch überraschter, als er den Inhalt las. „Schlechte Neuigkeiten?“, fragte Joe, der seinen Blick bemerkte. „Gute Frage“, sagte er. „Genau genommen könnten sie nicht besser sein, aber … So ganz glauben kann ich sie nicht.“ Im Geiste überschlug er die Möglichkeiten, die er hatte. Willis und Michael kamen ihm als Erstes in den Sinn. Ja, am besten überließ er die Sache Michael, denn der war im Moment bei Mimi, der geflohenen Prinzessin. Sollte er die Sache mit ihr klären. Soweit Izzy wusste, waren sie nun nach langen Diskussionen mit der Basis auf dem Weg zum Band nach Norden, um dort ein Whamon zu mieten und dem DigimonKaiser einen Nadelstich zu verpassen. Gespannt, wie sich die Neuigkeiten auf ihre Pläne auswirken würden, funkte er Michael an.     Er war wohl eingeschlafen. Als er aufwachte, was es heller geworden, und er hörte den Sturm nicht mehr heulen und keine Sandkörner mehr gegen den Metallkörper seines Fluggeräts prasseln. Einmal mehr raffte er sich dazu auf, das Jetpack zu aktivieren, ohne recht zu wissen, warum. Er flog hoch in die Höhe, und die Metallkarosse des Mekanorimons ächzte empört. Wahrscheinlich gab bald alles an diesem Digimon den Geist auf. Wahllos flog er in eine Richtung weiter … Als er das nächste Mal erwachte, lag er ein, zwei Meter außerhalb des Mekanorimons an einem Felsen, bis zu dem er sich wohl geschleppt hatte. Die Sonne stand hoch am strahlend blauen Himmel. Er hatte keine Ahnung, wo er war, aber das war nur gut so. So konnte Deemon es wenigstens nicht Nadine verraten. Nadine … All die Erinnerungen kamen wieder in ihm hoch, vor allem die schönen, die warmen … Sie hatte wohl seine Radargeräte zerstört und konnte ihn deshalb nicht finden. Sonst hätte sie längst jemanden nach ihm geschickt. Wahrscheinlich wunderte sie sich, wohin er verschwunden war – oder sie hatte längst die richtigen Schlüsse gezogen. Seufzend sank Ken in sich zusammen. Er fühlte sich übel, schmeckte Galle auf der Zunge. Das ist der Geschmack des Verrates, dachte er. In welche Richtung er auch blickte, er fand nur das ewige Sandmeer – oder war dort, in dieser Richtung, nicht auch ein wenig Grün dabei? Ken überlegte, ob er in diese Richtung kriechen oder noch einmal das Mekanorimon anzuwerfen versuchen sollte. Aber er war es leid. Er war es leid zu fliehen, weiterzukämpfen, einfach alles. Er war besiegt. Wenn er Glück hatte, würden die Saatkinder ihre dunkle Herrschaft nicht lange ausüben. Vielleicht konnte Leomon etwas gegen sie ausrichten. Nein, Leomon kämpfte auf der File-Insel gegen Devimon … Tai? Der war in Gefangenschaft. Wer war noch übrig? Ken lief plötzlich eine Träne über die Wangen. Was hatte er nur getan? Er hatte all seine Freunde festgesetzt, alle, die ihm eine Gefahr darstellten, bezwungen. Und nun war niemand mehr für die DigiWelt übrig. Izzy, fiel ihm ein. Vielleicht schaffte er es. Irgendwie, durch ein Wunder, wenn die Wissens-Armee die Schwarzen Türm zerstörte, würde Deemon lange brauchen, ehe es seine alte Stärke wiederhatte. Vielleicht würden Ken und seine Freunde den Untergang der DigiWelt dann nicht mehr miterleben … Aber es war ein steter Fluch, der auf Der DigiWelt lag, ein dunkles Versprechen, das nur dann nicht erfüllt würde, wenn Ken siegte. Und das konnte er nicht. Nicht mehr. Die Sonne wollte ihm die Haut vom Leib schälen. Das merkte er, als er das nächste Mal erwachte. Dabei wollte er nur noch schlafen, es hatte ja doch alles keinen Sinn. Wormmon war tot, Nadine hatte ihn verraten. Er war nur noch ein Sandkorn in dieser Wüste. Trotz der Hitze war ihm eiskalt, und er zitterte. Der Sand klebte sich an seine wunde Haut und brannte. Nein, er brauchte Schatten … Mit fiebrigen Gedanken, nicht mehr wissend, wie spät es eigentlich war, kroch er um den Felsen herum, fand einen schattigen Fleck und legte sich dort in den Sand. Eingraben, kam ihm in den Sinn, unter dem Sand ist es kühler. Wozu? Das nächste Mal erwachte er, als der Himmel blutrot war und ihn jemand prüfend mit dem Fuß in die Seite stieß. „Sieh mal an, was hier am Rand der Wüste so herumliegt.“, sagte eine Stimme. Ken blinzelte. Kannte er diese Stimme? Ein blonder Haarschopf beugte sich über ihn, und Willis‘ eisblaue Augen funkelten ihn amüsiert an.     „Wie sieht es in der Stadt aus? Hat sich die Lage beruhigt?“, fragte die Königin. Die letzten königlichen Nachrichten hatte man Cody stets per Papier oder Boten gesendet; es war ungewöhnlich, dass sie ihn nun über den großen Plasmabildschirm kontaktierte, der damals als Übertragungsmedium für Arenakämpfe in die Loge jener Digimon gedient hatte, die nicht in die brütende Hitze und den Lärm im Freien treten wollten. „Ziemlich. Der Wiederaufbau schreitet sehr gut voran. Dinohyumon hat ganze Arbeit geleistet“, berichtete Cody. Dinohyumon war der neue Bürgermeister der Stadt und selbst ein ehemaliger Arenasklave. Cody war sein persönlicher Innenminister geworden – oder zumindest etwas in der Art. Gemeinsam mit anderen engagierten Digimon wollten sie Masla zu neuer Blüte verhelfen. Es war anstrengend, sehr anstrengend, aber die Arbeit schritt voran und lohnte sich. Königin Nadine sah aus, als hätte sie in den letzten Nächten kaum geschlafen. Das Bild war nicht frei von Störungen, aber hier in der abgedunkelten Loge konnte man deutlich sehen, wie blass sie war. „Gut“, seufzte sie. „Und die Sklavenhändler?“ „Die verhalten sich ruhig – noch. Ich weiß, dass sie insgeheim Treffen im Untergrund abhalten und Pläne schmieden. Dinohyumon glaubt aber nicht, dass es in nächster Zeit zu Ausschreitungen kommt.“ Das schien der Königin zu denken zu geben. „Versucht, sie ausfindig und mundtot zu machen. In unserer gegenwärtigen Lage können wir keine Revolte gebrauchen.“ „Majestät … Ist etwas geschehen?“, fragte er vorsichtig. Sie und der Kaiser hatten ihm angeboten, sie ganz informell anzusprechen, aber im Moment hielt er es für klüger, Distanz zu wahren. Sie sah ihn mit müden Augen an. „So kann man es wohl sagen. Das ist der Hauptgrund, weswegen ich dich sprechen wollte. Du hast unserem Reich die Treue geschworen. Ich wollte dich fragen, ob du immer noch hinter diesem Schwur steht.“ Cody nickte. „Ich glaube, dass Ihr und der DigimonKaiser Euer Bestes für die Digimon tut. In letzter Zeit habe ich am eigenen Leib erfahren, wie schwierig es ist, für andere zu entscheiden. Eine Stadt zu regieren, das ist … Es geht nicht ohne Kompromisse. Und ein ganzes Reich ist wieder eine völlig andere Hausnummer.“ „Gut.“ Die Schwarze Rose klang zufrieden. „Dann werde ich es dir sagen. Der Kaiser ist tot.“ „Tot?“, fragte Cody entgeistert. „Ein Attentäter des Einhornkönigs hat ihn ermordet. Es ist eine sehr betrübliche Nachricht, vor allem für mich“, bekräftigte sie, „aber neben aller Trauer müssen wir dafür sorgen, dass die Lage im Reich stabil bleibt. Daher ist es mir wichtig, dass du hinter mir stehst.“ „Ich …“ Cody stotterte ein wenig herum. „Das kommt sehr überraschend …“ „War es auch. Das kannst du mir glauben.“ Sie strich sich über die Augen. „Es liegt nun an mir, das Reich alleine zu regieren, aber ich werde es schaffen, wenn jeder von euch weiterhin sein Bestes gibt.“ „Ihr habt mein ehrliches Mitgefühl. Ich halte natürlich weiterhin zu Euch.“ „Danke.“ „Soll ich es den Bewohnern von Masla erzählen?“, fragte er. Die Königin überlegte. „Das überlasse ich dir. Es ist besser, wenn das Volk die Wahrheit kennt, sonst bilden sich nur unschöne Gerüchte. Aber ich will auch nicht, dass sich deine Sklavenhändler ermutigt fühlen, eine Revolte zu üben.“ Cody nickte. „Überlasst das mir und Dinohyumon. Wir werden schon den richtigen Zeitpunkt finden.“ „In Ordnung. Ich werde noch eine offizielle Verkündung und Trauerfeierlichkeiten vorbereiten. Sollte sich die Lage zu unseren Ungunsten entwickeln, benachrichtige mich. Wir können ruhig wieder Videoübertragung benutzen; ich glaube, unsere Systeme sind mittlerweile virenfrei.“ Cody verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung, dann verblasste das Bild. „Du hattest recht“, sagte er in die Dunkelheit der Loge hinein. „Nicht wahr?“ Spadamon trat aus einer Nische auf ihn zu. „Ich kann den Kaiser nicht mehr auf seinem Connector erreichen, also muss wirklich etwas passiert sein. Ich finde das sehr seltsam.“ „Sie hat gesagt, ein Attentäter hätte ihn ermordet.“ „Das hat sie dir gesagt, und vorher schon Fürst Musyamon, Rockmon, dem Bürgermeister der Arkadenstadt, und wichtigen Persönlichkeiten auf dem Stiefel. Interessant ist, was sie ihren Feinden mitgeteilt hat. Heute Morgen ist mindestens dem Einhornkönig, der Wissens-Armee und den Spionen des Nördlichen Königreichs und wer weiß, wem nicht sonst noch, eine geheime Nachricht ins Netz gegangen, wonach der DigimonKaiser sich in der Kaiserwüste auf der Flucht befinden würde. In Unterwäsche. Ja, das hat sie auch gesendet. Die Nachricht war so präpariert, dass sie aussah wie eine interne Notmeldung, die nur zufällig nach draußen gesickert ist.“ Cody kaute auf seiner Unterlippe. „Aber kann es nicht tatsächlich so gewesen sein? Vielleicht hat der Attentäter Ken … dem DigimonKaiser wirklich in der Wüste aufgelauert, er musste fliehen, und wurde dann trotzdem erwischt?“ Spadamon schien auf dieses Argument gewartet zu haben, denn es hob besserwisserisch die Pfote. „Ah, aber diese Nachricht hat intern überhaupt niemand empfangen. Nur unsere Feinde haben sie in die Hände bekommen. Seltsam, nicht? Und außerdem, warum sollte sie den Soldaten sagen, dass ihr Kaiser in Unterwäsche unterwegs ist? Falls er in Gefahr wäre, würden sie das ja wohl merken, egal, wie er aussieht, und alle aggressiven Handlungen unterbinden. Auf mich wirkt es eher so, als wollte sie unseren Feinden genaue Beschreibungen liefern, damit sie den DigimonKaiser auch tatsächlich erkennen, wenn sie ihn vor sich haben.“ Cody ließ sich auf die Sitzbank hinter ihm sinken. Sie war kühl und hart; die Samtkissen und den anderen Prunk der Arena waren verkauft worden, um den Wiederaufbau der Stadt zu fördern. „Du willst also behaupten, sie steckt selbst hinter dem Attentat, und will nur die Macht an sich reißen?“ „Wir sollten es annehmen. Ich habe keinen Kontakt mehr zur Festung in der Kaiserwüste. Anscheinend haben sie dort erhebliche technische Schwierigkeiten. Ein Wunder, dass sie uns über diesen Bildschirm erreichen konnte. So einen Schaden richtet kein einzelner Attentäter an, wenn es nicht irgendein überstarkes Haudrauf-Digimon ist. Der Armee hat sie übrigens noch gar nichts gesagt. General Zephyrmon steht fest hinter dem DigimonKaiser, das ist bekannt. Wahrscheinlich fürchtet sie, dass es auch hinter die Wahrheit kommen könnte.“ Cody verschränkte die Arme im Nacken und dachte nach. Wie damals, als er dem Herrscherpaar zum ersten Mal begegnet war, wusste er nicht, was er von den beiden halten sollte. Sie hatten ein wenig verschroben gewirkt, aber wie ein Herz und eine Seele. Und nun sollte ein so niederträchtiger Verrat an oberster Stelle stattgefunden haben? Er durchforstete sein Gewissen. Bedrückte ihn der Tod des DigimonKaisers, des Menschen, der von so vielen Digimon verflucht, aber, wie er wusste, von vielen auch angehimmelt wurde? Ja. Er war kein schlechter Mensch. Er hat Masla befreit und mir und Chichos eine Zukunft gegeben, und er hat versprochen, nach Armadillomon und Gotsumon zu suchen. Wenn Nadine ihn tatsächlich hintergangen hatte, würde er ihr das nie verzeihen. „Und was sollen wir jetzt tun? Einfach mitspielen?“, fragte er Spadamon. „Ich bin nur ein einfacher Informant. Ich treibe die Wahrheit auf und lasse sie die hören, die sie interessieren könnte“, sagte der weiße Löwe mit der blauen Rüstung. „Die Entscheidungen müssen die anderen treffen.“ „Bleibt uns denn überhaupt etwas anders übrig, als so zu tun, als wüssten wir nichts?“ Cody musste auch an Masla denken. Die Digimon erlangten gerade wieder so etwas wie Wohlstand – gerechten Wohlstand diesmal, keinen auf Sklavenschweiß fußenden. Verrat hin oder her, sie wollten keine weiteren Kämpfe mehr. Sie wollten ihr Leben wieder in Ordnung bringen und es möglichst unbehelligt führen. Spadamon zuckte mit den Schultern. „Ob Kaiser oder Königin, wir gehören zum Reich. Es wird sich nicht viel ändern.“ Nein, aber das Reich würde von einer Lüge regiert werden. Das ging Codys Gerechtigkeitssinn gehörig gegen den Strich, aber er dachte an Masla und die Verantwortung, die auf seinen Schultern lag, und schwieg. Vorerst.     Der Hitze des Tages folgte die Kälte der Nacht, und es war eine gute Idee von Willis gewesen, ein Feuer zu entzünden. Der Zwillingsritter rührte mit einem hölzernen Löffel in einer einfachen Blechpfanne herum und schöpfte Ken eine Portion gebratener Bohnen in seine Schale, wo sie mit einem Schmatzen landeten und verführerisch dufteten. Dann setzten sie sich nebeneinander vor das Feuer, neben das Zelt, das Willis im Schutz der Felsen aufgebaut hatte, und aßen. Die Bohnen waren heiß, aber es tat wahnsinnig gut, etwas Heißes in den Magen zu bekommen. Ken hatte gar nicht bemerkt, wie hungrig er war. Als Willis ihn gefunden hatte, hatte er geglaubt, der Zwillingsritter würde ihm sofort an die Gurgel gehen. Egal, wer ihn gefunden hätte, Ken hätte von jedem erwartet, dass er ihm an die Gurgel ging. Aber Willis hatte ihn wohl nicht erkannt. Er bot auch einen denkbar jämmerlichen Anblick: nur in Unterwäsche, schmutzig und verletzt und überall am Körper von Sand bedeckt, und dazu kamen noch die aufgerissene, gerötete Haut und sein stumpfer Blick. Selbst sein Connector war kaputt, wie er bemerkt hatte, das Gehäuse war gesprungen und an der Innenseite geschwärzt, also hatte er ihn in einem unbeobachteten Moment im Sand vergraben. Sein Haar war unordentlich – zu seiner neuen DigimonKaiser-Kostümierung gehörte zwar nicht länger die ursprüngliche Perücke, aber seine Mähne war so zerzaust, dass nur noch die Farbe daran erinnern mochte, und seine Stimme war so rau, dass er sie gar nicht zu verstellen brauchte. Innerlich lachte er bitter über sein Schicksal. „Dann erzähl mal“, sagte Willis. „Woher kommst du? Man findet nicht oft Menschen, die in Unterwäsche durch die Wüste irren. Du legst es wohl darauf an, nicht nur einen Sonnenstich zu bekommen, sondern gleich bei lebendigem Leib geröstet zu werden, was?“ Er lachte. Willis hatte Ken eine Decke gegeben, die er sich über die Schultern geworfen hatte. Einen Sonnenstich hatte er bereits mit Sicherheit. „Ich musste fliehen“, sagte er und klang so deprimiert, wie er sich fühlte. Was mache ich überhaupt? Ich sollte mich ihm zu erkennen geben, dann hat alles ein Ende. Warum kämpfe ich überhaupt noch? Und wofür? „Dass du nicht zu einem wohlvorbereiteten Abenteuer aufgebrochen bist, sehe ich“, meinte Willis lächelnd. „Wie heißt du?“ Nun hieß es aufpassen. Deemon hatte seinen vollen Namen vielleicht sogar publik gemacht. Er durfte keinen nennen, der Willis irgendwie bekannt vorkommen könnte. „Takahashi“, sagte er. Der Nachname einer Vorschullehrerin, die er einst hatte. „Und du?“ „Sie nennen mich den Zwillingsritter.“ Willis strich sich durch das Haar. „Du hast sicher von mir gehört. Aber nenn mich Sir Willis. Und lass das Sir auch gleich weg. In der Wüste sollte man unnötige Anstrengungen vermeiden, und übertriebene Höflichkeitsfloskeln gehören sicherlich dazu.“ Ken nickte. „Willis.“ Willis‘ Digimon kamen in sein Blickfeld, sie tollten herum und jagten einander über die Dünen, lachend und unbeschwert. Kaum zu glauben, dass sie Ken bereits so erbittert bekämpft hatten. Sie haben Wormmon getötet. „Du hast nicht zu Ende erzählt“, riss Willis ihn aus seinen Gedanken. „Woher kommst du?“ Ken schluckte ein paar Bohnen hinunter. „Aus der Arkadenstadt“, sagte er, es war das Erste, das ihm einfiel. „Echt?“ Willis lachte. „Da hat es dich aber ganz schön weit in den Süden getrieben, Mann.“ „Ich habe die Orientierung verloren.“ „Was sonst, bei dem Sturm? Sei froh, dass du nicht weiter nach Osten abgekommen bist. Du wärst dem DigimonKaiser in die Arme gelaufen. Ich vermute mal, du bist vor seinen Digimon geflohen, oder?“ Ken nickte. Warum nicht? Ein gemeinsamer Feind würde sie zu Verbündeten machen. „Der Zwillingsritter kämpft für die Wissens-Armee, oder? Du bist auch ein Feind des DigimonKaisers.“ „Das kannst du laut sagen.“ Willis stellte seine Pfanne weg und lehnte sich seufzend zurück. „Wir sind sogar Erzfeinde, könnte man sagen. Schon einige Zeit.“ Nein, sind wir nicht. „Warum?“ Willis betrachtete die Sterne, die über ihnen erschienen waren. Die Aussicht auf den Nachthimmel der Wüste war wunderschön. Ken hatte nie Zeit gehabt, sie zu schätzen. „Du hast meine Digimon gesehen?“, fragte Willis. „Ja. Warum hast du eigentlich zwei?“ Er schnaubte. „Warum? Darum. Es sind eben zwei geschlüpft. Soll vorkommen. Also weiter im Text: Der DigimonKaiser hat mir eines von ihnen weggenommen. Lopmon, das Braune. Er hat es für seine Experimente missbraucht und versucht, es zu einer falschen Digitation zu zwingen. Das war, bevor er sich selbst zum Kaiser ausgerufen hat. Damals kannte ihn noch kaum jemand in der DigiWelt. Naja, es ist ihm gelungen – Lopmon zum Digitieren zu bringen, meine ich. Er konnte es aber nicht beherrschen. Es hat es bis aufs Mega-Level geschafft – etwas, das es heute nicht mehr zustande bringt – und ist ihm ausgebüxt. Dann hat es Jagd auf mich gemacht. Vermutlich hat es sich noch an mich erinnert, ich weiß auch nicht. Wir haben mehrmals gekämpft, aber Terriermon und ich konnten nichts tun. Bis wir das Goldene ArmorEi fanden. Terriermon ist digitiert und hat Lopmon besiegt, aber um es zu retten, mussten wir es zerstören. Kannst du dir das vorstellen? Der DigimonKaiser hat mir Lopmon weggenommen, also habe ich jetzt auch sein Digimon getötet. Aber Quitt sind wir wohl immer noch nicht. Es wird ihm nämlich egal sein, dass sein Partner tot ist, und ich musste Lopmon selbst töten!“ Diese Geschichte war so verrückt, dass Ken am liebsten laut aufgelacht hatte. Er hatte von Willis‘ Geschichte – seiner echten Geschichte – gehört. Deemon hatte wohl auch irgendwie davon erfahren und Ken darin kurzerhand als Bösewicht installiert. Es war so lächerlich, dass er in den Erinnerungen der anderen all diese Verbrechen begangen hatte … „Ich glaube, es hat ihn sehr getroffen“, sagte er kleinlaut. „Ach ja? Was verstehst du schon davon?“ Willis‘ Gesichtsausdruck wurde seltsam. „Wobei, was frage ich? Du hast ja auch kein Digimon mehr. Tut mir leid. Ist es gestorben, als du geflohen bist?“ „Ja“, murmelte Ken und dachte an Wormmon. „Es ist gestorben, um mir die Flucht zu ermöglichen.“ Das ist nicht einmal gelogen. Eine Weile schwiegen sie einander an, ehe Willis seufzend aufstand, das Geschirr einsammelte und auf das Zelt deutete. „Du kannst schlafen. Lopmon, Terriermon und ich wechseln uns mit der Wache ab.“ „Ich will dir nicht …“ „Du überlebst keine zwei Tage allein hier draußen“, fiel ihm Willis ins Wort. „Was hast du denn überhaupt vor, jetzt, nachdem du geflohen bist?“ Ken zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Vermutlich willst du so weit wie möglich weg von hier. Aber einen Ort zu finden, an dem es sicher ist, ist bei all den Fronten und Kleinkriegen nicht einfach.“ Willis winkte seine Digimon herbei. „Ich hab dir noch gar nicht erzählt, was wir hier eigentlich wollen.“ „Was denn?“, fragte Ken ohne großes Interesse. „Wir sind in die Wüste gekommen, um den DigimonKaiser zu fangen.“ Willis sah zu, wie Funken aus dem Feuer in den Nachthimmel flogen. „Es stellt sich die Frage, was wir jetzt tun, nachdem wir ihn gefunden haben.“ „Nachdem ihr ihn …“ Ken brauchte eine Weile, um seine Worte zu verstehen. Als er Willis wieder ins Gesicht sah, beleuchtete der Feuerschein ein teuflisches Grinsen. „Für wie blöd hältst du mich?“, lachte der Zwillingsritter. Kens Hoffnungen waren nicht etwa zerschlagen. Er hatte sich nie welche gemacht. So naiv war er nicht mehr. „Du wusstest, wer ich bin? Warum hast du dann …?“ „Es war irgendwie witzig, dir zuzuhören, Takahashi. Ich hab mich einmal mehr überzeugen können, was für ein verlogener Mistkerl du doch bist. Deine Trauer um dein armes Wormmon hätte mich fast überzeugt – aber auf so was falle ich natürlich nicht rein.“ Er ging vor Ken in die Hocke und musterte ihn überlegen. „Ich muss zugeben, ich hätte dich fast nicht erkannt. Hätte die Schwarze Rose nicht verlautbaren lassen, dass der DigimonKaiser in Unterwäsche auf der Flucht in seiner eigenen Wüste ist ... Nur deinen Feinden, versteht sich. Schätze, sie will euer Reich für sich allein. Was für ein Glückspilz ich doch bin. Ich war zufällig in der Nähe, als ich die Nachricht von Prinzessin Mimi erhalten habe.“ „Mimi?“, fragte Ken apathisch. „Die Froschprinzessin, die du ins Exil gejagt hast, wenn du dich erinnerst. Hab ich dir nicht schon gesagt, dass sie bei uns ist? Sie hat beschlossen, dass sie dich lebend haben will, um dich gegen ihren Hohen Gemahl einzutauschen. Keine Ahnung, was sie noch an ihm findet, aber wir stehen wohl auf derselben Seite. Deswegen soll ich dich, sollte ich dich finden, zu deiner Festung zurückbringen.“ Matt? Das ergab keinen Sinn. Nadine war doch in der Festung. Sie konnte Matt ohne Probleme freilassen … Willis erkannte seinen fragenden Gesichtsausdruck. „Ich weiß schon, was du denkst. Es sieht so aus, als hätte sich dein Ogremon-Ritter in einem Teil der Festung verschanzt, mit ein paar seiner Getreuen. Es hält den Ehernen Wolf fest und ist zu stur, um aufzugeben. Mimi will daher einen Gefangenaustausch.“ „Ogremon hat das getan?“ Kens Kopf schwirrte. Er erkannte, dass er keine Ahnung mehr davon hatte, was eigentlich in seinem Reich vorging. Willis beugte sich wieder über ihn, höhnisch lächelnd. „Ich vermute, du verstehst, dass ich dich nicht zur Festung bringe. Mimi erfährt am besten gar nicht, dass ich dich gefunden habe.“ „Du wirst mich wohl kaum freilassen, oder?“, fragte Ken mutlos. Willis lachte. „So naiv bist du nicht, oder? Nein, der große DigimonKaiser hat das sicherlich keine Sekunde lang geglaubt. Ich habe was Besonderes mit dir vor. Freu dich darauf, vielleicht hilft es dir sogar, das Gesicht zu wahren. Immerhin werde ich dich nicht so erbärmlich, wie du bist, vor deine geliebte Königin schleppen lassen.“ Als er Nadine erwähnte, fühlte Ken wieder den Stich in der Brust. Er sah sich gehetzt um. Willis und seine Digimon hatten ihn nicht etwa eingekreist – aber was sollte er denn tun? Aufspringen und davonlaufen, in die Wüste hinein? „Versuch es erst gar nicht“, warnte ihn Willis. „Ohne uns überlebst du, wie gesagt, keine zwei Tage. Gegen uns keine zwei Stunden.“ Er deutete auf das Zelt und sagte liebenswürdig, aber mit schneidender Stimme: „Hinein mit dir. Du darfst schlafen. Wir halten Wache.“   Stole my heart like an eagle Love was carried on wings of a lie That woman is evil Flew me up into the highest sky and dropped me out (Masterplan – The Black One) Kapitel 37: Hinrichtung ----------------------- Tag 109   Sie hatten den Trugwald erreicht, und der Schmerz in Tais Augenhöhle war immer noch nicht besser geworden. Taomon trieb sie zur Eile an, aber es machte auch rücksichtsvoll Pausen, wenn seine Gefangenen sie benötigten. Der stachelige Dornenwald mit seinen rötlichen Ranken lag zu ihrer Linken. Sie hatten ihn nicht durchquert, sondern waren an seinem Rand entlanggegangen. Er stand unter Fürst Wizardmons Obhut und gehörte somit auch zu Leomons Reich, und obwohl Tais Heimat so nah war, konnte er sie nicht erreichen. Den Trugwald wollten sie durchqueren, um in König Takashis Gebiet nicht auf offenem Gelände umherzuwandeln. In der Ferne ragte ein kleines Gebirge auf, wo auf einem Felsvorsprung eine Schlossruine aufragte. Weiter südlich meinte Tai das Riesenrad des berühmten, verlassenen Vergnügungsparks zu sehen, der am Rand des Waldes angelegt war. Und war das daneben nicht schon ein Schwarzer Turm? Sicher war er sich nicht. Es strengte ihn an, sich mit nur einem Auge auf Einzelheiten zu fixieren. Er hätte nie gedacht, dass es ihn derart beeinträchtigen würde. In der Nacht hatte er von seiner letzten Episode in Soras Schloss geträumt. Es war ein unruhiger Traum gewesen, feurig und rot und blutig und infernalisch, und der DigimonKaiser war darin vorgekommen. Er hatte ihn beim Namen gerufen, und Tai hatte geantwortet. Und in diesem Traum, zwischen Schmerz und Illusion, hatte er das Gefühl gehabt, den finsteren Kaiser zu kennen … Als wüsste er Dinge aus seiner Vergangenheit, als verstünde er, was er dachte. Das beunruhigte ihn. „Dein Partner ist Piyomon, oder?“, fragte er Sora, um sich abzulenken. Eigentlich sprach er nur mit ihr, um sich abzulenken, von dem beschwerlichen Weg, von seinen Gedanken oder von seinen Schmerzen. Das redete er sich zumindest ein; Tatsache war, dass sie sehr oft miteinander sprachen. Sora nickte. Fast alles, was er sagt, erzeugte Trauer auf ihrem Gesicht, das nach und nach trotz aller Umstände rosiger wurde. Taomon sorgte dafür, dass es seinen Gefangenen an nichts mangelte. Es verrührte Beeren, Wurzeln, Rinde und andere Früchte zu einer nahrhaften, leicht verdaulichen Paste, die zwar grauenhaft schmeckte, aber stärkte. „Ich habe sogar es misshandelt“, sagte sie niedergeschlagen. Die wenigen Tropfen, die aus dem Himmel fielen, passten zu ihrer beider Stimmung. „Ich bin eine furchtbare Freundin. Eigentlich kann ich mich gar nicht als Piyomons Freundin bezeichnen. Dabei gab es von Anfang an nur uns …“ „Seine Majestät hat mir gesagt, dass Euch keine Schuld trifft“, mischte sich Taomon plötzlich in das Gespräch ein, was selten bis gar nie vorkam. „Alle Eurer Handlungen entsprangen der Höhle, in die Ihr gingt. Diese Entscheidungen waren nicht die Euren.“ Tai begriff nicht, warum Taomon seine Feinde aufbauen wollte, aber er hatte auch nichts dagegen. Selbst Agumon hatte seinen heißen Hass gegen kalten eingetauscht und trottete eher schweigsam neben ihm her. „Das macht es auch nicht besser“, murmelte Sora. „Ich werde Piyomon vielleicht nie wiedersehen.“ „Ich bin mir sicher, es hat König Leomon mittlerweile erreicht“, sagte Tai. „Dann wird uns auch bald jemand befreien kommen.“ Dazu schwieg Taomon. Sie machten sich daran, das breiteste Stück des Trugwalds zu durchqueren. In der Dämmerung fand Taomon wieder zuverlässig einen Unterschlupf. Als es zu heftig regnete, ließ es einen Schutzschild erscheinen, der die Tropfen abschirmte. Im Morgengrauen zogen sie weiter. Die Sonne funkelte auf Tausenden Wasserperlen im Laub und auf den Blättern der Bäume, und Tropfen fielen noch tagsüber auf sie herab und verwandelten den Wald in einen Regenwald. Sie kamen am Rand eines Sees vorbei, den Tai sogar kannte. Am anderen Ufer besaß ein Digitamamon ein Restaurant, das trotz des Krieges hervorragend lief. Hier zwischen den Grenzen das Nördlichen und des Einhornreichs trafen sich oft Deserteure oder Halunken, oder auch einfache Soldaten, denen der Sinn eher nach einem schmackhaften Essen als nach Streitereien stand. Es war eine neutrale Goldgrube für Digitamamon. Tai und Agumon hatten schon einmal hier gegessen, vor ewigen Zeiten, als der Krieg erst frisch entbrannt war, noch bevor er Davis gefangen genommen hatte. Wehmütig dachte er an das Steak in Pilzsoße, das er verdrückt hatte. Pilze. Hier in der Nähe wuchsen besondere Pilze, von denen er gehört hatte, dass Digimon, die der Realität entfliehen wollten, gerne an ihnen knabberten. Angeblich vergaß man all seine Untaten und Pflichten und lebte leicht und unbeschwert nur für den Augenblick. Vielleicht würde er so seine Schmerzen vergessen. Er betrachtete Sora von der Seite, die niedergeschlagen wie eh und je war. Vielleicht könnte sie sie eher als ich gebrauchen. Aus der Richtung, die Taomon ansteuerte, konnte Tai ungefähr schließen, wohin sie unterwegs waren. Sie hielten sich vom Westende des Waldes fern, also würden sie Chinatown meiden, und Taomon wirkte auch nicht, als ob es sich im Vergnügungspark blicken lassen wollte. Die nächste große Stadt in dieser Richtung war Masla. War die Sklavenstadt an den DigimonKaiser gegangen? Oder – ihm kam ein neuer Gedanke. Sollte Taomon ihn, Agumon und Sora als Sklaven verkaufen? Gewiss war ein Drachenritter auch im Süden viel wert … Er sollte es nie erfahren. Als sie einen weiteren Tag mit den immer gleichen Gesprächen und immer gleichen Mühseligkeiten hinter sich gebracht hatten, verließen sie den Wald im Süden, und kaum dass sie die folgende Ebene betreten hatten, hob Taomon die Pfote und die kleine Prozession hielt an. Eine Sekunde später hörte Tai das Wiehern ebenfalls. Es kam aus der Richtung, in die sie unterwegs waren. „Zurück“, murmelte Taomon, hielt aber nach einem Schritt wieder inne. An der Art, wie es sich umsah, erkannte Tai, dass sie eben eingekreist wurden. Etwas hatte sie ins Auge gefasst, das schneller war als die langsamen Menschen im Wald, sonst hätte sich Taomon nicht dem Kampf gestellt. Es machte eine Handbewegung, und der schwarzweiße Schild erschien wieder um es, Tai, Sora und Agumon herum. Sie erwarteten das Unimon hier am Waldrand. Tai hörte aus allen Richtungen Laubrascheln und metallisches Gekicher. Es war ein geplanter Hinterhalt gewesen, anders konnte es nicht sein, dass das wachsame Taomon in eine Falle getappt war. Jemand hatte gewusst, dass sie hierher unterwegs waren. Für gewöhnliche Wegelagerer war das hier eine Stufe zu komplex. Das Unimon landete mit majestätisch ausgebreiteten Flügeln. Sein Horn hob sich blutrot von seinem weißen Leib hervor. Auf seinem Rücken saß jedoch nicht etwa ein Mensch, sondern ein kleines, metallenes Digimon mit kurzen Beinchen und langen Armen – ein Datamon. Taomon zog mit einer Armbewegung einen gewaltigen Pinsel, den es wohl als Waffe einzusetzen gedachte. „Gib’s auf“, sagte Datamon in abfälligem Tonfall. „Ihr seid längst umstellt. Nur weil wir momentan im Osten kämpfen, heißt das nicht, dass wir unsere Radarschirme vernachlässigen.“ „Wusstet ihr, dass wir kommen?“, fragte Taomon. Tai hatte sich dieselbe Frage gestellt – selbst der Einhornkönig würde nicht jedes Digimon überwachen, das unregistriert in sein Gebiet kam, und dann auch noch ein solches Empfangskomitee schicken. „Wir haben es sogar aus erster Hand erfahren. Die Schwarze Rose persönlich hat uns die Pläne des DigimonKaisers offengelegt“, erklärte Datamon. Die Rose? Hatte sie den Kaiser verraten? Was war alles geschehen, in der Zeit, in der er ein Gefangener gewesen war? „Ich habe übrigens keine Absicht, dich am Leben zu lassen, Taomon“, sagte Datamon beiläufig. „Ich soll nur die Schwarze Königin und den Drachenritter zu König Takashi bringen, das ist alles. Du kannst dir aber einige Schmerzen ersparen, indem du dich nicht wehrst.“ „Ich habe ebenfalls keine Absicht, aufzugeben“, sagte Taomon entschlossen. „Mein Gebieter gab mir den Auftrag, diese beiden sicher in sein Reich zu eskortieren.“ „Dieses Reich hat den Besitzer gewechselt“, behauptete Datamon. „Die Königin der Schwarzen Rose hat König Takashi einen Waffenstillstand vorgeschlagen. Anscheinend hat sie innerpolitisch zu tun. Sie hat jetzt die alleinige Kontrolle über das Kaiserreich. Dein Gebieter ist tot, oder so erzählt man sich.“ Der DigimonKaiser? Tot? So einfach war dieser Albtraum plötzlich vorbei? Nein, offenbar haben die anderen Fraktionen nicht vor, mit dem Kriegstreiben aufzuhören. „Tot oder nicht, meine Loyalität gilt nach wie vor seiner Majestät“, legte Taomon fest und schwenkte den Pinsel. Datamon seufzte blechern. „Bist du anstrengend. Tötet es, aber seht mir zu, dass den anderen nichts passiert.“ Das metallische Kichern und Gackern wurde lauter. Für eine Sekunde öffnete Taomon die schützende Kuppel, um mit seinem Pinsel ein Zeichen in die Luft zu malen, das auf Datamon zuflog, doch Unimon war zu flink und wich aus. Das Zeichen flog geradlinig weiter und verschwand irgendwo am Horizont. Dann war das Kichern ganz nahe. Aus dem Unterholz brach ein gutes Dutzend Giromon, gehörnte Metallbälle mit grinsenden Fratzen. Ein gutes Dutzend explosiver Bälle wurde auf Taomons Schutzschirm geschleudert, die mit einem hohlen Krachen detonierten. Tai und Sora schrien auf und drängten sich näher an Taomon. Agumon schien nicht recht zu wissen, wem es in diesem Kampf helfen sollte. Ein gutes Dutzend Kettensägen folgte schließlich, als die Giromon heran waren. Sie bohrten sich in den schwarzweißen Schild und ratterten und rissen und zerrten daran. Taomons Miene wurde noch verbissener. Es ließ den gesamten Schild samt seiner Insassen in die Höhe schweben, doch es war zu langsam. Zentimeter um Zentimeter schoben sich die brüllenden Sägen durch die Membran. Taomon sah ein, dass sein Schutz gegen diese Übermacht von allen Seiten nicht lange halten würde. Um seine Gefangenen – oder waren sie Schützlinge für es? – nicht zu gefährden, sank es mit ihnen wieder zu Boden, ehe der Schild endgültig auseinanderbrach. Der Kampf, der folgte, war kurz und unbarmherzig. Während zwei Giromon Tai und Sora packten und aus dem Weg zerrten, gingen die anderen mit Bomben und Kettensägen auf Taomon los. Es war zäh, sehr zäh sogar, und schleuderte handgroße Schriftzeichen und Stakkatos von Karten um sich und riss mindestens fünf der kleineren Giromon mit sich, ehe es sein Leben aushauchte. Das Geräusch, mit dem es sich in Daten auflöste, die gen Himmel trieben, hatte nichts Befreiendes, nur etwas Endgültiges und auf seltsame Weise Trauriges. „Gut“, sagte Datamon knapp. „Ihr seid euren Sold wert.“ Die Giromon nickten zufrieden und grinsten stur weiter. Tai sah sein DigiVice an der Stelle liegen, wo Taomon gestorben war, doch im nächsten Augenblick fuhren Datamons Arme aus und brachten es an sich. „Was soll das?“, fragte er. Haben wir nur die Wärter gewechselt? „Nimm es mir nicht übel“, sagte Datamon und entbehrte dabei jedweden Respekt, „aber du sollst dein Digimon nicht sofort digitieren lassen und davonfliegen. Stattdessen darfst du mir danken. Ihr drei erhaltet eine Privataudienz von Takashi, dem großen König der Kaktuswüste. Der, nebenbei bemerkt, ohne mich ein Nichts wäre. Kommt, machen wir uns auf den Weg. Euch erwartet eine nette kleine Mitfahrgelegenheit.“ Und so schnell hat sich alles wieder gewendet. Tai hoffte inzwischen nur noch, dass sie irgendwie wieder ins Nördliche Königreich zurückkamen, aber trotz all der widersprüchlichen Gefühle, die während der Reise auf ihn eingeprügelt hatten, hatte er das Gefühl, dass ihre Lage sich zumindest etwas gebessert hatte. Die Giromon bugsierten sie unsanft in eine Richtung, in die weite Graslandschaft hinaus, hinter der bald die Wüste beginnen würde. Die Manieren unserer Reisegefährten haben sich eindeutig verschlechtert. Aber das ist meine geringste Sorge. Sein fehlendes Auge tat wieder weh, nachdem die Ablenkung des Kampfes vorüber war. Datamon flog auf Unimons Rücken voraus, und als Tai sich nach Sora umsah, merkte er, dass sie Taomons Datenresten hinterherblickte.     Die Mitfahrgelegenheit, von der Datamon gesprochen hatte, überraschte Sora ein wenig – ganz einfach, weil sie wirklich eine Mitfahrgelegenheit war. Seit sie ihr Schloss verlassen hatten, waren sie stets zu Fuß gegangen. Nun, da sie sich langsam wieder darum zu kümmern begann, was mit ihr – und ihren notgedrungenen Begleitern – geschah, empfand sie etwas wie Erleichterung, als sich die nächste Etappe ihrer verworrenen Reise als etwas angenehmer herausstellte. Auch Tai, der seine Schmerzen trotz aller Mühe nicht verbergen konnte, atmete erleichtert beim Anblick des langgezogenen, metallisch blitzenden Wagens auf, der an einen abgerundeten Waggon erinnerte. Eine Wand war seitlich aufgeklappt, und das Innere versprach angenehme Kühle und Schatten. Die Spitze des Waggons war zerkratzt und zeigte das Wappen des Einhornkönigs, das stilisierte orange Unimon auf weißem Grund; allerdings war das Metall an dieser Stelle ungewöhnlich verformt, als hätte es einst ein Gesicht oder etwas Ähnliches darstellen sollen, weswegen das Wappen ein wenig verzerrt wirkte. Vor dem Waggon wartete geduldig ein massiges Monochromon. Sora hatte ein wenig gebraucht, um sich daran zu erinnern, wie man diese schwarzweißen Dinosaurierdigimon nannte. „Hereinspaziert.“ Alles, was Datamon sagte, klang irgendwie hämisch, aber Sora glaubte nicht, dass es etwas Böses im Schilde führte. Es schien einfach seine Art zu sein – zumal es, sollte es ihnen etwas antun wollen, schon ausreichend Gelegenheit gehabt hätte. Seine langen Arme wiesen einladend ins Innere des Wagens. Die Giromon achteten darauf, dass Sora, Tai und Agumon brav einstiegen. Man konnte sie nicht gerade höflich nennen, und sie kicherten auch ständig über irgendeinen Scherz, den Sora nicht verstand, aber sie sagte sich, dass sie eigentlich Schlimmeres verdient hätte. Nacheinander kletterten sie über die kleine Rampe ins Innere des Wagens. Es war nicht nur angenehm kühl, es war so kalt, dass sie fröstelte. War es in ihrem Schloss auch immer so kalt gewesen? Sie konnte sich noch an die Hitze ihrer Badekammern erinnern, aber sonst? Es war alles irgendwie nebelig … Sora ermahnte sich, nicht noch mehr zu vergessen. Sie war es all ihren Opfern schuldig, dass sie sich erinnerte. „Macht es euch besser bequem“, riet Datamon von draußen. „Es ist noch ein weiter Weg bis zur Pyramide.“ Damit ging die Klappe zischend zu, und wären die bleichen Deckenlampen nicht gewesen, wären sie nun um Dunkeln gehockt, mitsamt ihren rabiaten, mit Motorsägen bewaffneten Aufpassern. Tai wartete nicht länger, sondern nahm auf einem der Stoffsessel Platz. Es schien sich bei dem Gefährt nicht um ein bloßes Transportmittel zu handeln, viel eher war es eine mobile Kommandozentrale. Eine ganze Wand wurde von toten Bildschirmen eingenommen, und die meisten der fix verankerten Stühle waren so ausgerichtet, dass man die Instrumente darunter bedienen konnte. Unbehaglich blieb Sora stehen und sah sich um. Ein Ruck ging durch den Waggon, als das Monochromon zu ziehen begann. Schon nach kurzer Zeit erreichte das so schwerfällig aussehende Digimon eine beachtliche Geschwindigkeit, das war zu spüren. Trotzdem ging die Fahrt ruhig und ohne allzu viele Holprigkeiten vonstatten. „Das gefällt mir nicht, Tai“, sagte Agumon. „Wir sehen überhaupt nicht, wohin wir fahren.“ Tai hatte herausgefunden, wie man seinen Sessel nach hinten kippte, sodass er nun fast waagrecht wie auf einem Feldbett lag. Er schloss grummelnd die Augen. „Und wennschon. Wir geraten ohnehin von einer Falle in die nächste. Es wäre nur alarmierend, wenn es plötzlich anders wäre.“ Sora sah zögerlich den Giromon zu, die in einer Ecke schwebten und unverständliches Zeug brabbelten. Zwei hatten mit dem irrwitzigen Spiel begonnen, sich einen explosiven Ball zuzuwerfen. Hoffentlich fällt ihnen der nicht hinunter, dachte Sora. Sie verdiente es wohl, hier in diesem Waggon eines lächerlichen Todes zu sterben, aber Agumon und Tai sollten leben. Wenigstens sie, die sie ihre Gefangenen gewesen waren. Aber was bildete sie sich ein, Ansprüche an das Schicksal zu stellen? Der Wagen wackelte ein wenig, als das Monochromon eine breite Kurve einschlug, wohl, um den ersten Dünen aus dem Weg zu gehen. Immerhin wollten sie ins Herz der Wüste. Dem Giromon wäre beinahe der Ball aus den Händen gefallen. Es glotzte dämlich, dann lachten die beiden darüber. Mutlos seufzend ließ Sora sich ebenfalls auf einem der Sessel nieder. Sie fühlte sich unglaublich müde. Zur Sicherheit krallte sie die Hände in die Armlehnen. Nach einiger Zeit trat das Gekicher ihrer Aufpasser in den Hintergrund, und sie hörte Tais tiefe Atemzüge. Agumon streifte eine Weile im Wagen herum, ehe es sich ebenfalls setzte. Sie ließ den Blick über die Lampen schweifen und sich vom sanften Auf und Ab schaukeln. Könnte sie auch in den Schlaf finden? Obwohl die Giromon mit ihren Waffen spielten, obwohl sie auf einer Reise in eine ungewisse Zukunft waren? Sie konnte. Nach nicht einmal einer Stunde war sie eingeschlafen. Vielleicht, weil egal, wie ungewiss ihre Zukunft war, sie nur besser sein konnte als ihre Vergangenheit.     Karis Träume wurden immer realistischer, aber dennoch verstand sie sie nicht. Sie stand mitten auf einem Schlachtfeld. Die Erde, nein, viel eher der Sand, der den Boden bedeckte, war düstergrau, und der Himmel war nur eine Nuance dunkler, wolkenverhangen oder finster. Man sah ihn nur schlecht, weil das Funkeln der Datensplitter Tausender Digimon ihn schillern ließ, als würden Blitze hinter der Wolkendecke wetterleuchten. Kari fröstelte, als sie all die Digimon sterben sah, rings um sich herum. Sie konnte nicht abgestumpft genug werden, als dass sie das allgegenwärtige Leid in der DigiWelt, von dem ihre Träume ihr ein immer schlimmeres Stück zeigten, unberührt lassen könnte, aber diesmal war sie vor allem fassungslos. Von allen Seiten flogen Attacken, Feuerbälle, Lichtkugeln, sogar Raketen heran, schlugen in ungeordneten Digimonreihen ein, zerschmetterten und versengten Leiber und töteten, schlächterten. Sie sah heulend Apemon sterben, weiter vorne blutüberströmte Monochromon auf eine Reihe Lilamon zustürmen, die sie zielgenau mit ihren Handkanonen aufs Korn nahmen. Überall explodierte etwas, überall starb etwas, überall schrie etwas. Und Kari schritt mitten durch die Schlacht, glitt über weichen grauen Schlamm wie ein Geist, unberührbar und dennoch tief getroffen. Sie konnte nicht sagen, wer hier gegen wen kämpfte. Mehrere Standarten zeigten Banner, aber die Schlachtformationen waren lange aufgegeben worden, und die Flaggen waren zerfetzt, verkohlt oder zu sehr verschwommen. Nach und nach kristallisierte sich heraus, welches Digimon zu welchem Heer gehörte, und nachdem Kari es aufgegeben hatte, mit den Kämpfenden Kontakt aufnehmen zu wollen, erkannte sie, dass es drei verschiedene Seiten in dieser Schlacht gab. Mammothmon, Monochromon, Tortomon, Tuskmon, Allomon; etliche Sorten dinosaurierähnlicher oder vierbeiniger Digimon, dazu ein versprengtes Geschwader aus fliegenden Insekten und blutrünstige, drachenähnliche Kreaturen, die Kari nicht kannte, bildeten die klaren Opfer in diesem Kampf. Manche waren mit Schwarzen Ringen bestückt, andere nicht. Ein weiblich aussehendes Digimon mit Adlerschwingen schwebte über allem, erteilte laute Befehle und fegte mit seinen Wirbelstürmen feindliche Flugdigimon hinfort. Dann waren da Meramon, Starmon, Revolvermon, Lilamon und Tyrannomon auf einer Seite. Auf einem riesigen Digimon, das aussah wie ein Panzer mit den Gliedmaßen eines Reptils und das in regelmäßigen Abständen vernichtende Raketenhagel auf alles Leben auf dem Schlachtfeld niedergehen ließ, stand ein Baronmon, ein hässliches Digimon in weitem Mantel, dessen Zähne kreuz und quer durch sein Maul ragten. Und ein drittes Heer fiel der Truppe der Harpyie in die Flanken; eine Horde Centarumon und anderer berittener Digimon, von denen Kari nicht alle kannte. Sie schossen wahllos in die Menge, und sobald man sich ihnen zuwandte, galoppierten sie wieder davon. Bei allem Chaos, all dem Schrecken und dem Leid, das über Kari schwappte wie das schwarze Wasser vom Meer der Dunkelheit, irritierte sie ein sonderbarer Umstand. Auf jeder Seite des Schlachtfelds, wo die verschiedenen Truppen herkamen und womöglich ihre Lager oder Ähnliches hatten, ragte Schwarze Türme in den düsteren Himmel, und jedes Heer schien seine eigenen zu besitzen. Centarumon schossen zu zehnt einen Turm in der Mitte nieder und verteidigten ihren eigenen, als ein Mammothmon ihn umrennen wollte. Tortomon versuchten, ihre Rückenstachel auf die Türme hinter den Lilamon hageln zu lassen, und das große Echsengeschütz riss gleichermaßen die Türme in der Mitte und die der Centarumon ein. Irgendwann, als der letzte mittlere Turm fiel, ging eine Veränderung durch die Digimon mit den Schwarzen Ringen, doch die war kaum bemerkbar, da die Schlacht sofort weiterwütete. Kari verlor völlig den Überblick. Die geflügelte Frau – Kari glaubte, dass eines der Digimon sie vorher Zephyrmon gerufen hatte – flog in die Höhe und hielt auf die vorderen Linien zu. „Baronmon“, rief sie laut und klar. Von ihrem Heer waren nur noch Reste übrig. „Wir sind geschlagen. Wir bieten Euch unsere Kapitulation an.“ „Abgelehnt!“, rief Baronmon zurück und hob den Arm. Das Echsenwesen feuerte eine Raketensalve auf Zephyrmon. Kari konnte gerade noch sehen, wie es den ersten Geschossen auswich, dann veränderte sich der Traum. Es folgte wieder eine der rätselhaften Phasen, von denen sie sich sicher war, dass sie etwas bedeuteten, aber den Sinn noch weniger verstehen konnte als die Schwarzen Türme in den drei verschiedenen Lagern. Auch nun sah sie wieder Schwarze Türme, Reihe um Reihe ragten sie auf, in einer Hügellandschaft, unheilvoll und verlassen. Und irgendwo zwischen ihnen, auf verbrannter Erde, sah sie sich selbst und ihre Freunde liegen, teils übereinander, besiegt, bedeckt von Asche – nein, einer von ihnen kniete noch, hielt unermüdlich, ungebrochen sein DigiVice in die Höhe. Kari erkannte nicht, wer es war, doch der Schein des DigiVices verteidigte ihre kalten Körper gegen die Nacht. Dennoch schmolzen die Türme rings um sie herum, verflüssigten sich wie Schnee in der Sonne und überschwemmten das Land mit einer schwarzen Flut, überrollten die besiegten DigiRitter, erstickten das Licht des letzten DigiVices, mehr und mehr, schwärzer und schwärzer … Dunkelheit. Kari erwachte. Dass sie schweißgebadet war, bemerkte sie kaum noch, so sehr hatte sie sich daran gewöhnt. Das Frösteln kam jedoch immer noch, genauso wie dieses elende Gefühl zäher Kraftlosigkeit. Mühsam quälte sie sich aus ihrem Bett und schleppte sich an die Brüstung der Lichtkammer. Der Tag war so grau wie ihr Traum; wie konnte es auch anders sein? Sie sah T.K. unten am Strand, mit den Schattenwesen, die er wieder drillte, und sie konnte seine zornige Stimme bis hierher hören. Er war nicht mehr gekommen, seit sie gestritten hatten, und seine Laune schien unverändert. „Du kannst es mir auch sagen“, sagte Gatomon. Kari hatte gar nicht bemerkt, dass es ebenfalls in der Lichtkammer war und über ihren Schlaf gewacht hatte. Wenigstens hatte es sie nicht geweckt; der Traum war sicherlich von Bedeutung gewesen. „Danke“, sagte sie leise. T.K. würde nur noch verbissener nach einem Weg suchen, von hier fortzukommen, wenn sie ihm von Schlachten oder quellender Dunkelheit erzählte, aber Kari glaubte schon lange nicht mehr, dass sich dieser Wunsch erzwingen ließ. Also berichtete sie vorerst nur Gatomon, was sie gesehen hatte, und beobachtete, wie der Blick ihres geliebten Digimon-Partners düster wurde.     Tag 110   Träumte sie, oder war sie kurz wach geworden? Sie fühlte sich immer noch müde – fühlte man sich in einem Traum müde? Sie konnte nicht sagen, was real war und was nicht. Seit sie in dieser Höhle gewesen war, war ihr ihr ganzes Leben wie ein einziger Traum vorgekommen, also was war dies nun? Sie lag nach wie vor auf ihrem Sessel, aber als sie blinzelte, waren ihre Lider so schwer wie ihre Gliedmaßen. Hatten sie angehalten? Sie meinte, etwas über sich zu sehen, ein Metallgerüst, und fuhr da nicht mit einem leisen Surren etwas ihren Körper entlang? Sie war zu benommen, um zu erkennen, was es war, aber das Geräusch erklang sowohl direkt über, als auch neben ihr. Sie glaubte, ein einzelnes, blinkendes Auge über sich zu sehen, oder war das ein Kontrolllämpchen der Geräte in dieser fahrenden Kommandobucht? Nein, die Geräte waren doch alle abgeschaltet gewesen, oder? Wahrscheinlich doch nur ein Traum ... Gerade, als sie sich auf das Blinken konzentrieren wollte, schwoll das Surren bis zu einem Höhepunkt an und kurz blendete sie rotes Licht. Es verschwand so schnell, wie es gekommen war, aber es malte auf ihre Netzhaut und zeigte ihr ein grünes Feld, jedesmal, wenn sie blinzelte. Kurz darauf verstummte das Summen. Sie wäre vielleicht hochgeschreckt, wäre ihr seltsames Verhältnis zu Träumen nicht gewesen. „Schlaf nur“, drang leise Datamons Stimme an ihr Ohr, als sie den Kopf zu Tai wenden wollte. „Ist das ein Traum?“, murmelte sie. Das Digimon war doch vorausgeflogen, oder nicht? Demnächst würde sie unverhofft Taomon erblicken, vielleicht sogar MetallPhantomon. Daher war es besser, wenn sie gleich erfuhr, ob sie nur träumte. „Ja, meine Kleine“, schnarrte das Digimon, blechern wie MetallPhantomon selbst, aber nicht triefend vor Bosheit, sondern triefend vor Hohn.     Wohin es ging, konnte Ken nicht sagen. Willis hatte ihm einen Jutesack über den Kopf gezogen und seine Hände gebunden. Mit den Worten „Bei dir weiß man ja nie“ hatte er ihm außerdem sein DigiVice abgenommen. Nun trottete Ken zwischen dem Zwillingsritter und seinen Zwillingsdigimon durch eine holprige Dunkelheit. Anfangs hatte Ken noch gefühlt, wie der Sand der Wüste unter seinen Füßen nachgab, und er hatte eine vage Idee von den sich abwechselnden Dünen gehabt. Irgendwann, als der Abend des nächsten Tages nahte, hörte das auf, und unter dem Sack, der ihn höllisch schwitzen ließ, war die Luft irgendwann nicht mehr ganz so stickig. Ken interessierte aber auch gar nicht mehr, was mit ihm passierte. Er war verraten, verloren, zerschlagen, allein. Besser, er brachte es schnell hinter sich. „Was immer du vorhast, warum tust du es nicht gleich?“, fragte er. „Zu viele Türme hier“, sagte Willis neben ihm. „Halt jetzt den Mund. Wenn du noch einmal sprichst, ohne dass ich dich dazu auffordere, setzt es was.“ Er verpasste ihm einen leichten Faustschlag gegen die Schläfe, um seine Worte zu untermauern. Immer wenn sie ihr Nachtlager aufschlugen, nahm Willis ihm den Jutesack ab. Ken erkannte, dass die Gegend steiniger geworden war. Hier würde er sich irgendwann die Beine brechen, wenn er nicht genau aufpasste, wohin er seine Füße setzte. Sie lagerten in einer Höhle in den Felsen. Ken konnte in der Ferne tatsächlich den Umriss eines einzelnen Turms sehen, der so weit von der Höhle entfernt war, wie es die Herrschaft für ihn war. Diesmal bekam Ken keine Bohnen und durfte mit knurrendem Magen zusehen, wie Willis, Lopmon und Terriermon sich an ihrem Proviant gütlich taten. Am nächsten Tag ging die Strapaze weiter. Wieder bekam Ken den Sack über den Kopf gestülpt, und seine bloßen Füße waren von den scharfen Felsen bald wund und blutig. Vielleicht würde jemand die roten Abdrücke sehen und ihm zur Hilfe eilen … Doch nicht einmal das war ihm vergönnt. Gegen Nachmittag begann es in Strömen zu regnen, wie um zu verdeutlichen, dass sie die Wüste endgültig hinter sich gelassen hatten. Der Sack war bald durchnässt, und Kens feuchte Kopfhaut juckte unerträglich, aber der Regen war angenehm kühl auf seiner Haut – und später wurde ihm eisig kalt in den Füßen, als sie durch nasses, langes Gras marschierten. Einmal hörte Ken eine fremde Stimme, als sie ein Digimon ansprach. „Was hast du denn da für einen?“, grunzte es. Ken konnte nicht sagen, was für ein Digimon es war, aber dem Geräusch nach zog es eine Art Karren mit sich. Sicher ein Händler oder Ähnliches. „Einen Kriegsgefangenen. Geht dich nichts an“, sagte Willis nur und zerrte ihn weiter. Ken hütete brav seine Zunge Am späten Nachmittag des dritten Tages wurde Ken erneut von seinem feuchten Gefängnis befreit und schnappte gierig nach Luft. „Ist das hier die Ebene?“, fragte er, als er sich umsah. Seine Stimme krächzte und für einen Moment fürchtete er, Schläge zu bekommen, aber Willis zerknüllte nur den Sack und warf ihn weg. „Ja. Wir sind hier am Rand deines Reiches. Hier ist es ruhig, es gibt keine neugierigen Zuschauer und vor allem keine lästigen Türme.“ Es war nicht einfach nur die Ebene, das große Grasfeld in der Mitte der DigiWelt, sondern der Ausläufer eines kleinen Gebirges. Sie standen auf einem Hügel, auf dem einige schroffe Felswände aufragten. Dorthinein führte der Zwillingsritter ihn. Die Schlucht war verwinkelt und hatte viele Aus- und Eingänge, aber nichts rührte sich. Willis musterte die Felswände, auf denen sattgrüne Pflanzenranken und Unkraut wucherten, und nickte zufrieden. Er schien nicht zu erwarten, dass Ken plötzlich zu fliehen versuchte, und selbst wenn er es wollte, käme er nicht weit. „In Ordnung. Bringen wir es hinter uns.“ Willis lächelte, und diesmal hatte es etwas Bitteres an sich. „Zeit für deine Hinrichtung, DigimonKaiser.“   Lopmon wurde von Willis‘ DigiVice in einen großen, braunen Affen verwandelt. Das war also Endigomon, gegen das Davis und die anderen einmal gekämpft hatten. Ken schluckte. Allmählich verstand er, warum Willis ihn hierher gebracht hatte. „Jetzt kann sich Endigomon endlich rächen“, sagte Willis bestimmt und bestätigte Kens Vermutung. Er sollte sterben, ganz klar, aber Willis wollte es Endigomon tun lassen, und er wollte kein Aufsehen erregen, indem er wieder das goldene Rapidmon heraufbeschwor und Kens Türme zerstörte, um ihm die Digitation zu ermöglichen. „Einen letzten Wunsch gewähren wir dich nicht“, erklärte Willis feierlich und Endigomon knurrte, „aber deine letzten Worte hören wir uns gerne an.“ Ken starrte den Jungen, der eigentlich auch sein Freund hätte werden können, und seine Digimon an. Alle drei schienen ihn zu hassen, sogar die beiden Zwillinge, die auf ihrem Rookie-Level doch so niedlich und unbekümmert aussahen. Was hast du ihnen angetan, Deemon. Und mir. „Bringt es hinter euch“, seufzte Ken. Er war dieser ganzen Farce müde. „Gut“, sagte Willis und legte Endigomon die Hand auf den massigen Arm. „Sei sauber und gründlich.“ „Hey! Willis!“ Der Zwillingsritter zuckte zusammen. Ken erkannte die Stimme sofort. Konnte das sein? Yolei lief den Hügel herauf und in die Felsschlucht, gefolgt von einigen anderen Digimon. Außer Hawkmon, das über ihr flatterte, waren da noch einige Ninjamon und Revolvermon. Ken starrte sie ungläubig an. Wäre das hier noch die Wüste, hätte er fest geglaubt, einer Fata Morgana auf den Leim zu gehen. Willis fluchte. „Ausgerechnet die. Warte“, murmelte er und drehte sich zu ihr um. Yolei sah ziemlich abgekämpft aus und strahlte nicht ganz so herzlich wie sonst immer, und als sie Ken sah, wurde ihr Blick nachdenklich. „Was für eine Freude, Euch zu sehen, Yolei. Was tut Ihr hier?“, fragte Willis sie nicht unfreundlich, noch ehe sie selbst eine Frage stellen konnte. Sie wandte den Blick nicht von Ken ab, die Stirn gerunzelt. „Äh, wir sind eben auf dem Weg zum Band. Da dachte ich, ich hätte Euch gesehen. Und was macht Ihr hier? Sagt mal, ist das …“ Schließlich hellte sich ihr Gesicht auf, nur um sich gleich darauf zu verfinstern. „Der DigimonKaiser“, stellte sie mit erschütternder Endgültigkeit fest. Willis stieß genervt die Luft aus. „Ja. Ich habe ihn zufällig hier aufgegriffen.“ „Da wird Mimi aber erfreut sein! Sie hat uns auch eine Nachricht zukommen lassen.“ Es war merkwürdig, sie schien gut gelaunt, doch immer, wenn ihr Blick Ken streifte, wurde er düster. „Vielleicht müssen wir Kabukimons Plan gar nicht ausführen.“ „Wer ist Kabukimon?“, fragte Willis, winkte dann aber ab. „Egal. Königin Mimi ist nicht bei Euch, nein? Und Michael auch nicht?“ „Nein.“ Yolei schüttelte den Kopf. „Wir sind vorgegangen, um die Umgebung auszuspähen. Mimi und Sir Michael sind einen halben Tagesmarsch hinter uns.“ Ken starrte sie nur an und fühlte sich plötzlich weinerlich. Er kannte Yolei eine gefühlte Ewigkeit, viel länger als Willis oder Nadine oder all die Digimon, die auf seiner Seite standen. Dennoch brachte er keinen Ton heraus. Sie hasste ihn ebenfalls, wie alle in der DigiWelt ihn hassten – bis auf die, die das alles für ein tatsächliches Spiel hielten und denen er gleichgültig war. Am liebsten wäre er in Tränen ausgebrochen, auf die Knie gefallen und hätte Yolei um Verzeihung für all die Untaten gebeten, die er nicht begangen und die Deemon ihnen eingeredet hatte. „Dann geht schon mal vor. Ich warte hier auf Königin Mimi.“ „Sie werden nicht hier vorbeikommen. Michael hat gesagt, sie wollen sich eher im Hinterland halten, außerhalb des Einflussgebiets des DigimonKaisers.“ „Geht trotzdem schon mal vor. Ich werde dann in Kürze nachkommen.“ „Ihr nehmt den DigimonKaiser mit?“ Sie trat an ihn heran, und Ken wich unwillkürlich zurück. Allein mit Blicken versuchte er ihr sein Bedauern zu signalisieren. „Kommt ihm besser nicht zu nahe“, warnte Willis. „Yolei, er ist gefährlich. Geh bitte zurück“, sagte Hawkmon drängend. „Er sieht ja grauenvoll aus.“ Yolei deutete auf seine geschundenen Füße. „Damals auf dem Stiefel war er wirklich gefährlich, aber so …“ Willis seufzte resigniert. Er schien zu erkennen, dass es keinen Sinn hatte, Yolei abzuwimmeln. Sie würde Mimi brühwarm erzählen, dass der Zwillingsritter Ken gefunden hatte. War es in Ordnung, Hoffnung zu schöpfen? Nein. Das dient alles nur mehr zu Deemons Belustigung. Es ist vorbei, definitiv. „Ob ich wohl kurz mit Euch sprechen kann?“ Willis berührte Yolei sanft an der Schulter und drehte sie herum. „Ihr da, passt auf ihn auf. Endigomon, du weißt, was du zu tun hast.“ Die Revolvermon salutierten und traten zu dem großen Affendigimon, während Willis und Terriermon mit Yolei, Hawkmon und den Ninjamon die Schlucht entlang gingen, wo am Fuße des Hügels weitere Digimon auf sie warteten. Ken verstand. Die Revolvermon gehörten auch zur Wissens-Armee. Als sie außer Hörweite waren, knackte Endigomon mit den Knöcheln. „So“, grollte es. Ken hatte gar nicht gedacht, dass dieses Digimon mit seinen Stimmbändern andere Laute als dieses Gurren formen konnte. „Töten wir ihn.“ Die Revolvermon starrten ihn verwundert an. „Ich dachte, wir sollten ihn in die Kaiserwüste bringen?“, fragte eines. „Willis verlangt, dass wir es tun.“ Die Revolvermon sahen einander an, dann zuckten sie mit den Schultern und zogen ihre Waffen. „Na dann. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte“, sagte eines. Ein anderes kicherte, die Augen eines dritten blitzten vorfreudig. Ken unterdrückte den Impuls, bis zur Felswand zurückzuweichen. Er würde nicht mehr zu fliehen versuchen. Es hatte ja doch keinen Sinn. Er ballte die Fäuste und schloss die Augen, wartete auf den Tod, der all dies beendete. Könnte er doch nur tatsächlich wieder vor seinem Computer aufwachen, wie Nadine es gesagt hatte. Vielleicht hätte es in Deemons Macht gelegen, die Regeln so abzuändern. Aber das wäre schließlich nur eine nutzlose Dummheit für es gewesen. Kommt schon. Tötet mich. Ich habe es verdient. Ich habe mein Bestes gegeben, aber alle sehen mich als ihren Feind an. Und die DigiWelt wird untergehen. Willis würde ohne Zweifel behaupten, die Revolvermon hätten sich nicht im Griff gehabt und wären von Hass überwältigt worden. Ob Yolei seinen Tod bedauern würde? Sie hielt ihn für einen Feind. Er würde sein Gesicht vor seinen Freunden nie reinwaschen können. Der Blick, mit dem Yolei ihn eben gemessen hatte, kam ihm in den Sinn. Als er die Augen noch fester zusammenkniff, spürte er, wie eine einzelne Träne über seine Wange rollte, und plötzlich erkannte er, dass er noch nicht sterben wollte. Bitte, irgendjemand, rettet mich! Aber es war niemand mehr übrig, der ihn retten konnte. Revolverhähne wurden klickend gespannt, und kurz darauf hörte er Schüsse und das Krachen von Endigomons Kanonen. Die erste Attacke erwischte Ken noch vorher an der Hüfte, peitschte grob gegen seine Haut, wickelte sich in einem Sekundenbruchteil um ihn und riss ihn fort. Er riss die Augen auf. Von links? Der Kugelhagel schlug dort ein, wo er eben noch gestanden war, traf die Felsen dahinter und ließ Steinchen und Erde aufspritzen. Der Druck um Kens Hüfte verschwand und er prallte hart auf dem Boden auf, überschlug sich und knallte gegen einen weiteren Felsen, der seine Rutschpartie aufhielt. Beißender Schmerz fraß sich durch seinen Hinterkopf. Etwas Rotes huschte an Ken vorbei. Die Revolvermon stießen wüste Rufe aus, als auch schon die nächsten Schüsse aufflammten – diesmal kamen sie von schräg oben. Etwas Gleißendes fegte die Revolvermon von den Füßen und verwandelte sie in digitale Asche, begleitet von einem irren Lachen. Auch Endigomon wurde von einer blitzenden Lichtschlange in die Brust getroffen und fiel geradezu absurd langsam mit einem kehligen Knurren hintenüber, leuchtete auf und digitierte zu Lopmon zurück. Ken wusste nicht, wie ihm geschah. Verwirrt blinzelnd stemmte er sich auf die Ellbogen hoch. Er hörte, wie jemand von den Felswänden sprang, und kurz darauf trat ein bandagiertes Bein in Kens Blickfeld. Mit einem klickenden Geräusch stellte die Gestalt eine riesige Maschinenpistole neben sich im Gras ab. „Das war ja einfach. Hast du gesehen, wie ich die erledigt habe?“, fragte das Digimon das Spinnenwesen neben sich. „Die waren alle ein Level unter dir. Spiel dich hier nicht so auf, Blödmann.“ Ken glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er wollte etwas sagen, als eine weitere Gestalt vor ihn trat. Er sah schwarze Stiefel und einen dunklen Mantel, und als er aufblickte, klappte die Person eben ihren Laptop zu. Ken schnappte nach Luft. „So fühlt es sich also an, mit beiden Beinen in der DigiWelt zu stehen“, sagte Oikawa.   Once there was love, now there is only doubt Feel the anger taking over my faith I gave you love – I give you hate I’m counting all my scars I gave you hope – I give you pain Your life is war (Primal Fear – King For A Day) Kapitel 38: Wahrheit -------------------- Tag 111   Sir Willis schien unruhig, was Yolei verwunderte. Sie kannte ihn eher als ausgeglichenen und charmanten Menschen, aber er sah immer wieder nervös über die Schulter, während sie den Hügel hinunterstiegen. Vielleicht war es kein Wunder – immerhin hatte er den gefürchteten DigimonKaiser gefangen. Trotzdem, und trotzdem er gefürchtet war, hatte Yolei Mitleid mit der abgerissenen Gestalt empfunden. Wenn er nicht seinen kaiserlichen Umhang und die futuristische Kleidung und seine bezeichnende Brille trug, fragte sie sich unwillkürlich, was einen so zerschlagenen Menschen aus Fleisch und Blut zu solchen Gräueltaten trieb. Der Zwillingsritter erkundigte sich genau, was Yolei in Little Edo getan hatte und was Mimi nun vorhatte. Sie erzählte es ihm auszugsweise; Kabukimons Scharade behielt sie für sich. Warum, wusste sie selbst nicht genau. Schließlich erreichten sie den Rebellenführer und die anderen Digimon, die am Fuß des Hügels auf sie gewartet hatten. „Ihr seid Kabukimon, der Rebell?“, fragte Willis und nickte dem Digimon zu. „Der bin ich. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Das ist Sir Willis der Zwillingsritter“, stellte Yolei ihn vor. „Es ist mir eine Ehre, Sir.“ Kabukimon verbeugte sich, aber nicht so tief, wie es gekonnt hätte. Noch ehe Willis etwas sagen konnte, platzte Yolei mit den bombastischsten Neuigkeiten heraus: „Du wirst es nicht glauben, Sir Willis hat den DigimonKaiser gefangen! Vielleicht brauchen wir deinen Plan gar nicht mehr umzusetzen.“ Kabukimon war normalerweise sehr gefasst, aber nun klappte der Mundteil seiner Maske nach unten. „Ist das wahr?“ „Eins nach dem anderen“, wehrte Sir Willis ab. „Dieser Plan sah vor, mit Königin Mimi am Band ein Whamon zu mieten und den DigimonKaiser vom Meer her anzugreifen, ja? Und Sir Michael ist einverstanden? Habt Ihr das auch mit unserer Basis abgestimmt?“ „Das haben wir“, sagte Kabukimon. „Sie haben sich dem Wunsch der Prinzessin gebeugt. Doch wenn Ihr tatsächlich den DigimonKaiser in Gewahrsam habt …“ Es wurde unterbrochen, als Schüsse vom Hügel her hallten. Yolei wirbelte herum, Hawkmon erhob sich von ihrer Schulter in die Luft. Auch Kabukimon wirkte alarmiert. „Was war das?“, rief sie. „Das klang wie die Revolvermon“, sagte Hawkmon. „Wahrscheinlich kein Grund zur Beunruhigung“, meinte Willis mit unergründlicher Miene. „Vielleicht versuchte unser Gefangener zu fliehen, und das waren Warnschüsse.“ Er schien zu überlegen. „Oder … Ich hoffe, die Revolvermon haben nicht die Beherrschung verloren. Der DigimonKaiser ist bei vielen Digimon sehr verhasst.“ „Dann ist er …?“ Yolei sprach den Gedanken nicht aus. „Ich sehe nach, was los ist!“ Hawkmon wollte losflattern, doch Willis hielt es zurück. „Warte. Ich komme mit. Ich habe hier den höchsten Rang inne.“ Er musterte Kabukimon schief. „Das seht Ihr doch auch so, Rebell?“ Yolei fragte sich, warum er so viel Zeit vergeudete. „Ich bin kein Ritter wie Ihr“, sagte Kabukimon und klang verstimmt, „aber ich kämpfe für das Wohl von Little Edo, und der DigimonKaiser ist auch mein geschworener Todfeind. Ich komme auch mit.“ „Dann beeilt Euch!“ Yolei hielt es nicht mehr aus und rannte los. Zusammen mit Hawkmon, Kabukimon und Willis, an dessen Rücken sich Terriermon festhielt, lief sie auf den Hügel zu und steuerte die Kuppe an, auf der die Felswände wie abgebrochene Zahnstümpfe aufragten. Sie hatten sie noch nicht erreicht, als ihnen plötzlich zwei Digimon buchstäblich in den Weg sprangen, wie Yolei sie noch nie gesehen hatte. „Schluss mit diesem Herumgerenne. Ihr bleibt jetzt erst mal schön brav stehen“, sagte das eine, eine hässliche Frau mit noch hässlicherem, rundem Spinnenrumpf in Rot und Lila. Die drei verharrten, Hawkmon landete neben Yolei. „Lopmon!“, rief Willis. Yolei erschrak, als ihre Augen Willis‘ Digimon fanden. Das zweite Digimon, das aussah wie eine übergroße Mumie, hielt es im Arm und drückte ihm den Lauf eines riesigen, glänzend schwarzen Gewehres an den Kopf. Lopmon schien bewusstlos zu sein. Was war dort auf dem Hügel vorgefallen? „Wer seid ihr? Was wollt ihr von uns?“, knurrte der Zwillingsritter. „Gehört ihr etwa zum DigimonKaiser?“, rief Yolei und ließ Lopmon dabei nicht aus den Augen, während sie scharf nachdachte. Sie war viel in der DigiWelt herumgekommen, aber sie hatte solche Digimon wirklich noch nie gesehen. „Ach, was sind denn das für lästige Fragen?“ Die zähe Stimme der Spinne klang genervt. „Wir haben gehört, einer von euch hat das DigiVice des DigimonKaisers.“ Die Stimme der Mumie war um einiges angenehmer, aber nur einen Deut ruhiger. Das eine freie Auge fand zielsicher Willis. „Händige es uns aus, dann bekommst du dein Digimon zurück.“ Willis ballte zähneknirschend die Fäuste. „Wisst ihr überhaupt, wer ich bin? Ich bin ein Ritter der Konföderation. Legt euch lieber nicht mit mir an.“ „Was sollte es uns interessieren, wer du bist?“, blaffte das Spinnendigimon. „Dein kleiner Plan, den DigimonKaiser zu ermorden, hat fehlgeschlagen, also spiel dich hier nicht so auf.“ Yolei sah Willis fragend an. „Was meint es damit?“ Er schwieg, starr auf sein gefangenes Digimon blickend. „Her mit dem DigiVice, oder du siehst deinen Freund hier nie wieder“, sagte die Mumie und verstärkte den Druck ihrer Waffe. In ihren langen Klauen wirkte Lopmon geradezu winzig. Willis griff eben in seine Tasche, als aus dem Handrücken der Spinnenfrau rote Fäden schossen und vor ihm auf den Boden peitschten. Kabukimon und Yolei spannten sich an. „Nicht so hastig, mein Kleiner“, sagte die Spinne. „Wir wissen, dass du ein Goldenes DigiArmorEi hast. Wenn du irgendwas Schnelles oder Unüberlegtes tust, töten wir dein Digimon, bevor dein anderes digitieren kann.“ Die überdimensionalen Augen glitten über die Versammlung. Kabukimons und Yoleis andere Truppen waren ebenfalls zu ihnen gestoßen, verharrten aber kurz hinter ihnen. „Das gilt für euch alle!“ „Hol das DigiVice raus, aber ganz langsam“, verlangte die Mumie. Willis funkelte die beiden aus seinen eisigen Augen an, näherte seine Hand dann aber betont langsam wieder seiner Jackentasche. „Ach, das ist mir zu kompliziert“, maulte das Spinnendigimon. „Du da, die Göre mit den Augengläsern!“ Yolei zuckte zusammen. „I-ich?“ „Ja, du! Siehst du hier noch so jemanden wie dich? Wie begriffsstutzig kann man eigentlich sein? Du holst das DigiVice aus seiner Tasche.“ „Und beeil dich“, fügte das Mumiendigimon hinzu. Yolei schluckte und sah Willis fragend an, der mit finsterem Blick nickte. Also griff sie in seine Jackentasche und fand auf Anhieb das schwarze DigiVice, das teuflische Hilfsmittel des DigimonKaisers, das ihrem bis auf die Farbe so ähnlich sah. Sie mochte Willis, seine freundliche, zuvorkommende Art und seinen Charme, und wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte es ihr vielleicht die Röte ins Gesicht getrieben, ihm so nahe zu kommen. „Jetzt wirf es rüber“, verlangte die Spinne. Yolei tat, wie geheißen. Das Digimon schoss einen Faden ab, der sich in der Luft um das DigiVice wickelte, und zog es in seine Hand. „Gut. Als Nächstes eure ArmorEier. Das goldene, und das der Liebe.“ „Niemals“, zischte Willis, und Yolei schnappte einmal mehr nach Luft. Woher wussten diese Digimon, dass sie ein ArmorEi hatte? Sie steckten mit dem DigimonKaiser unter einer Decke, garantiert – aber woher wollte dieser wissen, dass sie es von Mimi geschenkt bekommen hatte? „Sicher nicht?“, fragte die Mumie und ein spitzes Grinsen teilte ihr Gesicht. „Überleg es dir gut. Das Ei, oder dein Digimon?“ Willis war nun noch widerstrebender. „Was soll ich tun, Terriermon?“, flüsterte er. „Gib es ihnen“, murmelte sein zweiter Partner kleinlaut. „Sonst wird es wieder so wie damals, als Lopmon gestorben ist.“ Er seufzte knurrend und hob den Blick zum Himmel. Er war von bleigrauen Wolken zugezogen. Wahrscheinlich würde es bald wieder regnen. „Es ist in meiner anderen Jackentasche“, sagte er. Yolei verstand, ging um ihn herum, nahm das Ei an sich, das die Form eines Flügels auf einer Kugel hatte und dessen Gold ohne die Sonne stumpf und freudlos wirkte. „Hört mal, Yolei“, begann Willis, ohne sie anzusehen. „Ich weiß, Lopmon ist mein Digimon und es steht mir nicht zu, das von Euch zu verlangen, aber ich bitte Euch trotzdem …“ Er verstummte erstaunt, als er sah, dass Yolei ihr eigenes DigiArmorEi bereits hervorgeholt hatte und beide dem Spinnendigimon zuwarf. Sie zuckte lächelnd mit den Schultern, und Willis erwiderte ihr Lächeln schwach. Die Spinne fing die Eier auf wie zuvor das DigiVice. „Sehr schön. Wird Zeit, dass wir verschwinden.“ Es holte tief Luft und spie eine grüne Giftwolke zwischen die beiden und Yoleis Gruppe, die ihnen kurz die Sicht raubte und sie gewaltsam husten ließ. Als eine Brise den Nebel zerriss, lag Lopmon, immer noch bewusstlos, im Gras. Von den beiden merkwürdigen Digimon war nichts mehr zu sehen. Yolei meinte, am anderen Ende des Hügels etwas quietschen zu hören, aber sicher war sie sich nicht. „Hawkmon, du kannst hier digitieren, oder?“ Sie hatte keine Schwarzen Türme in dieser Gegend gesehen. „Natürlich.“ Goldenes Licht ließ aus Hawkmon Aquilamon werden. Während Willis zerknirscht zu Lopmon ging, sich hinkniete und es zärtlich hochhob, stieg Yolei auf den Rücken des Adlers. „Wir versuchen sie zu verfolgen“, verkündete sie, und da niemand etwas erwiderte, schwangen sich die beiden in die Lüfte. „Da vorn, Yolei.“ Aquilamons scharfe Augen entdeckten den hellen Punkt in der Landschaft sofort, der sich rasch von ihnen entfernte. „Hinterher!“, rief sie überflüssigerweise. Die Verfolgungsjagd endete allerdings fast sofort. Die Flüchtenden bewegten sich in von Schwarzen Türmen kontrolliertes Gebiet. Aquilamon zerstörte den ersten Turm noch aus der Ferne, aber die anderen waren zu weit weg und ihr Einflussbereich überlagerte sich. Wenn es näher an sie heranflog, wäre es gezwungen, zurückzudigitieren. Und ich habe mein DigiArmorEi nicht mehr, dachte Yolei bitter. Wie hat dieses Digimon es genannt? DigiArmorEi der Liebe? Als sie wieder bei Willis und Kabukimon landeten, trat Yolei auf den Zwillingsritter zu. Lopmon lebte eindeutig und schien auch nicht allzu schwer verletzt, dennoch stand Terriermon mit trübem Blick daneben. „Wen auch immer dein Ritter gefangen hat“, sagte Kabukimon, das die Felsen auf dem Hügel inspiziert hatte, „er ist weg. Dort oben ist gar nichts mehr, nur ein paar Einschusslöcher.“ „Sir Willis“, begann Yolei das unangenehme Thema. „Was hat dieses Spinnenwesen gemeint, als es sagte, Ihr hättet den DigimonKaiser ermorden wollen?“ Willis hob ruckartig den Kopf. „Nichts. Es hat gelogen“, sagte er. „Warum habt Ihr ihn nicht mitgenommen, als Ihr mit mir gesprochen habt?“, hakte sie nach. „Und warum habt Ihr die Revolvermon zu seiner Bewachung zurückgelassen, wenn Ihr doch meint, dass sie sich nicht beherrschen können?“ „Darum.“ Er klang zornig. „Ich muss mich nicht vor dir rechtfertigen.“ Sein schroffer Ton ließ Yolei nur noch entschlossener werden. „Terriermon hat gesagt, Lopmon wäre schon einmal gestorben? War das auch wegen dem DigimonKaiser? Wolltet Ihr es rächen?“ „Das geht dich gar nichts an!“, fuhr Willis sie an. „Wenn Ihr wirklich einen anderen Menschen töten wolltet, dann geht mich das sehr wohl was an! Dann kündige ich Euch nämlich die Freundschaft!“ „Er ist der DigimonKaiser!“ Das ist fast schon so viel wie ein Geständnis. „Aber er ist auch ein Mensch! Menschen werden nicht wiedergeboren, und er war ja kaum noch eine Bedrohung!“ „Ach? Er ist uns entkommen! Und er hat von irgendwoher diese neuen Handlanger bekommen. Wenn ich den erwische …“ Willis drückte Lopmon fest an sich und Yolei bekam für einen Moment Mitleid. Vielleicht tat sie ihm ja unrecht. „Ich finde es auch nicht gut“, sagte Terriermon plötzlich. Willis sah es fragend an. „Und ich weiß von Lopmon, dass es ihn auch nicht töten wollte. Es wollte dir nur nicht widersprechen, damit du deine Rache bekommen kannst.“ „Meine Rache?“, stieß Willis aus. „Aber Lopmon war doch …“ „Ich weiß, er hat uns vieles angetan“, fiel Terriermon ihm ins Wort. Es war ungewöhnlich ernst. „Aber ich stelle mir vor, wie sein Digimon-Partner sich fühlen müsste, wenn er sterben würde. So wie ich mich fühlen würde, wenn dir etwas zustoßen würde, Willis. Und ich weiß, dass zumindest sein Wormmon ein gutes Herz hat. Sonst hätte es sich nicht für ihn geopfert – wie ich mich für dich opfern würde.“ „Terriermon“, murmelte Willis. Dann seufzte er, streichelte Lopmon über den Kopf und stand auf. Yolei erinnerte sich an den Kampf in der Maya-Pyramide. Der DigimonKaiser hatte Matt vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt und Hawkmon verschont, obwohl seine Soldaten es hätten töten können. Vielleicht steckte noch mehr in seiner Persönlichkeit als pure Bosheit. „Gehen wir“, sagte der Zwillingsritter niedergeschlagen. Er trat einen Stein aus dem Weg. Kabukimon musterte ihn mit schief gehaltenem Kopf. „Der Zwillingsritter“, sagte es spöttisch. „Halt den Rand“, fuhr Willis es an. „Was deinen Plan angeht, so werden wir erst noch darüber reden. Kommt mit, Yolei.“ „Und wir werden auch über deinen Plan reden“, sagte Yolei patzig. „Mimi wird nicht erfreut sein, wenn sie erfährt, dass du aus persönlichen Rachegelüsten den DigimonKaiser ermorden wolltest.“ „Yolei“, murmelte Hawkmon beruhigend, das zurückdigitiert war. „Nur zu, macht mir Vorwürfe“, knurrte der Zwillingsritter unwillig. „Was wisst Ihr schon?“ „Ich weiß zum Beispiel, dass wir unsere ArmorEier nicht verloren hätten, wenn wir den DigimonKaiser gemeinsam bewacht und zu Mimi gebracht hätten. Und wahrscheinlich wäre Lopmon auch nicht verletzt worden.“ Darauf sagte Willis nichts mehr.     Das Geräusch des Motors wirkte einschläfernd auf Ken, die holprige Strecke bewirkte das genaue Gegenteil. Er hatte Mummymons gelben Wagen eigentlich als Zweisitzer in Erinnerung gehabt, doch das Gefährt, mit dem sie nun mit schätzungsweise nicht mehr als siebzig Pferdestärken durch die offene Steppe brausten, bot nun vier Personen Platz. Arukenimon und Mummymon hatten ihre menschliche Gestalt angenommen, Mummymon fuhr, die breiten Schultern tief über das Lenkrad gebeugt. Ken saß auf dem Rücksitz neben Oikawa, der lässig den Arm auf die Rückenlehne gelegt hatte. Er hätte nie gedacht, dass er einmal mit ihnen mitfahren würde. „Ich schulde dir wohl einige Erklärungen“, begann der Mann, mit dessen Lebenstraum der ganze Albtraum vor sechs Jahren begonnen hatte. Sein schwarzes Haar flatterte im Fahrtwind, seine Augen waren so stechend wie eh und je, aber er hatte mehr Farbe im Gesicht als damals. „Im Gegenzug hätte ich aber auch gerne ein paar Erklärungen von dir, Ken.“ Ken hörte nur mit einem Ohr zu. Er wandte den Blick ab und ließ ihn über die Landschaft schweifen. Steppe, saftiges Gras und Hügel, am Horizont schwarze Zacken. Er fühlte sich wie in einem Traum. Als er über die Schulter sah, bemerkte er, dass Aquilamon ihnen nicht länger folgte. „Ich kann verstehen, wenn du mir nicht traust“, sagte Oikawa nach einigem Schweigen. „Aber du solltest wissen, dass ich dir nichts Böses will. Diesmal nicht.“ „Das ist es nicht“, fühlte Ken sich bemüßigt zu sagen. Oikawa war ihr Feind gewesen, ja. Er, der er mit dem Tod seines Freundes nicht fertiggeworden war und unbedingt für sie beide die DigiWelt, von der er träumte, hatte besuchen wollen, war vor gut neun Jahren auf Myotismons Lügen hereingefallen, und die Kettenreaktion, die folgte, hatte die DigiWelt verwüstet und auch Ken selbst viel Kummer und Leid gebracht. Oikawas Brief war es zu verdanken gewesen, dass er nach dem Tod seines Bruders das DigiVice an sich gebracht hatte und der DigimonKaiser geworden war. Er hatte die Saat der Finsternis von Ken an die Saatkinder übertragen, die Deemon nun manipulierte. Er hatte das Tor zu der Welt aufgestoßen, in der sich Myotismon verkrochen hatte, hatte ihm als Wirt gedient und seine Wiedergeburt ermöglicht und fast hätten die DigiWelt und die Reale Welt dafür einen hohen Preis bezahlt. Aber Oikawa war letztendlich nur ein Opfer seiner eigenen Trauer gewesen. Wie weit einen Verzweiflung treiben konnte, vermochte Ken sich womöglich besser vorzustellen als jeder andere. Und Oikawa hatte die DigiWelt gesehen, die seine Träume verwüstet hatten, und hatte sein Leben gegeben, um sie zu retten – die Welt, die er so gerne betreten hätte. Kens Stimme kratzte rau in seinem Hals. Oikawa fischte aus seinem Mantel – es war der gleiche, dunkelblaue Trenchcoat, mit dem er immer aufgetreten war – eine Wasserflasche heraus und reichte sie ihm. „Hier. Wir sollten dich ein wenig aufpäppeln. Du hast einiges durchgemacht.“ Erst beim Anblick der vibrierenden Wasseroberfläche in der Flasche merkte Ken, wie ausgedörrt seine Kehle war. Er schraubte den Verschluss auf und trank gierig. Zu gierig – der holprige Weg und die fast schockierend plötzliche Kühle ließen ihn sich verschlucken und husten. „Das fängt ja gut an“, kommentierte Arukenimon sarkastisch. „Konzentriere dich auf die Umgebung und pass auf, ob uns niemand verfolgt“, sagte Oikawa scharf, ohne seine lässige Sitzposition aufzugeben. „Jawohl.“ Fast schon demütig holte Arukenimon einen Feldstecher heraus und suchte den Horizont ab. Ken versuchte erneut zu trinken. Mit kleinen Schlucken gelang es ihm diesmal, und es war eine Wohltat. Als würden seine menschlichen Empfindungen erst jetzt zurückkehren, spürte er seinen Hunger, seine schmerzenden Füße und, noch stärker als zuvor, seine Müdigkeit. „Frag mich, was immer du willst“, fuhr Oikawa fort. „Und dann erkläre mir, was mit meiner geliebten DigiWelt geschehen ist.“ „Sie erinnern sich also?“, fragte Ken misstrauisch. Die letzte Person, der Deemon angeblich ihre Erinnerungen gelassen hatte, hatte ihn hinterrücks verraten. Dieser Stachel saß noch tief. Einen zweiten würde sein Verstand nicht überleben. Wie grausam mochte Deemon sein? „Sollte ich nicht? Ich habe schon bemerkt, dass hier einige Dinge nicht sind, wie sie sein sollten. Haben die anderen DigiRitter ihre Erinnerungen verloren?“ „Wie kommt es, dass Sie hier sind und leben?“, fragte Ken zuallererst. Er meinte die Antwort zu kennen, aber seine Gedanken waren seit seiner Rettung neblig und er fühlte sich noch ausgelaugter als in den Stunden, in denen ihm sein Schicksal gleichgültig gewesen war. „Also stehe ich dir erst Rede und Antwort, ehe du mir vertraust? Wie du willst.“ Oikawa sah ihn nicht an, als er langsam zu einer Erklärung ansetzte. „Zunächst musst du wissen, dass ich in gewisser Weise immer hier war. Ich weiß nicht genau, was es war, mein Geist, meine Lebensenergie, mein Verstand, meine Seele, vielleicht etwas von allem. Es lebte in der DigiWelt fort. Diese Existenz war … anders, sehr viel anders als meine jetzige. Ich kann sie nicht beschreiben. Es war eine glückliche Zeit, auch wenn Dinge wie Glück plötzlich eine andere Bedeutung hatten.“ Ken erinnerte sich noch gut daran, wie Cody versucht hatte, Oikawa über die Grenze zwischen den Welten zu helfen. Doch er hatte sich geweigert, war in der Dimension geblieben, in der Wünsche Gestalt annehmen konnten, und hatte sein ganzes Leben in den einzigen Wunsch gelegt, die DigiWelt zu retten. Sein Körper hatte sich aufgelöst und die verwundete Welt geheilt. Izzy hatte hernach Theorien aufgestellt, dass Oikawa gewissermaßen ein Teil der DigiWelt geworden war, aber Ken war merkwürdigerweise erleichtert, nein, froh, es nun aus seinem eigenen Mund zu hören. „Ich trieb durch die DigiWelt, und ich wusste, dass ich, oder vielmehr meine Energie, es war, die alles zusammenhielt. Die das Schöne in der DigiWelt bewahrte und alte Wunden schloss. Ich sah Digimon, ich sah Menschen, ich sah eine glückliche, heile Welt.“ Oikawas Miene verdüsterte sich. „Dann geschah … etwas. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Etwas geschah mit mir, mit der DigiWelt, wurde anders. Ich wurde plötzlich nicht mehr gebraucht. Irgendeine Macht von außerhalb – andere Worte kann ich dafür nicht finden – überschrieb gewaltsam, was mit der DigiWelt geschehen war. Als wäre die Vergangenheit geändert worden, als wäre die DigiWelt nie am Rand der Zerstörung gestanden und als hätte es mich nie in dieser Welt gegeben. Ich sah, wie tote Digimon zurückkehren, aber nicht als unschuldige DigiEier, wie ich es gewohnt war. Als hätte ihr Tod einfach nicht stattgefunden, tauchten sie wieder auf, in einer Welt, in der es natürlich war, dass sie noch lebten. Und genauso, wie diese Digimon wiedergeboren, ihre Existenzen quasi zurückgesetzt wurden, erhielt auch ich mein menschliches Leben zurück. Das ist zumindest meine Theorie. Allerdings lief die Sache wohl nicht ganz rund, vielleicht, weil ich von Anfang an nur eine Art Geist gewesen war. Jedenfalls erschien ich nicht in der DigiWelt. Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, stand ich in dieser albtraumhaften Welt, deren Tor ich einmal selbst geöffnet hatte.“ Er ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und amtete hörbar durch. Ken beobachtete ihn genau. Es musste eine Wohltat für ihn bedeuten, Wetter und Luft genießen zu können. Die DigiWelt war der menschlichen viel ähnlicher als diese merkwürdige Wunsch-Dimension, an die sich jeder von ihnen nur mit Schrecken erinnerte. „Und dann?“, hörte Ken sich fragen. „Ich wollte herausfinden, was geschehen war. Vielleicht kann man es am besten so beschreiben: Ich hatte meinen Frieden als flüchtige Kraft in der DigiWelt gefunden, und dieser Friede war mir genommen worden. Die andere Welt gewährte mir daraufhin einen neuen Wunsch: Sie öffnete mir ein Tor hierher. Ehe ich es betrat, erschuf ich, kraft meiner Gedanken, Arukenimon und Mummymon neu. Meinen Laptop hatte ich bei mir, meine DNA-Analysen waren noch darauf gespeichert. Die beiden teilen außerdem meine Erinnerungen, habe ich festgestellt.“ Ken ließ den Blick zu den Digimon auf den Vordersitzen wandern, die einst seine schlimmsten Feinde gewesen waren. Sie hatten bisher keine Reaktion gezeigt, aber nun ließ sich Arukenimon zu einer abfälligen Antwort hinreißen, als hätte es Kens Gedanken gelesen. „Ja. Hätte nie gedacht, dass wir mal auf einer Seite stehen würden.“ „Ich habe sie zuerst in die DigiWelt geschickt, weil ich nicht wusste, ob ich sie betreten konnte“, fuhr Oikawa fort. „Dann bemerkte ich das Zeitgefälle. Wir blieben über meinen Laptop in Kontakt, aber in der DigiWelt geschah alles viel schneller.“ Ken nickte. Eintausend Jahre sind acht Monate. Wenn die Zeit in der Wunschwelt genauso schnell verlief wie in der Menschenwelt, war es kein Wunder, dass Oikawa erst jetzt auf die Bildfläche trat. „Also wagte ich den Schritt in die DigiWelt. Ich gestehe, ich hatte Angst davor. Was, wenn sie mich wie einen Fremdkörper abstoßen würde, wenn ich in meiner menschlichen Gestalt herüberwechsle? Aber es tut unendlich gut, hier zu sein. Die Zeit als Geist war erhebend, aber eben anders.“ Nun blickte er Ken an. „Du bist dran. Arukenimon und Mummymon haben mir einiges von dem erzählt, was hier geschehen ist, aber ich begreife nicht, wie ein derartiger Krieg ausbrechen konnte. Stimmt es, dass deine Freunde an verschiedenen Fronten kämpfen? Das scheint mir alles sehr verquer.“ „Ist es auch.“ Ken schluckte. „Bevor ich es Ihnen sage, muss ich Sie aber noch etwas fragen, Oikawa.“ Oikawa lächelte. Es sah … ungewohnt aus. „Bevor du mich das fragst, muss ich dich etwas bitten. Lassen wir doch die Höflichkeiten. Wir sind beide DigiRitter. Nenn mich Yukio.“ DigiRitter … Ken nickte zögerlich. „Gut. Yukio … wenn du nicht genau weißt, was in der DigiWelt vor sich geht, warum hast du dann gerade mir geholfen, und nicht etwa Willis? Immerhin bin ich der DigimonKaiser. Ich müsste der Bösewicht in diesem Spiel sein.“ „Du kamst mir nicht sehr böse vor. Für mich sah es so aus, als wollte dieser andere Junge dich umbringen. Du brauchtest Hilfe, und ich kannte dich.“ Ken sah ihn nachdenklich an. Entweder habe ich großes Glück, oder … „Vielleicht solltest du dich erst auf eigene Faust umhören“, murmelte er. „Was ich dir sage, könnte gelogen sein.“ Vielleicht haben sie alle recht. Ich bin der Böse, der Tyrann. Man muss mich bekämpfen. Eine Weile fuhren sie schweigend über die Steppe. „Du hast dein DigiVice durch mich erhalten, weißt du noch?“, fragte Oikawa irgendwann. Ken durchfuhr es wie ein Blitz. Natürlich … Nach Sammys Tod hatte Oikawa ihm einen Brief geschrieben, in dem er ihn ermutigt hatte, das DigiVice, das erst sein Bruder beansprucht hatte, an sich zu nehmen. Dasselbe DigiVice, das er im tintenschwarzen Wasser des Meers der Dunkelheit getauft hatte. In gewisser Weise hatte seine Reise als DigiRitter tatsächlich mit Oikawa begonnen. „Ja“, sagte er kleinlaut. „Meinst du nicht, dass wir beide zusammenarbeiten sollten? Ich kenne dich gut, Ken, auch wenn du das vielleicht nicht glaubst. Ich konnte damals deinen Schmerz nachempfinden, wirklich. Was ich getan habe, war durch Myotismon beeinflusst, ohne Zweifel, aber wir haben beide jemanden verloren, der uns wichtig war. Du hast viel gelitten, auch durch meine Schuld. Wir waren beide Puppen an Myotismons Schnüren. Ich habe dich so oft verzweifelt gesehen, und nachdem dieser Schatten von mir gewichen ist, habe ich erst erkannt, wie schrecklich du dich gefühlt haben musst. Deswegen glaube ich nicht, dass du böse sein kannst. Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch in dieser seltsamen Welt, der nicht böse sein kann.“ Ken war sprachlos. Er kam nicht umhin, eine neuerliche Falle Deemons zu vermuten – aber es klang so ehrlich, und irgendwie erkannte er auch die Wahrheit hinter Oikawas Worten. Nein, sei nicht so naiv! „Wir haben einige Dinge über dich gehört, Kleiner“, sagte Arukenimon auf dem Beifahrersitz. Es spielte mit einer Haarsträhne und sah in die Ferne. „Die, die klar deine Feinde sind, haben sich das Maul über dich zerrissen. Aber da war auch ein Haufen anderer Digimon. Vor allem die in deinem Reich, und die haben die Nachricht ganz anders aufgefasst, dass du angeblich verreckt sein sollst. Man könnte wirklich meinen, sie hätten um dich getrauert.“ Ken glaubte kaum, was er da hörte. Seine Untertanen. Ogremon, das noch stur zu ihm hielt. Waren da etwa noch mehr, die …? Zahlte es sich doch aus, dass er versucht hatte, ein gerechter Herrscher zu sein? „Nach dem, was Arukenimon und Mummymon mir erzählt haben, gibt es nicht wirklich eine Seite in diesem Krieg, die böse ist. Auch du nicht – ganz besonders du nicht. Ich habe keine Bedenken, dir bei deinem Kampf zu helfen – und ich habe das Gefühl, dass du als einer der wenigen wirklich darüber Bescheid weißt, was hier los ist“, fuhr Oikawa fort. „Also sag schon. Wer steckt hinter diesem Krieg? Wieder Myotismon?“ Ken schüttelte den Kopf. „Deemon.“ „Das Digimon, das damals auch die Saat der Finsternis haben wollte? Dass ihr im Westendviertel verbannt habt?“ Oikawa lächelte. „Ich erinnere mich. Das war eine kleine Heldentat von dir.“ „Es ist entkommen. Und ich … spiele ein Spiel gegen es – behauptet es zumindest. Und ich bin drauf und dran, zu verlieren.“ Ken sank immer weiter in seinen Sitz zurück. Ich darf mir keine Hoffnungen mehr machen. Alles, was ich aufgebaut habe, ist bereits verloren. Ich bin nur noch auf der Flucht. „Noch ist nicht aller Tage Abend“, beruhigte ihn Oikawa. „Also erzähl weiter. Was ist der Einsatz dieses … Spiels?“     Der nächste Traum, der sie überkam, war viel realer als der vorherige. Sie war auf der Flucht, auf der Flucht vor einem riesenhaften Schatten mit einer Sense. Vielleicht war es der Tod selbst. Und natürlich konnte sie über die stoppelbraunen Felder laufen, so schnell sie wollte; sie entkam ihm nicht. Schon spürte sie eisige, metallische Finger, die ihren Leib umschlossen, ein kalter, rachsüchtiger Griff. „Da bist du ja“, knurrte eine altbekannte Stimme. „Dachtest du, du könntest mir entwischen? Ich kann deinen Traum aus Millionen anderen herausschmecken!“ Als hätte die Angst vor ihm in ihrem letzten Traum es in diesem hier heraufbeschworen. „MetallPhantomon“, keuchte sie. „Nein ... Lass mich in Frieden!“ „In Frieden?“ Das Digimon lachte kehlig, während sein Schatten sie rasend schnell umkreiste. Sie sah nur noch Schwarz und graues Metall, Fleisch gewordene Angst. „Wann wolltest du je Frieden? Selbst in deinen Träumen herrschte immer nur Krieg, Krieg, Krieg! Das überstieg sogar meine Kräfte – aber nun, da du Frieden schließen willst, wie könnte ich da nicht ein wenig in deinen Gedanken mitmischen?“ Sora versuchte sich zu wehren, aus seinen kalten Klauen auszubrechen, aber sein Griff, der Griff dieses Albtraums, wurde immer fester, bis er körperlich wehtat. „Der DigimonKaiser hat dich mir vielleicht entzogen“, Metallphantomons Stimme wurde schrill und kreischte über ihre Hörnerven, „aber deine Träume gehören mir! Vergiss das nie!“ Mit einem Knall zog es sich zurück, als jemand Sora an der Schulter rüttelte. „Sora!“ Ihr Name. Wer kannte ihren Namen? Es gab nur noch zwei, die sie so ansprechen würden ... Als sie gewaltsam die Augen aufriss, sah sie Tai über sich gebeugt stehen. „Alles in Ordnung? Du hast geschrien.“ Nichts ist in Ordnung, hätte sie beinahe gesagt, aber sie verbot es sich. Ihre Träume hatten noch nie ihr gehört, warum sollte es plötzlich anders werden? Sie merkte, dass sie schweißgebadet war. „Sind wir schon da?“ Er verzog das Gesicht. „Sie haben uns einfach schlafen lassen. Es ist schon Morgen.“ Der Wagen stand still, und Tai deutete auf die Einstiegsklappe, die einen spaltbreit geöffnet war. Gleißendes Licht bohrte sich in das düstere Innere der einstmaligen Kommandozentrale. Die Giromon waren verschwunden, wahrscheinlich hielten sie draußen Wache, oder sie waren sogar aus ihren Diensten entlassen worden. „Hast du ... heute Nacht etwas bemerkt? Etwas Ungewöhnliches?“, fragte Sora. Sie konnte nicht beschreiben, was genau sie gesehen hatte. Traum oder nicht, es verblasste vor der Erinnerung an MetallPhantomon, die ihr auch jetzt noch einen Schauer über den Rücken jagte. „Was? Nein, sollte ich?“ „Ich ... Nicht so wichtig“, winkte sie ab. Agumon sah sie auch so schon argwöhnisch an, als befürchtete es, sie könnte wieder versuchen, Tai etwas anzutun. Sora fand sein Misstrauen gerechtfertigt. Nichts anderes verdiente sie. Irgendwann schob sich die Klappe ganz in die Höhe, und die Umrisse eines Unimons wurden als Schatten, über dessen Ränder das weiße Wüstenlicht blutete, sichtbar. „Ihr könnt herauskommen, ich habe alles vorbereitet. Unser geliebter König erwartet euch schon.“ Den geliebten König sprach Datamon nun eindeutig spöttisch aus. Es war noch viel heller im Freien. So weit das Auge reichte, sah man strahlend blauen Himmel und Sand in allen Stufen von Gelb bis Braun. Ein Dünenmeer, so trostlos wie Soras Gedanken. Das Monochromon hatte neben den beiden einzigen Gebäuden angehalten, die sie erblicken konnte, eine große, steinerne Sphinx und eine ebenso große Pyramide, die allerdings auf dem Kopf stand und eher aussah wie ein Spielzeug, das ein Riese in den Sand hatte fallen lassen. „Wenn das das Hoheitsgebiet des Einhornkönigs ist, ist es aber erstaunlich schlecht befestigt“, bemerkte Tai, als er sich umsah und weit und breit auch keine Wachen sah. Vielleicht versteckten sie sich in der Pyramide? „Kommt weiter“, sagte Datamon von Unimons Rücken aus. „Zum Bummeln ist auch später noch Zeit.“ Der Haupteingang der Pyramide war von einem schweren, stählernen Tor verschlossen, das knirschend aufschwang, als sie sich näherten. Datamon führte sie durch einen langen Gang. Seitlich wechselten sich Durchgänge zu Räumen aus Stein oder blitzend sauberem Metall ab, in denen Digimon vor schwerer Computermaschinerie saßen. Es waren zumeist Gazimon, erkannte Sora, und fast alle trugen stachelige Halsreifen wie Gefängnisketten. Waren sie hier Sklaven, wie sie auch der DigimonKaiser hielt? Wie viel besser war dann der Einhornkönig? Besser als ich mit Sicherheit, dachte Sora mutlos. Ich war eine schreckliche Herrscherin, auch wenn ich nie eine sein wollte. „Solche Anlagen hat der DigimonKaiser auch“, sagte Tai, als sie, Unimon folgend, an weiteren Computerräumen vorbeikamen. „Und die Wissens-Armee, soweit ich gehört habe.“ „Die waren schon da, bevor unser König sich hier eingerichtet hat“, sagte Datamon. „Er braucht aber jemanden, der sie auch bedienen kann. Ohne mich wäre er aufgeschmissen.“ Nun klang es auch noch arrogant. Wenig später stiegen sie Treppenstufen nach unten – und standen plötzlich vor einem Maschendrahtzaun, der den Gang völlig blockierte. Sora kniff die Augen zusammen. Bestand er aus Kabeln? Oder einem speziellen Metall? In unregelmäßigen Abständen liefen elektrische Blitze darüber. Hinter dem Zaun war nur diffuses, weißes Licht zu sehen. „Folgt mir, und passt auf, dass ihr die Wand nirgends berührt, wo ich es nicht auch tue, sonst werdet ihr gegrillt.“ Datamon ließ Unimon auf eine bestimmte Stelle in der Wand zutraben –  und verschwand einfach darin. Tai und Sora sahen sich ratlos an. Vielleicht wäre jetzt der passende Moment, zu fliehen – aber war das eine gute Idee? Immerhin hatte Datamon sie gewissermaßen befreit, auch wenn sie nur eine Kette gegen die andere ausgetauscht hatten. Und wie weit würden sie kommen, wenn draußen nichts als Sand, Sand und noch mehr Sand war? Tai straffte schließlich entschlossen die Schultern und schritt mitten zwischen den zuckenden Blitzen durch die Drahtwand. Agumon folgte ihm, und schließlich auch Sora. Dahinter wartete der Einhornkönig auf sie.   These black oceans among these stars I am wounded inside, filled with scars My only friend this silent voice I must follow its rules, it’s my only choice (Celesty – Demon Inside) Kapitel 39: Jammerlappen und Helden, Geister und Tyrannen --------------------------------------------------------- Tag 111   Der Raum, in den der Gang hinter der elektrischen Wand führte, war halb so groß wie der Ratssaal in Santa Caria und sah nicht im Mindesten königlich aus. Dafür aber gemütlich. Auch hier gab es eine ganze Monitorwand mit einigen Computerkonsolen, aber der Rest wirkte wie ein richtiges Wohnzimmer. Es gab ein Bücherregal, ein Schachbrett auf einem kunstvoll geschnitzten Tischchen, ein Himmelbett, riesige Sitzkissen in den Ecken und sogar ein Tischtennis-Tisch. Außerdem waren da ein Kühlschrank und eine Minibar. Eine breite grüne Couch lud in der Mitte zum Sitzen ein, und auf ihr saß ein Junge, der ebenfalls nichts Königliches an sich hatte, aber trotzdem nur König Takashi sein konnte. „Endlich seid ihr da“, begrüßte er sie leger. „Datamon, du hast dir echt Zeit gelassen.“ Unimon trabte mit Datamon näher, das sich schweigend auf einen Computersessel schwang. Unimon selbst wurde von goldenem Licht eingehüllt und digitierte zu einem Tapirmon zurück, das sich neben Takashi niederließ. Sein Digimon, ging es Tai durch den Kopf. „Darf ich euch irgendwas bringen lassen? Haben euch die Cocktails geschmeckt?“, erkundigte sich der Einhornkönig. „Cocktails?“, fragte Tai. „Hat euch Datamon nichts angeboten? Der Wagen, mit dem ihr gefahren seid, hat eine eingebaute Cocktailbar. Sehr angenehm, wenn man in der Wüste rumfahren muss. Datamon, das war aber nicht nett. Jetzt halten sie uns für geizig.“ Datamon hatte für seinen tadelnden Tonfall nur ein blechernes Schnauben übrig. „Dann werde ich euch eben was mixen. Eine kleine Erfrischung tut uns sicher allen gut.“ König Takashi stand seufzend auf, schlenderte lässig zu der Minibar und holte ein paar Saftpackungen und Flaschen mit klarer Flüssigkeit heraus. Tai kam die Szene immer unwirklicher vor. Träumte er, oder war er tatsächlich in Gegenwart eines Königs? Vielleicht spielte man nur mit ihnen. Soweit er wusste, hatten das Einhorn und seine Vasallen noch keinerlei Bündnisse mit den übrigen Reichen geschlossen. Allerdings konnte viel passiert sein in den Tagen seiner Gefangenschaft … Er beschloss, vorsichtig zu sein. „Majestät“, begann er. „Darf ich fragen, was Ihr mit uns zu tun gedenkt? Eurer Gastfreundschaft nach zu urteilen, seht Ihr uns nicht als Feinde?“ Der König sah ihn einen Moment verdutzt an, dann lachte er, während er zwei Gläser mit Orangensaft füllte. „Okay. Ich stehe auch auf dieses höfliche Getue. Ihr habt recht, Sir. Euer Diplomat war vor einiger Zeit hier. Wir haben einen Pakt besiegelt, um dem DigimonKaiser gemeinsam zu trotzen. Wir sind also sozusagen Verbündete.“ Tai fiel ein Stein vom Herzen. Demnach hatte Wizardmon ganze Arbeit geleistet. „Das heißt, Ihr werdet uns …“ „Ich werde Euch wieder in Euer Reich zurückschicken. Eure Begleitung auch, wenn Ihr Wert darauf legt. Wollt Ihr uns nicht vorstellen? Ich weiß, dass Ihr Taichi heißt, aber …“ Tai warf Sora einen unsicheren Blick zu. Sie sah unbehaglich weg. Wie viel konnte er verraten? Zumindest Datamon hatte gewusst, wer Sora in Wirklichkeit war. Wusste Takashi es auch? „Das ist … Sora“, sagte er nur. „Angenehm.“ Das war König Takashis einziger Kommentar. Und er zwinkerte Sora zu, als er den beiden ihre Getränke reichte. Agumon bekam nichts. „Hier. Leider ohne Schirmchen, ich finde das kitschig.“ Tai musterte ihn genau. Sie beide waren etwa gleich groß, aber der König war deutlich jünger als er und Sora. Es ging das Gerücht, dass sogar seine beiden Vasallen, die Territoriallords der Goldenen Zone, älter wären als er. Tai war es schleierhaft, wie er sich deren Respekt erkämpft haben sollte – er wirkte so gewöhnlich. Sein braunes, gelocktes Haar stand ähnlich vom Kopf ab wie Tais, seine Augen waren tiefblau. Er merkte, dass er den König unangemessen lange anstarrte, denn dieser starrte unverwandt zurück. „Autsch“, sagte er und deutete auf Tais Auge. „Muss wehgetan haben. Und ist vermutlich ziemlich unpraktisch so. Ich denke, das wäre ein Grund, sich umzubringen und nochmal neu einzusteigen. Alles, was recht ist.“ Tai blinzelte verwirrt. „Äh, was?“ Takashi hob die Brauen. „Na, dein Auge. Ich hätte mich wohl längst auf einen elektrischen Stuhl gesetzt und neu angefangen. Die Digimon werden sich schon an einen erinnern.“ Tai sah den König nur entsetzt an. Wovon redete er? „Oh nein“, murmelte Takashi und sein Blick wurde anders, abfälliger. „Sagt bloß, ihr beide …“ Er setzte neu an. „Eine Frage. Seid ihr in der DigiWelt geboren und aufgewachsen und lebt hier, seit ihr denken könnt?“ Tai und Sora tauschten unsichere Blicke, ehe sie nickten. Was war in diesen verschrobenen König gefahren? „Meine Güte. Hab ich’s doch gewusst.“ Takashi schlenderte zu seiner Couch zurück, warf sich hinein und schlürfte sein eigenes Getränk durch einen gestreiften Strohhalm. „Datamon, das sind auch NPCs, wie du.“ „Fangt Ihr wieder damit an?“ Datamon klang genervt, wandte sich aber nicht um. Es überwachte irgendwelche Daten an einem der Computer. Tai nippte an seinem Cocktail. Halb erwartete er, Alkohol zu schmecken, doch es war nur eine wilde Mischung aus Zitronensaft und Orangenlimonade, dazu noch irgendetwas anderes, das das Getränk so sauer machte, dass er das Gesicht verzog. „Setzt Euch schon endlich. Macht es Euch irgendwo gemütlich. Kostet das Gleiche.“ Takashi wies auf die Sitzkissen und die Stühle vor dem Schachtisch. Nachdem seine Gäste zögerlich Platz genommen hatten, sagte er: „Also, ich werde trotzdem den netten Gastgeber spielen. Das wird vermutlich von mir erwartet. Datamon, lass die Küche wissen, dass sie für drei Leute mehr kochen sollen. Morgen arrangiere ich einen Transport in den Norden für Euch, aber jetzt werden wir erst mal ein wenig plaudern.“ Er überschlug die Beine. „Was wisst Ihr über die momentane Kriegslage? Habt Ihr schon erfahren, dass der DigimonKaiser so gut wie erledigt ist?“ Datamon hatte Ähnliches behauptet, aber die Nachricht von einem König und nicht von einem zynischen Dienerdigimon zu hören, traf Tai trotzdem wie ein Schlag. „Was genau ist denn passiert?“ Takashi grinste. „Keine Rose ohne Dornen, sag ich mal. Die Gute hat ihn ans Messer geliefert – ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt, aber warum eine Gelegenheit auslassen, um seine Feinde zu verleumden? Angeblich ist er irgendwo in seiner Wüste auf der Flucht. Baronmon ist gerade dabei, sein Heer zu erledigen, dann richten wir unsere ganzen Anstrengungen auf Königin Nadine.“ Also hatte Datamon Taomon belogen, als es vom Tod seines Herrn sprach. „Ich hab versucht, mit Eurem König in Kontakt zu treten, aber irgendwie höre ich die Antworten immer nur von seinen Lakaien“, fuhr Takashi fort. „König Leomon ist verreist“, murmelte Tai. „Es kämpft andernorts gegen den DigimonKaiser.“ „Hm.“ Takashis Augen blitzten. „Dabei sollte man meinen, es hätte im eigenen Reich genug zu tun. Das Blutende Herz hat einen Umsturz erlebt. Irgend so ein Geistdigimon hat sich zum König ausrufen lassen. Wie ich höre, ist im Norden die Hölle los.“ Tais Herz verkrampfte sich. MetallPhantomon. Wer sollte es sonst sein? Er musste dringend zurück! Prüfend warf er Sora einen Blick zu. Sie war auf einen Schlag erbleicht. Bisher hatte sie noch kein Wort gesagt, aber nun machte sie den Mund auf. „Wisst Ihr … Genaueres darüber?“ „Nur, dass es vorrangig nachts angreift. Diese zwei Königsreiche liegen schon ewig im Streit. Unser Pakt richtet sich nur gegen den DigimonKaiser, also geht es mich nichts an.“ Takashi leerte sein Glas. „Sora, ja? Hast du kein Digimon?“ Sora sank in sich zusammen. „Ich … Es ist irgendwo dort im Norden“, murmelte sie. „Ich hoffe, dass es ihm gutgeht …“ Tai berührte ihre Hand, die eiskalt war. „Keine Sorge. Wir werden es finden und dort oben aufräumen.“ Sie sah ihn nicht einmal an. „Wirklich ausgereift, das Ganze. Rührende Einzelschicksale“, kommentierte Takashi. „Da fällt mir ein, stimmt es, dass Euer Digimon bis auf das Mega-Level digitieren kann, Sir Taichi? Man berichtete mir von einem überaus schlagkräftigen WarGreymon.“ „Agumon ist eines der stärksten Digimon in unserem Heer“, bestätigte Tai und Agumon drückte stolz die Brust raus. „Darf man fragen, warum Ihr dann nicht einfach mit ihm ins Herz des Kaiserreichs geflogen seid und den DigimonKaiser von seinem Thron geschubst habt? Soweit ich weiß, kann er mit nichts Vergleichbarem aufwarten. Eigentlich unfair, wenn NPCs so stark sind.“ Was Takashi mit dem letzten Satz meinte, blieb Tai ein Rätsel. Auf seine Frage konnte er jedoch eine Antwort geben. „Wir hätten es getan, wenn es möglich gewesen wäre. Aber der DigimonKaiser hat ein zu großes Reich und zu viele Digimon, die ihn beschützen und für ihn kämpfen. Und wir müssten jeden Schwarzen Turm auf dem Weg zerstören. WarGreymon würde ermüden und zurückdigitieren.“ „Verstehe.“ Der König ließ einen tiefen Seufzer hören. „Das mit den Türmen werde ich auch nie begreifen. Wieso haben die des DigimonKaisers so viel mehr Pepp als meine eigenen? Er hindert Digimon am Digitieren und kann sie mit Schwarzen Ringen beherrschen. Und unsere? Die sind eher nur zur Zierde. Keiko hat irgendwann sogar aufgehört, welche zu bauen. Und Hiroshi meinte, man sollte sie ein bisschen bunter anmalen. Ich fand die Idee eigentlich ganz lustig, aber einen Turm mit grünen und blauen Kringeln wollte ich dann doch nicht vor der Haustür stehen haben.“ Langsam begriff Tai, warum Takashi so seltsam war. Er nahm das Ganze einfach nicht ernst. Als hielte er diesen Krieg und alles, was damit verbunden war, für bloßen Zeitvertreib. Ein Spiel. Plötzlich wollte er so schnell wie möglich fort von hier. „Ich will nicht unhöflich erscheinen“, begann er, „aber wir sind recht müde. Ob Ihr uns wohl unser Quartier zeigen könntet?“ Takashi schnalzte mit der Zunge. „Gern doch. Ich hab mich zwar ziemlich auf ein Gespräch gefreut, aber NPCs sind halt doch nur NPCs. Ich werde wohl die Rose hierher schleifen lassen, wenn wir sie erst erledigt haben, von ihr weiß ich, dass sie ein Mensch ist. Dann kann ich endlich mal ein richtiges Gespräch mit jemandem führen, dessen Antworten nicht vorprogrammiert sind. Es ist zwar so gut gemacht, dass es nicht langweilig wird, aber es ist einfach nicht dasselbe wie eine richtige Unterhaltung.“ Er streichelte Tapirmon über den Kopf, das sich auf der Couch zusammengerollt hatte, und plapperte einfach weiter, als wäre alles, was er sagte, von vornherein verschwendete Luft und Tais Eindruck von ihm egal. „Wirklich schade, dass es nur so wenige Spieler gibt, dass man sie mit der Pinzette rauspflücken muss. Ich hoffe, der Krieg gegen die Schwarze Rose dauert noch ein bisschen. Es macht einfach mehr Spaß, gegen echte Menschen zu spielen.“     Lange hatten sie nicht mehr geredet. Man könnte meinen, die beiden hätten in Etemons Wagen lange genug geschlafen, aber nach einem gemütlichen Essen hatte der Drachenritter wiederholt, wie müde sie doch wären, und sie hatten sich in ihre Quartiere verzogen. Schlechte KI, vermutete Takashi. Aber das Spiel ist in fast allen Aspekten so ausgereift, vielleicht ist eine kleine Abweichung von der Norm beabsichtigt. Auch er selbst gähnte ungeniert und streckte sich. Datamon hatte die wichtigsten Nachrichten für ihn aus der Informationsflut seines Netzwerks herausgefiltert und ihm auf den Bildschirm geschickt. Trotzdem waren die meisten langweilig. Der Besuch der zwei Fast-Menschen war bei weitem das Spannendste gewesen, das heute passiert war. „Wenn die beiden schlafen, fahr mit dem Scanner drüber“, sagte er zu Datamon, das neben ihm an der Konsole arbeitete. „Ich wollte das Teil immer schon ausprobieren. Könnte vielleicht ganz lustig sein.“ „Da bin ich Euch schon einen Schritt voraus gewesen“, meinte Datamon überheblich. „Ich habe sie schon gescannt, als wir mit dem Wagen hierher unterwegs waren.“ „Du hast das Ding in Etemons Wagen eingebaut?“, fragte Takashi erstaunt. Dann lächelte er. „Dazu hattest du eigentlich keine Befugnis.“ Datamon antwortete nicht. Selbst sein Schweigen war überheblich. Das Digimon war überaus nützlich gewesen, als er diesem Clown, der sich vorher hier König genannt hatte, gezeigt hatte, wo es langging, und auch Etemons Netzwerk wusste es hervorragend als Spionagewerkzeug einzusetzen. Wäre Datamon nicht ein so wertvoller Verbündeter, hätte sich Takashi längst seiner entledigt. Apropos entledigen. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss kurz die Augen, horchte in sich hinein, auf das kleine, dunkle Flimmern am Rand seines Bewusstseins. Als er die Lider wieder hob, schien die Welt den Atem angehalten zu haben. Grau in Grau war sein gemütliches Regierungs-Wohnzimmer, und in einer Ecke flackerte die Gestalt des Spielmeisters. „Gibt es etwas?“, fragte Deemon. Du klingst, als würdest du dich nicht freuen, dass ich mit dir reden will. Ich dachte immer, du kannst ein Pläuschchen in Ehren nicht verwehren. „Ich habe nichts gegen interessante Gespräche. Doch du belästigst mich oft mit Kleinigkeiten. Was gibt es diesmal, Takashi?“ Nur die Ruhe. Ich wollte dich nur fragen, wie es dem DigimonKaiser so geht. Als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, war er auf der Flucht in seinem eigenen Land. Ich habe keine Lust mehr, ständig auf Spione und Gerüchte zu hören, also nehme ich die Abkürzung über dich. Mittlerweile sollte er doch schon ausgeschieden sein, oder? „Er lebt“, sagte Deemon. Nicht schlecht. Und wo ist er? „Ich würde es dir sagen, wüsste ich es.“ Tz, tz, tz. Sollte ein Schiedsrichter nicht unparteiisch sein? Und wieso weißt du es nicht? Spuk doch einfach in seinem Kopf rum und sieh nach. „Das hat keinen Sinn. Er weiß im Moment selbst nicht, wo er sich gerade befindet. Irgendwo auf der Ebene, mehr kann ich aus seinen Gedanken nicht herausbekommen. Er hat Hilfe von alten Freunden bekommen, wie es aussieht.“ Ach du Schande. Dabei hatte Takashi schon geglaubt, das starre Kräfteverhältnis zwischen den Spielern würde endlich aufweichen. Aber der Kaiser war wohl zäh – zähe Gegner machten prinzipiell mehr Spaß. Wie geht’s eigentlich Hiroshi? Deemon antwortete eher widerwillig, als wäre Takashi ihm lästig. Das machte ihm nichts aus; Deemon war es gewesen, das ihm angeboten hatte, bei diesem fantastischen Spiel mitzumachen. Aufgedrängt hatte er sich nicht. „Nadine hält ihn in der Wildwest-Stadt gefangen.“ Gut zu wissen. Das ist gar nicht so weit weg. Den holen wir da schon wieder raus. Kannst du Keiko was von ausrichten, wenn du schon dabei bist? Aber Deemon schien die Nase voll von ihm zu haben. Es verzog sich, und die Welt atmete weiter – und Takashi seufzte. Was hatte es denn? Noch vor kurzem hatte der Spielmeister ihnen alle möglichen Tipps gegeben, wie sie mit dem DigimonKaiser fertigwerden konnten. Da war es nur natürlich gewesen, anzunehmen, er würde sie in diesem Krieg unterstützen. Über die Königin der Schwarzen Rose ließ er nichts durchsickern, das mit Hiroshi eben war schon die Krönung der Ausnahmen gewesen. Takashi zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder seinen Nachrichten. Schon die nächste, die er las, trieb ihm wieder das Lächeln ins Gesicht. Die Armee des DigimonKaisers war bis an den Rand der Kaktuswüste zurückgetrieben und dort geschlagen worden. Jetzt stand nichts mehr zwischen ihm und dem Osten.     Matt hatte seit Ewigkeiten mit niemandem außer Gabumon und Togemogumon gesprochen. Das Spannendste an jedem Tag war das Essen, das man ihnen brachte, und die spannendste Änderung jene, dass es plötzlich nicht mehr von einem Schwarzringdigimon, sondern von einem anderen gebracht wurde, das jedoch kein Wort mit ihnen wechselte. Auch gab es keine drei Mahlzeiten mehr, sondern nur noch zwei. Vor fünf Tagen hatte es in der Festung Tumulte gegeben. Matt hatte die ausgehöhlten Eingeweide des riesigen Felsens aus der Ferne rumoren gehört, als bewegte sich irgendwo ein großes, schlafendes Ungeheuer. Auch das Licht in seinem Gefängniszimmer war kurz ausgefallen. Was genau passiert war, hatte er nicht in Erfahrung gebracht. Er und Gabumon schwiegen sich die meiste Zeit an. Es gab nichts, was sich zu bereden lohnte, und Matt war ohnehin nicht der gesprächige Typ. Gabumon kannte mittlerweile jeden Zentimeter ihres Gefängnisses in- und auswendig. Einen neuerlichen Fluchtweg hatte es nicht entdecken können. Togemogumon lag die meiste Zeit in einer Ecke. Vermutlich hatte es immer noch große Schmerzen, aber keins der Digimon, das ihre Zelle betreten hatte, war bereit, jemanden zu holen, der seine Wunde ordentlich behandeln konnte. Matts einzige Zerstreuung war die Gitarre, die der DigimonKaiser ihm gegeben hatte. Er vertrieb sich die Zeit damit, Lieder zu erfinden, mit denen er gegen den Kaiser rebellierte. Die Musik war das Einzige, das er noch gegen ihn richten konnte. Zuerst war er mit Abscheu vor dem Gedanken zurückgeschreckt, das Geschenk des Tyrannen anzunehmen, aber indem er Stücke komponierte, die seine Entschlossenheit bestärkten und den DigimonKaiser verfluchten, hatte er diesen Ekel überwunden. Als er noch der Anführer seines eigenen Rudels gewesen war, hatte er einige Digimon von Schwarzen Ringen befreit und bei den Ehernen Wölfen aufgenommen. Statt für, hatten sie danach gegen den DigimonKaiser gekämpft. Matt war der Meinung, dass sich die Sache mit der Gitarre genauso verhielt. Es kam ihn so vor, als hätte man ihm das Instrument nur aus dem einen Grund gebracht, den DigimonKaiser zu verhöhnen. Doch selbst das Saitenzupfen kam ihm irgendwann stumpf, langweilig und kindisch vor. Verhöhnte er sich nicht eher selbst, wie er hier in seiner Zelle dahinvegetierte? So lag die Gitarre in einer Ecke und Matt hing, mit dem Rücken an die Wand gelehnt hockend, seinen Gedanken nach, als sich plötzlich, außerhalb der Essenszeiten, Schritte näherten. Überrascht sah er auf. Die Tür glitt auf, und hoher Besuch trat ein. Er hatte sie noch nie persönlich gesehen, aber er wusste sofort, wer sie war. Nadine, die Königin der Felsenklaue, deren Banner eine schwarze Rose zeigte. Mit einer beachtlichen Eskorte betrat sie den Raum. Das erfüllt Matt immerhin mit Genugtuung. Sie sah sich naserümpfend um. „Hier gehört gelüftet“, stellte sie fest. „Sogar in den Saloons der Wildwest-Stadt ist die Luft frischer.“ Matt schwieg. Endlich ließ sie sich dazu herab, ihn anzusehen. „Der Eherne Wolf“, sagte sie mit einem rätselhaften Lächeln. „Schön, dass ich dich endlich zu Gesicht bekomme. Dieses sture Ogremon hat diesen Bereich lange genug blockiert. Hat man dir überhaupt noch was zu essen gebracht?“ Da sie nicht weitersprach, nickte er knapp. Gabumon trat vorsichtig näher. „Was wollt Ihr von uns?“ „Euch etwas mitteilen“, sagte die Königin. „Der DigimonKaiser ist unauffindbar. Tot, vermutlich. Sicher ist es nicht. In seinem Namen muss ich weiterregieren – aber ich hege keinen Groll gegen euch beide. Ihr wart nur die Opfer eines zugegebenermaßen genialen Schachzuges.“ Sie ging mit rauschenden Röcken an ihnen vorbei und schien kurz zu überlegen, ob sie sich nicht auf Matts Bett setzen sollte. Schließlich blieb sie stehen. „Eine neue Ära ist am Anbrechen. Es wird einige Änderungen im Reich geben, jetzt, da der Kaiser nicht mehr ist. Euch gefangen zu halten bringt mir nichts.“ „Uns freizulassen auch nicht“, sagte Matt und ließ es wie eine Warnung klingen. „Oh doch, es ist weitaus interessanter, wenn wieder ein paar mehr Menschen im Spiel sind. Ken … Der DigimonKaiser hat sie ja gesammelt, wo es nur ging, und sie aus allen Sachen rausgehalten.“ Sie lächelte Matt verschmitzt zu. „Außerdem haben Wölfe gute Nasen. Vielleicht findet ihr den DigimonKaiser ja für mich.“ „Wir haben kein Interesse, mit Euch zusammenzuarbeiten“, sagte Matt reserviert. Er wurde aus diesem Mädchen nicht schlau. Was plante sie? Was sollte diese letzte Andeutung? „Natürlich nicht. Wie gesagt, mir ist es so oder so lieber, wenn ihr statt hier drin irgendwo da draußen seid. Ihr seid mir nichts schuldig. Ich kann euch einfach so gehen lassen, wenn ihr wollt. Oder, wenn euch das lieber ist, kann ich euch auch … ihr wisst schon. Töten lassen. Wenn euch alles zu ausweglos erscheint.“ Matt blinzelte. Ihre Worte irritierten ihn nicht etwa; er hatte eine Drohung dieser Art erwartet. Es war ihr Tonfall, der klarmachte, dass es eben keine Drohung, sondern ein ehrliches Angebot war. War sie verrückt? „Was wollt Ihr wirklich von uns?“, fragte Gabumon erregt, das diesen feinen Unterschied nicht zu bemerken schien. „Das habe ich doch gesagt. Ich lasse euch die Wahl. Freiheit oder Tod. Gefangenschaft bedeutet Stillstand, und das ist alles andere als interessant.“ Verrückt oder nicht. Sollte sie ruhig glauben, dass diese Optionen gleichwertig waren. Matt und Gabumon brauchten nicht zu überlegen.     Seit er in der DigiWelt war, hatte Ken nie hier vorbeigeschaut. Auch, weil es immer noch neutrales Gebiet war, obwohl sich das Haus wunderbar als Versteck eignete. Genau genommen konnte man es auch als Lager für ein ganzes Heer benutzen. Das Giga-Haus war, wie man dem Schild davor entnehmen konnte, immer noch zum Verkauf angeboten. Ken hatte sich schon damals gefragt, ob es wohl überhaupt jemandem gehören mochte, oder ob das Schild nur der Absurdität wegen aufgestellt war. Als der Wagen daran vorbeifuhr, beschlich ihn ein nostalgisches – und unangenehmes Gefühl. Viel war in diesem Haus geschehen. Abgesehen davon, dass ihn fast ein Dokugumon gefressen hatte, hatte hier Arukenimon sein wahres Ich gezeigt, und auch Mummymon hatten sie hier kennengelernt. Und er und Cody hatten so etwas wie zaghafte Kontaktaufnahme versucht. Die beiden Digimon auf den Vordersitzen verloren jedenfalls kein Wort darüber. Sie hielten am Rand des nahen Waldes, dessen Bäume wahre Riesen waren, und versteckten das Auto im Unterholz. Dann gingen sie durch den kurz geschnittenen Rasen – der, den Größenverhältnissen des Hauses entsprechend, schulterhoch war – auf das Blumenbeet zu, das rechts neben dem Eingang angelegt war. „Das Haus wird offenbar auch von allerlei zwielichtigen Digimon als Rückzugsort benutzt“, erklärte Oikawa mit gedämpfter Stimme. „Wir sollten also darauf achten, nicht entdeckt zu werden.“ Ken warf den dreien einen unbehaglichen Blick zu. Sie betraten das Giga-Haus nicht, wie er erst erwartet hatte, sondern schlugen sich nur bis zu einem Loch in der Mauer des Hochbeets durch. Dahinter lag eine kleine, mit trockenen Grashalmen ausgelegte Höhle. Wurzelwerk, dick wie das von Bäumen, ragte durch die Decke. Getränkedosen und Papier- und Plastikmüll stapelten sich in einer Ecke. Fetzen ehemals riesiger Laken bildeten eine Art Bettstatt, und als sie eintraten, hüpfte ein kleines, grünes Ding davon auf und trippelte erfreut auf sie zu. „Yukio!“, rief es, als es Oikawa in die Arme sprang. „Na? Warst du brav?“ Er tätschelte das Digimon, das wie eine grüne Frucht aussah, und lächelte dabei. Ken konnte sich eines Lächelns ebenfalls nicht erwehren. Offenbar hatte Oikawa sogar seinen Digimon-Partner wiedergefunden, den er vor all den Jahren nur über die Grenze der Welten hinweg hatte sehen dürfen. Er erinnerte sich daran, wie traurig das kleine Digimon gewesen war, als Oikawa sich für die DigiWelt geopfert hatte. Sie nun vereint zu sehen füllte Kens Herz mit Wärme – aber auch mit einem leichten Stich, als er an Wormmon dachte. „Datirimon, das ist Ken“, stellte Oikawa ihn vor. „Er ist ein Freund von uns.“ „Hallo, freut mich!“, piepste das Digimon. „Hallo“, sagte er, zögerlich lächelnd. „Nun denn. Hier sollten wir sicher sein. Such dir einen Schlafplatz aus, wir reden morgen weiter. Dort drüben findest du Essen und Trinken. Arukenimon und Mummymon haben das hier alles zusammengetragen, ehe ich in die DigiWelt gekommen bin.“ Oikawa deutete auf einen ausrangierten Kühlschrank, der in der Ecke der Höhle lehnte. Ken war sich nicht einmal sicher, ob er nicht doch funktioniere. Er lehnte dankend ab und trottete zum nächstbesten Laken. Schlaf, ja, das brauchte er. Er war mittlerweile sogar zu müde, um sich zu grämen. Und es war ihm egal, ob man ihn im Schlaf erdolchte. Er würde sogar weiterschlafen, wenn er von Nadine träumte, die sich mit ihrem Messer auf ihn stürzte. Arukenimon sagte noch irgendetwas vermutlich Abfälliges, und Mummymon bezog mit seiner Maschinenpistole vor dem Höhleneingang Stellung. Obwohl das Licht hell herein fiel und Wurzelwerk und Steine durch das Bettzeug stachen, schlief Ken ein, kaum dass er sich hingelegt hatte. Als er erwachte, brodelte in der Mitte der Höhle ein Wasserkocher – wie auch immer der in dieser Höhle funktionieren mochte. Vielleicht versorgten ihn sogar die Wurzeln mit Strom? Draußen war es jedenfalls stockdunkel, und Mummymon war hereingekommen. Eine kühle Brise zog durch die Höhle. Oikawa hatte seinen Mantel ausgezogen und ihn um Datirimon gewickelt, das friedlich döste. Er selbst war gerade dabei, mit einem Taschenmesser einen Laib Brot zu zerkleinern. Auf einem breiten Stein, der wohl als Tisch dienen sollte, lagen bereits Streifen von Speck und Schinken und Käseecken. Mummymon verteilte eben kleine, hölzerne Unterlagen, die wohl die Teller ersetzen sollten, und Arukenimon goss das kochende Wasser in Tontassen und hängte Teebeutel hinein. Die vier machten richtig den Eindruck einer etwas ärmlichen Familie, auch wenn sie Digimon, Mensch und etwas dazwischen waren. „Bist du ausgeschlafen?“, erkundigte sich Oikawa, als Ken sich aufsetzte. „Wir wollten gerade essen. Setz dich zu uns.“ „Wie spät ist es?“, war das Erste, was Ken fragte. Dann, als er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, fügte er hinzu: „Ich … Danke für das Angebot, aber ich sollte lieber gehen. Ich bin euch schon genug zur Last gefallen.“ Egal, was Oikawa gesagt hatte. Er wollte ihn nicht in diese Sache hineinziehen. Er hatte die DigiWelt bereits einmal gerettet, nun war Ken an der Reihe. „Was denn, du willst schon gehen?“ Oikawa lächelte schief. „Mach dich nicht lächerlich“, war Arukenimons Kommentar dazu. „Ihr habt wirklich genug für mich getan, ich …“ „Und du willst dich einfach davonstehlen, ohne dich irgendwie zu revanchieren?“ Mummymon tat, als würde es angestrengt überlegen. „Nein, natürlich nicht, ich …“ Ken verstummte. „Dann setz dich und iss erst mal was.“ Oikawa verteilte die Brotscheiben. Fünf an der Zahl. Also kniete sich Ken zu den anderen an den Steintisch. Zögerlich biss er in die Kruste. Das Brot war alt und zäh, aber er merkte nun erst, wie hungrig er eigentlich war. Sein letztes Essen, war das Willis‘ Bohneneintopf gewesen? Während sein Gewissen immer schlechter wurde, belegte er sein Brot mit Schinken und Käse und schlang es in Sekundenschnelle hinunter, ehe Oikawa ihm eine zweite Scheibe reichte. Nachdem sie alle gegessen und Tee getrunken hatten, der herrlich nach Kirschen schmeckte, fühlte sich Kens Welt schon wieder ein wenig heller an. „Ich … Danke“, sagte er. „Nichts zu danken. Der Wagen ist praktisch. Eine halbe Stunde Fahrzeit von hier gibt es einen kleinen Markt. Dort tauschen wir die Dinge, die wir aus dem Giga-Haus stibitzen können, gegen Vorräte ein. Das ist zumindest bis jetzt der Plan“, sagte Oikawa. Ken presste die Fäuste gegen seine Oberschenkel. „Ich meine nicht das Essen. Ich meine … alles. Was ihr für mich getan habt. Ich war eigentlich immer euer Feind, und ihr …“ Er fixierte Oikawa mit seinem Blick, der die Augenbrauen zusammenzog. „Du hast es geschafft, der DigiWelt wieder Leben einzuflößen, Yukio. Du bist endlich mit deinem Digimon-Partner vereint. Und alles, was ich getan habe, war, die DigiWelt wieder an den Abgrund zu bringen. Ich habe Schwarze Türme gebaut, um das Spiel zu gewinnen, aber letztendlich hat es nur Deemon stärker gemacht, und ich habe wieder alles verloren. Wenn die DigiWelt untergeht, dann einzig wegen mir.“ „Dann sollten wir dich mit allem, was wir haben, unterstützen“, sagte Oikawa ernst. „Ihr versteht das nicht, es ist zu spät! Ich bin niemand mehr, mit dem man noch rechnen kann. Hier verstecken wir uns, in einer Erdhöhle, aber draußen tobt ein Krieg, den ich nicht mehr gewinnen kann!“ „Du kannst“, meinte Oikawa streng. „Und du wirst. Zum Wohle der DigiWelt. Ich werde auch nicht zusehen, wie sie vor die Hunde geht.“ „Dann solltet ihr euch an jemand anderes wenden. An Davis vielleicht, oder … Izzy. Die Wissens-Armee, sie haben vielleicht noch die Kapazitäten, Deemon aufzuhalten.“ Er konnte nicht anders, er musste sich jetzt alles von der Seele reden. Es war besser, hier und jetzt aufzugeben, als erneut zu hoffen und erneut enttäuscht zu werden. Ganz sicher. „Nach allem, was du uns erzählt hast, gewinnt Deemon so oder so, wenn man es nicht mit Schwarzen Türmen aufhält“, erinnerte ihn Oikawa. „Daher kommst nur du infrage.“ „Aber ich schaffe es nicht“, meinte Ken mutlos. „Ich habe bereits verloren. Wormmon ist tot, und ich bin auch nicht mehr als ein Geist auf der Flucht.“ In der Ecke seines Verstands hörte er Deemon lachen – oder bildete er sich das ein? „Geben Sie’s auf“, sagte Arukenimon. „So ein Jammerlappen war er schon immer.“ Oikawa stand auf, trat auf Ken zu und sah ihm fest in die Augen. Die Hand, die er ihm auf die Schulter legte, war weniger väterlich, als vielmehr beschwörend. „Hör mir zu, ich war ein Geist. Zuerst ein böser Geist, der Schaden in der DigiWelt angerichtet hat, ohne jemals hier gewesen zu sein. Dann ein, wie ich hoffe, guter Geist, der nur das auszubügeln versuchte, was er selbst zerknittert hat. Aber du hast bei weitem mehr Erfahrung, was das Bekämpfen böser Digimon angeht, und du hast schon einige brillante Züge als DigimonKaiser hinter dir. Ich rede nicht von damals. Ich glaube an dich, Ken. Sieh mich an!“ Ken war seinem bohrenden, unangenehmen Blick ausgewichen, und sah ihm nun wieder in die Augen. „Arukenimon hat recht. Die DigiWelt braucht keinen Jammerlappen. Was sie braucht, ist ein Kaiser, der es versteht, sie zu regieren. Vielleicht hat man dir eingeredet, dass du verloren hast, oder dass du nicht dafür taugst. Darum geht es aber nicht. Selbst wenn du völlig ungeeignet wärst, du musst es tun. Du bist der Einzige. Du bist hier der Held.“ „So fühle ich mich aber nicht“, meinte Ken niedergeschlagen. „Ein Held ist jemand, der das schafft, woran er eigentlich zerbrechen sollte. Wenn das hier ein Spiel ist, bist du die Hauptfigur.“ „Der König ist die schwächste Figur im Schach“, murmelte Ken. „Du drehst mir das Wort im Mund um. Aber gut, wie du willst. Wir sind hier in der DigiWelt, nicht auf einem Schachbrett. Hiroki – der Vater deines Freundes – und ich haben gern Videospiele gespielt. Da hat man sich Stück für Stück zum Endgegner vorgearbeitet. Der Anführer der feindlichen Horden war immer auch der stärkste Charakter. Nur die Spielerfigur war noch stärker, wenn es uns gelungen ist, ihn damit zu schlagen. Du bist beides, Ken. Du bist die letzte Barriere, die die anderen in diesem Krieg überwinden müssen. Und du bist der Einzige, der siegen kann.“ Sein Blick wurde weicher. „Ich liebe diese Welt. Ich will nicht mitansehen, wie sie zerstört wird. Es geht also nicht nur um dich. Du kannst jammern und in Selbstmitleid versinken, so sehr du willst – aber erst, nachdem das Spiel zu Ende ist. Auch wenn ich vielleicht nicht das Recht habe, das zu sagen: Ich werde es dir nie verzeihen, wenn du einfach die Flinte ins Korn wirfst, verstehst du? Wenn nötig, schleife ich dich auf deinen Thron zurück!“ Kens Seufzer wurde von einem Schluchzer begleitet. Er hätte nie gedacht, dass Oikawa so entschlossen sein würde. Er erinnerte sich wieder an Wormmon. An die Digimon, die im Glauben an sein Kaiserreich gestorben waren. An Ogremon, das, wenn auch vielleicht aus purer Sturheit, einen Teil seiner Festung für ihn hielt. An seine Freunde, die er retten musste. Tränen tropften auf seine Oberschenkel. Ohne dass er es gemerkt hatte, hatte er zu weinen begonnen. „Danke“, flüsterte er und presste die Augenlider zusammen. „Euch allen. Ich werde weitermachen. Ich verspreche es. Und ich werde mich revanchieren. Ich weiß noch nicht wie, aber ich … Ja, ich werde euch zu Rittern und Fürsten machen, ich schenke euch Land, ich …“ Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Weder Oikawa noch seine Digimon wollten Land oder etwas in der Art, aber er musste es ihnen einfach versprechen. Weil er, um das Versprechen zu halten, wieder auf den Thron kommen musste. Weil es das Einzige war, das er ihnen bieten konnte. Und weil er nicht wieder alleine regieren wollte. Vielleicht konnte er die Bürde teilen. Mit jedem Stück Verantwortung, das er abwälzen konnte, wurde seine Welt heller. „Das klingt schon eher nach einem Herrscher“, meinte Oikawa zufrieden. Sogar Arukenimon verbiss sich einen Kommentar ob seines Gefühlsausbruchs. Ken lächelte schwach und fuhr sich über die Augen. „Dann sollten wir uns überlegen, wie wir dich auf möglichst denkwürdige Weise wieder ins Amt setzen“, fuhr Oikawa fort. „Wir brauchen eine Armee. Zumindest eine kleine Truppe, die schlagkräftig genug ist, in die Mobile Festung einzudringen. Dann müssen wir die Kommunikationswege wieder öffnen, damit ich meine anderen Truppen erreichen kann. Ich muss Nadines Einfluss irgendwie zunichtemachen. Wenn alle Welt erfährt, dass sie mich verraten hat …“ Ken brach ab. Dann gab es sicherlich einen Bürgerkrieg … Wieder in das Spiel einzusteigen war leicht gesagt, aber wie sollte er es angehen? „Wenn Nadine schlau war, wird sie sich sehr betrübt ob deines Ablebens gezeigt haben – wenn sie überhaupt schon verkündet hat, dass du tot bist. Selbst ihr eigenes Volk wird vermutlich jubeln, wenn du wieder auftauchst. Wenn du sie festnehmen kannst, kannst du über ihre Lügen deine eigene Propaganda pinseln“, meinte Oikawa. „Glaubst du, sie ist noch in der Festung? Wenn wir sie dort erwischen, haben wir einen guten Startpunkt. Dann können wir immer noch weitersehen.“ „Aber wie sollen wir die Festung erobern? Sie hat äußerlich nicht viel von den Kämpfen abbekommen, und wenn sie die Überwachungssysteme repariert haben …“ Nein, verlier nicht wieder den Mut, du Dummkopf. Lass dir was einfallen! Der Schlaf und das Essen machten sich bezahlt. Er konnte immerhin wieder bei der Sache bleiben, ohne gleich in den Strudel des Trübsals gezogen zu werden. „Wir brauchen mehr Digimon, darauf läuft es hinaus. Diese Schurken im Giga-Haus, von denen du gesprochen hast, wären die zu kaufen?“ „Versuch es lieber nicht“, warnte Arukenimon. „Denen ist es lieber, schwächeren Digimon Angst einzujagen. Offen kämpfen die gegen niemanden.“ „Außerdem haben wir gehört, sie waren selbst mal ein Teil von Nadines Armee“, fügte Mummymon hinzu. „Das muss nicht unbedingt ein Nachteil für uns sein“, sagte Oikawa. „Aber ich würde mich auch nicht auf Gesetzlose verlassen. Ich hätte einen anderen Vorschlag. Eine Armee, die hier einfach und schnell zu kriegen ist – wirklich einfach und schnell. Digimon, die dir nicht in den Rücken fallen können und für die du keine Tränen vergießen musst, wenn sie sterben.“ Ken sah ihn erwartungsvoll an. Was meinte er? Das wäre genau das, wonach er schon die ganze Zeit suchte! „Ich weiß schon, worauf das hinausläuft“, murmelte Arukenimon wenig begeistert. Ken sah das Digimon mit dem Spinnenhut an – und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Als Oikawa sein Lächeln bemerkte, lachte er leise. „Glaubst du nun, dass wir dich wieder auf deinen Thron hieven können?“ Anstatt zu nicken, schloss Ken die Augen. Er war bereits wieder im Spiel. Diese Gelegenheit, sie war … wunderbar. Da war immer noch diese Schwere in seinem Herzen, der Druck auf seinen Schläfen, der Dämon, der ihm zuflüsterte, dass er versagen würde und den Sieg ohnehin nicht verdient hätte. Aber Oikawa hatte Recht. Er musste aufhören, sich wie eine Randfigur zu benehmen, und sein Schicksal wieder in die Hand nehmen. Er würde wiederkehren, Held oder Tyrann, er würde wieder und wieder auf das Spielbrett zurückkehren, er würde es erbeben lassen, sodass die Figuren umhersprangen, Seiten wechselten und vom Rand stolperten. In dieser kurzen Euphorie, die ihm Oikawas Angebot bescherte, schwor er sich das. Doch noch etwas schwor er sich. Er würde niemals wieder jemandem leichtfertig trauen. Auch Oikawa nicht. Er stand in Wahrheit allein gegen die DigiWelt. Er konnte sich Stärke leihen, aber er durfte von niemandem abhängig sein. Held oder Tyrann. Wenn er diesen einsamen Weg nicht als Held gehen konnte, dann durfte er sich eben nicht länger gegen den Tyrannen in ihm sträuben. Sie würden es schon alle noch sehen. Wenn sie einen von ihnen mit all den Täuschungen, Intrigen und Komplotten gebrochen hatten, dann höchstens den Helden, der immer fair mit ihnen gespielt hatte und sich selbst Regeln aufgebürdet hatte. Langsam hatte auch der Tyrann in ihm verdient, dass Ken ihm eine Chance gewährte.   I will expose to you my plan To get the final war This is the time to win the game And purify the world (Derdian – The Spell) Kapitel 40: Tränen der Freude ----------------------------- Tag 112   „Das hat Willis getan?“ Mimi riss die Augen auf. Yolei nickte bekräftigend. Kabukimon sagte: „Ich kann es bestätigen.“ Sie lagerten auf einem flachen Hügel irgendwo im Nirgendwo. Mimi kannte das Land hier nicht, was aber kein Wunder war. Es war groß und weit und, wenn der Wind durch das lange Gras strich, sicher hübsch – abgesehen davon jedoch sterbenslangweilig. Yolei, Hawkmon, Kabukimon und die Rebellen, die sie begleitet hatten, hatten hier auf den Rest der Truppe gewartet. Zunächst war Mimi verwundert gewesen, dass die kleine Revolvermon-Kompanie der Wissens-Armee, die Michael genauso wie die Handvoll Guardromon als Geleitschutz angefordert hatte, verschwunden war, doch das Erste, was Yolei ihr erzählte, erklärte die Sache. Und es war haarsträubend. „Auf halbem Weg hat er sich dann davongestohlen“, berichtete Yolei aufgebracht. „Er hat gemeint, es wäre ihm egal, was wir über ihn denken, und ist gegangen. Ich weiß nicht, wohin; einfach in die entgegengesetzte Richtung.“ Mimi zerfurchte ihre Stirn. „So ein Feigling“, zischte sie. „Genau so hab ich ihn auch genannt.“ Yolei seufzte. „Und dabei hab ich gedacht, er wäre ein charmanter, edler Ritter …“ Izzys Funkspruch hatte Michael erreicht, als sie bereits einige Tage unterwegs gewesen waren und die Große Ebene zur Hälfte durchquert hatten. Die Reise war anstrengend, aber Mimi war Entbehrungen mittlerweile gewohnt. Außerdem taten die Rebellen, die eine beachtliche Zahl von über hundert Digimon erreicht hatten, alles, um es ihr so bequem wie möglich zu machen – manchmal zu viel des Guten für ihr, wie sie fand, geläutertes Gemüt. Aber die vielen Digimon brachten so viel Abwechslung in die fade Landschaft, wie nur irgend möglich war. Als Michael ihr die ungeheuerliche Nachricht überbracht hatte, war sie ganz aus dem Häuschen gewesen. Der DigimonKaiser, ihr Todfeind, war wohl von seiner eigenen Verbündeten verraten worden. Geschah ihm recht! Er befand sich auf der Flucht in der Wüste, hatte es geheißen, irgendwo dort, wo sich Michael zufolge Willis aufhielt. Yolei hatte die zündende Idee gehabt, den Kaiser zu fangen zu versuchen und ihn bei Königin Nadine gegen Matt einzutauschen. Ob Freund oder Feind, der Tyrann war überall viel wert. Nach einigen Versuchen hatte Michael Willis erreicht, der ihm versprochen hatte, zu tun, was er konnte. Das war nun etwa vier Tage her. Seitdem hatten sie nichts von ihm gehört. Und nun so was! Mimi tat es nicht leid um den DigimonKaiser, zumindest redete sie sich das ein. Schließlich hatte er ihr Leben zerstört und sie hatte allen Grund, ihn zu hassen. Sie spürte, dass sie nicht ehrlich zu sich selbst war, wenn sie den Tod eines anderen Menschen nicht bedauerte, aber sie fand, allein das zu denken, sagte schon eine Menge über ihre Gefühle aus. Was sie wirklich kochen ließ, was die Frechheit, mit der Willis sie verraten hatte. Er hatte den DigimonKaiser gefangen und kein Wort darüber verloren. Schlimmer, obwohl er wusste, wie wichtig er für sie war, hatte er ihn auf eigene Faust töten wollen! Derselbe Willis, der ihr Honig ums Maul geschmiert, der sie und Yolei gerettet und sich immer galant und ehrbar gegeben hatte! Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können? „Er braucht sich nie wieder bei uns blicken zu lassen“, zischte sie. „Du kannst ihm das sagen, Michael.“ Der zweite Ritter hatte schweigend, aber betroffen zugehört. Ihm schien das alles sehr unangenehm zu sein, aber allzu überrascht wirkte er nicht. „Diese ganze Sache beweist doch nur, dass man den Rittern der Konföderation nicht trauen kann. Oder überhaupt der Konföderation selbst“, sagte Kabukimon und bedachte ihn mit einem stechenden Blick. „Michael hat nichts davon gewusst“, sprang Mimi dem Ritter sofort bei. „Er steckte garantiert nicht mit ihm unter einer Decke. Sonst hätten wir es gemerkt. Nicht wahr? Sag doch auch was dazu!“ „Ich wusste, dass er den DigimonKaiser hasst“, meinte Michael mit belegter Stimme. „Aber dass er so weit gehen würde … Ich werde darüber Bericht erstatten, auch wenn es mir nicht leichtfällt. Willis hat allerdings nicht direkt einen Befehl der Basis missachtet, also …“ „Aber er hat seine Ehre als Ritter beschmutzt!“, ereiferte sich Mimi. „Das gehört bestraft!“ „Ich werde es melden“, sagte Michael bestimmt. „Ich verspreche es dir. Einstweilen können wir nichts tun, als unseren Plan weiterzuverfolgen.“ Kabukimon verschränkte die Arme. „Ihr solltet besser nichts tun, was unser Misstrauen erregt, Sir.“ „Lass ihn in Ruhe, Kabukimon“, befahl Mimi unwirsch. „Wir Ihr wünscht“, sagte das Digimon gedehnt. „Und wir ziehen weiter. Ich kann diese ewige Graslandschaft nicht mehr sehen.“     Yolei kam nicht umhin, sich einmal mehr über Mimis Verhältnis zu Michael zu wundern. Schon wieder hatte sich etwas zwischen den beiden verändert, wieder, als sie nicht dabei gewesen war. Plötzlich duzte Mimi ihn wieder und sprang für ihn in die Bresche. Außerdem glaubte sie, verstohlene Blicke zu bemerken, die die beiden einander zuwarfen. Während sie so hinter ihnen durch das Gras stapfte und eigentlich die Augen nach Feinden offenhalten sollte, befiel sie leichter Neid. Aufmerksam lauschte sie ihren Gesprächen. Michael schaffte es sogar, Mimi zum Lachen zu bringen. Das Eis zwischen ihnen schien jedenfalls wieder geschmolzen zu sein. Wenn Kabukimon sich an ihrem Gespräch beteiligte, änderte sich die Stimmung. Das Digimon und Michael sprachen nie direkt miteinander, kam es Yolei vor, nur jeder jeweils mit Mimi, und der andere antwortete wieder an Mimi gerichtet. Meist ging es um die bevorstehende Operation. Ohne den DigimonKaiser werde es vielleicht einfacher, meinte Michael. Kabukimon beharrte, die Schwarze Rose wäre auch nicht zu unterschätzen, und die Wissens-Armee solle doch mehr Informationen über sie preisgeben, woraufhin Michael alles erzählte, was er über die Königin der Felsenklaue wusste. Diese Dreiergespräche schienen sehr anstrengend für Mimi zu sein. Selbst Palmon und Betamon hielten sich heraus – und diese beiden verstanden sich wiederum prächtig zu zweit. „Sag mal, Hawkmon“, begann Yolei irgendwann, sich ihre Last von der Seele zu reden. „Denkst du, ich bin eifersüchtig?“ „Eifersüchtig? Auf wen?“, fragte Hawkmon ehrlich. „Naja, du weißt schon …“, meinte sie mit gesenkter Stimme. „Auf Mimi und Michael.“ Hawkmon blinzelte. „Wieso solltest du auf sie eifersüchtig sein?“ Yolei seufzte tief. „Ich bin doch nur das fünfte Rad am Wagen.“ „Das musst du mir jetzt erklären.“ „Ach, Himmel, wie kann man so schwer von Begriff sein?“, stöhnte Yolei und raufte sich die Haare. „Sieh dir Palmon und Betamon an!“, rief sie lauter, als sie wollte. Hoffentlich hatten sie sie nicht gehört. „Kommst du da nicht auch ins Grübeln?“ „Ich weiß nicht, was du meinst“, beteuerte Hawkmon reuevoll. Nach einem weiteren Stoßseufzer gab Yolei auf. Vielleicht machte sie sich einfach zu viele Gedanken. Mimi war die Prinzessin, Michael der Ritter. Natürlich hatten sie viel zu bereden und mussten einander nahestehen. Andererseits war Mimi schon verheiratet. Ob sie das vergessen hatte? Yolei fand es unfair. Ihre beiden Bewerber damals wären nichts für sie gewesen; Yolei mochte lieber gebildete Männer, die sich auch ausdrücken konnten. Die Ritter der Wissens-Armee waren von einem anderen Schlag – nur hatte sich der eine als Verräter und Feigling entpuppt und der andere machte Mimi schöne Augen. „Du wirkst, als hättest du Kummer.“ Yolei seufzte wieder. „Ach, was soll ich nur machen …“ Da zuckte sie zusammen. Kabukimon war neben sie getreten, ohne dass sie es gemerkt hatte. Ausgerechnet! „Kummer ist etwas für Friedenszeiten“, sagte das Digimon. „Lass dich nicht von deinen Aufgaben ablenken.“ „Jaja“, murmelte sie. Dieses Digimon war das Letzte, mit dem sie über dieses Thema sprechen wollte. „Wir kommen gut voran. Das Band ist nicht mehr fern. Das verdanken wir zum Teil deiner Entschlossenheit.“ „Zuviel der Ehre“, murmelte sie. Immer noch hatte sie ein schlechtes Gewissen, Kabukimons Lüge über Karatenmon unterstützt zu haben. „Du wärst sicher eine gute Anführerin“, fand das Digimon. „Du weißt, wie schwierig es oft ist, das Richtige zu tun.“ „Danke.“ Ob es das Richtige ist, weiß ich leider nicht.     Agumon schien es nicht gutzugehen. Das war das Erste, das Sora neben ihrer eigenen Zerschlagenheit an diesem Morgen bemerkte. Die Sonne stieg erst über den Horizont, und selbst als sie aus der verkehrten Pyramide ins Freie traten, war die Temperatur in der Kaktuswüste annehmbar. Datamon erwartete sie, und sogar König Takashi war da, um sie zu verabschieden. „Grüßt König Leomon von mir“, sagte er. „Meine besten Empfehlungen, ja?“ Tai nickte nur. Sora wusste nicht, wie sie den Einhornkönig einschätzen sollte. Sie war sich ziemlich sicher, dass es ihm gefiele, wenn er bei Leomon, das sie nur vom Hörensagen kannte, einen Stein im Brett hätte. Vermutlich half er ihnen allein deswegen. So stellte sie sich Diplomatie und Politik in diesem Teil der DigiWelt vor. Andererseits – wer war sie, dass sie ihn deswegen verurteilen durfte? Datamon öffnete die Klappe des Wagens und erklärte ihnen die geplante Reiseroute. Man würde sie nach Norden durch die Wüste bringen, durch den Trugwald, den sie erst vor drei Tagen durchquert hatten, und dann weiter bis zur Blütenstadt, wenn sie bis dahin nicht ohnehin von befreundeten Truppen gefunden wurden. Sora fragte sich, warum der König überhaupt diesen Aufwand getrieben hatte, sie für diese kurze Unterredung extra ins Herz der Wüste zu bringen, wenn er sie ohnehin wieder denselben Weg zurückschickte. War es ihm das wert gewesen, wenn er dafür mit einem berühmten Vasallen des Löwenkönigs hatte sprechen dürfen? Und durfte Sora sich überhaupt einbilden, verstehen zu können, wie richtige Könige dachten? Nach einigen hohlen Floskeln und Grüßen König Takashis wurde die Außenklappe wieder vorgelegt und die Fahrt begann. Das Monochromon legte ein ordentliches Tempo vor, das war selbst im Inneren des Wagens zu spüren. Sora setzte sich auf einen der Sessel. Immerhin hatten sie keine unsaubere Giromon-Begleitung wie beim letzten Mal. Dafür waren ihre Reisegefährten ungewöhnlich wortkarg. Sie war sich sicher, dass Agumon krank war. Es war, bedachte man seine normale Hautfarbe, blass, blinzelte ständig aus tränenden Augen, und schien am liebsten schlafen zu wollen. Vielleicht hatte ihm die Verpflegung nicht gutgetan. König Takashi hatte sie mit für einen König äußerst einfachen, aber bekömmlichen Speisen bewirten lassen, aber vielleicht hatte das reiche Essen trotzdem auf den ausgezehrten Magen des Digimon geschlagen. Es sprach kaum ein Wort und schien auch wenig von seiner Umgebung mitzubekommen. Sora hatte Mitleid mit Agumon, obwohl es lange Zeit keinen Hehl aus seiner Abneigung ihr gegenüber gemacht hatte. Tai schien ebenfalls nicht ganz bei sich zu sein. Sein heiles Auge trug einen glasigen Blick zur Schau, und er bewegte sich auch ein wenig unbeholfen, als wäre er betrunken. In ihren Einzelzimmern, in denen man sie einquartiert hatte, hatte es gut ausgestattete Minibars gegeben, mit allerlei Getränken mit kaum spürbarem bis hin zu regelrecht vernichtendem Alkoholgehalt. Wahrscheinlich hatte er sich daran gütlich getan, um den Schmerz in seinem Auge zu betäuben. Sora selbst war ebenfalls nicht auf der Höhe. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan; nicht weil sie es nicht gekonnt hätte oder weil sie nicht müde gewesen wäre. Sie hatte es sich verboten, aus Angst vor MetallPhantomon. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr ehemaliger Untergebener sie wieder in ihren Träumen heimsuchen würde, wenn sie es zuließ, dass ihr Geist des Nachts auf Wanderschaft ging. Und sie hatte das Gefühl, dass das Digimon dann Stücke aus ihrer ohnehin wunden Seele brechen würde, die sie nie zurückbekommen könnte. So hing jeder der drei seinen Gedanken nach, während der Wagen des Einhornkönigs sie allmählich wieder in Tais und Agumons Heimat beförderte. Um sich wachzuhalten, versuchte sie ein Gespräch in Gang zu bringen, doch ihre Stimme war leise und heiser. „Was haltet ihr eigentlich von König Takashi? Wenn ihr ihn mit Leomon vergleicht?“ Agumon grummelte nur etwas; anscheinend war es eingeschlafen. Tai saß eine Weile mit leerem Blick auf seinem Sessel, ehe er sie ansah, und dann dauerte es wieder ein paar Sekunden, bevor er mit schleppender Stimme antwortete. „Egal, was die Leute über ihn sagen, wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Wir sollten das nicht vergessen.“ Sora nickte. Sie endlich in die Freiheit zu entlassen – sie hoffte doch stark, dass diese Reise keine groß aufgezogene Finte war und sie in Wahrheit in einen ganz anderen Winkel der DigiWelt führen würde – war eine große Geste, Bündnis hin oder her. Sie selbst jedenfalls hätte das, als Königin, wohl nicht gestattet. Wahrscheinlich hätte sie ihre Gefangenen ohne Grund festgehalten, bis sie vergessen hatte, dass es sie überhaupt gab. Mutlos zog sie die Beine auf den Sessel, damit sie sie mit den Armen umklammern konnte. Wohin es auch geht, ich muss damit zufrieden sein, wenn ich nicht wieder den Verstand verliere, dachte sie bei sich. Hoffentlich schlafe ich nicht ein.     Tag 116   Sollten sie ihm doch alle gestohlen bleiben. Mimi mit ihren heuchlerischen Idealen, die nervende Yolei und der DigimonKaiser sowieso. Er hatte seine beiden Digimon – was brauchte er noch? Willis hatte das Tal auf Anhieb wiedergefunden, obwohl ihn der Lichtschein nicht leiten konnte; die schroffen, braunen Felswände schotteten ihn vor dem Rest der Welt ab. Über eine gefährlich schwankende Hängebrüche, dann nach links: Hier war der Ort. Der Glitzerpunkt, an dem er einst sein Goldenes DigiArmorEi bekommen hatte, zu der Zeit, als er auf der Flucht vor seinem eigenen Digimon durch die DigiWelt geirrt war. Wenn es einen Digimon-Gott gab, dann zeigte er sich hier. Lopmon ging es wieder gut, zum Glück. Es hatte sich reuevoll gezeigt, weil es ihm Schwierigkeiten bereitet hatte – aber sie hatten sich auch ausgesprochen. Es wollte den DigimonKaiser nicht töten; das konnte er nicht verstehen, aber er würde es akzeptieren. Was dagegen keiner von den dreien hinnehmen wollte, war ihre Ohnmacht. Ohne das ArmorEi konnten sie in den vom DigimonKaiser besetzten Gebieten wenig ausrichten. Die Digimonzwillinge könnten noch so weit digitieren, ein einziger Schwarzer Turm würde ihnen alle Kräfte rauben. Als Willis auf den Lichtfunken zuging, der in allen Farben des Rebenbogens schillerte, fühlte er die angenehme Wärme in seinen Fingern kribbeln. Lopmon und Terriermon trippelten andächtig neben ihm. Das Licht forderte Willis geradezu auf, es zu berühren. Er kniete nieder und streckte seine Hand aus. Und das Licht, der Digimon-Gott oder was immer es war, reagierte. Ein Lächeln stahl sich auf Willis‘ Lippen, als er kühles Metall in Händen spürte. Langsam, um den wunderbaren Moment auszukosten, zog er sein ArmorEi aus dem Licht, das Goldene DigiArmorEi des Schicksals. Genau das waren sie für einander: Schicksal. Dieses Ding, das Terriermon zu Rapidmon digitieren ließ, war an Willis gebunden. Dieser dumme, ignorante DigimonKaiser. Er scheint nicht zu wissen, dass sich ein Goldenes DigiArmorEi seinen Besitzer stets selbst aussucht.     Tag 118   Der Wind trieb kleine Sandkörner mit sich, als er Ken wieder einmal diesen Geruch in die Nase wehte. Er hasste den Geruch der Wüste mittlerweile. Nicht, weil er nach Niederlage stank. Sondern nach Verrat. Und nach der Verantwortung, die er sich wieder auf die Schultern gelegt hatte. Die Haarsträhne schoss aus Arukenimons Hand wie eine silberne Nadel, teilte sich im Flug. Die einzelnen Haare bohrten sich in die Schwarzen Türme, von denen es in der Nähe der Festung immer mehr gab. Der schwarze Stein schmolz, verformte sich und fügte ihrer Truppe vier weitere schlagkräftige Streiter hinzu. Noch waren sie niemandem aufgefallen. Ken wusste nicht, zu welchem Grad Nadine die Überwachungssysteme repariert hatte, aber zumindest eines hatte er vorausgesehen: Sie zollte einigen wenigen Digimon und Menschen, die in die Kaiserwüste marschierten, keinerlei Beachtung. Vermutlich waren in den letzten Tagen zahllose kleine Truppen hereinspaziert, auf der Suche nach einem leicht zu fangenden DigimonKaiser. Das kam Ken nun zugute. Er war froh, einen intelligenten Gegner wie Nadine zu haben. In jedem anderen Fall wären sämtliche Überlegungen und Strategien ein reines Rätselraten gewesen. „Ich glaube, ich sehe sie schon“, sagte Arukenimon, das mit dem Fernglas den Horizont absuchte. „Du liebe Güte, die sieht ja immer noch ziemlich abgewrackt aus. Es wundert mich, dass Deemon nicht versucht hat, sie wieder in die Luft fliegen zu lassen, am besten mit dir darin.“ „Es hat es versucht, vermutlich“, sagte Ken. „Aber ich habe den Zugang zur Macht der Dunkelheit gleich zu Anfang zerstört.“ „Was für ein schlaues Kerlchen.“ „Seid ihr alle bereit?“, fragte Oikawa. „Wir werden vermutlich nicht länger ungestört sein.“ Ken ließ den Blick über die versammelten Truppen schweifen. Sie hatten die ersten Türme passiert, damit sie keine Schneise für nachrückende Feinde schlugen, aber kaum dass sie in der Wüste gewesen waren, hatte Arukenimon die Türme in Digimon verwandelt. Seelenlose Haudraufmaschinen, wenn ihm nicht wieder ein Missgeschick wie seinerzeit BlackWarGreymon passierte. Genau das, was Ken brauchte. „Greifen wir an“, sagte er. In lockerem Laufschritt stapften sie durch die Dünen, bis die Festung für alle sichtbar aus dem leichten Sandnebel brach. Ken hatte Oikawas Mantel und billige Hosen angezogen, die sie bei einem fahrenden Händler gekauft hatten, dazu Stiefel, die ihm eigentlich zu groß gewesen wären. Kaum dass er die Kleidung am Leib getragen hatte, hatte sie sich auch schon in sein DigimonKaiser-Outfit verwandelt, das wenigstens bequem saß. Surrend flogen die Snimon und Kuwagamon voraus. Die vier neuen Meramon holten gleichzeitig aus und schleuderten in hohem Bogen Feuerbälle, die wie ein Funkenregen auf die Festung niedergingen. Sie richteten kaum Schaden an, reichten aber als Angriffssignal. Ken zählte die Sekunden, die die Besatzung der Festung brauchte, um zu reagieren. Fast eine Minute verging, in der sie, schwer atmend ob der Hitze, obwohl der Morgen erst graute, und mit sandverklebten Gesichtern bis auf wenige hundert Meter an die Festung herankamen. Dann sah er, wie sich die Klappen in der Außenmauer öffneten und Nadines Häscher sichtbar wurden. Revolvermon, die die Angreifer sofort unter Beschuss nahmen – und sie selbst von den flinken Snimon und Kuwagamon wortwörtlich in die Zange genommen wurden, kaum dass sie ihre pistolenbestückten Leiber ins Freie streckten. Geschrei und Schüsse wurden laut, doch Ken verbot sich Mitleid mit seinen Feinden. Stur lief er weiter, Oikawa und seine Digimon knapp hinter sich wissend. Als die Meramon eine neue Feuersalve auf die Festung niedergehen ließ und er die Hitze auf der Haut spürte wie eine zweite Sonne, öffnete er den Mund und brüllte laut. Mehrere Gargoylemon, deren weiße Haut hell im zarten Morgenlicht leuchtete, schwärmten aus und stellten sich den Insektendigimon zum Kampf. Nur wenige schafften es tatsächlich, hoch in die Luft zu steigen, ehe Arukenimons Thunderboltmon sie unsichtbar und blitzschnell von allen Seiten wie Kanonenkugeln attackierten. Die Revolvermon hatten alle Hände damit zu tun, sich selbst zu schützen, sodass sie nicht einmal in Kens Richtung schießen konnten. Dann erfüllte ein gewaltiges Surren die Luft. Hinter der Festung stieg, einem unheilvollen, grauen Schatten gleich, die massige Gestalt von Nadines Ookuwamon empor, drehte sich langsam und klackerte bedrohlich mit den Scheren. Die Sonne stach durch den leichten Sandsturm und ließ den Schatten des Insektendigimons wie eine riesige Stachellandschaft über die Festung und die anstürmenden Digimon fallen. Mit knatternden Flügeln griff es an. Ken fühlte sich unweigerlich an die letzten Stunden seiner Festung in seinem anderen Leben erinnert. Damals waren Ex-Veemon und Stingmon zum ersten Mal zu Paildramon verschmolzen, um es mit Arukenimons Ookuwamon aufzunehmen. Und wieder stand er einem Ookuwamon gegenüber, das ihn daran hindern wollte, in die Festung zu gelangen. Nur dass er diesmal Davis nicht an seiner Seite hatte. Ookuwamons rasend schnell flatternde Flügel wehten die kleineren Kuwagamon einfach zur Seite, als es direkt auf die Bodentruppen zuhielt – und dann von Kens eigenen, beiden Ookuwamon vom Himmel geholt wurde, die dröhnend wie Hubschrauber über ihn hinwegrauschten und gegen ihren Artgenossen prallten, ihn zu Boden rissen und mit ihren Scheren festnagelten. Ken gestattete sich ein Lächeln. Er hatte vielleicht nicht Davis. Dafür aber hatte er nun Arukenimon an seiner Seite, das die beiden Digimon aus zwanzig Schwarzen Türmen geschaffen hatte. In einer so verrückten Welt war es wohl Kens Pflicht, selbst ein wenig verrückt zu ein. Wären Kens Digimon im Inneren der Festung noch am Leben gewesen, hätte man sie nun unter ein Dauerfeuer von Tankmon- und Guardromon-Geschossen gesetzt, und die Laser der Mekanorimon hätten eine glühende Spur der Zerstörung in den Sand gezeichnet. Doch die Besatzung der Festung schien eher spärlich – da waren nur die Revolvermon, die verbissen um ihre Krähennester kämpften. Vermutlich hatte Nadine ihre Digimon fortgeschickt, um die Grenze zu bewachen. Sie hatte sicherlich vorhergesehen, dass einige ihrer zahlreichen Feinde ihre Krallen nicht nur nach dem flüchtigen DigimonKaiser, sondern gleich nach ihrem ganzen Kaiserreich ausstrecken würden. Und wie hätte sie ahnen können, dass Ken mit Arukenimons Hilfe tief in ihrem Gebiet einfach so Soldaten erzeugen konnte? „Ihr beide seid dran“, keuchte Oikawa. „Wird auch Zeit!“ Mit einem irren Lachen nahm Mummymon seine Mumienform an. Ein Strahl aus seinem Gewehr prasselte die Außenwand der Festung entlang und zerriss zwei Revolvermon-Wachen in Datensplitter. Dann streckte es den Arm aus und schickte eine Handvoll Mullschlangen in eine der unbewachten Öffnungen, die sich dort um Rohre und Vorsprünge festzogen. Wie mit einem Seilzug beförderte Mummymon sich in die Höhe und schickte gleich noch eine Salve ins Innere der Festung. Ken sah weitere Datenreste aufstieben. Arukenimon tat dasselbe bei einer zweiten Öffnung, doch noch als es sich an seinen Spinnenfäden hinaufziehen wollte, schloss sich die metallene Schutzblende des Eingangs, kappte die Schnüre und ließ es zurück in den Sand fallen. „Verdammt!“ „Mummymon, pass auf! Sie schließen die Blenden!“, schrie Ken, heiser vom Sand, der in seiner Kehle kratzte. Mittlerweile hatte der Rest der Truppe den Fuß der Festung erreicht, wo sie einigermaßen vor feindlichen Kugeln sicher waren. Die Insekten hatten nun die Lufthoheit in diesem Sektor, aber falls sich Nadine in ihrer Festung verschanzte, waren sie ein gefundenes Fressen für heranrückende Verstärkung. Gut, dass sich ihre Digimon nach draußen gewagt hatten. Mummymon stieß einen Fluch aus, als sich auch vor seinem Eingang ein Sicherheitsschott herabsenkte. Rasch klemmte es sein Maschinengewehr dazwischen. „Wehe dir, es geht kaputt!“, schimpfte es nach unten und ließ dann seine Bandagen herabfallen, damit die anderen ihm folgen konnten. Als Erstes durfte es sich abmühen, das tonnenschwere Minotarumon emporzuziehen, das sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Während Mummymon als Nächstes Ken und Oikawa nach oben beförderte, stemmte das Stierwesen mit schierer Muskelkraft und ratterndem Bohrarm das Schott in die Höhe. „Das reicht“, keuchte Ken und wischte sich Schweiß und Sand von der Stirn. Er nickte Arukenimon zu, das hinter ihnen ebenfalls heraufgekrabbelt kam. „Gehen wir.“ Sie schlüpften ins Innere der Festung, gerade als Minotarumon auf ein Knie brach. Nicht mehr lange, und es würde das Schott nicht mehr offenhalten können, aber das machte nichts. Ken, Oikawa, Arukenimon und Mummymon waren in der kühlen Dunkelheit angelangt, die sie gesucht hatten. Draußen kämpften nur noch Schwarzturmdigimon für sie, und die konnten sie alle opfern, wenn es sein musste. „Wird es ab hier eigentlich leichter? Oder schwieriger?“, fragte Mummymon beiläufig, als es sich an die Spitze ihres Trupps setzte. Arukenimon spielte das Schlusslicht. Ken wusste keine Antwort auf diese Frage. „Es kommt darauf an, wie viele Digimon Nadine sonst noch hat.“ Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider, und leichenbleiches Licht wies ihnen den Weg. Bis zur übernächsten Gangkreuzung ging alles glatt. Die Verteidiger mussten wissen, dass sie kamen – bedeutete das, dass sie ihnen nichts mehr entgegenwerfen konnten? Nun musste sich Ken entscheiden: Sollten sie lieber zu den kaiserlichen Gemächern und seinem Thron laufen? Oder hatte Nadine die Brücke reparieren lassen und koordinierte ihre Truppen von dort? Er lauschte. Es klang nicht so, als würden über die Kommunikationssysteme Befehle gegeben werden – und er traute Nadine auch eher zu, sich wie eine würdevolle Verliererin in einem Spiel auf dem Thron ihrem Schicksal zu ergeben, wenn sie wusste, dass es vorbei war. Also lotste er seine neuen Verbündeten tiefer in die kühlen Eingeweide der Festung, die in Kürze wieder ihm gehören würde. Du hast einen wunderbaren Palast an der Felsenklaue, Nadine. Und wir kämpfen hier um ein Stück kalten Stein. Einmal kam ihnen ein Trupp Starmon entgegen, die Arukenimon und Mummymon allerdings kaum etwas entgegenzusetzen hatten. Ken zuckte jedes Mal ein wenig zurück und bewunderte Oikawas Mut, sich furchtlos den Digimon entgegenzustellen, auch wenn er selbst nicht kämpfen konnte. Als sie nur noch wenige Minuten von Kens einstigem Thronraum entfernt waren, stellte sich ihnen im Halbdunkel eine große Gestalt entgegen. Hufe klackerten auf dem Betonboden, und ein einzelnes, halb verdecktes Auge glühte sie an. „Bis hierher und nicht weiter“, dröhnte Centarumon. Wir sind auf dem richtigen Weg, dachte Ken. „Ergebt euch. Dann müssen wir nicht kämpfen.“ Als Antwort flammte eine orangegelbe Kugel in Centarumons Handschuh auf und sauste auf die Eindringlinge zu. Sie traf Mummymon, das vor Ken trat, genau in die Brust und ließ das Mumiendigimon mit einem krächzenden Schrei zurücktaumeln. Kurz liefen Flammen über seine Bandagen und es erzitterte, dann trat es auf Centarumon zu und schüttelte die Gliedmaßen aus, als hätte sein Puppenspieler mit den Fingen gezuckt. „Ihr beide“, sagte Centarumon misstrauisch und meinte zweifellos Arukenimon und Mummymon. „Wer seid ihr?“ „Das zeig ich dir gleich!“ Mummymons Waffe versprühte grelles Neonlicht, das Centarumon einhüllte. Als es abflaute, lag ein stöhnendes Elecmon auf dem Boden, übersät mit Brandwunden. „Verschont es“, sagte Ken rasch. „Das ist Nadines Digimon.“ „Ihr werdet … Nadine nicht …“ Elecmon hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Sein Fell knisterte elektrisch, aber es konnte offenbar nicht einmal mehr eine Attacke ausführen. „Nein, werden wir nicht. Keine Sorge.“ Kens Stimme klang härter, als er es gewollt hatte. Elecmon letzter Blick war sorgenvoll und zweifelnd, als es das Bewusstsein verlor. „Kommt“, sagte Ken nach kurzem Zögern. „Wir bringen es hinter uns.“ Sie wartete in der Gesuchshalle auf ihn, genau wie er es erwartet hatte. Wie immer trug sie ihr würdevolles, schwarzes Kleid, das sie fast mit dem schwarzen Samtsessel verschmelzen ließ. Der Raum war hell erleuchtet, aber leer. Sie hatte ihr DigiVice neben sich auf der Lehne liegen, ein Gerät, wie es Tais Generation und auch er selbst zuerst erhalten hatten, und strich mit den Fingerspitzen darüber. Sie wirkte nicht überrascht, Ken zu sehen. Hatte Deemon sie davon in Kenntnis gesetzt, wer ihr Feind war? „Nicht schlecht“, durchbrach sie die zähe Stille, die sich gebildet hatte. „Ein wirklich episches Comeback. Du bist wohl ein besserer Spieler, als ich dachte. Oder einfach stur. Oder einfach nur ein schlechter Verlierer.“ „Das hier ist kein Spiel“, murmelte Ken leise. „Was hast du mit Elecmon gemacht?“ „Es lebt.“ „Oh, gut. Ich dachte schon, du würdest mich vielleicht die Medizin schlucken lassen, die du selbst auch gekostet hast. Ich schätze mal, du hasst mich“, sagte sie seufzend. Tue ich das? Eine Zeitlang hätte er diese Frage eifrig mit Ja beantwortet. Wie er sie hier sitzen sah, allein und immer noch der Ansicht, um Recht zu sein, empfand er gar nichts mehr. Nur Schmerz. „Du hast verloren“, sagte er. „Was hast du in den letzten Tagen alles herumerzählen lassen? Was hast du alles angerichtet?“ Nadine seufzte. „Da steht mir ja einiges bevor, was? Muss ich dir das wirklich alles erklären? Willst du es nicht selbst rausfinden? Sag mir lieber, wie du es geschafft hast, so viele Digimon an meinem Radar vorbeizubekommen.“ Er schüttelte langsam den Kopf. Er hatte eigentlich gar keine Lust, mit ihr zu reden. Nicht jetzt. Es tat weh, auch nur ihr Gesicht zu sehen. Ihr Anblick hatte eine Wunde wieder aufgerissen. Eine Wunde, in der ein schwarzer Dorn steckte. „Auch gut“, meinte sie und tippte sich gelangweilt mit dem Zeigefinger gegen die Wange. „Ist das Oikawa? Und Arukenimon und Mummymon? Es gibt sie also wirklich? Deemon hat mir erzählt, dass du dir einbildest, sie zu kennen.“ „Erinnerst du dich nicht mehr an mich?“, fragte Oikawa. „Ich weiß noch, wer du bist. Du warst damals ein kleines Mädchen, das unbedingt so klug sein wollte wie Ken hier. Das alles daran gesetzt hätte. Und dem es fast das Leben gekostet hätte, nicht zuletzt durch meine Schuld.“ Nadine reckte den Hals. „Aber ich bin so klug wie Ken. Er hatte Glück, das ist alles. Keine Ahnung, was du da redest, alter Mann. Ich habe dich nie gesehen.“ Sie fixierte wieder Ken. „Also, bringst du mich nun um, oder soll ich das selbst tun?“ Ken starrte sie einen Moment entgeistert an. Eigentlich hätte er diese Frage ja erwarten können. „Das hier ist kein Spiel, Nadine. Begreif das endlich. Wenn du stirbst, wirst du nicht vor deinem Computer aufwachen. Diese drei hier können das bezeugen.“ Sie schnaubte. „Wunderbar, ein paar Spinner haben einander gefunden. Deemon hat mich davor gewarnt, dass du lästig bist und die Wahrheit nicht kapieren würdest. Deswegen meinte es ja erst, dass ich mich bei dir einschmeicheln und dich im Auge behalten sollte. Du würdest den Spielspaß vermindern, hat es gesagt. Und es hatte recht.“ „Deemon versucht, die DigiWelt zu verwüsten!“, platzte es aus Ken heraus. „Und unsere Welt gleich mit! Alles, was ihr tut, hilft ihm dabei! Es ist alles so, wie ich es sage, und wie Deemon behauptet hat, dass ich es glaube! Wach auf, Nadine!“ Sie legte zornig die Stirn in Falten. „Und ich war schon der Meinung, ich könnte dich doch mögen, Ken. Weißt du was, vergiss es. Vergiss bitte vor allem, dass ich dich geküsst habe. Ich habe es getan, um dich umzubringen, aber es hat mir sogar … Ich habe es genossen, okay? Aber dein ewiges Gejammer … Ach, ich kann es langsam nicht mehr ertragen. Töte mich, aber verdirb mir nicht mein episches Ende, ja? Ich habe es verdient.“ Ken ballte die Fäuste. Tränen wollte in ihm hochsteigen, aber er drängte sie zurück. Nie wieder. Ich werde nicht mehr weinen. Wenn, dann vor Freude. Weil alles vorbei ist. „Es war alles Deemons Plan, richtig?“ „Klar. Es hat dich unterschätzt, aber ansonsten war es ein guter Plan. Zu einem gewissen Grad hat er auch Spaß gemacht.“ „Spaß“, schnaubte er. „Deemon hat dir also gesagt, wie ich denke? Was ich für die Wahrheit halte? Was du zu mir sagen sollst, damit ich glaube, du wärst wie ich?“ „Ich dachte, das wüsstest du schon längst.“ „Arukenimon, bring sie weg“, murmelte Ken. „Sperr sie irgendwo ein.“ Er sah Nadine nicht in die Augen, sondern auf seine Stiefel hinab. Arukenimon verwandelte sich zurück in die rotgekleidete Frauengestalt und trat an Nadine heran. „Mach keine Schwierigkeiten, Schätzchen.“ „Ich habe dich geliebt“, sagte Ken tonlos, als die beiden an ihm vorbeigingen. „Ich weiß. Das war ja auch mein Ziel“, meinte Nadine hochmütig. „Ich frage mich nur“, fuhr Ken leise fort, noch immer, ohne sie anzusehen, „ob ich dich als Menschen geliebt habe, oder einfach nur die Puppe, die an Deemons Fäden getanzt und alles gesagt und getan hat, was man ihr befahl.“ Darauf sagte Nadine nichts mehr. Als ihre und Arukenimons Schritte auf dem Flur verhallt waren, war es Ken, als würde es in dem Raum finsterer werden, obwohl das Licht geradezu abartig fröhlich wirkte. Hier hatte er Nadine seinerzeit empfangen. Hier hatte er sich unbändig darüber gefreut, endlich eine Verbündete gefunden zu haben. Hier hatte der sonnige Teil seines Abenteuers begonnen, ohne dass er gewusst hatte, dass das, was er für die Sonne gehalten hatte, nur der Vollmond in tiefster Nacht gewesen war. „Würdet ihr beide mich hier alleine lassen?“, fragte Ken. „Ist das sicher?“, fragte Oikawa. „Nein. Aber ihr könnt ja die Türen bewachen. Bitte.“ Oikawa und Mummymon sahen sich noch zögernd an, dann gingen sie. Als er sich sicher war, dass er so allein war, wie er sich immer gefühlt hatte, ging Ken langsam zu seinem Regierungssessel. Nadines DigiVice lag immer noch auf der Lehne, als stummes Zeichen ihrer Aufgabe. Er fegte es herunter und hörte ihm zu, wie es über den Boden klapperte. Dann sank er in dem Sessel zusammen und weinte. Es sind Tränen der Freude, sagte er sich. Ich freue mich, weil ich meine Festung zurückerobert habe. Und er weinte und weinte.   Woman, just a black rose This has been your role that brought you to fall Let me say; weren’t wise It's impossible, you know For your lord to rise (Derdian – Black Rose) Kapitel 41: König für tausend Jahre ----------------------------------- Tag 118   Es ließ nicht lange auf sich warten. Seine Trauer klang ab, und für eine Weile saß Ken einfach nur da. Tränen hingen noch zwischen seinen Wimpern und ließen alles verschwimmen, also ließ Ken die holografische Konsole erscheinen und schaltete letztendlich das Licht aus. So saß er dann in der Dunkelheit, allein auf seinem Sessel, und lauschte. Lauschte seinem Herzschlag, seinen Atemzügen, leisem Gemurmel in der Ferne und einem dumpfen Pochen, das er nicht identifizieren konnte. Er wollte seine Gedanken zur Ruhe bringen, wenigstens einmal. Deemon ließ ihn nicht. Kaum dass er meinte, sein Atem hätte sich beruhigt und das Zittern und Schluchzen darin wäre versiegt, tauchte es in seinen Gedanken auf. Selbst hier in völliger Dunkelheit sah er seinen Schatten in der Ecke des Raumes stehen. Verschwinde, dachte er müde. „Nicht übel, Ken“, erklang Deemons Stimme in seinen Gedanken. Die Stimme, von der er lange Zeit geglaubt hatte, er hätte sie ausgesperrt, und die sich nur kichernd vor ihm versteckt hatte, lauernd und neugierig. Wie viel von seinen Gedanken kannte das Digimon? „Ich hätte nicht gedacht, dass du dich nach diesem meinem letzten, komplizierten Spielzug noch einmal aufrappeln würdest.“ Lass mich in Ruhe. „Bist du etwa mürrisch, Ken? Du hättest allen Grund zur Freude. Deine neuen Helferlein mögen dir aus der Patsche geholfen haben, doch du allein hast die Willensstärke aufgebracht, Nadine gegenüberzutreten. Ich habe dir schon so viel entgegengeworfen, dich mit meinen kunstvollsten Zügen in die Enge getrieben, doch immer bist du mir entwischt. Nichts scheint dich kleinkriegen zu können.“ Dann gib doch einfach auf. Deemons Schatten erzitterte, als es leise lachte. Es war dieses Gackern, das Ken so verabscheute. „Das würde keinen Unterschied machen“, behauptete es. „Ihr Menschen mögt es doch, Dinge auszurechnen und Statistiken aufzustellen. Lass mich dir eines sagen, Ken. Die Wahrscheinlichkeit, dass du über mich triumphierst, beträgt weniger als ein Prozent. Und ich weiß, dass du das Kämpfen leid bist. Ich müsste deine Gedanken gar nicht erst lesen, um zu wissen, dass du auf ein Ende wartest. Du wünschst dir nur, mit deinen Freunden zusammen zu sein, die DigiWelt heil zu sehen, und all das hier vergessen zu können.“ Ken schwieg, also fuhr es fort. „Ich habe nun erkannt, was für eine Verschwendung dein Tod wäre. Du bist klug und hartnäckig. Du schaffst es, ein Reich zu führen und sogar Intriganten aus dem Weg zu räumen. Es wäre eine Verschwendung, wenn wir beide uns weiterhin bekämpfen.“ Ken horchte gelinde auf. Was soll das heißen? Was planst du wieder? „Ich kenne deine Gedanken, Ken. Ich kenne all deine Wünsche und Sehnsüchte. Es schadet mir nicht, sie zu erfüllen. Ich kann jemanden wie dich gebrauchen, Ken.“ Du konntest mich nicht austricksen, und nun versuchst du es auf die andere Tour? „Im Gegenteil, Ken. Wir profitieren beide davon. Wäre es nicht wunderbar, wenn du einfach nur die Hand nach den Dingen auszustrecken bräuchtest, nach denen du dich so sehr sehnst? Wenn du all deine Wünsche in Schicksal, in Wahrheit verwandeln könntest?“ Ich falle nicht auf deine Lügen herein. „Es sind keine Lügen, Ken. Du kennst die Menschen besser als ich. Wenn ich erst wieder in der DigiWelt bin, werde ich mir auch die Menschenwelt unterwerfen. Ich weiß, dass Menschen gerne um ihre Freiheit kämpfen. Wenn sie sich gegen mich auflehnen, wird Blut fließen. Deine Welt wird verwüstet, und du weißt wohl, wie es wäre, über ein Reich ohne Untertanen zu regieren. Ich bin mir sicher, dass du einen besseren Weg finden würdest, sie uns zu unterwerfen. Meinetwegen kannst auch du über die Menschen herrschen, und ich gewähre dir Mitspracherecht hier in der DigiWelt.“ Es machte eine Pause, um seine Worte sickern zu lassen, doch Ken wusste, dass er sie einfach abperlen lassen musste. Du willst mit mir gemeinsam herrschen? Du nimmst mich auf den Arm. „Du hast keine Vorstellung davon, wie groß meine Macht sein wird, wenn ich erst wieder in der DigiWelt bin. Diese Macht kann ich mit dir teilen, Ken, wenn du mich von nun an unterstützt. Ich weiß, was du dir wünschst. Du bist Kaiser, aber du musst immer noch fürchten, von denen, die dir nahe stehen, verraten zu werden. Du musst tatenlos zusehen, wie deinen Freunden etwas zustößt. Du bist nicht Herr deines Schicksals. Deswegen wünschst du dir mehr Macht. Ich werde sie dir geben.“ Du hast recht – ich kann niemandem mehr trauen! Warum sollte ich also ausgerechnet dir glauben? „Ich schwöre dir, dass ich mein Wort halte.“ Ken lachte schrill auf. Du hast mir schon so viele falsche Versprechen gemacht! „Nein. Erinnere dich, Ken. Ich habe dir niemals etwas geschworen, das ich nicht gehalten habe. Ich war bei allen Spielregeln stets ehrlich. Allenfalls habe ich dir etwas vorenthalten oder mit Worten gespielt. Nun tue ich das nicht: Ich schwöre, dass es diesmal keine Hintertüren gibt. Ich werde diese Macht erhalten, und ich werde sie mit dir teilen. Du musst nichts anderes tun, als mir die Treue zu schwören.“ Ken wollte etwas erwidern, aber er wusste plötzlich nicht mehr, was. Nicht, weil ihm nichts eingefallen wäre. Hundert verschiedene Gedanken drehten sich in seinem Kopf, aber er war zu müde, um sie in Deemons Richtung abzufeuern. „Ich habe dir zu Beginn unseres Spiels versprochen, dass du eintausend Jahre Zeit haben würdest, um das Spiel zu gewinnen. Erinnerst du dich, Ken?“ Ja. Das war der erste Trick, den du gegen mich eingesetzt hast, dachte Ken bitter. In der DigiWelt vergeht die Zeit schneller. Du hast die tausend Jahre auf die Menschenwelt umgerechnet, auf acht Monate, und sie mich dann mit hierher nehmen lassen. „Dieses Versprechen werde ich einlösen. Ich werde dir tatsächlich tausend Jahre geben, ohne dass du je alterst. Wir werden unsterblich. Niemand wird uns töten können. Du kannst für die Ewigkeit über zwei Welten mitherrschen. Du bekommst die Macht, auch deinen Freunden ewiges Leben zu schenken. Du wirst nichts verlieren.“ Ich will gar nicht ewig leben. „Es wird kein Leben sein, wie du es kennst. Keine Sorgen, kein Leid mehr. Befreie mich, und ich schenke dir die Macht, mit der Zeit zu spielen, wie du es wünschst. Alle Reichtümer der Welt gehören dir, mehr noch, du wirst deine eigenen Reichtümer erschaffen können. Strecke nur deine Hand nach mir aus. Schwöre mir, dass du gehorchst. Ich weiß, dass du dich nach Frieden sehnst. Es wird Frieden herrschen. Du wirst Digimon wie Menschen wiederbeleben können, wie ich es von hier, jenseits der Feuerwand, aus tat. Du kannst endlich verhindern, dass Unschuldige sterben. Du kannst auch deinem unglücklichen Freund Tai sein verlorenes Auge wiedergeben. Das alles sind Kleinigkeiten.“ Ken schluckte. Diesmal ließ er es sich wirklich durch den Kopf gehen. Du sagst mir ständig, wie toll es für mich wäre, wenn ich mit dir zusammenarbeite. Aber was hast du davon, deinen Thron mit mir zu teilen? „Ich dachte, du wärst in Diplomatie besser bewandert, Ken“, meinte Deemon abfällig. „Wie ich schon sagte, wenn wir unsere Kräfte vereinen würden, müssten wir beide weniger Energie aufwenden, um unsere Untertanen erst wiederzubeleben, ehe wir über sie herrschen können. Selbst dann hassen sie uns vielleicht. Ich habe kein Problem damit, wenn ich gefürchtet werde, aber die Art, wie du dein Reich regierst und von deinen Anhängern bejubelt wirst, hat auch etwas Schmeichelhaftes. Wenn du als DigimonKaiser deinen Einflussbereich vergrößerst und dich irgendwann dazu bekennst, einem Gott zu dienen, werden sich deine Untertanen mir ebenfalls zu Füßen werfen.“ Du willst der Gott der DigiWelt werden! „Das ist nur ein wohlklingender Titel, Ken. Aber wir wären beinahe auf derselben Stufe. Überlege es dir. Alles, was du tun musst, ist, was du bisher auch getan hast. Du musst Türme bauen, um meine dunkle Macht zu mehren. Ich habe es schon einmal gesagt, ich werde wiederkehren. Egal was du oder deine Freunde tun. Selbst eine DigiWelt ohne Schwarze Türme würde mir irgendwann die Kraft zukommen lassen, durch die Feuerwand zu schreiten. Doch ich bin das Warten leid. Baue mehr Türme für mich, Ken. Du brauchst sie nicht länger in der DigiWelt zu verteilen. Schon wenn du deine Wüste damit spickst, Turm neben Turm, wird meine Wiederkehr in bald in greifbare Nähe rücken. Du müsstest keinen Angriffskrieg mehr führen, Ken. Alles, was du tun musst, ist, dein eigenes Land zu verteidigen. Und du brauchst dir auch keine Sorgen mehr um deine Freunde zu machen. Ich schwöre, dass ich sie verschone. Bin ich erst wieder in der DigiWelt, sind sie nichts als kleine Fische für mich, keinen einzigen Gedanken wert.“ Ken kaute auf seinem Daumennagel, während er in der Dunkelheit vor sich hin grübelte. Keine Toten mehr in diesem Spiel? Keine Grausamkeiten? Es ließ sich nicht vermeiden, dass Deemon seine Gedanken mitanhörte, so aufgewühlt war Ken plötzlich. „So ist es. Und deine Freunde werden ihre Erinnerungen zurückerhalten. Das war doch einer der Aspekte, die du an unserem Spiel so sehr hasst, nicht wahr?“ Sie werden sich wieder erinnern … Sie werden mich wiedererkennen und nicht mehr als Feind betrachten … Sie werden aufhören, mich zu hassen. Da durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Was war er doch für ein Idiot … Hatte dieses ganze Hin und Her, Verstellen, Verratenwerden und Davonlaufen sein Hirn aufgeweicht? Sie würden es niemals gutheißen, wenn ich mich dir ergebe. Du bist und warst unser Feind! Er hörte Deemon seufzen. „Nur zu. Bring all deine Einwände vor. Aber denk gut darüber nach: Ich werde wiederkehren, Ken. Ob mit deiner Hilfe oder deinem Widerstand zum Trotz. Ich sagte, deine Chancen lägen bei weniger als einem Prozent – aber das würde nur zutreffen, wenn dein Geist so frisch wäre wie beim Beginn unseres Spiels. Du bist erschöpft, und du weißt das. Du hast nicht die Kraft, mir weiterhin die Stirn zu bieten. Dir sollte klar sein, dass ich noch einige Züge in petto habe, die dich mit Sicherheit in die Knie zwingen und deinen Geist zerstören werden. Vielleicht wirst du es nicht erleben, wie ich triumphiere. Vor allem aber leben deine Freunde gefährlich. Je länger sich das Spiel hinzieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass einer von ihnen stirbt. Womöglich bringen sie sich gegenseitig um. Wenn das Spiel endet, egal wie es ausgeht, kehren ihre Erinnerungen zurück. Was denkst du, wie würde sich dein Freund Davis fühlen, wenn er merkt, dass der Mann, den er getötet hat, gar kein Feind, sondern sein Freund Matt ist? Wie würden sie reagieren, wenn sie erfahren, dass der Kaiser, den sie so erbittert bekämpft haben, in Wahrheit ein guter Freund ist? Wenn sie erkennen, dass sie, weil sie dich nicht erkannt haben, mit Schuld an meinem Sieg sind? Ich bin sicher, sie würden sich am liebsten von der nächstbesten Klippe stürzen.“ In Kens Kopf rotierten Gedanken, aber es waren nicht mehr nur ablehnende. Was Deemon sagte, war durchaus plausibel. Und es würde auch sicher niemanden von sich aus wieder zum Leben erwecken – das war Kens Aufgabe. Trotzdem, sie würden es nicht gutheißen. Sie würden mich einen Feigling nennen. „Würden sie das? Denkst du nicht, sie würden verstehen, warum du es getan hast, und dich stattdessen vernünftig nennen? Unterschätze deine Freunde nicht. Sie würden es bedauern, wenn sie durch ihre eigene Schuld meine Rückkehr ermöglicht hätten. Wenn du herrschen würdest, kannst du sie dir gleichwertig machen. Ihr würdet alle leben, es würde wieder wie früher sein. Das willst du doch, oder irre ich mich?“ Nur dass du der Herrscher über zwei Welten wärst, dachte Ken, noch nicht überzeugt. Deemon lachte leise, aber irgendwie klang es ein wenig wehmütig. Ken schwindelte bereits von der langen gedanklichen Konversation. Er war so müde, dass er sich kaum auf Deemon konzentrieren konnte. „Warum glaubst du, ich wäre ein schlechter Herrscher? Ich weiß, dass du mich für böse hältst. Wieso regierst du dann nicht an meiner Seite, um zu verhindern, dass ich unsere Welten tyrannisiere? Es liegt in deiner Hand. Gehorche mir. Befreie mich. Diene mir. Es ist ganz einfach.“ Kens Kopf schmerzte. Die Worte wurden immer drängender, das widerstrebte ihm, aber zugleich merkte er, wie ihm die Argumente ausgingen. Und wir würden wirklich über Leben und Tod und die Zeit herrschen können? Apocalymon konnte das nicht – oder? „Die Macht, die man sich auf dieser Seite der Feuerwand aneignen kann, mag für einen Außenstehenden wie dich unvorstellbar sein. Du hast am eigenen Leib erfahren, wie ich die DigiWelt manipulieren konnte. Meine Macht wächst immer noch, und ich werde sie mit mir nehmen, wenn ich die DigiWelt betrete. Und solange ich noch hier bin, werde ich auch dir einen Teil davon übertragen, damit er nicht verloren geht, wenn ich mich durch das Feuer wage. Du siehst, ein Bündnis zwischen uns ist auch mir von Nutzen.“ Ken haderte mit sich. Ich darf keine Entscheidung fällen. Nicht, wenn ich nicht voll ausgeruht bin. „Wie du willst. Überlege es dir. Aber tu es bald – ich werde dich nicht kurz vor meinem Sieg einwilligen lassen.“ Deemons Schatten war immer unschärfer und seine Stimme immer hohler geworden, je mehr Kens Konzentration nachgelassen hatte, doch nun kehrte kurz wieder die Kraft darin zurück. „Als Zeichen meines guten Willens verrate ich dir noch etwas über die Spielsteine, Ken. Nadine hat auf meine Anweisungen hin deinen Freund Matt freigelassen, erst gestern. Damals hätte ich nicht gedacht, dass du dich wieder aufraffen könntest, und wollte das Spiel somit in die Länge ziehen. Sie hat ihm sein DigiVice zurückgegen, und vermutlich sind er und Gabumon sofort auf und davon. Bedauerlicherweise kann ich dir nicht sagen, wohin. Er ist keines der Saatkinder.“ Das hätte ich auch so herausgefunden, meinte Ken unwillig. Verschwinde endlich. Ich bin müde. „Dann etwas anderes, dass dich mehr interessieren sollte. Takashi, den du Einhornkönig nennst, hat Tai und Sora in die Hände bekommen. Er hat sie wieder ins Nördliche Königreich geschickt. Dein Leibwächter ist tot. Du musst also nicht darauf warten, dass sie wieder von sich hören lassen.“ Deemons Gestalt flackerte kurz, aber Ken konnte nicht sagen, ob es ein belustigtes oder ein bedauerndes Flackern war. „Ich werde dir weitere Informationen über die Saatkinder zukommen lassen. Du siehst, ich bin dir nun wohlgesonnen. Gewinnen wir dieses Spiel gemeinsam, Ken.“ Damit verschwand es. Ken merkte, dass er schwer atmete. Nun war es tatsächlich für einen Augenblick ruhig – doch kaum dass er meinte, einnicken zu können, wurde er wieder gestört. Während seiner Konversation mit Deemon waren höchstens ein paar Sekunden vergangen, und das Pochen, das er vorhin gehört hatte, stellte sich als schnelle, trampelnde Schritte heraus. Das Licht flammte wieder auf, und er schloss geblendet die Augen, hörte Oikawa etwas rufen, eine blaffende Antwort, und dann ging die Tür auf und jemand trat ein. Während Kens Augen sich noch an das Licht gewöhnen mussten, erkannte er die Stimme, die zu ihm sprach. „Verflucht nochmal, Kaiser, du lebst ja noch!“ „Wie schön, dich zu sehen, Ogremon“, murmelte Ken unwillig. „Teufel noch eins! Deine verräterische Menschenfreundin hat gemeint, du wärst schon hinüber!“ „Warst du die ganze Zeit in der Festung?“ Endlich konnte Ken wieder klar sehen. Seine Tränen waren auch endlich getrocknet. Ogremon sah so hässlich aus wie immer. Irgendwie war es ein tröstender Anblick. „Zur Hölle, ja! Diese kleinen Biester mit ihren Spielzeugwaffen sind mir ganz schön auf die Pelle gerückt, als ich versucht hab, deinen Gefangenen zu bewachen. Ich und ein paar andere haben ein paar Räume besetzt und auf deine Befehle gewartet. Ich wusste nicht, ob du nun erledigt bist oder nicht, also hab ich mich der Königin irgendwann ergeben und so getan, als würd ich nun ihr gehorchen.“ Es klang, als wäre Ogremon stolz darauf, den Schwanz eingezogen zu haben. Ken schüttelte nur müde den Kopf. „Kennst du dieses Digimon?“ Oikawa war eingetreten. Sicherlich hatte er alles mitangehört. „Hä?“ Ogremon glotzte ihn feindselig an. „Was ist denn das überhaupt für ein dürrer Kerl?“ Ken war zu müde, um es darauf hinzuweisen, dass neben ihm wohl jeder Mensch dürr aussah, aber vielleicht spielte es eher auf Oikawas Größe an. „Das ist Ogremon, mein erster Ritter. Ogremon, das ist Yukio Oikawa. Er gehört ab sofort zu meinen engsten Vertrauten und Beratern.“ „Soso.“ Ogremon wog seine Keule in den Händen. „Dann wollen wir mal hoffen, dass der mehr taugt als deine letzte Vertraute.“ Es versetzte Ken einen Stich, als es Nadine ansprach. Immer noch. Werde ich mich je davon erholen? Er stemmte sich mühselig an den Armlehnen seines Sessels in die Höhe. „Ogremon, sieh zu, dass in der Festung wieder alles seinen gewohnten Gang läuft. Baut die Türme wieder auf und passt auf, dass keines von Nadines Digimon mehr frei herumläuft. Und repariert die Schäden. Yukio, würdest du Arukenimon bitten, noch ein paar der übrigen Türme in Digimon zu verwandeln? Falls Nadine noch Truppen alarmiert hat oder uns sonst jemand angreift, müssen wir gewappnet sein.“ Das sollte uns hoffentlich Zeit bis morgen verschaffen. Dann kann ich wieder klar denken. „Für den Moment lasst noch nichts über mich oder Nadine verlautbaren. Das hat Zeit bis morgen. Ich werde jetzt schlafen gehen. Ogremon, wenn du alle Befehle verteilt hast, bewachst du meine Kammer.“ „Zu Befehl!“ Oikawa verzog säuerlich das Gesicht, als ihm klar wurde, dass Ken Ogremon mehr vertraute als ihm selbst, doch er nickte nur und versprach, sich um alles zu kümmern. Als Ken den Lichtregler in seiner Kammer hochdrehte, durchfuhr ihn ein Schauer. Es sah noch alles nach Kampf aus; niemand hatte aufgeräumt. Die Decke lag zerknüllt auf dem Boden, und in der Matratze seines Betts klaffte ein breiter Schnitt. Ein Schauer durchfuhr ihn. Nein, hier konnte er unmöglich schlafen. Er überlegte, ob er den Mechanismus ausschalten sollte, der die Tür automatisch schließen würde, aus, damit Ogremon später sah, dass er nun doch nicht in dieser Kammer war, entschied sich aber dagegen. Stattdessen nahm er eines der anderen, kleineren Zimmer, die einen Flur tiefer lagen und die er für Diplomaten, Botschafter und Fürsten vorgesehen hatte, wenn sie seiner Festung einen Besuch abstatteten. Hier bin ich wohl am sichersten. Niemand vermutet mich hier. So ist es am besten – wer weiß, ob ich Ogremon überhaupt wirklich trauen kann? Ich wäre wohl dumm, wenn ich es täte. Er legte sich auf das unberührte Bett. Das nagende, nervöse Gefühl in seinem Magen, das aufgetaucht war, als er Ogremon und Oikawa verlassen hatte, verschwand langsam, und er fiel in tiefen Schlaf. Nicht einmal jetzt war ihm Ruhe vergönnt. Er wanderte durch eine wirre Traumwelt, voller tanzender Sandkörner, teils so groß wie Melonen, und voller schwarzer, stacheliger Kugeln wie Treibminen. Ein grauer Schatten verfolgte ihn. Als er über ihn hinwegglitt, zuckte Ken zusammen, weil er ihn für Deemon hielt, aber es war jemand anders. Und anders als die anderen Dinge, die er in diesem Traum sah, war dieses Digimon nicht unklar, verschwommen und in ständigem Wandel, sondern von geradezu atemberaubendem Detailreichtum. „Habe ich Euch gefunden, mein Kaiser“, schnarrte MetallPhantomon. Ken wich zurück. Er hatte keinen Boden unter den Füßen, obwohl er auf festem Grund zu stehen schien. Unter ihm schoss ein Mahlstrom aus Wasser, Schaum, Landflecken und Bäumen vorbei, als flöge er in schwindelerregender Höhe rasend schnell über die DigiWelt. Schweiß trat ihm aus allen Poren. Nicht auch das noch. Ich kann nicht mehr … Er fühlte sich so verletzlich wie schon lange nicht mehr. Wenn es stimmte, was er über MetallPhantomon wusste, war das hier seine Domäne – und Ken war ihm schutzlos ausgeliefert. Nein, zeig keine Angst, keine Angst! Bloß keine Angst zeigen! Doch es war zu spät. MetallPhantomon legte den Kopf schief. Seine Augen, glühend wie Kohlen, brannten sich in Kens. „Ich wollte Euch nur informieren, wie weit ich in Eurem Namen bereits gekommen bin. Der König der Träume hat weite Teile des Nördlichen Königreichs erobert. Das Gebirge untersteht mir vollkommen. Ihr habt gut daran getan, mir den Thron zu überlassen. Bald ist Santa Caria dran. Ohne ihren König sind die Nordländer schwach.“ Das ist nicht gut. „Ich habe Euch keine Befugnis erteilt, Euer Reich so überhastet auszuweiten.“ „Brauche ich die etwa? Ihr wolltet einen starken König, der Eure Feinde bekämpft. Ihr habt ihn bekommen.“ Es zögerte. Ken hörte Atem durch seine Kehle rasseln, den es sicher nicht brauchte, aber der ihm eine Gänsehaut versursachte. „Habe ich mich in Euch getäuscht?“, knarzte es die Frage, die Ken schon befürchtet hatte. „War es Furcht, die ich eben in Euch spürte? Wer hätte gedacht, dass der große DigimonKaiser sich vor mir fürchten könnte, selbst wenn es nur im Traum ist. Träume offenbaren das wahre Innere – hattet Ihr etwa nur ein großes Mundwerk?“ Verdammt. Tagsüber Deemon, und in der Nacht MetallPhantomon? Was machte es in seinen Träumen? Es wurde aufmüpfig und arrogant. Ken hatte eigentlich gehofft, es würde sich davor fürchten, wie damals bei Sora an Kens angeblich dunklem Inneren zu zerbrechen – oder war es genau andersherum? Glaubte das Digimon, Ken würde diese Schrecken tatsächlich kontrollieren können und schon nicht gegen es einsetzen? Dann spürte es nun sicher, dass seine innersten Gefühle nichts mit dieser finsteren Höhle gemein hatten. Verdammt. „Hütet Eure Zunge. Ich dachte, Ihr wärt jemand anders.“ Das stimmte sogar. Hoffentlich merkte MetallPhantomon das. „Es gibt nur ein einziges Wesen, das ich fürchte. Für Euch wäre es besser, es nie kennenzulernen.“ Er legte alles, was er über Deemons künftige Macht gehört hatte, hinter diese Worte, und hoffte, dass sie noch überzeugender rüberkamen. „Wenn Ihr noch einmal in meinen Träumen auftaucht, werdet Ihr das bitter bereuen. Und ebenso, wenn Ihr das Nördliche Königreich zu sehr unter Druck setzt, merkt Euch meine Worte. Ein guter König sichert zuerst sein eigenes Land, ehe er sich auf Feldzüge begibt.“ MetallPhantomon gab eine Mischung aus Knurren und Schnauben von sich. „Sagt doch, was Ihr wollt. Ich war viel zu leichtgläubig, als Ihr in meinem Schloss wart. Ich folge meinen eigenen Plänen. Ihr scheint mir plötzlich viel weniger furchteinflößend zu sein.“ Sein flatternder Mantel beruhigte sich etwas, als käme es selbst zur Ruhe. Unter ihnen rasten immer noch Land und Wasser dahin, verschwommen zu endlosen Schlieren. „Mir kamen beunruhigende Gerüchte über Euer Ableben zu Ohren.“ „Wie Ihr seht, ist nichts Wahres dran. Ich bin nur einem langen, komplizierten Plan gefolgt, um einen politischen Gegenspieler loszuwerden. Möchtet Ihr mein Gegenspieler werden?“ MetallPhantomon fauchte und verschwand langsam in der Ferne. „Wir werden sehen, mein Kaiser. Ich habe nicht erblickt, was ich erwartete.“ Das konnte Ken so nicht stehen lassen. „Seid froh darüber“, murmelte er drohend. Als MetallPhantomons Gestalt verblasste, endeten auch die irrsinnigen Stromschnellen unter Ken, und er glitt endlich von seinem Traum hinüber in einen erholsamen, tiefen Schlaf.   Wouldn’t it be nice To reign and to decide Whatever there’s attracting you Will give its due to you (Helloween – The King for 1000 Years) Kapitel 42: Kriegsrat --------------------- Tag 119   Ken war heilfroh, als ihm der Geruch von frischem Kaffee entgegenwehte. Trotz allem fühlte er sich an diesem Morgen wie erschlagen. Er trug ein frisches Gewand – natürlich seinen DigimonKaiser-Anzug –, aber das war auch das einzig Frische an ihm. Die Sitzung wurde wieder einmal mangels Alternative im Kontrollraum abgehalten. Oikawa stand von seinem Stuhl auf, als Ken eintrat. „Guten Morgen. Du siehst furchtbar aus – ist alles in Ordnung?“ Ken warf ihm einen unwilligen Blick zu, als er merkte, dass auch Ogremon anwesend war. Er würde später mit Oikawa darüber reden müssen, ihn nicht in Gegenwart seiner Untertanen zu bemuttern. Immerhin war er der Kaiser. Fürs Erste ließ er sich jedoch nur seufzend auf seinen Stuhl fallen. „Alles bestens. Ich habe genug geschlafen, es wird Zeit, dass ich mir einen Überblick verschaffe und ein paar Dinge in Ordnung bringe. Also fangen wir gleich an.“ Oikawa nickte und schenkte ihm aus einer Kanne Kaffee in eine Tasse. Schwarz und stark. Genau das Richtige. Ken hatte trotz allem nicht das Gefühl, nach seinen Tagen auf der Flucht nachhause gekommen zu sein. Außer den beiden Menschen und Ogremon waren auch Arukenimon und Mummymon da, die in ihrer menschenähnlicheren Gestalt auf ihren Plätzen hockten, und außerdem … „Schau mal, wer wieder aufgekreuzt ist“, feixte Ogremon und wollte Spadamon die Mähne zerwuscheln, das flink seiner Pranke auswich, indem es auf den Tisch sprang. „Ich habe gehört, dass Ihr noch am Leben seid. Da dachte ich, ich schaue vorbei, vielleicht seid Ihr ja sogar schon wieder im Amt?“, meinte der weiße Löwe grinsend. „Der Kaffee schmeckt übrigens grauenhaft. Ich würde mindestens vier Stück Zucker empfehlen.“ Ken konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. „Schön, dich wiederzusehen, Spadamon.“ Er verkniff sich die Frage, wie es von seiner Rückkehr erfahren hatte. Es war nicht umsonst sein bester Spion. „Wie ist die momentane Lage in der Festung? Wie gehen die Reparaturarbeiten voran?“ „Schleppend“, sagte Oikawa. Er hatte seinen Laptop wohl an Kens Informationsnetzwerk angeschlossen und sich schlau gemacht, während Ken geschlafen hatte – unter seinen Augen lagen tiefe Ringe. Eigentlich sah er fast so aus wie damals, als Ken ihn zum ersten Mal getroffen hatte. „Die Überwachungssysteme, einschließlich des Radars, sind etwa zu fünfzig Prozent einsatzfähig. Die Arbeiter haben begonnen, die Türme in der Wüste zu erneuern, aber sie machen kaum Fortschritte. Ist es normal, dass das so lange dauert?“ Ken nickte. „Ich werde nachher die Baustellen besichtigen. Mit meinem DigiVice kann ich das Aufbauen beschleunigen.“ „Wir sind außerdem ziemlich unterbesetzt“, schaltete sich Mummymon ein. Ken hatte gar nicht mehr gewusst, dass es auch so ruhig und vernünftig sprechen konnte. „Deine Freundin hat anscheinend alle deine Anhänger umgebracht, und wir hinterher ihre eigenen. Selbst wenn wir dein Computersystem wieder zum Laufen bekommen, es ist kaum noch jemand übrig, der die Maschinen bedienen kann.“ „Das habe ich befürchtet. Wir müssen schleunigst wieder Hagurumon anheuern. Spadamon, ich weiß, es ist viel verlangt, aber kannst du dich darum kümmern? Ohne dass unsere Feinde auf uns aufmerksam werden, versteht sich.“ „Kein Problem.“ Spadamon warf sich grinsend einen Zuckerwürfel ins Mäulchen. „Danke. Der Eherne Wolf ist entkommen, oder?“ Das war eine rein rhetorische Frage, doch trotzdem wandten sich alle zu Ogremon um. „Oh ja. Die Königin hat ihm sein DigiVice in die Hand gedrückt, und dann ist er vermutlich durch die Wüste davonlaufen. Vielleicht hat sie ihm sogar ein Reitdigimon mitgegeben. Der Feigling hat nicht mal den Anstand gehabt, mich persönlich herauszufordern!“ Vielleicht hätte er das getan, hättest du dich nicht in einem anderen Teil der Festung versteckt, dachte Ken, machte Ogremon jedoch keine Vorwürfe. „Sir Taomon sollte Tai den Drachenritter und Sora die Schwarze Königin, die wir rehabilitieren konnten, nach Süden bringen, aber ich weiß aus relativ sicherer Quelle, dass auch diese beiden entkommen sind und Taomon sein Leben gelassen hat. König Takashi hat sie wieder in König Leomons Reich geschickt.“ Spadamon sah ihn mit großen Augen an. „Woher wisst Ihr das? Von mir habt Ihr das nicht.“ „Wie gesagt, ich habe meine Quellen.“ Ken fing Oikawas Blick auf. Er wusste Bescheid. „Es tut mir leid, Spadamon, aber ich werde dich wohl demnächst auch wieder in den Norden schicken müssen, um zu überprüfen, was aus ihnen geworden ist. Würdest du mir den Gefallen tun?“ Der kleine Löwe grinste nur. „Hört schon auf mit Euren Entschuldigungen und Rückfragen. Machen wir’s doch wie früher: Ihr befehlt etwas, und ich tue es. Ich bekomme das schon hin.“ Ken sah es kurz verwirrt an, dann stahl sich ein Lächeln auf seine Züge. Richtig. Seit wann bin ich so duckmäuserisch? Ich bin ein Kaiser. „Also gut“, sagte er, um das Thema zu wechseln. „Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, dass wir offiziell verkünden, dass ich noch am Leben bin.“ „Das wollte ich auch gerade vorschlagen“, sagte Oikawa. „Nadine hat bereits begonnen, deinen Tod auszurufen und offiziell alleine zu herrschen.“ „Es ist aber nicht alles ganz glatt gelaufen“, warf Spadamon ein. „Auf dem Stiefel haben einige Dörfer und Städte Revolten angezettelt. Sie wollten nur von ihrem Kaiser regiert werden – oder von sich selbst.“ „Sie haben …“ Ken wusste nicht, was er denken sollte. Sollte ihn diese Nachricht nur aufheitern? Es gab also tatsächlich Digimon, die ihn als ihren Herrscher haben wollten … so dringend, dass sie Nadine den Gehorsam verweigerten? Er glaubte, eine gewisse Rührung zu empfinden. „Da hat sich die Kleine wohl verschätzt“, meinte Arukenimon abfällig. „Die Königin hatte nicht die Kapazitäten bereitstehen, in den rebellierenden Orten aufzuräumen. Sie hat sie daher einfach in Ruhe gelassen und nur die Digimon von Fort Netwave angewiesen, irgendwelche Rebellen nicht weiter ins Reich zu lassen“, fuhr der Spion fort. „Ich denke, es wäre von großer Wichtigkeit, den Digimon dort unten die freudige Botschaft zukommen zu lassen“, sagte Oikawa. „Wen hat die Königin noch benachrichtigt?“, wollte Ken wissen. Spadamon zählte sie an seinen Krallen ab. „Zum einen Little Edo. Fürst Musyamon hat recht gelassen darauf reagiert, nun eine neue Lehnsherrin zu haben. Es hat der Königin sofort die Treue geschworen.“ „Ich wusste es schon immer, dieses Musyamon hat keinen Stolz“, polterte Ogremon. „Im Gegenteil“, korrigierte Ken es ruhig. „Musyamon ist sogar so stolz, dass es Little Edo als sein eigenes Land sieht. Dass es mein Vasall ist, bedeutet ihm vermutlich nicht viel, allenfalls betrachtet es seine Abgaben als lästige Pflichten. Aber alle Korrespondenz, die wir hatten, lässt darauf schließen, dass es sich eher als eigenständiges Reich sieht, das mit uns verbündet ist. Daher ist es ihm egal, wem es pro forma die Treue gelobt, solange es nichts an unseren gemeinsamen Feinden und der Art ändert, wie es Little Edo regiert.“ Ogremon brummte irgendetwas, aber es schien zu verstehen. „Dann wären da noch die ursprünglichen Gebiete der Königin. Die hatten verständlicherweise keine Einwände, nur noch ihrer alten Königin zu dienen. Und außer dem Stiefel dann noch Masla. Ich war dabei, als sie mit Innenminister Cody gesprochen hat, und ich habe ihn überzeugt, ihr nicht zu trauen. Auf jeden Fall wollte er die Nachricht von Eurem Tod für sich behalten, bis er die Sache mit den Sklavenhändlern ins Lot gebracht hat.“ Der gute Cody. Dass ausgerechnet er derjenige ist, der mich am meisten unterstützt … Ken war froh, auf ihn zählen zu können. „Wir werden überall dorthin Boten schicken. Es müssen keine Geheimbotschaften sein; falls sie abgefangen werden, erfahren unsere Feinde wenigstens auch gleich, dass sie mich nicht abzuschreiben brauchen. Wir werden schnelle und ausdauernde Digimon damit beauftragen, sie müssen auch nicht sonderlich stark sein. Ogremon, hast du nicht ein paar solcher Mitstreiter?“ „Hm“, machte das grüne Digimon. „Was von meinen Leuten übrig ist, liegt gerade ein paar Stockwerke über uns auf der faulen Haut, aber da sind nur noch wenige Läufer drunter. Ich könnte aber mal wieder in die umliegenden Dörfer gehen und mir neue Soldaten rekrutieren. Ich bin verdammt nochmal schon viel zu lange hier drin eingesperrt!“ „So soll es sein.“ Ken verschränkte die Arme und betrachtete seine Kaffeetasse, die immer noch dampfte. „Die Frage ist nur …“ „… was wir ihnen über Nadine erzählen“, beendete Oikawa seinen Satz. „Deinen heißblütigen Anhängern wird das Blut zu kochen beginnen, wenn sie von ihrem Verrat hören. Das ist auch nicht unbedingt die beste Lösung. Ihre Untertanen wiederum könnten sich vor den Kopf gestoßen fühlen. Zwischen den beiden Fraktionen könnte sogar ein Bürgerkrieg ausbrechen, wenn wir nicht aufpassen.“ Mummymon hob einen Zeigefinger. „Darf ich einen Vorschlag machen? Nach allem, was ich weiß, hat deine Freundin ziemlich viele verschiedene Nachrichten über dich verkünden lassen, sodass eigentlich keiner mehr weiß, was Sache ist. Laut einem Gerücht hat man dich angegriffen und du bist in die Wüste geflohen. Wir könnten das doch für unsere Zwecke nutzen. Wir sagen, du wärst dem Attentat entflohen, endlich in deine Festung zurückgekehrt, und die Königin, die voller Trauer schon eine Gedenkfeier für dich organisieren wollte, wäre heilfroh darüber. Für alles Weitere fällt uns dann schon was ein.“ „Die Idee ist nicht ganz sauber, aber sie ist gut“, meinte Oikawa nach kurzem Überlegen. „So könnten wir es machen.“ „Du bist gar nicht so blöd, wie du aussiehst, Einauge!“, lachte Ogremon. „Was soll das heißen?“, fuhr Mummymon erregt auf. „Ruhe“, rief Oikawa das Mumiendigimon zur Ordnung. „Wenn Ken einverstanden ist, bereiten wir die entsprechenden Botschaften vor.“ „Keine Einwände.“ Ken lächelte und trank von seinem Kaffee. Einen so lebendigen Rat zu haben tat gut. Endlich musste er wichtige Entscheidungen nicht alleine treffen. Oikawas Auftauchen half ihm schon sehr. Es machte ihm auch nichts aus, dass ihn offenbar außer Spadamon niemand aus seinem Rat mehr höflich mit Ihr ansprach. Im Gegenteil, eine freundschaftliche Besprechung war ihm tausendmal lieber. Es war nun heimeliger in dem Zimmer. „Dann gehen wir jetzt am besten zu den schlechten Nachrichten über“, sagte Oikawa und die Stimmung verdüsterte sich schlagartig. Er klickte sich durch ein paar Fenster auf seinem Laptopbildschirm. „Ken, es wird dich bestürzen, das zu hören, aber deine Armee wurde vernichtet.“ „Was?“ Ken musste den Impuls unterdrücken, aufzuspringen. Das traf ihn tatsächlich unvorbereitet. „Zephyrmon hat versagt? Aber wie? Die Dinge standen doch gar nicht so schlecht!“ Oikawa warf einen hilfesuchenden Blick zu Spadamon, das fortfuhr: „Es gab Probleme mit dem Nachschub. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Das Heer der Königin ist General Zephyrmon in den Rücken gefallen. Sie und der Einhornkönig haben es zwischen sich zerquetscht, ehe sie sich dann gegenseitig angefallen sind. Baronmon war im Vorteil, daher hat sich die Streitmacht der Rose zurückgezogen. Momentan lagern sie irgendwo im Fürstentum Little Edo. Zephyrmon dürfte überlebt haben; das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass es nach versprengten Truppen gesucht hat. Was aus ihnen wurde, weiß ich nicht.“ „Verdammt!“ Ken schlug auf den Tisch. Zephyrmon war seine Trumpfkarte im Kampf gegen Takashi gewesen. Wäre er erst besiegt, hätte Deemon kein Saatkind mehr, dem es seine Pläne zwitschern konnte. Da hat also Nadines zweite Kavallerie gesteckt. „Wenn das wahr ist, sind wir verwundbarer denn je. Hat man etwas von der File-Insel gehört?“ Spadamon schüttelte den Kopf. „Ein, zwei Ladungen Rekruten sind vor vier Tagen auf der Stiefelspitze gelandet, aber wegen der Unruhen dort weiß man nichts Genaueres.“ „Wir brauchen auf jeden Fall mehr Truppen. Sollte Nadines Heer irgendwie Wind davon bekommen, was hier geschehen ist, werden sie in Windeseile vor unsere Türen preschen und ihre Herrscherin befreien wollen.“ „Wir haben doch noch genug von diesem Granulat, oder? Das, aus dem deine Türme sind“, erkundigte sich Oikawa. „Mehr als genug.“ Von dem Granulat gab es reichlich. Es war wohl der einzige Rohstoff, der Ken niemals auszugehen drohte, dafür hatte Deemon gesorgt. „Wenn du die Baugeschwindigkeit tatsächlich mit deinem DigiVice beeinflussen kannst, sehe ich kein Problem.“ Ken nickte und sah die rotgekleidete Frau an, die gelangweilt mit einer weißen Haarlocke spielte. „Ich zähle auf deine Hilfe, Arukenimon.“ Mummymons Blick huschte zwischen ihnen beiden hin und her. „Wartet, was?“ Es sprang so ungestüm auf, dass seine Stuhlbeine über den Boden scherten. „Ihr wollt noch mehr von Arukenimons wunderschönem Haar opfern, um euch eine Verteidigung zu organisieren? Wisst ihr überhaupt, was ihr da verlangt?“ Arukenimon selbst war es, das aufsprang, Mummymon im Genick packte und mit voller Wucht mit dem Gesicht voran gegen die Tischplatte knallte. „Halt deinen Mund, du Idiot!“, zischte es unwillig. Ogremon brach in schallendes Gelächter aus, und auch Spadamon grinste. „Ich mag euch. Ihr seid lustig“, stellte es fest und schob einen weiteren Zuckerwürfel in seinem Mund hin und her. „Wir sollten trotzdem auch etwas gegen Nadines Truppen unternehmen. Sie könnten so ziemlich überall in unserem Reich Schaden anrichten“, nahm Oikawa den Faden wieder auf. „Momentan sind sie in Little Edo, hast du gesagt?“ Spadamon nickte heftig, dass seine Mähne wippte. „Ich bin mir sicher, dass Fürst Musyamon ihnen Unterschlupf gewährt – und Schutz vor Baronmons Armee. Der Einhornkönig wird sich nicht so bald nach Little Edo wagen, dazu ist es zu gut verteidigt.“ „Spadamon, auch das lege ich in deine Hände. Musyamon weiß vermutlich nicht, dass es Verräter beherbergt. Du wirst es davon unterrichten – im Geheimen. Es kann gut sein, dass Nadines Truppen genau das verhindern wollen.“ Ken kam ein weiterer Gedanke. „Aber Musyamon wird vermutlich nicht erfreut sein, wenn es das erfährt. Ich kann mir vorstellen, dass es ungehalten reagiert, wenn ich plötzlich wieder auf der Bildfläche stehe und ihm sage, es solle seine Schützlinge gefangen nehmen. Wir sollten es ihm schonend beibringen. Am besten, es tut gar nichts, und wir kümmern uns selbst darum.“ „Ich würde gar nicht so weit gehen“, entgegnete Oikawa. „Würde Musyamon einer Nachricht von Spadamon hundertprozentig trauen?“ „Ich war das Erste, das mit ihm in Kontakt getreten ist“, erklärte Spadamon stolz. „Umso besser. Wenn dieses Musyamon so stolz ist, wird ihm ein klarer Befehl vielleicht mehr imponieren. Überlassen wir ihm dieses Schlachtfeld. Dann kann es beweisen, wie wertvoll sein Schwert ist, um es mal so zu sagen.“ Ken atmete tief durch. Verlor er in seinem eigenen Rat die Kontrolle? Oder war es eher so, dass sich nun die besten Ideen viel eher durchsetzten? Oikawa war gerissen, das konnte niemand bestreiten. Er betrachtete seine Tasse, die bis auf einen schmalen Sichelmond Kaffee leer war, und schenkte sich sofort nach. Diese Sitzung schien noch länger dauern zu können.     Die Träume nagten an Davis. Es war nicht mehr so schlimm wie am Anfang; MetallPhantomon schien nun anderweitig beschäftigt zu sein. Centarumon war mit seiner Kavallerie von Santa Caria fortgeritten, hatte mit seiner stoischen Ruhe in den umliegenden Siedlungen neue Soldaten rekrutiert und war schließlich mit einem kleinen Heer gen Westen geritten. Schon da hatte Davis sich gefragt, ob er, wenn das gemeine Volk ihn tatsächlich als Helden sah, nicht vielleicht doch besser hätte dabei sein und die Moral heben sollen. Seither waren drei Wochen vergangen. Sie waren nur zu zweit – zu dritt, wenn man Veemon mitzählte –, und darum fanden auch keine Ratssitzungen statt. Davis sprach jedoch oft zu den Bewohnern der Stadt und angereisten Digimon, die wissen wollten, wie der Krieg verlief. Er bemühte sich, einen guten Eindruck und eine gute Figur zu machen und so nah an der Wahrheit vorbeizuschrammen, dass die Digimon dennoch beruhigt waren. Es waren ab und zu Berichte von der Front gekommen. Centarumon und seine neue Kohorte hatten den Vorstoß der Traumarmee, wie die Bakemon und die Briganten mittlerweile genannt wurden, zum Stillstand gebracht, mehr aber auch nicht. Die Grenze im Westen war hart umkämpft, und sie hatte sich verschoben: Kein Fleck Gebirgslandschaft gehörte mehr dem Löwenkönig. Davis passte in seinen Träumen genau auf, ob er nicht Hinweise auf das Schlachtgeschehen mitbekam. Einmal wünschte er sich auch, das Mädchen, das er in seinem ersten Traum von MetallPhantomon gesehen hatte, an seiner Seite zu haben. Sie war beruhigend gewesen, hatte MetallPhantomons Klauen schon einmal von ihm gerissen. Er sah sie nie wieder. Von König Leomon fehlte immer noch jede Spur. Die Bewohner fingen bereits an, sich Sorgen zu machen, und auch Ritter und Fürsten aus der Umgebung fragten immer öfter nach, ob es nicht Neuigkeiten gäbe. Davis antwortete darauf stets dasselbe. Der Löwenkönig war dabei, ein gut verteidigtes Eiland einzunehmen, das dauerte und Nachrichten über das Meer zu transportieren war ebenfalls nicht einfach. Sie würden von ihm hören, sobald er siegreich wäre. Auch heute aß er mit Meramon zusammen auf dem Dach eines Hauses am Rand der Stadt – vor allem deswegen, weil es ungemein praktisch war, Meramon als Koch zu haben. Das Flammendigimon briet jeden Happen Essen in dem Moment durch, in dem es ihn in die Hände nahm. Es ging schnell, und meistens, wenn es nicht zu verbrannt war, schmeckte es. Von dort oben hatten sie auch eine gute Aussicht auf das Tor und den Pfad, der dorthin führte. Meistens tat sich dort nichts, doch heute war es anders. Davis hatte gerade einen Fisch verschlungen und benutzte eine dicke Gräte als Zahnstocher, als Veemon aufsprang. „Seht mal! Da kommt jemand!“ Die anderen folgten seinem Blick. Ein ungewöhnliches Gefährt hielt auf die Stadt zu. Ein kleiner Karren, nicht groß genug, um mehr als ein Fass Wein und eine Kiste mit Obst zu transportieren, wirbelte rumpelnd Staub auf. Er wurde von zwei Kiwimon gezogen, und auf einem schmalen Kutschbock saß ein Veggiemon, das seine Tentakel als Zügel und Peitsche gleichzeitig zu benutzen schien. An sich war ein Händler oder etwas in der Art in Santa Caria nichts Ungewöhnliches, wenngleich diese auch meist nicht in der Mittagshitze ankamen, aber allein die Geschwindigkeit, zu der Veggiemon seine Zugdigimon anspornte, gab Davis zu denken. Die Piximon flatterten von der Mauer, kaum dass der Wagen nähergekommen war. Ein kurzer Wortwechsel, und sie zerrten etwas – jemanden – von der Ladefläche des Karrens. Zu zweit flogen sie das Digimon durch das Tor. Ein drittes Piximon sprach noch mit dem Veggiemon. „Das sehen wir uns an“, beschloss Davis, sprang auf und stieg mit Veemon und Meramon die Treppe hinunter, die in die Außenwand des Hauses geschlagen war. Im Schatten des Rathaussaals hatten die Piximon-Wächter das Digimon auf einen Stuhl gesetzt. Das war an sich eine große Ehre, vor allem, wenn man bedachte, wie schmutzig, zerschrammt und erschöpft es aussah, eher wie ein heruntergekommener Bettler. Es war ein Kamemon, ein Digimon, das aussah wie eine Schildkröte mit einem Hut, der seine Augen verdeckte, und es wirkte zu Tode erschöpft. „Was ist los?“, fragte Meramon mit lauter Stimme. „Was ist das für ein Digimon?“ „Geht nicht zu nahe an es ran, bitte“, sagte eines der Piximon. „Es braucht Luft und Kühle.“ Meramon schnaubte. „Es sagt, es wäre ein Digimon von König Leomons Eroberungsflotte“, berichtete das zweite Kobolddigimon. Davis hatte sofort ein flaues Gefühl, das mit jedem Moment, den er darüber nachdachte, was das bedeuten mochte, schlimmer wurde. „Am besten hört Ihr Euch seine Geschichte selbst an.“ „Also rede“, herrschte Meramon Kamemon an. „Was machst du hier, während der König auf See ist?“ „König Leomon“, krächzte das Digimon, dessen Kehle völlig ausgedörrt sein musste. „König Leomon … ist tot.“   I see my ships disappearing I fear my life’s soon ending How could we be so blind to see? (Celesty – Final Pray) Kapitel 43: Grenzenlose Macht ----------------------------- Tag 119   Die Ratssitzung dauerte letztendlich bis nach Mittag. Spadamon berichtete noch davon, dass Nadine ihrer ersten Kavallerie unter RiseGreymon, die nun als Marodeure durch Kens Land zog, Unfrieden stiftete und auch den einen oder anderen Anschlag auf sein Leben gewagt hatte, offiziell vergeben und wieder in ihre Reihen eingeladen hatte. Sie hatten schließlich die ganze Zeit mehr oder weniger in ihrem Interesse gehandelt. Bisher waren sie nicht auf das Angebot eingegangen, wohl, weil sie nicht wussten, wie ihnen geschah. Vielleicht konnte Ken die Plünderer damit noch aus ihrem Versteck locken. Viel Hoffnung hegte er allerdings nicht. Letztendlich gab es nur noch zu klären, welche Titel und Ehren Ken an Oikawa, Arukenimon und Mummymon vergeben würde. Oikawa wollte sich zunächst dagegen wehren, überhaupt mehr als nur ein Unterstützer aus den Schatten zu sein, aber Ken überzeugte ihn schließlich. „Du hast die DigiWelt repariert und jahrelang zusammengehalten. Es wird Zeit, dass du dafür Anerkennung erhältst. Außerdem ist es einfacher, wenn du für meine Untergebenen auch eine Autoritätsperson wirst. Dann kannst du in meinem Namen mehr erreichen.“ Ken massierte sich die Nasenwurzel. Der Kaffee war leider vor geraumer Zeit zur Neige gegangen und er spürte bereits dessen Fehlen. Außerdem bekam er langsam wirklich Hunger. „Spadamon, haben wir zufällig Lehen, die kürzlich frei geworden sind?“ „Halt. Ernenn mich meinetwegen zum Kaiserlichen Berater, aber ich werde mich nicht als Fürst ausgeben und über ein Lehen herrschen“, sagte Oikawa entschlossen. „Das wäre aber eine gängige und respektierte Ehre“, sagte Ken. „Außerdem muss jemand die Felsenklaue regieren, wenn wir sie erst wieder richtig ins Reich eingegliedert haben. Ich muss die ganze DigiWelt erobern, Yukio. Ich glaube, sie ist zu groß, als dass ich sie effektiv alleine regieren könnte. Zu Rittern ernenne ich euch sowieso.“ Oikawa gab ihm mit einem Seufzen zu verstehen, dass er seinen Widerstand aufgab. „Du kannst es ja auch Arukenimon und Mummymon überlassen, das Lehen zu verwalten. Was sagt ihr dazu?“ „Kein Interesse“, murmelte Arukenimon sofort in den Kragen seines Kostüms. „Hm …“ Mummymon verschränkte die Arme und schloss nachdenklich das Auge. „Überlegt doch mal – ein ruhiges Stückchen Land, irgendwo, in dem Arukenimon und ich gemeinsam leben könnten, in einem schönen Haus …“ „Wir werden die meiste Zeit sowieso Ken unterstützen“, riss Oikawa es aus seinen Tagträumen, ehe Arukenimon sich gereizt dazu äußern konnte. „Wir werden irgendeinen anderen Verwalter ernennen. Wenn es reicht, dass wir pro forma deine Vasallen sind, bin ich einverstanden.“ „Gut. Über die Felsenklaue reden wir, wenn es so weit ist. Spadamon?“ Der Spion räusperte sich. „Ja, also, die beste Option wäre sicherlich der Stiefel. Bisher hatten wir keinen wirklichen Verwalter dafür, die Städte haben sich selbst organisiert oder wurden von Türmen und Ringen im Zaum gehalten. Momentan ist der Stiefel ein ordnungsloses Pulverfass; wenn ein gerechter und treuer Streiter des DigimonKaisers offiziell die Verwaltung übernehmen würde … Das müsste eigentlich Anklang finden.“ Spadamon tastete in die Zuckerdose, doch auch diese war leer. Es verzog das Gesicht. „Gut. Wir machen es ohne große Formalitäten, ja?“, fragte Ken. „Das passt mir“, murmelte Oikawa wenig begeistert. „Von nun an seid ihr Sir Yukio Oikawa, Sir Mummymon und …“ Er stockte. „Arukenimon … wie soll ich dich betiteln?“ „Weiß der Geier. Mach, was du willst“, brummte das Digimon. „Ihr scheint mit Digimon, die Ähnlichkeit mit menschlichen Frauen haben, Probleme zu haben“, bemerkte Spadamon keck. „Wenn du die Titel dem britischen Ritteradel nachempfunden hast, dann müssten weibliche Ritter, soweit ich weiß, Dame genannt werden“, sagte Oikawa. „Aber … Dame klingt so al…“ Mummymon verstummte, als Arukenimons Blick es traf, und brach in Schweiß aus. „Also schön. Sir Yukio Oikawa, Sir Mummymon und Dame Arukenimon. Hiermit ernenne ich euch zu Rittern meines Kaiserreichs. Sir Yukio, weiters ernenne ich dich zum Fürsten des Stiefels und aller Inseln in der Nähe, außerdem zu meinem persönlichen Berater. Wir werden diese Neuigkeiten ebenfalls weitergeben. So.“ Ken lehnte sich seufzend zurück. „Neue Ritter. Schön. Schade, dass sie so schwächlich aussehen“, grunzte Ogremon. „Was war das?“, begehrte Mummymon auf. Ogremon hörte gar nicht zu. „Nachdem das jetzt endlich geklärt ist – wie sieht’s mit Essen aus?“ Das verspätete Mittagessen stellte tatsächlich ein kleines Problem dar. Wie es schien, war selbst die Küche unterbesetzt. Offenbar hatten einige der Digimon dort mitbekommen, was Nadine Ken hatte antun wollen, und waren entweder nicht damit einverstanden gewesen oder einfach zum Schweigen gebracht worden. So kam es, dass der frisch ernannte Ritter und Fürst Oikawa sich selbst eine Schürze umband und mit Pfanne und Kochlöffel bewaffnet den verbliebenen Köchen dabei half, ein einfaches Gericht aus Eiern, Zwiebeln und Fleischstücken zu zaubern. Ken hatte nicht gedacht, dass er kochen konnte, aber immerhin war er in der Menschenwelt ein alleinstehender Mann gewesen. Als er Arukenimon und Mummymon dazu abkommandierte, ebenfalls zur Hand zu gehen, zog sich Ken jedoch lieber aus der Küche zurück. Und wenn sie mich vergiften?, dachte er plötzlich. Plötzlich rieselte ihm ein Schauer über den Rücken. Ich sollte nichts mehr essen, was ich nicht selbst gekocht habe … aber das ist Wahnsinn. Ich lasse es sie einfach vorkosten. „Plagen dich die Zweifel, Ken?“ Deemon. Wieder einmal schlich es sich ungebeten in seine Gedanken. Was willst du schon wieder? „Du hast völlig recht, Ken. Kannst du dir sicher sein, dass ich Oikawa nicht geschickt habe?“ Nein. Und das war mir immer bewusst. „Wenn du endlich nachgibst und dich mir anschließt, wird diese Paranoia ein Ende haben. Kein Gift wird dir mehr etwas anhaben können.“ Lass mich endlich in Ruhe! „König Takashi hat von Baronmon die Nachricht erhalten, dass sich die Seuche in seinem Heer ausgebreitet hat. Es würde mich nicht wundern, wenn auch in deinem Reich schon Digimon erkrankt sind. Vielleicht erwischt es auch einen Menschen? Deine Freunde können jederzeit sterben, Ken! Ich verrate dir noch ein Geheimnis. Takashi hat einen von ihnen in seiner Gewalt. Ich verrate dir nicht, wen, doch er wird ihn töten, wenn ich es ihm befehle.“ Ken lief es eiskalt den Rücken hinunter. Diesen Augenblick hatte er immer gefürchtet. Willst du mir drohen? Ich dachte, du spielst nun das fromme Digimon? „Keine Sorge, Ken. Ich bin schließlich auf deiner Seite. Ich kann allerdings nicht dafür garantieren, dass Takashi deinen Freund nicht aus einer Laune heraus umbringt. Er hält es für ein bloßes Spiel ohne Verlierer, nicht für eines mit einem klaren Gewinner, wie du weißt. Aber du müsstest dir weder drohen lassen, noch dir Sorgen um deine Freunde oder Takashis Entscheidungen machen, wenn du die Macht besäßest, die ich dir geben könnte.“ Mit diesen unheilschwangeren Worten ließ es Ken alleine.     „Was hast du da gerade gesagt?“ Meramons Flammengesicht schien eine Nuance blasser zu werden. „Der König ist gefallen“, sagte Kamemon düster. „Es war … ich weiß nicht, was das war.“ Davis glaubte, zu träumen. Das war es, sicher war das nur ein subtiler Trick von MetallPhantomon, um seinen Willen zu brechen, und er schlief in Wahrheit noch. „Holt ihm doch was zu trinken“, rief Veemon den Piximon zu, die nur herumstanden. Normalerweise hätten sie sich von ihm nichts befehlen lassen, doch diesmal kämpften sie förmlich darum, wer als Erstes den Saal verlassen durfte. „Was … was ist denn passiert?“, stotterte Davis. „Wir waren auf See“, sagte Kamemon. Es wirkte gebrochen, als hätte es etwas erlebt, mit dem sein Verstand nicht fertig wurde. „Uns trennte nur noch eine halbe Tagesreise von unserem Ziel. Ein wenig weiter, und die File-Insel wäre schon in Sicht gekommen. Aber da war etwas anderes … eine andere Insel.“ „Eine andere Insel?“, kam eine Stimme von hinten. Davis sah Wizardmon hereinschweben. Er erinnerte sich, dass es heute Nachmittag zu einer Besprechung hatte kommen wollen. Offenbar war es schon früher angekommen. „Wizardmon. Ihr kommt wie gerufen“, begrüßte es Meramon. „So scheint es. Stimmt es, was die Piximon erzählen?“ „Ich hoffe nicht. Aber wir werden es gleich erfahren.“ „Du sagst, ihr hättet eine Insel gesehen?“, fragte Wizardmon. Auch es blieb vor Kamemon stehen, das als Einziges saß. Davis kam es in dem Saal plötzlich sehr dunkel und kalt vor, trotz Meramons Anwesenheit. „Es gibt dort weit und breit keine andere Insel außer der File-Insel.“ „Sie war da“, beharrte Kamemon. „Sie war nicht sehr groß, aber ein paar kleine Städte hätten darauf Platz gefunden, und wir haben auch einige Gebäude gesehen. Sie war aber in keiner Karte verzeichnet, wie Ihr es sagt. Wir waren genauso verwirrt.“ „Seid ihr … vom Kurs abgekommen?“, fragte Davis. Kamemon schüttelte eifrig den Kopf. „Das Whamon, das wir gemietet haben, kennt die Strecke genau. Fünf Tage braucht es, hat es gesagt. Und es war der fünfte Tag.“ „Eine Insel also.“ Meramon wurde ungeduldig. „Was ist dann passiert?“ „König Leomon wollte einfach daran vorbeifahren, aber wir wurden angegriffen“, berichtete das Schildkrötendigimon. „Der größte Teil unseres Heeres lagerte auf Whamons Rücken. Es war nicht geplant, dass wir tauchen. Also hat der König den Gegenangriff befohlen. Wir dachten, es wäre eine Bastion des DigimonKaisers. Aber es war seltsam … Beängstigend. Der Feind war unglaublich gut organisiert. Die Truppen waren schnell und diszipliniert … Ich habe so etwas noch nie gesehen.“ Kamemon erschauerte. „Sie haben uns ohne Gnade niedergemetzelt.“ „Wer war es? Was für Digimon?“, fragte Wizardmon eindringlich. Kamemon sah aus, als würde es gleich die Nerven verlieren, allein bei der Erinnerung. „Chessmon.“ „Chessmon?“ „PawnChessmon. KnightChessmon. Die anderen haben sie so genannt. Ich habe nie derartige Digimon gesehen, ich bin noch nicht so weit herumgekommen. Und schwere Geschütztürme …“ „Hast du Banner gesehen? Standarten?“, fragte Wizardmon. Kamemon zuckte mit den Achseln. „Es ging alles so schnell und plötzlich … Kaum dass wir die Insel betreten hatten, flogen Attacken hin und her … Ich war auf einiges gefasst, aber das ... König Leomon ist zu SaberLeomon digitiert, aber es wurde trotzdem besiegt.“ „Hast du gesehen, dass es gestorben ist?“ Davis kannte Leomons Kampfkraft nicht, aber es konnte unmöglich schwach gewesen sein. Zu seiner Bestürzung nickte Kamemon. „Es wurde von allen Seiten beschossen. Da waren noch zwei Digimon von der Gegenseite, die an seine Stärke herankamen. Es kämpfte wirklich tapfer; eines schlug es auch bewusstlos, aber das zweite, das größere …“ Kamemon schüttelte den Kopf. „König Leomon rief uns noch zu, zu fliehen. Wir sollten hierher zurückkehren und Bericht erstatten. Die meisten kämpften weiter und starben. Whamon starb ebenfalls. Nur ein paar sprangen ins Wasser. Anscheinend habe ich als Einziges das Festland erreicht. Ich dachte schon, ich hätte mich auf hoher See verirrt.“ „Feigling“, war Meramons Kommentar. „Das dürft Ihr so nicht sagen“, widersprach Wizardmon. „Es ist eine wichtige Information, die uns sonst vorenthalten worden wäre.“ „Ja, wenn man ihm glaubt. Leomon soll tot sein? Eine Insel, wo keine sein sollte? Zwei Digimon, die es als SaberLeomon besiegt haben? Die Sache stinkt zum Himmel.“ „Haben wir plötzlich aufgehört, unseren eigenen Soldaten zu glauben?“, fragte Wizardmon ruhig, brachte Meramon damit aber zur Weißglut. Seine Flammen zuckten, die Hitze stieg. Dann, plötzlich, war es wieder ruhig und schien darüber nachzudenken. „Wenn der König tot ist …“ Davis brauchte noch, um seine Gedanken zu sammeln. Es war einfach unvorstellbar, das zu hören … Leomon war ihm selbst wie eine Festung erschienen, eine uneinnehmbare Bastion gegen alles Schlechte in der DigiWelt. Veemon setzte seinen Satz fort. „Was machen wir dann? Das Land hat seinen Anführer verloren.“ „Wir werden auf jeden Fall einen Suchtrupp losschicken.“ Wizardmon übernahm ganz einfach das Kommando, obwohl es nur der Diplomat und Fürst eines Landstriches war, den Davis befreit hatte. Aber es war zweifellos zuverlässig. „Und wir müssen einen neuen König wählen. Sollten wir König Leomon wider Erwarten finden, war es eben eine Übergangslösung. Aber wir sind im Krieg. Zögern dürfen wir auf keinen Fall. Handeln, das müssen wir tun.“ „Wie stellt Ihr Euch das vor?“, fragte Meramon gereizt. „Wir müssten eine Kür abhalten. Centarumon muss herkommen, und Frigimon. Dazu müssen wir die Westfront sich selbst überlassen. Und der Drachenritter ist noch immer Wer-weiß-wo.“ „Eine Kür?“, fragte Davis. „Als Leomon das Amt des Königs übernahm, führte es dieses Gesetz im Norden ein“, erklärte Wizardmon mit der Geduld eines Diplomaten. „Sollte je ein neuer König vonnöten sein, soll er durch eine Königskür gewählt werden. Jeder soll die Gelegenheit haben, sich für die Wahl aufzustellen, und die Fürsten und Ritter des Reiches küren einen davon zu ihrem neuen König.“ „Aha“, murmelte Davis, dem dieser Brauch gänzlich unvertraut war. „Klingt fair.“ Den Fürsten konnte man vertrauen, fand er. „Aber solche Spielereien können wir uns nicht leisten“, beharrte Meramon. „Euer Sir Petaldramon ist beim Angriff auf die Blütenstadt gestorben, richtig? Und Sir Taichi wird vermisst. Wahrscheinlich ist er auch schon tot. Der Rest unserer Ritter und Fürsten wird anderswo gebraucht!“ Bei seinen Worten zog sich etwas in Davis schmerzhaft zusammen. Falls Tai gestorben war, war es seine Schuld. „Aber ohne einen König gibt es keinen Zusammenhalt, und wenn wir die Regeln des gefallenen Löwen nicht achten, könnte ein Bürgerkrieg entbrennen. Wenn jemand von uns einfach so, ohne eine gerechte Wahl, das Reich übernimmt, was unterscheidet uns dann von dem DigimonKaiser, der ebenfalls behauptet, nur das Beste im Sinn zu haben?“ „Jetzt übertreibt Ihr“, meinte Meramon abfällig. „Werde ich… noch gebraucht?“, fragte Kamemon unsicher. „Du hast uns einen großen Dienst erwiesen. Danke.“ Wizardmon winkte die Piximon-Wächter herein. „Sorgt dafür, dass es in ein Quartier kommt.“ „Und päppelt es wieder auf“, fügte Veemon hinzu. Die Piximon stützten Kamemon, als sie es nach draußen brachten. Die angespannte Atmosphäre im Rathaus hatte sich etwas beruhigt, die Kühle sich wieder auf sie gesenkt. „In einem irrt Ihr, Meramon“, sagte Wizardmon dann. „Ach ja?“ „Was den Verbleib von Sir Taichi angeht. Es stimmt, dass niemand genau sagen kann, wo sich der Drachenritter im Moment aufhält. Ich kann Euch allerdings versichern, dass er spätestens in einer Woche hier eintreffen wird.“ „Was?“ Davis‘ Herz machte einen Sprung. „Was redet Ihr da eigentlich?“, knurrte Meramon. „Als ich gerade von der Blütenstadt fortfliegen wollte, erreichte sie ein merkwürdiges Gefährt. König Takashi aus der Wüste sendet seine Empfehlungen, gemeinsam mit unserem Drachenritter.“ „Tai lebt?“, fragte Davis nach. „Ganz sicher? Aber der DigimonKaiser hat ihn gefangen genommen!“ „Er lebt, und es scheint ihm gut zu gehen“, sagte Wizardmon. „Man schien ihn ins Reich des DigimonKaisers überführen zu wollen, doch der Einhornkönig hat ihn befreit. Ich habe meine Soldaten angewiesen, ihn hierherzubringen.“ „Ach, habt ihr das.“ Meramon schien nicht beruhigt, im Gegenteil. „Warum zur Hölle seid Ihr dann allein gekommen? Ihr hättet ihn einfach mit Euch bringen sollen, dann müssten wir jetzt nicht auf ihn warten!“ „Er war nicht allein“, entgegnete Wizardmon ruhig. „Eine Frau ist bei ihm, deren Identität er nicht preisgeben wollte. Und sein Agumon scheint an einer schweren Krankheit zu leiden. Es wird auf dem Weg hierher behandelt, doch es konnte unmöglich digitieren. Sie müssen den Landweg nehmen, am Fuß der Berge und am Ufer des Nadelöhrs entlang fahren und dann dem Band flussaufwärts folgen.“ „Hm“, brummte Meramon. Davis‘ Gedanken rasten. Aber der DigimonKaiser war doch mit seinem Airdramon geflogen, als er Taichi bei sich gehabt hatte! Er hatte doch selbst gesehen, wie schnell so ein Digimon sein konnte! Hatte der Einhornkönig ihn etwa abgefangen? „Hat er auch irgendetwas gesagt, ob er weiß, was mit dem DigimonKaiser ist?“ „Wieso fragst du?“ „Er war mit ihm unterwegs. Wenn Taichi befreit wurde, dann ist der DigimonKaiser vielleicht ….“ Wizardmon schüttelte den Kopf. „Darüber hat er nichts gesagt. Falls es so wäre, bin ich sicher, dass er uns diese Information nicht vorenthalten hätte.“ Davis‘ Schultern sanken ein Stück. Aber Tai ging es gut, das war die Hauptsache. „Wir haben großes Glück, dass uns die Nachricht von des Königs Tod erst jetzt erreicht“, fand Wizardmon. „Glück?“, platzte Meramon heraus. Funken stoben um seinen Mund. „König Leomon hätte die File-Insel nach fünf Tagen erreichen müssen. Mittlerweile ist es fast vierzig Tage her, dass es aufgebrochen ist. Dieses verdammte Kamemon hat über einen Monat gebraucht, um uns diese Nachricht zu überbringen, und Ihr redet von Glück?“ „Glück, weil nun in Kürze auch Sir Taichi wieder in unserer Runde sein wird.“ „Ein Ritter mehr, der seine Stimme abgeben kann. Und?“ „Nicht nur ein Ritter.“ Wizardmon schüttelte den Kopf. „Wie die Dinge momentan stehen, halte ich Sir Taichi den Drachenritter für den geeignetsten Kandidaten für den Königsthron.“     Tag 122   In den folgenden Tagen ließ Deemon Ken nicht in Ruhe. Immer wieder funkte es seinen Gedanken dazwischen, die sich eigentlich auf die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung konzentrieren sollten – und auf tausend andere Dinge. Es lief wieder recht gut. Ogremon und Spadamon hatten beide die Festung verlassen, und sein Spion hatte Musyamon von Nadines Verrat unterrichtet. Dann hatte es noch wie versprochen neue Digimon für das Bedienen der Maschinen geschickt und war letztendlich aufgebrochen, um eine Neuerhebung bezüglich Tai und der anderen durchzuführen. Die größte Überraschung war jedoch, dass es Armadillomon gefunden hatte. Ken glaubte zuerst, gar nicht recht zu hören, aber es schien als eine Art Gaukler für Musyamon zu arbeiten. Er ließ es sofort zu sich in die Festung rufen und bot Musyamon eine angemessene Entschädigung dafür. „Du könntest deine Freunde alle wieder mit ihren Digimon vereinen. Auf ewig. Beuge nur dein Knie vor mir.“ Verschwinde. Wenn Spadamon wieder einmal im Land war, würde Ken es auch zum Ritter schlagen. In Anbetracht seiner vorzüglichen Dienste war das mehr als überfällig. Offiziell fühlte sich Nadine nicht wohl, deswegen sah und hörte man nur noch etwas vom DigimonKaiser, der auf mystische Weise von den Toten auferstanden oder einem tückischen Attentat ausgewichen war. Der Respekt seiner Untertanen war ihm einmal mehr sicher, und zu seiner Überraschung stieß er auf überaus freudige Reaktionen. Sie hassen mich doch nicht, dachte er. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass der Hass viel eher seinen Feinden entsprang – besser gesagt, deren Anführern. Dem gemeinen Volk war vielleicht schon zu Ohren gekommen, dass er sich bemühte, gerecht zu sein. Vielleicht muss ich den Tyrannen gar nicht nach außen kehren. „Du müsstest dich nicht mit diesen Meinungen herumschlagen, wenn du dich mir anschließen würdest, Ken.“ Was Nadines tatsächliches Wohlbefinden anging, so hörte Ken nur von seinen Dienern davon. Er brachte es nicht über sich, sie in dem Gemach, in das man sie gesperrt hatte, aufzusuchen. Am liebsten hätte er gar nicht mehr über sie nachgedacht – und gleichzeitig vermisste er es, sie um sich zu haben, trotz allem, was geschehen war. Oikawa hatte mit ihr gesprochen, und seinen Erzählungen nach war sie immer noch fest davon überzeug, in einer lästigen Situation in einem Spiel festzustecken. Ken ließ Vorkehrungen treffen, dass sie keine Gelegenheit hatte, etwas Dummes wie Selbstmord zu begehen, um das Spiel neu zu starten. „Du müsstest dich nicht darum sorgen. Hole sie einfach ins Leben zurück, wenn sie stirbt.“ Sie wird nicht sterben. Niemand wird sterben. Ich werde dich besiegen – das ist das Beste für alle! „Nein. Es ist unmöglich.“ Ken zeigte Oikawa auch die rätselhafte Inschrift, die er erhalten hatte, bevor die Sache mit Nadine passiert war. Er versprach, sich gründlich den Kopf darüber zu zerbrechen, aber bisher hatten weder sein frischgebackener Fürst noch die neuen Hagurumon dabei Fortschritte gemacht. „Ich könnte es dir sagen. Ergib dich mir, und ich löse alle Rätsel, an denen du scheiterst.“ Die merkwürdigsten Nachrichten trafen von der File-Insel ein. Devimon schwor Stein und Bein, dass König Leomons Flotte die Insel nie erreicht hatte – aber es wäre ein Digimon wiedergeboren worden, dass höchstwahrscheinlich jenes DarkTyrannomon war, dem Ken die Ritterwürde versprochen hatte. Kurz darauf kam Nachricht von Spadamon, dass es im Norden hieß, König Leomon wäre in der Schlacht gefallen, und man würde über einen Nachfolger unter den Fürsten und Rittern diskutieren. In der Schlacht, aber gegen wen? Es ist nichts außer hundert Meilen Ozean zwischen der Insel und dem Kontinent! „Willst du nicht doch auf mein Wissen zurückgreifen, Ken?“ Es war am Abend des vierten Tages, den Ken wieder in seiner Festung verbracht hatte, als er Deemons ständige Einflüsterungen so sehr satt hatte, dass er es sogar selbst kontaktierte, kaum dass sich die Tür zu seiner neuen Schlafkammer geschlossen hatte. Was muss ich tun, damit du endlich Ruhe gibst?, fragte er müde. „Das einzig Sinnvolle. Ergib dich mir, Ken. Hilf mir, wieder zu Kräften zu kommen, baue deine Türme ausschließlich in deiner Wüste, einen neben dem anderen.“ Deemons Scherenschnitt flimmerte drängend. „Hast du es nicht eben wieder selbst erfahren? Es passiert so viel in der DigiWelt, was du – noch – nicht steuern kannst. Leomon ist tot. Die Berichte stimmen. So schnell kann es gehen – und es kann jeden deiner Freunde treffen. Du weißt bei vielen nicht, wo sie sich aufhalten. Zwei hast du nicht gesehen, seit wir das Spiel begonnen haben. Du hast die nicht vergessen, oder? Ich kann dir in etwa sagen, wo sie sich befinden. Du kannst sie direkt zu dir holen. Du kannst jeden Toten wiederbeleben, wenn du mir nur deine Treue schwörst. Wir hätten es von Anfang an so machen sollen. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du mir tatsächlich auch später nützen könntest.“ Wie oft hatten sie dieses Gespräch nun schon geführt? Doch die Ungewissheit nagte an Ken, das behauptete Deemon zu Recht. Wo waren nur T.K. und Kari? Niemand hatte je von ihnen gehört, geschweige denn sie gesehen. Wenn tatsächlich einer von ihnen stürbe … Er wusste, dann würde er Deemon nachgeben. Allein, um es rückgängig zu machen. Es war so unrealistisch, dass jeder von ihnen mit heiler Haut davonkam, so unrealistisch … Und Tai hatte immerhin schon ein Auge eingebüßt, und wer wusste schon, wie es um die anderen stand? Wie sah beispielsweise Soras Gefühlswelt aus? Er wollte Deemon nicht die Gelegenheit gegeben, sie alle zu quälen oder Takashis Gefangenen töten zu lassen … Wiedererweckung hin oder her, er konnte es einfach nicht zulassen, dass sie seinetwegen litten. Die ganze Nacht brütete er darüber nach. Jeder Tag, jeder Gedanke von Deemon, der an seinen Überzeugungen, seinen Zielen gekratzt hatte, hatte ihn ermüdet. Er wälzte sich unruhig in seinem Bett hin und her und wägte Für und Wider ab, stellte sich alle möglichen Schreckensszenarien vor. Seine Träume führten diese Arbeit fort und perfektionierten sie sogar. Er sah Davis, brennend in orangeroten Flammen. Yolei, der eine Degenklinge aus der Brust ragte. Tai, mit scharfen Klingen, die seine beiden Augen durchbohrten. Cody, der sich blutüberströmt in den staubigen Gassen von Masla krümmte, von Aufständischen überfallen. Joe, den eine verirrte Attacke am Rande einer Schlacht erwischte. Izzy, der einfach nur reglos und kreidebleich vor ihm lag, neben ihm T.K. und Kari. Mimi, deren weißes Brautkleid sich blutrot färbte. Sora, die sich selbst erhängt hatte. Matt, dessen Blut an seinen Händen klebte! Es war sein schlimmster Albtraum seit langem. Dann tauchte auch noch MetallPhantomon auf. Der Drachenritter ist in sein Königreich zurückgekehrt. Ich werde Euch seinen Kopf bringen, seinen und den von diesem Jungen mit dem ArmorEi. Das Furchtbarste daran war, dass Ken sich sicher war, dass die Begegnung mit dem Geistdigimon tatsächlich stattgefunden hatte. Und dann sah er noch einmal Kari – genauer gesagt, er hörte ihre Stimme. Sie war nicht mehr als ein körperloser Hauch, nicht von dieser Welt … Ein Geist. Sie ist bereits tot. „Ken“, flüsterte sie. „Hörst du mich? Wir müssen etwas tun. Tai wird sterben … Wir werden alle sterben … Bitte …“ Als er hochschrak, schmerzten seine Zähne. Hatte er im Schlaf damit geknirscht? Er war völlig von Schweiß durchnässt, doch das war es nicht, was ihn frösteln ließ. „Hast du in deinen Träumen endlich die Wahrheit erkannt, Ken?“ Ken setzte sich in seinem Bett auf, zog die Beine an den Körper und vergrub den Kopf zwischen den Knien, raufte sich die Haare. Minutenlang saß er so da, vielleicht driftete er auch immer wieder in wirre Träume ab, er konnte es nicht sagen. Irgendwann glaubte er auch seine Eltern vor sich zu sehen, die auf seine Rückkehr hofften. Die unter Deemons Joch leiden würden, sollte es alleine herrschen. Da waren auch die Umrisse Oikawas – er hatte ein Messer in der Hand, bereit, Ken zu ermorden. Seine beiden Digimon standen lachend daneben. Und immer wieder glaubte er Kari zu hören. Warum ausgerechnet sie? Auch Deemon sprach wieder zu ihm, aber seine Worte sickerten in seinen Geist, ohne dass er sie wirklich hörte. Ich verliere den Verstand. „Du verlierst das Spiel. Du hast gut gespielt, also warum solltest du büßen?“ In Ordnung. Dieser Gedanke schien sein Herz zu sprengen. Er holte mit einem tiefen Schluchzer Luft. Er wusste, dass er vieles von sich selbst aufgab, allein indem er diese Worte sprach, doch er hielt die Ungewissheit, die Angst, die Sorgen nicht mehr aus. Wenn du dann Ruhe gibst – ich bin einverstanden. Deemon lachte amüsiert. „Nicht doch. Denkst du, Worte würden Taten ersetzen? Zeig mir, dass du es ernst meinst.“ Das gilt für uns beide. Du bist am ehesten in der Position, dein Wort zu brechen. Wir können uns niemals vertrauen. „Es gibt einen Weg, Ken. Einen Bund aus Blut und Macht.“ Blut und Macht? „Ich werde dir eine überaus mächtige Spielfigur an die Seite stellen. Du musst dich um nichts anderes mehr kümmern, als ganze Gärten von Türmen zu bauen. Ich werde Takashi befehlen, dir zu gehorchen. Er wird persönlich zu dir kommen, wenn du willst. Verfüge über sein ganzes Reich, all seine Helfer und Vasallen. Das ist die Macht, die ich dir im Voraus zuteilwerden lasse, als Beweis, dass ich es ehrlich meinte.“ Ken zögerte. Und … das Blut? „Auch du musst ein Opfer bringen. Du warst lange mein Feind. Wenn wir schon so weit sind, will ich dich unbedingt als meinen Mitherrscher. Du brauchst einen Grund, warum du meine Ankunft herbeisehnen solltest. Einen Grund, warum du die Macht, von der ich stets spreche, einsetzen musst.“ Und der wäre? Deemon legte eine dramatische Pause ein. „Den Tod eines deiner Freunde.“ Was? Nein! Vergiss es! Ken schüttelte sofort entsetzt den Kopf, als könnte er Deemon damit vertreiben. „Hör mich an, Ken. Wen immer du wählst, du kannst ihn hinterher wiederbeleben. Es wäre so oder so geschehen.“ Es hatte Kens Gedanken gehört. Natürlich. Selbst wenn nicht, war es nicht schwer zu erraten gewesen, dass Kens Herz für Deemons Vorschläge empfänglicher werden würde, sollte tatsächlich einer seiner Freunde sterben … Aber er konnte so etwas nicht zustimmen, niemals! „Verschwinde!“, schrie er laut in die Dunkelheit seiner Kammer. „Lass mich in Ruhe! Entweder gewinnst du oder ich! Es gibt kein Unentschieden! Ich werde nicht zulassen, dass du einen von ihnen anrührst!“ Seine Stimme war rau. „Du hast keine Wahl. Du kannst es nicht verhindern, nur rückgängig machen. Gib endlich deinen Widerstand auf, Ken. Er ist nobel, aber nicht zielführend.“ Ken biss wieder die Zähne zusammen. Mehr Schmerzen zuckten durch seinen Kiefer, durch seinen ganzen Kopf. Durch seine Brust. „Ich werde nicht grausam sein. Ich werde dich nicht erst wählen lassen, welchen deiner Freunde es treffen soll.“ „Nein“, murmelte Ken. „Allein, dass du mir das in Aussicht stellst, zeigt, wie grausam du bist.“ Er hob den Kopf und fixierte Deemons Schatten, der direkt vor seinem Bett stand und sich über ihn beugte. Aber ich werde es tun. Ich wähle das Opfer selbst aus. Das bin ich ihm schuldig. Ich werde es selbst tun, ihm in die Augen sehen, und der Tyrann werden, der ich sein muss, um nicht wahnsinnig zu werden. Ich werde ihn wiederbeleben und mich auf ewig von ihm hassen lassen. Das ist dann die Strafe, weil ich so schwach bin und mir keine Alternative einfällt. Deemons Schatten zuckte belustigt. „Wie du meinst. Dann wähle. Töte einen der DigiRitter, mit denen du so viele Abenteuer erlebt hast, und ich schenke dir Takashi – und hinterher die Macht und alle Antworten, die ich dir versprochen habe, sobald du mich in die DigiWelt holst. Ich frage mich, ob du schon ein Opfer im Sinn hast, Ken.“ Ken starrte mit leeren Augen zur Wand und merkte, dass Tränen über seine Wangen liefen. Tai und Sora waren irgendwo im Nirgendwo, ebenso Matt. Joe war vermutlich irgendwo dort, wo es zahlreiche Verletzte aus Kämpfen gab, vielleicht aber auch nicht. Izzy versteckte sich gut und wäre wohl ohnehin unantastbar. Wo Mimi war, konnte er bestenfalls eingrenzen, und Yolei war irgendwohin unterwegs gewesen und würde sich sicher nicht so bald zeigen. Davis war weit außerhalb seiner Reichweite, und Kari und T.K. waren kaum mehr als Geister. Bleibt nur noch einer.   Let me be there Just say you want to share A power no one will withstand Just be my human hand (Helloween – The King for 1000 Years) Kapitel 44: Ein finsterer Plan ------------------------------ Tag 124   Die Wüste zu durchqueren war die reinste Hölle gewesen. Erst für sie alle drei, dann für Garurumon. Natürlich war das gesamte Gebiet voll von Schwarzen Türmen, und sie mussten zu Fuß über Dünen und durch Sandtäler waten, mit nur wenig Wasser, das ihnen die Königin mitgegeben hatte. Irgendwann hatten sie bemerkt, dass in einem bestimmten Landstrich keine Türme mehr standen. Erst hatten sie es erfreut ausgenutzt, und Matt und Togemogumon waren auf Garurumons Rücken weitergeritten – dann jedoch waren sie stutzig geworden. Es sah so aus, als hätte jemand eine Linie in die vom Kaiserpaar besetzten Gebiete hineingehackt, einen Weg, den man auf einem digitierten Digimon zurücklegen konnte, ohne dass Schwarze Türme in gefährliche Reichweite kamen. Matt gefiel es nicht, dass sie dem Pfad folgen mussten, den jemand für sie vorgesehen hatte. Er witterte eine Falle. Doch selbst wenn es eine war, sie schnappte nicht zu. Nach einigen Tagen, hundemüde und halb verdurstet, hatten sie eine Stadt am Rand der Wüste erreicht. Arkadenstadt hieß sie, Matt hatte von ihr und ihren vielen namensgebenden Arkadenbögen gehört. Dort stiegen sie zwei Tage lang in einer heruntergekommenen Kaschemme unter. Die Arkadenstadt war geteiltes Gebiet: Die eine Hälfte hasste es, vom DigimonKaiser regiert zu werden, die andere bejubelte es. Matt und Gabumon achteten sorgsam darauf, in welchem Stadtteil sie sich aufhielten. Das war auch die Zeit, als die Gerüchte an ihre Ohren gelangten. Der Kaiser sei tot, ermordet, und seine trauernde Königin wäre nun die Alleinherrscherin. Matt wusste nicht, was er davon halten sollte. Irgendwie glaubte er immer noch, dass die beiden einfach nur ein Spiel mit ihm spielten, und vielleicht auch mit dem Rest der DigiWelt. Als Bürgermeister Rockmon offiziell verkündete, der Kaiser weile nicht mehr unter ihnen, machten sich Matt und Gabumon wieder aus dem Staub. Sicherlich schlugen bald die Gemüter hoch, und in einer Zeit des Umbruchs in einer geteilten Stadt zu sein, war sicherlich keine gute Idee. Togemogumon blieb in der Stadt. Ein Arzt sah sich seine Amputationswunde an und behandelte sie, und überraschenderweise kannte er andere Togemogumon, eine kleine Bande der kleinen Digimon, denen sich Matts und Gabumons Gefährte anschloss. Es schien sie anfangs weiterhin begleiten zu wollen, doch Matt sagte ihm, dass die Ehernen Wölfe nicht mehr wären. Dennoch tat es ihm weh, es zurückzulassen. Das kleine Digimon war ihm ans Herz gewachsen, aber es war schön zu sehen, dass wenigstens einer von ihnen dreien lachend die Gesellschaft anderer genießen konnte. Matt und Gabumon verdingten sich als Karawanenwache, begleiteten ein paar Händler über die Ebene, um Geld und Proviant zu verdienen. In der Gegend gab es Marodeure, und die Zeiten waren mit all den Gerüchten und bestätigten Wahrheiten schwer geworden. Die Karawane kam nur schleppend voran, daher dauerte es eine ganze Weile, ehe Matt wieder allein mit Garurumon über die Steppe reiten konnte, das wogende Gras sah und die frische Luft, die der ungebändigte Wind brachte, seine Lungen verwöhnte. Er hatte die große Ebene vermisst. Wie sehr, das bemerkte er erst jetzt. Nach der Enge seines Gefängnisses, in dem die Wände sich ihm entgegenzuschieben schienen, wann immer er nicht hinsah, waren die Tage und Nächte unter freiem Himmel unglaublich. Aber noch etwas anderes bemerkte er. Matt hatte sich eigentlich immer für einen einsamen Wolf gehalten, jemanden, der höchstens Gabumon zum Leben brauchte und die Ruhe und Abgeschiedenheit genoss. Die Ehernen Wölfe waren für ihn immer einfach nur Seelenverwandte gewesen, Digimon mit einem ähnlichen Gemüt, die sich deshalb mit ihm verstanden, weil keiner von ihnen eine besondere Bindung wollte und brauchte. Jetzt, nachdem er so lange von ihnen getrennt gewesen war, spürte er, dass das nicht stimmte. Er konnte das Gefühl nicht richtig einordnen, es wollte nicht in das Schema passen, in das er sich selbst gepresst hatte. Aber der einsame Wolf fühlte sich tatsächlich einsam. Zwar hatte er nach wie vor Gabumon, und er war darüber so dankbar wie nie zu vor in seinem Leben. Aber es schien da noch etwas anderes zu geben, etwas, das er einst besessen hatte, ein subtiles Gefühl, dass etwas fehlte, die Gesellschaft und Freundschaft anderer – aber wessen? Seine Wölfe waren nicht wirklich seine Freunde gewesen, aber sie hatten das Gefühl wohl überdeckt. Was war es, diese Lücke in seiner Seele, die nach etwas suchte, von dem er gar nicht wusste, was es war? Die Reise nach Norden war eine grübelnde.     „Er ist angekommen“, berichtete Oikawa. „Ein paar Digimon geleiten ihn gerade herein.“ „Gut.“ Es war überraschend schwierig gewesen, Cody in die Festung zu bitten. Nicht nur wegen der großen Entfernung zu Masla und der Tatsache, dass er ihn noch nie zu sich geladen hatte, sondern vor allem wegen Oikawa. Er hatte stur zu wissen verlangt, warum Ken plötzlich nach ihm schickte, und sich nicht mit halbherzigen Erklärungen zufriedengegeben. Vermutlich war es ganz gut, dass er seine Aufgabe als Kens Berater so ernst nahm. Letztendlich hatte Ken eine geplante Einberufung in Masla vorgeschützt. Oikawa musterte ihn genau, als er in dem Gesuchsraum auf seinem Sessel saß, neben ihm ein in Tücher eingewickeltes Bündel, zu dem Oikawas Augen häufig wanderten. „Stimmt etwas nicht? Du wirkst so grimmig heute.“ „Es ist auch ein grimmiger Tag“, murmelte Ken düster. „Heute wird einiges entschieden.“ Oikawa runzelte die Stirn. „Das Granulat ist übrigens aus der Festung gebracht worden. Warum werden plötzlich so viele Türme auf einem Haufen gebaut? Willst du die Festung einigeln? Als Mauersegmente taugen die Türme nicht viel, und es ist sicher nicht allzu förderlich für unsere Ziele, Deemon aufzuhalten.“ „Die Türme sind für Arukenimon. Ich plane, bald eine neue Armee ins Feld zu schicken.“ Die Worte lösten einen besorgten Blick Mummymons aus, der wieder einmal Arukenimons langem Haar galt – und unnötig war, denn mit jeder Verwandlung Arukenimons wuchsen die silberweißen Haare wieder vollständig nach. Außer ihnen vieren waren noch zwei Leibwächter in dem Raum, die Kens Stuhl flankierten: Zwei scheußliche Schwarzring-Dokugumon. Er hatte nicht vor, sie länger als nötig an seiner Seite zu behalten, aber heute würden sie nützlich sein. Ein Gazimon erschien und verbeugte sich. „Eure Majestät. Ich habe die Ehre, Innenminister Cody von Masla ankündigen zu dürfen.“ „Herein mit ihm.“     Während Cody aus dem halbdunklen Gang in den hell erleuchteten Gesuchsraum trat, fragte er sich einmal mehr, was der DigimonKaiser von ihm wollte. Er hatte die Nachricht, dass er noch lebte, mit Freuden aufgenommen. Auf Spadamons Rat hin hatte er nichts von Königin Nadines Botschaft weitergeleitet, auch nicht an Bürgermeister Dinohyumon, und es schien die richtige Entscheidung gewesen zu sein. Gestern war dann plötzlich ein Ookuwamon mit einem Boten vor Masla gelandet, der ihn aufgefordert hatte, sich sofort zur Festung des Kaisers zu begeben. Es wäre dringend. Cody hatte nicht mehr aus ihm herausbekommen, seine angefangenen Arbeiten schnell erledigt und war dann auf den Rücken des Insektendigimons geklettert. Womöglich hätte er den Digimon gar nicht getraut, hätten sie nicht eine Holo-Nachricht bei sich gehabt, in der der DigimonKaiser persönlich zu ihm sprach. Den ganzen Flug über hatte er ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ging es um Armadillomon? Was, wenn der Kaiser schlechte Nachrichten hatte und es deshalb so offiziell machte? Cody glaubte nicht, dass etwas Gutes bei der Sache herauskommen würde. Allein der Ton des DigimonKaisers in der Nachricht hatte ihm Unbehagen bereitet. Bisher war er immer herzlich gewesen, aber dieses Mal hatte die Stimme ... kalt geklungen. Seine Augen gewöhnten sich rasch an die veränderten Lichtverhältnisse, und die verschwommenen Farbkleckse wurden zum Kaiser selbst, zwei Dokugumon, und drei weiteren Menschen – wobei sich Cody bei einem von ihnen nicht ganz sicher war, ob es sich wirklich um einen Menschen handelte. „Eure Majestät.“ Er verbeugte sich höflich. Höflichkeit sollte immer an erster Stelle stehen, ob nun Sklave oder nicht. Der Kaiser hatte die Schultern gestrafft und saß stramm und aufrecht auf seinem Sessel. „Cody. Danke, dass du meinem Ruf gefolgt bist.“ War seine Stimme nicht auch jetzt etwas komisch? „Dies sind Fürst Yukio Oikawa, Sir Mummymon und Dame Arukenimon. Sie sind neue, hochangesehene Berater von mir.“ Cody nickte ihnen zu und entschied sich, sich auch vor ihnen zu verbeugen. Oikawa lächelte ihm ermunternd zu, Arukenimon schien eher affektiert, und Mummymons Reaktion war gar nicht zu sehen. Komische Berater, dachte er. Dann erinnerte er sich daran, dass die Königin, die bisher immer an seiner Seite gewesen war, ihn höchstwahrscheinlich verraten hatte. „Das mit der Königin tut mir leid, Eure Majestät“, sagte er förmlich. „Spadamon hat mir seine Vermutungen erzählt.“ „Vergessen wir das“, sagte der Kaiser kühl, „und kommen wir gleich zur Sache.“ Er bewegte die Hand, ließ vor sich Computertasten in der Luft erscheinen und drückte eine von ihnen. Die Tür glitt hinter Cody zu und ein saugendes Geräusch verkündete, dass sie luftdicht verschlossen worden war. Nervös blickte er sich um. War hier nicht etwas Merkwürdiges im Gange? Unbewusst tastete er dorthin, wo er üblicherweise sein Schwert trug, aber er hatte es bei Ookuwamon gelassen. Es wäre unhöflich gewesen, dem Kaiser bewaffnet gegenüberzutreten. Oder war dieser Gedankengang ein Fehler? „Arukenimon, Mummymon, fesselt ihn“, erklärte der DigimonKaiser ruhig, und Cody lief ein Schauer über den Rücken. Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber kein Laut verließ seine Lippen. Was sollte das? Hatte er etwas getan? Die angesprochenen Digimon rührten keinen Finger, sondern starrten ihren Kaiser nur ungläubig an, ehe sie unsicher zu Fürst Oikawa blickten. „Was?“ „Ihr habt mich schon verstanden. Fesselt ihn, jetzt.“ „Ken.“ Fürst Oikawa trat vor und breitete diplomatisch die Arme aus. „Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, du wolltest …“ „Befolgt meine Befehle. Ich bin euer Kaiser.“ „Majestät.“ Cody trat neben den Fürsten und sprach mit – zum Glück – fester Stimme. „Darf ich erfahren, wessen Ihr mich beschuldigt? Wenn es um den Verrat der Königin geht, ich habe niemals …“ „Es geht um nichts, was du getan hast.“ Der DigimonKaiser stand auf, sein Umhang schlug Wellen und fiel ihm glatt und blau über den Rücken. „Ihr scheint alle nicht zu begreifen, dass meine Befehle absolut sind. Dokugumon, fesselt ihn.“ Cody machte einen Satz zurück, als ihn die klebrigen Fäden der schwarzen Spinnendigimon auch schon erwischten. Von Ekel gepackt, prallte er mit dem Rücken gegen die Wand und blieb daran kleben. Bilder einer feurigen, blutigen Nacht schossen in ihm hoch. Seine Flucht aus Masla hatte ebenfalls im Netz einer Spinne geendet – doch eigentlich hatte er geglaubt, dass ihn diese Nacht viel eher befreit hatte. War das ein Irrtum gewesen? Plötzlich kochte Zorn in ihm hoch. „Was soll das?“, rief er. „Ich habe Euch immer gut gedient! Was ist los mit Euch?“ „Halt den Mund, oder ich werde ihn zukleben lassen.“ Der DigimonKaiser stand auf und griff nach dem Bündel, das neben ihm lag. „Ken. Sag mir doch bitte, was …“ „Nein! Ihr haltet alle den Mund! Es ist für alle am besten!“ „Was ist für alle am besten?", fragte Oikawa mit schmalen Augen – die noch schmaler wurden, im gleichen Maße, wie Codys sich weiteten. Der Kaiser wickelte das Tuch von einem blitzend scharfen Katana. Cody sah sofort, wie wertvoll das Schwert war – und wie tödlich. Der Stahl war gewellt geschliffen, der Griff golden und mit Federn geschmückt. Und der DigimonKaiser kam damit direkt auf ihn zu.     Cody blickte ihn angsterfüllt an, den Mund stumm geöffnet. Und fassungslos, vor allem war er fassungslos. Es tat Ken weh, ihn so zu sehen, an die Wand gefesselt mit knochenbleichen Spinnenfäden. Aber es würde gleich vorbei sein. „Was hast du vor? Ken!“ Oikawa packte ihn am Arm. Ken sah ihn nicht an. „Nimm die Hand da weg, oder ich schlag sie dir ab!“, knurrte er kehlig. Oikawa zuckte tatsächlich reflexartig zurück. „Was ist in dich gefahren? Was hast du mit dem Schwert vor?“ Er antwortete nicht, sondern schritt weiter andächtig auf den sich windenden Cody zu, der mit aller Macht versuchte, die Arme freizubekommen. Es gelang ihm nicht. Ken hob langsam das Schwert. „Der Junge hat sie nicht mehr alle!“, ächzte Mummymon. „Ken! Warte!“ Oikawa hatte seinen Schreck überwunden und baute sich direkt vor Ken auf, packte ihn an den Schultern. „Hat es was mit Deemon zu tun? Was hat es dir eingeredet?“ „Aus dem Weg“, flüsterte Ken finster. Seine beiden Dokugumon fauchten unruhig. „Was habt Ihr vor? Was ist denn los?“, rief Cody mit sich überschlagender Stimme. „Was hat das zu bedeuten?“ „Ken, rede mit mir!“ Oikawas große Hände drückten fest auf Kens Schulterschoner. „Ich werde ihn … Es muss sein. Es gibt keinen anderen Weg. Also komm mir nicht in die Quere, Yukio!“ „Was muss sein? Ken, was hat es dir erzählt?“ Er schüttelte Ken wie einen Kartoffelsack. „Ich werde Deemon den Pfad bereiten“, murmelte Ken tonlos und sah Oikawa apathisch in die Augen. „Die ganzen Türme. Sie sind für Deemon.“ „Was?“, rief Mummymon aus. „Aber das … Deemon ist doch unser Feind, dachte ich!“ „Steht da nicht nur so rum, tut etwas! Schafft den Jungen hier raus!“, blaffte Oikawa seine beiden Abkömmlinge an, die sich beide in ihre Digimongestalten verwandelt hatten. Offenbar wussten sie nicht, wem sie nun gehorchen sollten. Sehr gut. „Es muss sein.“ Ken bis die Zähne zusammen. „Wenn Deemon frei ist, kann ich alles rückgängig machen. Sie werden sterben, Yukio! Meine Freunde werden sterben, verdammt!“ „Und deswegen bringst du sie lieber selbst um?“ Oikawas Griff war mittlerweile so fest, dass er Kens Schulteraufsätze schmerzhaft in sein Fleisch trieb. „Ken, sei vernünftig! Was immer Deemon dir weismachen will, du kannst ihm nicht vertrauen!“ „Und dir?“, zischte Ken. „Kann ich dir vertrauen? Kaum eine Woche mein Berater, und schon hintergehst du mich! Du bist genau wie Nadine!“ Der Gedanke an sie ließ in ihm Galle hochsteigen. Nein, ein weiteres Mal sicher nicht! Er holte mit dem Schwert aus … „Verdammt, Ken!“ Oikawa ließ seine Schultern los, nur um mit der Linken seinen Schwertarm zu packen und ihm mit der Rechten eine kräftige Backpfeife zu verpassen. Kens Wange explodierte in einem grausamen Schmerzblitz, und als er kurz ins Wanken kam, fühlte er, wie sich seine Mundhöhle mit Blut füllte. Seine Brille hörte er irgendwo über den Boden klappern. Im gleichen Moment sprangen die Dokugumon fauchend vorwärts. Aus dem Maul des einen strömte violettes, ätzendes Gas. „Eieieiei!“, machte Mummymon, sprang kunstvoll zurück, um der Wolke zu entgehen, und feuerte im gleichen Zug sein Maschinengewehr ab. Der zuckende Blitz traf das Dokugumon und pulverisierte es sofort in eine Datenwolke. Was Arukenimon tat, sah Ken nicht. Irgendwo sauste noch etwas durch die Luft, und er hörte Cody nach Luft schnappen. Für den Jungen musste es wirken, als sei er gerade mitten in einem Coup d’État gelandet. „Ken“, sagte Oikawa grimmig. „Es tut mir leid, aber …“ Er kam nicht dazu, zuende zu sprechen. Etwas Unsichtbares sauste heran und traf ihn gegen die Brust, warf ihn hintenüber, wo er hart mit dem Kopf auf den Boden schlug. Das Thunderboltmon, das sich an der Decke des Raumes versteckt hatte, stürzte sich sogleich in den Kampf gegen Mummymon, das mit einem Aufschrei versuchte, es mit seinem Gewehr zu treffen. Die Blitze fuhren allesamt in die Wände; das kleine, kugelförmige Digimon war zu schnell. Und es ist praktisch. „Aber ist das nicht …“, brachte Arukenimon verblüfft hervor. „Wieso …“ Ken lächelte. Es hatte richtig erkannt, dass das Thunderboltmon ein Schwarzturmdigimon war, das daher eigentlich Arukenimon hätte gehorchen müssen. „Ist es nicht interessant zu wissen, dass ich auch Schwarzturmdigimon mit Schwarzen Ringen kontrollieren kann?“, lachte er und spürte seine Wange anschwellen. Er wandte sich wieder Cody zu. „Jetzt zu dir.“ Codys Augen zuckten von einem zum anderen. „Warte – tu’s nicht! Ich weiß nicht, was los ist, aber ich hab dir immer geholfen! Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung!“ „Ich habe die Lösung schon gefunden.“ Ken hob das Schwert. Es war eine der Klingen, die Matt und Mimi von Karatenmon zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatten, und er hatte ihre Schärfe gründlich überprüft. „Tu es!“, dröhnte Deemon in seinen Gedanken. „Töte ihn und besiegele unseren Pakt!“ Ken merkte, dass er die Zähne immer noch zusammengebissen hatte, die Mundwinkel nach unten gezogen, und aus seinen Augen strömten Tränen. „Es tut mir leid“, presste er weinerlich hervor. „Ich will das nicht tun … Aber es ist die einzige Möglichkeit. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“ Cody schüttelte nur fassungslos den Kopf. Ein Schweißtropfen zitterte an seinem Kinn. Ken packte den Schwertgriff fester. Ein heftiger Stoß warf Ken herum. Das Schwert entglitt seinen Fingern und schlitterte über den Boden. Oikawa hatte sich mit all seiner Kraft gegen ihn geworfen. „Arukenimon!“, keuchte er. Das Spinnendigimon hatte soeben Thunderboltmon mit einem giftigen Nebel, der die Decke des Raums einhüllte, zu Boden geholt, wo es betäubt liegen blieb. Auf dürren Spinnenbeinen lief es dem Schwert hinterher und baute sich darüber auf. Das überlebende Dokugumon fauchte es wütend an, doch Mummymon richtete seine Waffe auf es. „Bleib, wo du bist, du hässliches schwarzes Scheusal!“ „Ken.“ Oikawas Atem ging schwer und er blutete aus einer Platzwunde am Hinterkopf, doch er bemühte sich sichtlich, ruhig zu sprechen. „Hör mich an. Ich weiß, du hast in den letzten Wochen einiges durchgemacht, und es war, seit dieser Krieg angefangen hat, alles andere als leicht für dich. Aber glaub mir … du machst einen Riesenfehler.“ „Nein“, sagte Ken überheblich und richtete sich wieder auf. „Du bist derjenige, der einen Fehler macht. Denkst du, ich lasse mich so einfach übertölpeln?“ Damit zog er aus einer Innentasche seines Capes einen Revolver hervor und richtete ihn auf Codys Kopf, der erbleichte, aller Hoffnungen beraubt. „Nein!“, keuchte Oikawa und stellte sich mit ausgebreiteten Armen direkt in die Schusslinie. Sein dunkles Haar klebte ihm nass auf der Stirn. „Ken, hör auf!“ „Ich habe dich gewarnt“, murmelte Ken. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, und der Knall hallte in dem engen Raum wie ein Kanonenschlag wider. Die Waffe hatte einem Revolvermon gehört, und Ken hatte heimlich mit ihr geübt. Seine Kugel traf genau ihr Ziel.   Do you kill your friends If you can fulfill your wish? Can you die for someone? They are synonymous words (Faylan – Dead End) Kapitel 45: Gezeitenwechsel --------------------------- Tag 124   Der Lauf von Kens Revolver rauchte noch, als sich Totenstille über den Raum senkte. Pulvergeruch stieg ihm scharf ihn die Nase. Mehrere Paare weit aufgerissener Augen starrten ihn an, als er langsam, mit einem tiefen Stoßseufzer, die Waffe senkte. Gute dreißig Zentimeter neben Codys Kopf war die Kerbe zu sehen, die die Kugel in die Wand geschlagen hatte. „Gut“, hauchte Ken und ließ die Trommel der Waffe aufspringen, kippte die restlichen Patronen klimpernd auf den Boden und warf mit einer kraftvollen Bewegung den Revolver weg, als wäre er ein ekliges Insekt, das er in den Händen hielt. Die Waffe polterte über den Boden. Sein Dokugumon kroch fauchend hinter den Regierungsstuhl zurück und machte sich dort klein. Niemand sonst rührte sich, aber auch Oikawa stieß hörbar den Atem aus. „Schluss mit dieser Farce.“ Kens Worte waren so leise und kraftlos, dass man sie kaum hören konnte. Ihm war zum Heulen zumute – und gleichzeitig war er unendlich erleichtert. Langsam drehte er sich um, ging zu seinem Regierungsstuhl zurück und ließ sich schwer darauf fallen. Hast du mir gar nichts zu sagen?, fragte er dann Deemon, indem er alles andere in diesem Raum ausblendete. „Was hat das zu bedeuten, Ken?“ Selbst Deemon schien perplex zu sein, denn es erwiderte seine Frage nicht nur zögerlich, sondern klang auch wirklich irritiert. Wieso? Das war mein nächster Zug. Deemons Schatten, der genau zwischen Oikawa und Cody schwebte, die beide in monochrome Starre verfallen waren, flackerte zornig. Es schwieg, wahrscheinlich immer noch überrascht. Hast du wirklich geglaubt, ich könnte einen meiner Freunde umbringen? Du musst noch eine Menge über Menschen lernen. Ich werde sie nicht verraten. Nicht für alle Versprechungen der Welt. „Du hast einen schweren Fehler begangen“, erwiderte es düster. „Das solltest du bitter bereuen. Hast du vergessen, was ich über deine Freunde gesagt habe? Es ist kaum wahrscheinlich, dass sie überleben. Einige von ihnen sind dem Schicksal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.“ Wir haben dieses Spiel einvernehmlich mit dem Ziel begonnen, dass es einen Gewinner und einen Verlierer geben wird. Es gibt kein Unentschieden! Und ich werde mich dir niemals unterwerfen. Meine Freunde würden mir das nie verzeihen, egal in welcher Gefahr sie schweben. „Und das kannst du einfach so für sie mitentscheiden?“ Ken seufzte. Er war nicht in der Stimmung, sich vor Deemon zu rechtfertigen. Wir drehen uns im Kreis. Ich werde dir daher nur eines sagen: Spar dir deine Versuche, mich zur Aufgabe zu bewegen. Dein Angebot kann nur bedeuten, dass du dich in die Enge getrieben fühlst. Ich werde nicht zulassen, dass du in die DigiWelt kommst. Ich werde dich hinter der Feuerwand aufspüren und dich ein für alle Mal vernichten. Das ist jetzt etwas, das ich dir schwöre. Ich bin nur auf dein Geflüster eingegangen, weil ich etwas herausfinden wollte. Du bist mir in die Falle gegangen, Deemon, auch wenn du es vielleicht nicht gemerkt hast. Deemons schattenhafte Augen, eisig kalt wie Saphire, wurden schmal. „Wie meinst du das?“ Erstens habe ich ein paar Spielregeln in Erfahrung gebracht, die du mir nur ansatzweise beschrieben hast. Du hast deinen Vorteil daraus gezogen, immer recht vage und verallgemeinert davon zu sprechen. Es geht darum, wie viel du tatsächlich von meinen Gedanken weißt.“ Ken legte eine herausfordernde Note in seine Gedanken. „Zuerst habe ich geglaubt, du wüsstest alles, was ich so denke, und wüsstest auch genau, was in der DigiWelt passiert. Aber das stimmt nicht, nicht wahr? Ich glaube, nach diesem Zug von mir ist es recht offensichtlich. Du hast geglaubt, ich würde mich dir anschließen, weil du nicht alles weißt, was ich plane. Du bekommst von deinem Versteck hinter der Feuerwand nur mit, was ich laut ausspreche und tue, was ich denke, wenn ich mich auf dich konzentriere und mit dir spreche, und das, was ich dir auf diese Weise mitteilen will. Ist es nicht so, Deemon? Meine Gedanken gehören mir. Vielleicht könntest du sogar den Rest meines Verstandes genauso lesen, aber ich vermute, dass ich dann umgekehrt auch deine Gedanken lesen könnte, oder täusche ich mich? Dass Deemon schwieg, sagte Ken, dass er mitten ins Schwarze getroffen hatte. Endlich, zum ersten Mal, hatte er das Digimon buchstäblich sprachlos gemacht. Und das, was du mir, während du deine Überredungskünste zur Schau stellen wolltest, über die DigiWelt gesagt hast, lässt mich darauf schließen, dass du auch keine Ahnung hast, was andernorts passiert. Du siehst oder spürst die Aktionen von mir und den Saatkindern und kannst mit uns sprechen, aber das war es auch schon. Du hast die DigiWelt in ihre jetzige Form gebracht, aber jetzt hast du keine Kontrolle mehr darüber. Du bist in Wahrheit weit weniger mächtig, als du mich glauben machen willst! Deemon sagte nichts, um seine Worte zu entkräften. „Und zweitens?“, fragte es grimmig. Wart’s ab und sieh zu. Mein Zug ist noch nicht vorbei. Ken beendete das Gespräch auf Gedankenebene, und in die Wirklichkeit kam wieder Farbe. Oikawa stand immer noch mit pumpender Brust da, genauso bleich wie Cody hinter ihm. „Es tut mir leid“, murmelte Ken und schlug die Augen nieder. „Wirklich.“ „Was …“ Oikawa leckte sich über die Lippen. „Was hatte das alles zu bedeuten?“ Ken sah ihm traurig in die Augen und hoffte, der andere konnte seine Ehrlichkeit erkennen. „Ich musste das tun. Es gab keine andere Möglichkeit – zumindest ist mir keine andere eingefallen. Es tut mir leid, dass ich euch so erschrecken musste.“ Er rang nach Worten. Es fiel ihm doch schwerer, die Situation zu erklären, als er gedacht hatte. „Hat es … mit Deemon zu tun?“, murmelte Oikawa. „Mit wem?“ Ken sah Codys Blick zu ihm flattern. Der Junge hatte sich erstaunlich schnell gefasst, wenn er sich bereits bemühte, dem Gespräch zu folgen. „Ja“, sagte Ken leise, überschlug die Beine und knetete seine Finger. „Ich habe es ausgetrickst. Ich wollte wissen, wie genau es meine Gedanken kennt. Aber das war nicht der einzige Grund.“ Wieder sah er Oikawa direkt in die forschenden Augen, deren Misstrauen er hoffentlich zerstreuen konnte. „Ich hoffe, du kannst mich verstehen. Ich hatte geglaubt, in Nadine eine Verbündete in diesem höllischen Krieg zu finden. Aber Deemon hat sie geschickt, und ich bin ihr auf den Leim gegangen und fast daran zerbrochen. Ich wollte nicht, dass mir das wieder passiert.“ Oikawas Augen wurden größer. „Du hast mich auf die Probe gestellt“, erkannte er und klang dabei völlig sachlich. „Deemon hat mir aufgetragen, Cody zu töten, und ich habe vorgegeben, ihm zu gehorchen. Es war sich sicher, dass ich aufgegeben hatte. Aber du hast dich in die Schusslinie geworfen, Yukio. Falls du für Deemon gearbeitet hättest, hättest du das nicht tun müssen. Du hättest einfach daneben stehen und in dich hinein lächeln können. Ich habe mir gedacht, selbst wenn Deemon nicht laufend mit dir sprechen könnte, hätte es dich sicher nicht angewiesen, dazwischenzugehen, wenn ich scheinbar den Verstand verliere und das tue, was mir am meisten schaden und wovon Deemon am meisten profitieren würde: meine Freunde zu verletzen. Aber du wolltest Cody mit deinem Leben beschützen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin“, seufzte Ken. „Es tut mir wirklich, wirklich leid … Vermutlich kann ich mich für dieses Theater gar nicht genug bei euch entschuldigen. Wenn du unsere Zusammenarbeit beenden willst, Yukio, dann soll es so sein. Aber ich musste mir Klarheit verschaffen. Sonst könnte ich nicht weitermachen.“ Oikawas Miene, eben noch steinern, wurde plötzlich weich. „Ich verstehe“, sagte er milde. „Es ist schon gut. Du hast einiges durchgemacht, vermutlich mehr, als ich mir vorstellen kann. Ich glaube, es ist verständlich, warum du das getan hast. Ich schätze … ich sollte mich freuen, dass ich nun endlich dein Vertrauen habe.“ Er schoss einen strengen Blick in Richtung Arukenimon und Mummymon ab. „Nicht wahr?“, fragte er mit schneidender Stimme. Die beiden Digimon, die Ken immer noch mit ihren Armen oder Waffen bedrohten, zuckten zusammen. „Natürlich“, sagte Arukenimon kleinlaut für sie beide. „Dann macht den Jungen frei“, wies Oikawa sie an, und Ken nickte. Hastig liefen sie zu Cody und begannen, die Spinnweben, die ihn immer noch an die Wand fesselten, von seinem Körper zu ziehen. „Und, hast du sonst noch etwas herausgefunden?“, fragte Oikawa. Ken nickte und erklärte ihm die Sache mit dem Gedankenlesen. „Ich verstehe das nicht“, murmelte Cody und streifte die letzten Spinnenfäden ab. Er achtete sorgsam darauf, keinem der Anwesenden zu nahe zu kommen. „Wer oder was ist dieses Deemon, von dem Ihr immer sprecht?“ Ken fuhr sich durchs Haar. „Ich denke, du kannst es erfahren. Ich erobere die DigiWelt nicht zu meinem persönlichen Vergnügen. Das habe ich dir schon mal gesagt. Die ganze Wahrheit ist, dass mich ein Digimon dazu herausgefordert hat. Es befindet sich gegenwärtig nicht hier, und nur ich und einige wenige andere können mit ihm sprechen. Es hat den Krieg eingefädelt und lässt uns alle gegeneinander anlaufen. Sein Name ist Deemon, und es erhält seine Macht von den Schwarzen Türmen, die wir bauen. Sobald es stark genug ist, wird es die DigiWelt heimsuchen und nicht mehr aufzuhalten sein. Doch wir können es nur erreichen, wenn wir, bevor das geschieht, meine Türme, und nur meine, in alle Winkel der DigiWelt bauen. Dann können wir sein Versteck erreichen und es vernichten. Das ist mein Ziel, ob du es glaubst oder nicht. Und Deemon scheint mich endlich ein wenig zu fürchten, denn es hat mir plötzlich Versprechungen gemacht, wenn ich es nicht weiter bekämpfe.“ Er lächelte leicht, wurde aber sofort wieder ernst. „Auch dir muss ich sagen, dass es mir leid tut. Wenn mir ein anderer Weg eingefallen wäre, hätte ich ihn eingeschlagen, ganz sicher. Aber du warst der Einzige in meiner Reichweite, den ich vorgeben konnte, Deemon zu opfern. Du musst mir nicht verzeihen. Du kannst mich auch gerne für verrückt halten, ich nehme es dir nicht übel. Aber glaub mir bitte, dass ich dir niemals etwas antun würde. Keinem Menschen. Ich will euch alle retten, alle Menschen, die sich in dieser Welt befinden. Und ich will die DigiWelt wieder in Ordnung bringen.“ Er konnte Cody ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. „Ihr wolltet also irgendein Digimon täuschen, das Euer wahrer Gegner in diesem Krieg ist?“, hakte er misstrauisch nach. Zum Glück war er klug und begriff es sehr schnell. Ken fürchtete trotzdem, nun das Vertrauen des einzigen seiner Freunde verloren zu haben, der ihn nicht von vornherein abgelehnt hatte. Das Gefühl war schrecklich. „So ist es. Wie gesagt, ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Und ich will mich damit auch nicht von meiner Schuld freikaufen, aber ich habe etwas für dich. Eine kleine Entschädigung.“ Er ließ die Holo-Konsole erscheinen und drückte auf eine Taste, die den neuen Kommunikationskanal zur Brücke öffnete. „Ist es bereits eingetroffen?“, fragte er. „Ja, mein Kaiser“, antwortete eines seiner neuen Hagurumon dort. „Vor sieben Minuten und zweiundfünfzig Sekunden.“ Auf Kens Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Perfektes Timing. Du solltest zur Brücke gehen, Cody. Dort wartet jemand auf dich.“ Cody runzelte die Stirn. Er war vorsichtig geworden. Aber als Ken die Tür entriegelte und sie zur Seite glitt, merkte man ihm an, dass er diesen Raum, in dem er schließlich Todesangst durchgestanden hatte, doch am liebsten verlassen würde, denn er tastete sich langsam in Richtung Flur vor, als erwartete er einen Hinterhalt. „Keine Angst. Mummymon, begleite ihn. Es hat für dich Partei ergriffen, wenn du dich erinnerst.“ Der Junge schien keinem von ihnen mehr wirklich zu vertrauen, aber man konnte es ihm wohl nicht verübeln. Ken hoffte, dass er seinen Schock schnell überwand. Der dunkle Flur verschluckte die beiden. Deemons Lachen in seinen Gedanken irritierte ihn, aber nur kurz. Sein Gegenspieler hatte seine Überraschung überwunden, das war alles. „Nicht übel, Ken. Dennoch wirst du dir wünschen, dich mir nie widersetzt zu haben.“ Ich bin deine Drohungen leid. Du wirst dir wünschen, mich nie als deinen Gegner auserwählt zu haben. „Mein nächster Zug wird dich zermalmen. Ich werde keinerlei Gnade mehr zeigen.“ Wenn du bisher Gnade gezeigt hast, bist du selbst schuld. „Mein Angebot war ehrlich gemeint. Ich habe auch nicht gelogen, als ich dir weniger als ein Prozent Siegeschance zugestanden habe.“ Das glaube ich sogar. Zu der Zeit war ich in deinen Augen psychisch labil, müde und antriebslos, oder nicht? Jetzt, nachdem du weißt, zu welchen Zügen ich noch fähig bin – kannst du deine Aussage wiederholen? Dass Deemon nur heiser lachte, war Antwort genug. Ken sandte ihm ein gedankliches Grinsen. Ich bin gespannt, wie hoch du meine Chancen einschätzt, wenn ich diesen Zug hier beendet habe. Damit stand er auf und nickte Oikawa und Arukenimon zu. „Kommt mit mir. Wir gehen zu den Baustellen. Die ganzen Türme sind für dich, Arukenimon.“     Cody traute seinen Augen kaum, als er die finstere Brücke betrat. Der Kopf des kleinen Digimons, das auf einem Drehstuhl auf ihn wartete, fuhr in die Höhe. Dann stieß es einen Jubelruf aus und kam auf ihn zugelaufen. „Cody! Cody!“ Cody fehlten die Worte. Schweigend ließ er sich auf die Knie sinken, um das Digimon in den Arm zu nehmen. Die goldgelben Schuppen fühlten sich rau und hart unter seinen Fingern an, aber es war das schönste Gefühl seit langem. All die Entbehrungen in Masla, all die Qualen unter WaruMonzaemons Peitsche, die Intrigen und hinterhältigen Schachzüge der entmachteten Sklavenhändler, die Schrecken, die er gerade eben durchgestanden hatte – das alles fiel von ihm ab, wurde fortgespült von brandenden Wogen des Glücks. Tränen traten in Codys zusammengekniffene Augen, und ein schmerzender Kloß war in seiner Kehle aufgetaucht, aber selbst dieses Gefühl war schön. „Armadillomon …“     Tag 125   Die Alarmsirenen schrillten in jedem Winkel der Pyramide. Digimon liefen kreuz und quer, die Gazimon vor den zahlreichen Computern starrten einander öfter an, nervös und entsetzt, als dass sie auf die Bildschirme sahen. „Mein König!“, rief eines von ihnen schrill. „Es ist … Es ist furchtbar! Ich verstehe das nicht …! Wir werden angegriffen!“ „Na und?“, blaffte Takashi es an. Dieses Rumgehampel machte ihn nervös. Alarmsirenen, was hatte das schon zu bedeuten? Es war keine Armee mehr übrig, die ihm ernsthaft gefährlich werden konnte. „Ihr versteht nicht, es ist … Es sind Hunderte!“ „Was?“ Takashi stürzte zu dem Computer, an dem das Gazimon saß. Tatsächlich, das Radar zeigte feindliche Digimon an, die direkt auf das Zentrum der Wüste zuhielten. Eine ganze Menge Digimon, die in einer breiten Linie marschierten … Wie konnte das sein? Wo kamen die her? Ein Schweißtropfen lief über seine Schläfe. „Werft ihnen alles entgegen, was wir haben! Wisst ihr schon, was für Digimon das sind? Wo ist Datamon?“ „Die meisten sind auf dem Champion-Level, aber auch einige auf dem Ultra-Level sind dabei“, erwiderte ein anderes Gazimon. „Zusammenprall mit unseren Truppen in etwa dreihundert Sekunden.“ Sie waren schnell. Jetzt wurden auch andersfarbige Punkte auf dem Radar sicher, ihre eigenen Digimon, die die Wüste bewachten. Es waren ungefähr gleich viele, und sie standen noch alle in einem Pulk zusammen. Wenn es hart auf hart kam, würden sie die feindliche Angriffslinie sprengen! „Da … Da stimmt was nicht!“, keuchte ein drittes Gazimon. „Majestät, unsere Türme, sie …“ „Was ist mit den Türmen? Zerstören sie sie? Wennschon, wir brauchen sie nicht!“ „Sie zerstören sie nicht nur, sie … Seht Euch das an!“ Knurrend stieß Takashi das Digimon zur Seite, das nicht herausbrachte, was es auf dem Bildschirm sah. Dann verstand er, warum. „Was zum Teufel …“, entfuhr es ihm. „Wie ist das möglich?“ Die Türme wurden nicht einfach zerstört. Der Computer zeigte keine Schadensmeldungen oder Defekte an. Sie verschwanden einfach vom Bildschirm – und an ihrer Stelle begann jedes Mal ein neues, feindliches Digimon zu blinken. Takashi war sprachlos. Nach und nach wurden seine Türme korrumpiert – und in feindliche Einheiten verwandelt? Was war das für ein Albtraum? Er leckte einen Schweißtropfen von seiner Oberlippe. Der salzige Geschmack half ihm, die Fassung zu bewahren. Seine eigenen Digimon kamen den anrückenden Feinden immer näher, aber nach und nach löste sich das dicht stehende Netz aus Schwarzen Türmen auf, bis das Radar schon Lücken aufwies. Und da waren noch viele Türme zwischen den beiden Armeen, und alle paar Sekunden wechselte ein weiterer buchstäblich die Seiten! „Wo ist Datamon?“, rief Takashi in den Raum hinein. Die Gazimon sahen sich unsicher an. „Wir … haben es nicht mehr gesehen, seit der Alarm losging, Herr.“ Takashi unterdrückte den Drang, gegen etwas zu treten. Er ließ sich auf einen Sessel fallen und fuhr sich durch die zerzausten Haare. Dann seufzte er tief, während die Punkte auf dem Monitor ein immer vernichtenderes Bild zeichneten. Plötzlich musste er lächeln. Was für ein Schachzug … Er wusste gar nicht, was dort in der Wüste eigentlich geschah, aber dafür wusste er umso besser, dass es vorbei war. Seine letzte Verteidigungsmacht prallte gegen die feindlichen Linien, die auf das dreifache ihrer ursprünglichen Größe angewachsen waren. Der Ausgang war abzusehen. Er hatte verloren.     Ken trat mit langsamen Schritten auf seinen Sessel im Kontrollraum zu, von dem aus er schon so viele Befehle gegeben hatte, dass er im Grunde einem Thron näher kam als der Stuhl im Gesuchszimmer. Deemon saß auf dem Sessel. Seine Gestalt flackerte, die Farbe der Augen schwenkte zwischen blau und rot. Ken spürte den harten Beton unter seinen Füßen. Die Luft war kühl und trocken und roch schwach nach Ozon. Der Rest des Raumes lag im Dunkeln, nur der Sessel und der Weg dorthin waren schwach erhellt. Dies war ein Weg des Triumphes. „Du hast geschworen, stets die Wahrheit zu sagen“, sagte Ken laut. Er wusste, dass Deemon ihn auf diese Weise hören konnte. Der Schemen kräuselte sich langsamer. Ken war auf halbem Weg stehen geblieben und zeigte mit dem Finger auf seinen Feind, den nur er sehen konnte. „Nun werde ich dir etwas schwören. Ich werde mich dir nie unterwerfen, ich werde mich dir nie anschließen, ich werde niemals aufgeben! Und ich vertraue darauf, dass meine Freunde überleben und einander nichts antun werden! Selbst wenn du mich tötest, selbst wenn du mir oder meinen Freunden drohst, selbst wenn ich irgendwann verlieren sollte! Ich bin dein Feind auf ewig, und wir spielen so lange weiter, bis einer von uns den Sieg errungen hat! Niemand wird sich ergeben, und es gibt kein Unentschieden. Ich bekämpfe dich mit allem, was ich habe, und wenn ich dafür sterben muss – das ist es, was es bedeutet, ein DigiRitter zu sein!“ Deemons Schatten flackerte wieder, fast war es, als würde er vor ihm zurückweichen, obwohl er still sitzen blieb. „In dieser Welt gibt es keine DigiRitter, Ken“, erinnerte es ihn. „Es hat sie nie gegeben. Es gibt umherirrende Seelen mit Digimon-Partnern, und es gibt einen machtgierigen Herrscher.“ „In dieser Welt vielleicht nicht.“ Ken setzte seinen Weg fort. Seine Schritte waren andächtig, aber zielstrebig. „Aber die Welt wird wieder sein wie vorher, wenn ich dich besiegt habe. Ich weiß, dass es stimmt. Würden meine Freunde ihre Erinnerungen nicht zurückbekommen, hättest du mir das längst gesagt, um meinen Kampfgeist zu brechen. Der beste Zeitpunkt dafür war schon, und du hättest ihn niemals ungenutzt verstreichen lassen!“ Nun lachte Deemon wieder, aber Ken hatte sich daran gewöhnt. „Du kennst mich bereits zu gut, Ken. Du bist wahrlich ein furchterregender Gegner geworden.“ „So ist es. Dein Gegner. Und ohne Takashi und Keiko hast du keine Chance. Ich bin stärker als vor sechs Jahren. Diesmal werde ich dich vernichten.“ Deemons Schatten verschwand von dem Sessel, als Ken sich darauf fallen ließ. Es tauchte dennoch wieder in seinen Gedanken auf, schien überall um ihn herum zu sein. „Mein nächster Zug wird dich zermalmen. Denk an meine Worte.“ „Ich bin es leid, deine Drohungen wieder und wieder zu hören!“, rief Ken mit herrischer Stimme. Sie kam der seines alten Ichs schon ziemlich nahe, aber er fand sie … sauberer. „Ich werde dich aus deinem Versteck locken, es wird nicht mehr lange dauern! Es gibt niemanden mehr, der mir jetzt noch gefährlich werden kann. Mach dich lieber bereit – dieses verrückte Spiel wird bald vorbei sein!“ Deemons Schatten verschwand diesmal nicht lautlos huschend, sondern mit einem wütenden Donnern. Aus den Lautsprechern verkündeten die Hagurumon den Sieg über den Einhornkönig. Versteck dich nur, Deemon, dachte er, wissend, dass jeder dieser Gedanken Deemon erreichte. Versteck dich hinter Winkelzügen, Intrigen, Saatkindern, in den Schatten oder hinter einer Wand aus Feuer. Diesmal wirst du mir nicht entkommen.   Where are you hiding, I’m searching for you Are you so scared that you don’t know what to do? Say what you want, I believe it’s nothing new No tears to shed, it’s just a game between us two (Celesty – Dark Emotions) Kapitel 46: Die verlorenen Spielsteine -------------------------------------- Er hörte mittlerweile beides gleich laut, das Schlürfen und Saugen des Meeres am Strand und das leise Ächzen, wenn die Schattenwesen ihre Stöcke schwangen, und er konnte nicht sagen, welches Geräusch er am meisten verabscheute. Als T.K. die Augen öffnete, wünschte er sich, selbst einfach zu schlafen. Immerhin träumte er noch von bunten Dingen, während in der Wirklichkeit alles in Grautönen versank. Vielleicht würde er irgendwann auch im Schlaf nur noch schwarze und weiße Welten sehen. Klecks und einige andere Kundschafter kamen zu ihm auf die Böschung, von der er den Übungsplatz gut im Blick hatte. „Wir haben nichts gefunden“, berichtete Karis Gemahl mit seiner teilnahmslosen, furchtbaren Stimme das Übliche, „aber es gibt noch ein Riff, das nicht weit von dem Ort entfernt liegt, an dem wir gesucht habe. Dort ist eine Höhle, die wir noch nicht untersucht haben, und sie eignet sich gut, wenn man etwas verstecken will.“ „Verstehe. Dann nehmt sie als Nächstes unter die Lupe.“ Die Nachricht mochte positiv wirken, doch genau dasselbe hatte Klecks schon ein halbes Dutzend Mal erzählt. Immerhin, solange ihnen die geheimen Höhlen nicht ausgingen, starb auch der letzte Hoffnungsfunken nicht. Mürrisch dachte T.K. an sein Wappen. Hoffnung. Wie lange brauchte ein Mensch, um von Misserfolgen derart zermürbt zu werden, dass er alle Hoffnung aufgab? „Verehrte Königin des Lichts“, sagte einer der Kundschafter plötzlich mit einem für ein Schattenwesen überraschend erfreuten Tonfall. T.K. drehte sich um. Kari kam durch das matte Gras geschlichen, kraftlos in ihren Schritten. Gatomon tapste neben ihr her. T.K. runzelte die Stirn. Kam sie nun doch aus ihrem Leuchtturm heraus? „Du solltest dich hinlegen“, sagte er, obwohl er ihr genau das immer zum Vorwurf gemacht hatte. Das Meer der Dunkelheit hatte sie völlig in seinem Griff, ihre Haut war genauso grau wie alles hier – aber sollte sie vor Erschöpfung sterben, dann geschah es wegen der DigiWelt, die ihr keinen Schlaf ließ. „Es geht schon“, murmelte sie. „Ich wollte sehen ... sehen, was ihr tut.“ „Wir trainieren“, sagte T.K. knapp. Er wusste, dass seine ruppige Art sie nur verletzen würde, aber er konnte keine Freundlichkeit mehr aufbringen. Ken hat das Wappen der Freundlichkeit, dachte er unbewusst. Würde auch er so sehr am Meer der Dunkelheit zermürbt werden, dass ihn jede Freundlichkeit verlässt? „Und wir suchen Euren Schlüssel“, ergänzte Klecks. Kari nickte. „Ihr tut euer Bestes. Ich danke euch.“ T.K. schnaubte. Er musste Kari zu einem Spaziergang einladen, das wusste er. Sie sollte auf andere Gedanken kommen, ihren Kopf leeren können, aber er brachte es nicht über sich. Ihr übler Zustand war nur der halbe Grund. Als er sich umdrehte und wieder zu der sanft wogenden See hinausblickte, sah er es. Zunächst dachte er, er hätte es sich eingebildet. Erst als die Schattenwesen mit ihren Übungen innehielten und sich der Erscheinung ebenfalls zuwandten, lief ihm ein Schauer der Erkenntnis über den Rücken. Er wusste nicht, was es war, das er sah – aber er sah etwas. Etwas, das sich von der üblichen Landschaft unterschied, etwas, das Farbe hatte. T.K. hatte fast vergessen, wie schön Farben waren. Einige Meter weit im Meer draußen leuchtete ein schmaler Spalt in der Welt. Wellen pflügten durch ihn hindurch, als wäre er nur eine Illusion, und vielleicht war er das auch, aber irgendetwas funkelte darin, als hätte jemand einen Keil in das stickige Zwielicht geschnitten. „Kari!“ Gatomon klang aufgeregt. „Ist das nicht ... Glaubst du auch, dass das …“ Kari trat an T.K.s Seite, schwach und ausgemergelt, aber ihre Augen waren plötzlich um eine Winzigkeit klarer. „Eine Phasenverschiebung“, murmelte sie. „Was hast du gesagt?“, fragte T.K. ungläubig. Der Begriff brachte etwas in ihm zum Klingen. „Ich werde mir das mal ansehen.“ Patamon erhob sich in die Lüfte und flog auf das Licht zu. „Warte, Patamon! Vielleicht ist es gefährlich!“, wollte T.K. es zurückhalten. Ihm wäre es lieber gewesen, es wäre zuerst digitiert, aber es war für ein Digimon wie Angemon schwierig, hier lange seine Form zu behalten. „BlackWarGreymon“, murmelte Kari. „Was?“, rief T.K erschrocken. „Wo?“ Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Nein – als BlackWarGreymon damals durch die DigiWelt geflogen ist ... da war es genauso.“ T.K. runzelte die Stirn. In dem Moment kam Patamon zurück. „Es führt irgendwo hin“, erklärte es aufgeregt. „Es ist ein Tor!“ „Ein Tor?“ Schlief T.K. vielleicht wirklich? War das ein Traum – der letzte, in dem Farbe vorkommen würde? „Nein, das ist kein Tor“, sagte Gatomon ernst. „Es ist, wie Kari gesagt hat. Damals war es das Gleiche. Wir waren in diesem Wald, erinnerst du dich? BlackWarGreymon ist kurz vorher dort gewesen. Es hat die Phasen durcheinandergebracht, die Grenzen zwischen den Welten, und Kari, Yolei, Hawkmon, Ken und ich sind plötzlich am Meer der Dunkelheit gewesen. Der Rückweg hat dann genauso geleuchtet!“ Der Rückweg … T.K. bekam eine Gänsehaut, als er den Gedankengang vervollständigte. „Willst du etwa sagen, wir kommen damit in die DigiWelt?“ Die ganze Zeit hatten sie nach einem Weg gesucht, hatten überall nach einem Artefakt gegraben, von dem sie nicht einmal wussten, ob es überhaupt noch existierte und wohin es sie bringen würde, und nun sollte sich von alleine eine Möglichkeit auftun? „Ich weiß nicht, ob es die DigiWelt ist“, murmelte Kari und klang immer noch so, als würde sie schlafwandeln. „Aber die DigiWelt liegt neben dem Meer der Dunkelheit! Egal, wohin es führt, es ist auf jeden Fall besser als hier.“ Er packte Kari an den Schultern. „Wir gehen hindurch“, sagte er entschieden. Sie sah aus, als würde sie ihn nicht erkennen. „Aber wir wissen doch gar nicht ...“ „Ich weiß, dass du hier nicht länger bleiben kannst. Egal, wohin dieser Spalt zwischen den Welten führt, wir werden hindurchgehen und dich von hier fortbringen.“ Er funkelte Klecks entschlossen an. „Und niemand wird mich davon abhalten.“ „Wir folgen unserer Königin“, erklärte das Schattenwesen nur. T.K. zerrte Kari so schnell die Böschung hinunter, dass sie beinahe gestürzt wäre. Sie hatten keine Zeit zu verlieren; die Erscheinung konnte genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen war. Aus der Nähe sah man, dass der Spalt höchstens einen Meter breit war und zehn Meter in den Himmel reichte. Gleißendes Licht sickerte hervor, als wäre es die Verheißung des Jenseits‘ … nein, es konnte Kari nur guttun, wenn sie hindurch schritt! Kurz vor der Wasserlinie blieb sie stehen. „BlackWarGreymon war ein Schwarzturmdigimon“, murmelte sie. „Ja. Komm jetzt“, drängte er. „Die Schwarzen Türme haben die DigiWelt durcheinandergebracht“, sagte sie. „BlackWarGreymon bestand aus hundert Türmen. Hundert Türme an einem Fleck reichen anscheinend aus, um die Grenzen ein klein wenig aufzureißen“, führte Gatomon den Gedanken fort. T.K. glaubte sich zu erinnern, dass Yolei einmal davon erzählt hatte, wie auf ihrem Schulausflug plötzlich Digimon in der Realen Welt aufgetaucht waren, nachdem BlackWarGreymon ihnen einen Pfad bereitet hatte. Worauf wollte Kari hinaus? „Wenn das die DigiWelt ist, heißt das, dass wieder Schwarzturmdigimon ihr Unwesen treiben“, meinte sie und schauderte. „Oder etwas Ähnliches.“ „Das werden wir erst herausfinden, wenn wir durch die Pforte gegangen sind.“ T.K. empfand es immer noch als eine Verhöhnung all ihrer Mühen. So lange hatten sie nach Deemons Schlüssel gesucht ... Aber seine Sorge um Kari übertraf das alles. Seine Wut war verraucht. Er zog sie ins Wasser. Es war eiskalt an seinen Waden. Er erinnerte sich an die Hochzeit. Jetzt war der Zeitpunkt, an dem sich entschied, ob dieser ganze Wahnsinn vergeblich gewesen war! Die Schattenwesen ließen ihre Stöcke sinken und kamen aus allen Richtungen herangetrottet oder –geschwommen. „Wir gehen durch die Pforte“, verkündete T.K. „Alle, die Kari treu sind, sollen mitkommen! Dafür haben wir trainiert!“ Kari gewann zusehends an Kraft. Sie ging an ihm vorbei, bis ihr das Wasser bis zur Hüfte reichte, und streckte die Hand nach dem Licht aus. „Sie ist es. Die DigiWelt. Ich weiß es“, flüsterte sie überzeugt. „Ja, hier. Ich bin hier ...“ „Kari!“, rief Gatomon, als sie mitten in das Licht trat. T.K. winkte Klecks und den anderen ein letztes Mal auffordernd zu, verfluchte alles am Meer der Dunkelheit und folgte ihr.     Tag 125   Sandkörner bissen in ihre Augen, und sie musste die Lider zusammenkneifen. Wo eben noch Wasser gewesen war, das ihr eiskalt um die Hüften geschwappt hatte, klebte nun hellgelber Sand auf ihrer Kleidung. Bis zu den Knien sank sie in der Düne ein, die der Wind langsam, aber sicher abflachte. Die Schattenwesen ließen ein Stöhnen hören. Kari drehte sich zu ihnen um. T.K. stand neben dem Riss inzwischen den Welten, durch den man auf dieser Seite den grauen Himmel und einen unfreundlichen Strand sehen konnte, und er maß mit großen Augen die Verwandlung, die Karis neues Volk durchlebte. Kaum dass sie ihre schlammigen Füße in den blendenden Sand gesetzt hatten, schrumpften sie, ihre überlangen Hände zogen sich zusammen und ihre unkenntlichen Gesichter nahmen Form an. Mehr und mehr wurden sie zu festen Gestalten, bis man sie nicht mehr als Schattenwesen bezeichnen konnte. Jede der Kreaturen, die die Pforte durchschritt, wurde in Sekundenschnelle zu einem Divermon, das sich von seinen Artgenossen nur durch seine pechschwarze Haut unterschied. „So seht ihr also in der DigiWelt aus?“, fragte T.K. Kari sah an sich herab. Ihre Kleidung war dieselbe wie die, in der sie vor so langer Zeit das Meer der Dunkelheit betreten hatten: Sie selbst trug ihre Daunenjacke und helle Hosen, T.K. seine schwarzen Cargos und eine Windjacke über seiner grauschwarz gestreiften Weste. Die Kleider waren nass und mit Algen und Sand verklebt, aber es waren dieselben. Wären Davis oder die anderen durch den Spalt gegangen, hätten sich ihre Klamotten vermutlich genauso gewandelt wie das Äußere der Schattenwesen. „Ihr Armen“, murmelte Kari und ging auf Klecks zu – oder eher auf das Divermon, das einmal Klecks gewesen war. „Ihr seid jetzt Meeresdigimon, und ich habe euch direkt in eine Wüste geführt.“ „Immerhin ist es damit bewiesen“, meinte T.K. „Das hier ist wirklich die DigiWelt.“ „Aber wo sind wir?“, fragte sich Gatomon. „Gute Frage.“ Er sah sich um. Der Wind ließ nach, aber in allen Himmelsrichtungen war nur ewiges Sandmeer zu sehen, auf eine andere Weise ebenso trostlos wie das Meer der Dunkelheit. „Wenn wir kein Wasser oder Essen finden oder auch nur ein schattiges Plätzchen, haben wir ein Problem.“ Kari atmete nur tief durch. Die Luft war so trocken, nie hätte sie sich vorstellen können, dass Luft so trocken sein könnte, obwohl ein feuchtsalziger Wind durch den Riss zwischen den Welten wehte. Die kräftigen Farben überforderten ihre Augen beinahe, aber selbst dieser Wüste konnte sie etwas Schönes abgewinnen. „Wir könnten zurückgehen und Proviant holen“, schlug Klecks vor. „Auf keinen Fall“, widersprach T.K. sofort. „Siehst du das? Der Spalt verschwindet bald wieder. Wir bekommen vielleicht nie wieder eine solche Gelegenheit.“ Tatsächlich verbogen sich bereits die Ränder des Risses. Kari konnte nirgendwo ein anderes Digimon entdecken. Wer auch immer den Riss erzeugt hatte, war hoffentlich weitergezogen. Sie würden nicht kämpfen können, nicht gegen ein Megalevel-Digimon – auch nicht gegen zehn Ultralevel oder was auch immer hier entlanggekommen war. T.K, Gatomon und Patamon diskutierten gerade, in welche Richtung sie gehen sollten, als Kari die Spitze der Düne erklimmen wollte, um besser sehen zu können. Plötzlich spielten ihre Beine nicht mehr mit. Sie spürte nur noch, wie sie plötzlich das Gleichgewicht verlor und die schönen Farben wieder aus ihrem Blick wichen. Wie sie die Düne hinunterrutschte, bekam sie nicht mehr mit.     Das Band glitzerte herrlich im Sonnenlicht, ein Kaleidoskop aus blitzenden Kristallen. Der Fluss war hier bereits sehr breit; bis zum Meer hin würde er nur noch unwesentlich wachsen. Er war nicht zu vergleichen mit dem dünnen Gewässer, das vor der Kesselstadt, etliche Meilen westlich, von einem Damm gestaut wurde. Hier hatte das Band wieder so viel an Kraft gewonnen, als ob es nie ein Hindernis durchlaufen müsste. Es war breit genug für ein Whamon. „Wie schön“, murmelte Mimi, als sie näherkamen. Das Wasser floss nicht allzu schnell, und in der Ferne konnten sie sogar einige Flöße sehen. Das andere Ufer war gerade noch zu erkennen. „Hier ist die Stelle“, sagte Kabukimon und ging vor dem Strom in die Hocke. „Seid Ihr bereit, Prinzessin?“ „Warte noch ein wenig.“ Mimi ließ sich den Wind um die Nase zu wehen und seufzte tief. Bald würden sie in den Bauch eines Meeressäugers steigen müssen … Die Vorstellung behagte ihr gar nicht. „Mimi, wir fallen hier auf“, sagte Michael nach einer untätigen Weile. „Ist doch weit und breit niemand hier“, meinte sie. „Die da haben uns bestimmt schon gesehen.“ Er deutete auf die Flöße, die als braune Klötze auf den Wellen schaukelten. „Jaja, schon gut“, seufzte sie genervt. „Ruf es, Kabukimon.“ Der Rebell streckte die Hände in das Wasser, und man sah kurz etwas aufblitzen. Danach wich es zurück. Es dauerte keine Minute, ehe die Wellen auf dem Fluss größer wurden. Dann schob sich etwas wie eine große, glänzend braune Insel aus den Fluten und drängte sich schräg an das Ufer. Wasser strömte von allen Seiten von dem Ding herab, als sich ein gewaltiges Maul aufschob. Mimi und Yolei blieb der Mund ebenfalls offen stehen. „Wir sollten keine Zeit mehr verlieren.“ Mimi bekam eine Gänsehaut, als sie sah, wie Kabukimon freiwillig in den Schlund des Whamons stieg. Die Rebellen folgten ihm nach einigem Zögern, und Mimi, Michael, Yolei und ihre Digimon waren fast die Letzten. „Wenn wir da reingehen, kommen wir sicher nie wieder raus“, sagte sie düster. „So schlimm wird’s schon nicht sein.“ Yolei versuchte einen entspannten Lacher, der ihr aber fast im Hals stecken blieb. Schließlich gab sie sich einen Ruck und stieg auf das weiche Fleisch in Whamons Rachen. Michael folgte ihr. „Warte, Mimi, ich helfe …“ Yolei wollte sich eben umdrehen und Mimi die Hand reichen, als Michael ihr zuvorkam. Er hielt sich an einem gefährlich aussehenden, weißen Zahn fest und half Mimi, in das gigantische Maul zu klettern. Galant wie ein Ritter. Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Tut mir leid, wenn ich ihm Weg bin“, maulte Yolei pikiert. „Ich hätte auch Euch herübergeholfen“, sagte Michael großzügig. „Danke, ich brauche keine Hilfe. Fertig machen zum Ablegen!“ Yolei stapfte tiefer in den Schlund hinein. Mitten auf Whamons Zunge hatten sich die anderen versammelt. Whamon selbst hörte nicht auf sie. „Fahren wir los“, sagte Kabukimon schließlich, als es sich vergewissert hatte, dass alle an Bord waren. Als Whamon sein Maul schloss, wurde es finster, und Mimi fühlte sich wie in einer feuchten Tropfsteinhöhle. Hoffentlich schluckte das Digimon sie nicht versehentlich runter und verdaute sie. „Wenn wir das nächste Mal an die Oberfläche kommen, wird es gefährlich“, sagte Michael neben ihr nachdenklich. Das brauchte er ihr nicht zu sagen. Mimi hatte nicht vergessen, was ihr Ziel war. Sie würden bis zum Flussdelta und dann die Ozeanküste entlang bis zur Kaiserwüste tauchen. Dort würden sie an Land gehen und direkt auf die Festung des DigimonKaisers zuhalten, um Matt zu befreien und dem Kaiser eine gehörige Abreibung zu verpassen. Wenn man es so betrachtete, war eine Reise im dunklen Schlund eines Whamons der angenehmere Teil.     Tag 126   MudFrigimon, der Kastellan des Rosensteins, ließ die Gesandtschaft ein, weil es dumm gewesen wäre sie abzuwimmeln. Musyamon war niemand, der gerne so grob behandelt wurde, und wenn es hart auf hart kam, würde dieser Trupp aus gemischt grobschlächtigen und edelmütigen Digimon den Palast belagern oder sich mit Gewalt Zutritt verschaffen. MudFrigimons einzige Trumpfkarte waren seine Geiseln, und sie konnte er ebenso gut ausspielen, wenn er dem Fürsten von Little Edo gegenüberstand. Es war klar, dass sie hinter die ganze Sache gekommen waren. Als MudFrigimon lange nichts mehr von seiner Königin gehört hatte, dafür aber Berichte über das wundersame Wiederauferstehen des DigimonKaisers, hatte das Bände gesprochen. Genau wie die Tatsache, dass die Zweite Kavallerie, die eigentlich in Musyamons Obhut sein sollte, nicht mit ihm zur Felsenklaue zurückkehrte. Als Kastellan war es MudFrigimon zwar gestattet, auf dem Thron seiner Königin zu sitzen, aber es zog es vor, Musyamon im Stehen zu begrüßen. Hinter dem hässlichen Samurai strömten über dreißig weitere, bis an die Zähne bewaffnete Digimon in den Saal. Die Sonne war eben am Aufgehen und die hohen Fenster im Osten ließen das Licht ungehindert passieren. So reflektierte eine Hälfte der vielen Rüstungen golden die Morgenstrahlen, während die andere in düsteren Schatten lag. MudFrigimon fand das passend, und es verschränkte grimmig die Arme. Auch Musyamons Schwert blitzte hell auf, als es die Klinge mit einer forschen Bewegung aus der Scheide riss. „Kastellan MudFrigimon!“, rief es donnernd. „Hiermit steht dieser Palast und alle, die sich darin befinden, unter der Kontrolle des DigimonKaisers!“ MudFrigimon verengte die schwarzen Knopfaugen zu schmalen Schlitzen. „Die Schwarze Rose und das Kaiserreich sind eins. Eure Forderung ergibt keinen Sinn.“ „Ich wiederhole mich nur ungern, Kastellan. Geht auf die Knie und presst euren Kopf auf den Boden, oder er wird darüber rollen!“ Hinter ihm machten seine Gefolgsleute Drohgebärden. Unter ihnen waren Digimon, die MudFrigimon in diesem Teil der DigiWelt noch nie gesehen hatte. Es hatte Gerüchte darüber gehört, dass die Anzahl der Rekruten des DigimonKaisers plötzlich explodiert war. Lag auch diesem Aufgebot dieser rätselhafte Umstand zugrunde? „Ich kann Eurer Forderung nicht nachkommen“, sagte MudFrigimon ruhig. „Ihr seid bekannt dafür, mit Feinden Komplotte zu schmieden. Euer Übergriff auf den Rosenstein kann nur Teil einer neuen Intrige sein.“ „Die Schwarze Rose ist hier die Intrigantin. Und es wird vermutet, dass ihre wichtigsten Untergebenen ebenfalls eingeweiht sind. Mit anderen Worten, auch Ihr.“ Es hatte wohl keinen Sinn. Musyamon wusste also tatsächlich Bescheid. „Ich beschwöre Euch, Fürst Musyamon, lasst es uns im Guten austragen. Dem DigimonKaiser sind Menschenleben heilig, heißt es. Er soll uns unsere Königin wiedergeben und bekommt dafür im Austausch mehrere Leben. Ein guter Tausch, selbst wenn man bedenkt, dass keines davon adelig ist.“ Plötzlich grinste Musyamon mit schiefen Zähnen. MudFrigimon lief ein kalter Schauer über den Rücken, den gewöhnliche Frigimon wohl nie verspüren konnten. „Spielt Ihr auf Eure Geiseln an, MudFrigimon? Vielleicht solltet Ihr euch vergewissern, ob sie immer noch Euch gehören.“ Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend begab sich der braune Bär an die Fenster der Westseite. Unter ihm breiteten sich die prachtvollen Palastgärten aus, noch taunass und im Schatten liegend, bunt vor Blumen und wunderbar gepflegt. Auf dem Plateau etwas weiter draußen an den Klippen ragte ein Galgen aus dem Boden und über die Felskante. Ringsum lagen zerschnittene Seile und Schnüre. Von den Geiseln, die sich dort eigentlich drängen müssten, darauf wartend, dass sie gehängt wurden, fehlte jede Spur. Die Hälfte der Bewacher fehlte ebenfalls, die zweite Hälfte der Starmon krümmte sich verletzt oder bewusstlos am Boden. Mutlos trat MudFrigimon vom Fenster zurück. Wann hatten sie …? „Meine Kotemon-Garde ist gut für verdeckte Einsätze zu gebrauchen“, sagte Musyamon. „Nur, damit Ihr wisst, wer Eure Gefangenen im Schutz der Nacht befreit und Euch so gedemütigt hat. Ergebt Euch jetzt und legt den Palast und alle umliegenden Gebiete in unsere Hände. Euch wird gestattet, als Schwarzringdigimon weiterzuleben, sobald wieder ein ordentlicher Turm auf dem Rosenstein steht.“ MudFrigimon faltete mit einem tiefen Seufzer die Hände.     Als Kari aufwachte, war nur blauer Himmel über ihr. Der Anblick war nach wie vor so schön, dass sie sich ganz darin verlieren konnte. Blau, endloses, weites Blau … und ein leichtes Stechen in ihrem Kopf, das ihr verdeutlichte, dass sie noch nicht tot war. Fasziniert von dem wolkenlosen Himmel über ihr, brauchte sie eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie auf einer Art Schlitten lag und gezogen wurde. T.K.s Gesicht erschien über ihr. Seine Augen hatten fast die gleiche Farbe wie der Himmel. Sie waren kühler als in dem Dämmerlicht des Meers der Dunkelheit, aber trotzdem funkelte eine Wärme durch die strahlenden Iriden, wie sie sie lange vermisst hatte. Alle Farben um sie herum waren intensiver, auch die Hitze spürte sie nun so deutlich, als wäre sie jahrelang gefühllos in einem Meer aus Nichts geschwommen. War ihr so heiß wegen seinem Blick? Wohl kaum. Kari dachte an die Zeit vor ihrer Hochzeit, die Zeit vor dieser neuen Bedrohung, vor all den Albträumen und vor ihrem Kummer. Sie hatte dies alles ausgeblendet, seit sie am Meer der Dunkelheit gewesen waren, wollte sich nicht mit etwas ablenken, das ihr nur Trauer bringen würde. Nun erinnerte sie sich. Die Wärme in T.K.s Blick war schon mal anderer Natur gewesen. Wie lange war es jetzt her, dass sie wieder auseinander gegangen waren? Noch nicht ganz ein Jahr? „Wie fühlst du dich?“, fragte er. Kari brauchte einen Moment, ehe sie seine Worte verstand, dann versuchte sie sich aufzusetzen. Gut ... denke ich.“ Sie sah sich um. Die obere Hälfte des Horizonts war blau, die untere sandig gelb. Sie waren noch immer in der Wüste. „Was ist geschehen?“ „Du bist plötzlich zusammengebrochen“, sagte Gatomon, das neben ihr auf dem Schlitten saß. „Wir haben uns große Sorgen gemacht.“ „Verstehe“, murmelte Kari. „Tut mir leid.“ Angemon zog den Schlitten, der aus trockenem, dennoch leicht modrig riechendem Holz gebastelt war. „Wie geht es den Divermon?“, fragte sie, als sie die dunklen Gestalten neben sich durch den Sand kriechen sah. Sie stöhnten, mehr als sonst. T.K.s Braue zuckte verärgert. „Es geht dir derart mies, und du fragst trotzdem zuerst nach den Divermon?“ Kari wich seinem Blick aus. War er ihretwegen so gereizt? „Wohin gehen wir?“ „Nach Norden.“ „Nach Norden?“ „Es ist der schnellste Weg aus der Wüste.“ „Woher weißt du das?“ T.K. betrachtete den Horizont. „Wir haben einen Händler getroffen, als du bewusstlos warst. Ein Kokatorimon. Auf dem Weg waren Schienen.“ „Schienen?“ Karis Verstand war wohl noch nicht wieder fit, denn es fiel ihr schwer, T.K. zu folgen. Zwischen ihren Schläfen pochte ein dumpfer Schmerz. „Von Osten nach Westen. Wir sind ihnen ein paar Kilometer gefolgt, dann kam uns eine Draisine mit dem Kokatorimon entgegen. Es hatte ein paar Waren dabei, viel Wasser, und von ihm haben wir auch das Holz für den Schlitten. Wenn wir noch ein paar Stunden in diese Richtung marschieren, erreichen wir einen Wald, hat es gesagt.“ „Womit habt ihr bezahlt?“ Sie hatten immer noch die Yen, die sie bei ihrer Reise zum Meer der Dunkelheit in den Taschen gehabt hatten, aber sie bezweifelte, dass diese mittlerweile eine gängige Währung in der DigiWelt waren. T.K. schürzte die Lippe. „Wir ... Ich habe gebettelt. Du glaubst gar nicht, wie schwer es war, das Kokatorimon davon zu überzeugen, dass es uns hilft.“ „Oh.“ Kari senkte betreten den Blick. Sandkörner knirschten unter dem Schlitten. T.K.s Stolz musste gelitten haben. „Anscheinend hat kürzlich eine Schlacht etwas weiter südlich stattgefunden“, fuhr er fort. „Eine ziemlich große Schlacht. Der DigimonKaiser war daran beteiligt, hat es gesagt.“ „Der DigimonKaiser? Was bedeutet das? Etwa Ken?“ T.K. schüttelte den Kopf. „Angeblich ist er ein neuer Tyrann. Vielleicht haben wir die Saat der Finsternis damals nicht wirklich besiegt.“ „Du meinst, jemand anderes hat jetzt Kens Platz eingenommen und bedroht die DigiWelt?“ „Sag du es mir.“ Plötzlich klang er abfällig. „Du hast doch die ganze Zeit von den Zuständen hier geträumt, oder?“ „Ich ...“ Kari schluckte. Sie war es leid, in der Defensive zu spielen. „Ich habe Schwarze Türme und Schwarze Ringe gesehen, und Digimon, die kämpfen. Wer dahintersteckt, weiß ich nicht, aber ich habe ja eigentlich auf Deemon gesetzt.“ Sie funkelte ihn an und wartete auf eine Erwiderung, die nicht kam. Etwas sanfter fügte sie hinzu: „Danke übrigens.“ „Wofür?“ „Dass du Angemon meinen Schlitten hast schleppen lassen, und nicht die Divermon.“ T.K. schnaubte nur, aber er bestand darauf, dass sie sich noch eine Weile ausruhte, ehe sie aufstand.     Der Wald ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten. Zuerst als grüner Schimmer in der Ferne zu sehen, nahm das saftige Grün bald verlockende Gestalt an. Die Divermon legten einen Zahn zu, wie es T.K. schien, um endlich angenehme Schatten zu erreichen. Er konnte diese Wesen, die Kari als ihre Brutmaschine benutzen wollten, nicht ausstehen, aber er wollte auch nicht, dass sie litten, also gönnte er ihnen eine Pause, als sie die Bäume erreichten. Nach der Hitze wirkten sie ohnehin schon halb tot. Kari setzte sich seufzend unter einen Baum mit heller Rinde und schloss die Augen. T.K. sah sich in dem Waldstück um. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit. Also ob ... Er ging einige Schritte tiefer ins Dickicht. „Was hast du?“, fragte Patamon, das zurückdigitiert war, und flatterte hinter ihm her. „Kommt dieser der Wald nicht auch seltsam vor?“ Es schlug mit den Flügeln auf der Stelle und dachte angestrengt nach. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ T.K. kratzte sich nachdenklich im Genick. Die beiden entfernten sich immer weiter von ihrer Gruppe. Irgendwann tat sich die schillernde Oberfläche eines saphirblauen Sees vor ihnen auf. In einiger Entfernung ragte ein hölzerner Steg ins Wasser hinaus. „Ich wusste es“, murmelte T.K. „Wir waren schon mal hier.“ Er trat auf den Steg, der unter seinen Füßen knarrte, bis er den Wald überblicken konnte. „Da! Siehst du es?“ Über den Baumkronen ragte die obere Hälfte eines Riesenrads auf. „Oh!“, meinte Patamon ehrfurchtsvoll. „Du hast recht, T.K!“ Hier war es gewesen. Hier hatte er sich vor so vielen Jahren von Matt verabschiedet, war auf DemiDevimons Lügenmärchen hereingefallen und hätte um ein Haar seine Erinnerungen verloren. Er blickte auf den See hinaus. „Meinst du, die DigiWelt hat sich inzwischen verändert?“ Patamon schwieg, aber er wusste, dass es dasselbe dachte wie er. Sie hatten alle einen Bärenhunger, die Divermon waren ausgelaugt, Kari war sehr schwach. Vermutlich würden sie in dem Wald Pilze finden, die sie lieber nie probieren sollten, aber auf der anderen Seite des Sees … Er erzählte es Kari und Klecks. Die Divermon sprangen ins Wasser, kaum dass sie das Sonnenlicht auf den Wellen glitzern sahen. Nun wirkten sie wieder lebendiger. Mit ihren Harpunen und Seilen und dem Holz des Schlittens bauten sie ein kleines Floß für Kari, T.K. und ihre Digimon und zogen es erstaunlich rasch über den See. „Da! Ich kann es sehen!“ Gatomon hatte sich an den Rand des Floßes gehockt wie eine katzenförmige Galionsfigur. T.K. beschattete seine Augen mit der Hand, um das grelle Hellblau des Himmels abzuschirmen. Tatsächlich. Das erste Lächeln seit langem stahl sich auf seine Lippen. Bei seinem ersten Besuch war Digitamamons Restaurant altmodisch, aber schmuck gewesen, beim zweiten Mal schick und modern. Jetzt, nach weiteren sechseinhalb Jahren, war die Einrichtung noch ein klein wenig modernisiert worden, allerdings machte es im Großen und Ganzen einen eher heruntergekommenen Eindruck. Digitamamon stand hinter dem Tresen, als die Truppe eintrat und die Divermon fast das gesamte Restaurant ausfüllten. „Guten Tag, Digitamamon“, begrüßte Kari das Ei mit Beinen freundlich. Es ging ihr schon viel besser, sie hatte wieder Farbe im Gesicht. „Oh, Kundschaft“, freute sich Digitamamon. „Was darf es denn sein?“ „Wir hätten gerne ...“ T.K. blieben die Worte im Mund stecken. „Sag mal, du nimmst doch nicht immer noch nur Dollar als Bezahlung?“ „Was für eine Frage“, schnarrte das Ei. „Natürlich nehme ich nur Dollar, was denn sonst?“ T.K. seufzte. „Das hatte ich völlig vergessen.“ „Hör mal, Digitamamon“, sagte Kari, „du erinnerst dich doch sicher noch daran, wie wir dir geholfen haben, oder? Also hilf uns jetzt auch – wir zahlen es dir zurück. Du weißt, dass du uns vertrauen kannst.“ Digitamamons Augen wurden schmal und wanderten über die seltsame Truppe, die sie im Schlepptau hatten. „Könnte mich nicht erinnern“, behauptete es. „Weißt du es wirklich nicht mehr?“, fragte T.K. „Du warst von der Teufelsspirale des DigimonKaisers besessen, und wir haben dich davon befreit.“ „Ich war nie vom DigimonKaiser besessen“, sagte es überzeugt. „Aber du hast dieses Restaurant schon seit Jahren, oder?“ „Na klar. Schon, seit ich denken kann.“ Das geizige Digimon wollte sie gewiss linken, da war sich T.K. sicher. „Hör zu, wir brauchen etwas zu essen. Wir und unsere Divermon“, sagte er genervt. „Ohne Geld gibt es kein Essen“, brummte Digitamamon. „Wenn ihr nicht bezahlen könnt, dann stehlt mir nicht meine Zeit.“ „Wir haben japanische Yen“, sagte T.K. und knallte ein paar Scheine auf den Tresen. „Was soll denn das sein? Kommt mir nicht mit solchen Papierschnipseln.“ „Mach doch mal eine Ausnahme“, bat Gatomon. „Wir haben einen langen Weg hinter uns und wollen für das Wohl der DigiWelt kämpfen.“ Digitamamon wandte sich demonstrativ ab und schloss die Augen. „Ich kann es mir nicht leisten, euch umsonst durchzufüttern.“ „Dann lass uns die Schulden abarbeiten“, schlug T.K. vor. Damals hatte das Digimon es ja auch so gehalten. „Für wie dumm haltet ihr mich? Ich soll an die fünfzig Digimon verpflegen und sie dafür arbeiten lassen? So viel Arbeit habe ich gar nicht zu verteilen. Das Geschäft geht mies, es kommen kaum noch Gäste her.“ Bis auf ein Numemon, das etwas von einem Teller leckte, von dem T.K. gar nicht wissen wollte, was es war, war das Restaurant tatsächlich leer. Er stöhnte auf. „Na gut, dann werden wir uns eben anderswo umsehen“, sagte er gedehnt. „Kannst du uns wenigstens sagen, wo man hier in der Nähe was zu essen herbekommen kann?“ „Nein, aber wenn ihr nach Süden geht, findet ihr eine Wüste. Dort wird gekämpft, habe ich gehört. Ihr seid ja eine große Truppe. Vielleicht verdient ihr euch als Söldner ein paar Dollar und kommt wieder.“ Digitamamon schien sein Vorschlag zu gefallen. „Da kommen wir gerade her“, sagte T.K. missmutig. Es war Zeitverschwendung gewesen, das Restaurant aufzusuchen. Und sein Magen knurrte bereits hörbar. Kari strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Sag mal, Digitamamon, du hast nicht zufällig irgendwelche DigiRitter hier in der Nähe gesehen?“ „DigiRitter?“, schnarrte es. „Was soll das sein? Wenn du Ritter meinst, da war kürzlich ein Mensch wie ihr Gast bei mir, und die Digimon haben Gerüchte darüber erzählt, dass er ein Ritter war.“ „Ein Mensch wie wir?“ T.K. und Kari tauschte Blicke. „Weißt du zufällig, wie er ausgesehen hat? Oder seinen Namen?“ „Och, ihr Menschen seht für mich alle gleich aus. Aber er hieß Michael, glaube ich.“ Der Blick, den sie nun tauschten, war aufgeregter. „Hast du in deinen Träumen gesehen, ob noch andere DigiRitter hier sind?“, fragte T.K. Kari schüttelte den Kopf. „Wo ist Michael jetzt?“, fragte er Digitamamon. „Keine Ahnung, ist abgereist, ohne ein Wort zu sagen. Er hat zwei Zimmer gemietet, da war nämlich noch ein Mädchen bei ihm.“ „War das vielleicht Mimi?“, fragte T.K. Michael war schließlich ein guter Freund von ihr. „Den Namen hat niemand gewusst. Vor ein paar Tagen sind sie spurlos verschwunden. Immerhin haben sie bezahlt.“ Kari hatte oft genug von ihren Freunden geträumt. Dass sie aus der Realen Welt verschwunden waren, war eine Tatsache, und dass sie sich nun hier in der DigiWelt aufhielten, fast schon eine Gewissheit. Waren die DigiRitter wieder hierhergerufen worden, um diese Welt zu retten, und man hatte nur T.K. und Kari ausgeschlossen? „Weißt du von anderen DigiRittern? Hast du vielleicht gehört, wo sie gerade sind?“, fragte Kari. „Ich weiß nicht, von welchen DigiRittern ihr ständig redet“, meinte Digitamamon. Es benahm sich seltsam, fand T.K. „Aber wenn ihr Menschen sucht, reist weiter nach Norden, nach Santa Caria. Dort werden sich sicher welche tummeln, wegen der Kür.“ „Hast du von einem Menschen namens Tai Yagami gehört? Oder von Davis Motomiya?“, fragte T.K. Kari machte sich große Sorgen um ihren Bruder. In ihrem Traum war er schließlich von Davis getötet worden. Digitamamon sah ihn wieder ratlos an. „Tai Yagami? Meinst du vielleicht Taichi den Drachenritter?“ „Drachenritter?“ „Von dem habe ich gehört. Er dürfte auch in Santa Caria sein – muss er ja auch. Nach allem, was ich gehört habe, soll er ja bald auf dem Königsthron sitzen.“ Wieder tauschten Kari und T.K. einen Blick, diesmal einen verwirrten.   Give me your light To bring sun to the night Make me whole again Back in the sun I am chasing the shadows away (Gamma Ray – Chasing Shadows) Kapitel 47: Morgenglanz ----------------------- Tag 126   Als sie das Band erreichten, glitzerte das Wasser im Sonnenlicht. In der Luft lag der Geruch von Rauch, aber es war nicht der schmutzige Gestank des Krieges, sondern die würzige Heimat vieler Digimon. Das Gras war hier kürzer, teils sogar gepflegt, und die Bäume, die den Fluss säumten, bunt und lebensfroh. Die Gegend, die sie durchquerten, kam Matt so vertraut vor, dass er sogar ein wenig melancholisch wurde. Hier war er oft mit den Ehernen Wölfen umhergestreift. Einmal erkannte er sogar einen ihrer alten Lagerplätze wieder, in der Nähe des Staudamms. Einträchtig waren sie im Schutz der Bäume dagesessen, um ihr Feuer herum, das Funken in den Nachthimmel warf. Die Lichter der Kesselstadt waren zu sehen gewesen, lebendig und doch so weit von ihnen entfernt, dass der Anblick etwas Angenehmes gehabt hatte. Ein Kyuubimon hatte es als romantisch bezeichnet, das wusste er noch. Als er auf Garurumons Rücken daran vorbeiritt, schmeckte Matt fast wieder das gebratene Fleisch auf seiner Zunge. „Woran denkst du, Matt?“, fragte Garurumons grollende Stimme irgendwann, als sie flussaufwärts weiterreisten. „Ach, an nichts“, wehrte er ab. „Ich überlege nur, wohin wir reiten sollen. Es gibt nicht wirklich einen Ort in der DigiWelt, den wir unsere Heimat nennen könnten.“ So war es, leider. Früher hätte er die Unabhängigkeit begrüßt, aber jetzt, nach so viel Krieg, dass er die Nase voll davon hatte … Es kam ihm so sinnlos vor. Ja, sie waren wieder frei, doch wohin sollten sie gehen? Wohin gehörten sie? Er dachte an Taichi, den Drachenritter, seinen Rivalen für kurze Zeit. Nachdem er ihr Minneduell verloren hatte, war er in sein Königreich zurückgekehrt. Nach jeder gewonnenen Schlacht und nach jeder verlorenen wartete das Reich mit seinem König auf ihn, wie ein sicherer Hafen. Gewiss hatte er dort auch Freunde, Kameraden, vielleicht sogar eine neue Geliebte. Menschen und Digimon, die ihm etwas bedeuteten. Und Matt? Er hatte höchstens die Ehernen Wölfe, und die wiederzufinden, war fast unmöglich … „Matt?“ Erst jetzt wurde ihm der Nachhall von Garurumons Worten bewusst. „Was? Tut mir leid, ich war in Gedanken.“ „Ich habe gefragt, ob du vielleicht nach Santa Caria willst. Wahrscheinlich nehmen uns die Feinde des DigimonKaisers und der Schwarzen Rose gern in ihre Dienste auf.“ „Hm“. Santa Caria. Die Hochburg des Löwenkönigs. „Das halte ich für keine gute Idee.“ „Und warum nicht?“ „Der Drachenritter lebt dort.“ „Das macht doch nichts. Glaubst du, er nimmt dir die Sache mit Mimi noch übel? Hätte er damals gewonnen, wären eure Rollen jetzt vertauscht.“ „Da wäre ich mir nicht so sicher“, murmelte Matt. Sein Blick glitt in die Ferne, wo die Sonne sich eben ans Senken machte. „Er ist ein erfahrener Krieger. Taichi hätte sich sicher nicht so einfach fangen lassen. Und wenn doch, wäre jemand gekommen, um ihn zu befreien.“ „Ach, Matt“, seufzte Garurumon. „Du hast es nicht nötig, dass jemand dich befreien kommt. Das siehst du doch. Wir hätten uns sogar fast selbst befreit.“ „Trotzdem, wir haben vielleicht nicht noch einmal so ein Glück.“ „Darum können wir ja jemandem die Treue schwören. Viele tun das in letzter Zeit.“ „Das bringt doch auch nichts. Leute wie Taichi werden vielleicht freigekauft, weil sie ein gutes Lösegeld bringen. Nach uns wird kein Hahn krähen.“ Garurumon blieb stehen. „Du bist der rechtmäßige Shogun von Little Edo“, erinnerte es ihn. „Hast du das schon vergessen?“ Matt schnaubte. „Von wegen. Little Edo gehört dem DigimonKaiser. Es gibt hundert andere, die besser dafür geeignet wären, Shogun zu sein. Ich hätte mich da nie einmischen sollen.“ Einen sicheren Hafen, etwas Rückendeckung für die Ehernen Wölfe, das hatte er gewollt, aber vermutlich war das in Kriegszeiten einfach nur egoistisch gewesen. Ein paar Hütten in einem Dorf hätten genügt, doch Matt hatte nach den Sternen gegriffen, nur um festzustellen, dass sie glühende Feuerbälle waren. „Sag das nicht. Du hast getan, was du für am besten gehalten hast.“ „Aber es war nicht das Beste.“ Matt seufzte. „Taichi hätte es ganz anders gemacht.“ „Hör endlich auf, dich mit Taichi zu vergleichen!“ Garurumon klang wütend. „Er ist ein völlig anderer Mensch als du, aber das heißt nicht, dass du schlechter bist! Man kann nie vorher wissen, wie sich etwas entwickelt, und meistens weiß man auch hinterher lange Zeit nicht, was dabei noch alles herauskommt!“ Er seufzte nur deprimiert. „Matt, ich weiß, was in dir vorgeht. Ich kenne dich gut genug“, brummte Garurumon sanft. „In der Welt hat nicht jeder die gleichen Chancen. Manchen wird ein Rittertitel zugeworfen, andere müssen sich auf der Straße durchschlagen. Aber davon darf man sich nicht fertigmachen lassen, und es ist auch nicht das, was zählt. Man muss das Beste aus dem machen, was man hat und was man ist, und wer nie einen Fehler gemacht hat, hat nicht gelebt.“ Matt seufzte wieder, und er wusste selbst, dass es unwillig klang. „Na, ich weiß nicht …“ „Du weißt es nicht, ich schon. Also muss ich recht haben“, sagte Garurumon amüsiert. Matt schnaubte, aber er zog einem Mundwinkel hoch. „Denkst du nicht, dass das gemogelt ist?“ „Kann schon sein“, erklärte Garurumon. „Ich glaube, ich weiß, was du jetzt brauchst, Matt. Ich glaube, du brauchst einfach eine Aufgabe. Reiten wir nach Santa Caria und tun wir, was wir am besten können, ja?“ Matt rang noch einen Moment mit sich. Vielleicht war es ja gar nicht so verkehrt, zu akzeptieren, dass Taichi einfach anders war als er. Vielleicht war es im Gegenteil verkehrt, sich mit ihm – oder sonst wem – vergleichen zu wollen. „Also schön“, gab er klein bei.     Tag 127   Die Flügel des Airdramons waren das Einzige, das die Luft dieses herrlichen Morgens verwirbeln ließ. Die Sonne ging in Kens Rücken über dem Meer auf, strahlend hell über spiegelglattem Ozean, funkelnd in tausend Facetten. Er ließ sich einmal mehr das Rätsel durch den Kopf gehen, das Devimon gefunden hatte. Mittlerweile kannte er es auswendig, und jetzt hatte er gerade Zeit. Deinen Blick sollst du zum Anfang des Himmels richten. Großer Künstler, der du Eisen zu Gold machst, wie sehr bist du zu bedauern. So sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er scheiterte schon an der ersten Zeile. Der Anfang des Himmels, war das der Horizont? Der Horizont hinter ihm war ein Gusswerk aus Licht und Meer, der vor ihm die dunstigen, kantigen Umrisse des Kontinents. Ken ließ sich dadurch nicht die Laune verderben. Der Tag war zu schön, die Morgenluft frisch, hier oben fast kalt, und vertrauter, salziger Geruch drang in seine Nase. Es war fast wie zuhause, nur noch reiner und klarer. Schließlich wollte er das tun, worüber er die ganze Nacht wachgelegen war. Ich möchte dir eine neue Regel vorschlagen, Deemon. Selbst der Schatten des Digimons, der neben Airdramon herschwebte, als es in der Zeit innehielt und reglos im Himmel verharrte, konnte ihm den Tag nicht vermiesen. „Sieh an. Die Dinge laufen gut für dich, und schon wirst du übermütig, Ken?“ Er ignorierte diese Worte. Ich habe über weite Teile dieses Spiels immer noch keine Informationen. Zum Beispiel auch, was meine angebliche Vergangenheit angeht, all diese Dinge, die jeder weiß, nur ich nicht. Dinge, die du in die Welt gesetzt hast. Ich bin im Nachteil, wenn ich darüber nicht Bescheid weiß – das Treffen mit Willis hat mir das deutlich gemacht. „Und du willst mich dazu bringen, dir diese Dinge zu verraten? Bist du sicher, dass du nicht nur auf die Prophezeiung auf der Steinplatte anspielst, Ken? Ich werde sie dir nicht erklären.“ Das hatte ich nicht erwartet. Nein, ich meine andere Dinge. Ich weiß noch genau, wie du am Anfang gesagt hast, dass du mir nicht alle Spielregeln sofort erklären würdest. Du verschweigst mir absichtlich Dinge, die mir zum Nachteil gereichen. Jetzt mehr denn je, davon bin ich überzeugt. Wenn ich also konkrete Fragen zur Vergangenheit oder zu einer gewissen Spielregel habe, wirst du sie mir genau erklären – und mir nicht sagen, dass ich sie selbst herausfinden soll. Deemon wirkte amüsiert. „Und wie willst du mich dazu zwingen?“ Durch einen Handel. Für jede Information baue ich dir Türme – dorthin, wo sie mir nichts bringen. Zwei Türme gleich nebeneinander bringen mich nicht weiter, aber deine Macht wächst schneller an. Du sagst mir, wie viel dir eine Information wert ist, und ich baue dir entsprechend viele Türme. „Dir ist klar, dass ich trotzdem nicht immer antworten, aber sonst stets mehr verlangen werde, als die Information vielleicht in deinen Augen wert ist?“ So ist das bei einem Geschäft. Wenn du gelogen hast oder dein Preis viel zu hoch war, werde ich die Türme in Soldaten verwandeln lassen. Dann habe ich etwas davon, und du nicht. Sei froh, wenn du mehr Grund hast, mit mir zu sprechen. Die Saatkinder dürften mittlerweile langweilige Gesprächspartner sein. „Du bist wirklich selbstsicher geworden, wenn du mir einen solchen Handel vorschlägst. Was möchtest du wissen?“ Du hast viele tote Digimon wiederbelebt. Devimon zum Beispiel, oder deine eigenen Anhänger. Ich will vermeiden, dass mich weitere überraschen, vor denen ich mich in Acht nehmen sollte. Was ist mit Myotismon und den Meistern der Dunkelheit? Ob du es mir verrätst oder nicht, es dient nur meiner Vorbereitung, und ich kann es einfach überprüfen. „In der Tat. Gib mir zehn Türme dafür.“ Fünf. Es sind fünf Digimon, und falls mir die Wahrheit nicht gefällt, kann ich ohnehin nichts daran ändern, wenn ich sie erst kenne. „Acht. Dafür verrate ich dir auch, was mit Etemon ist.“ Dann sind es sechs. „Sieben für Apocalymon.“ Nein. Dass Apocalymon nicht hier ist, weiß ich mit ziemlicher Sicherheit. Immerhin kam es von dort, wo du gerade bist. Deemon wirkte amüsiert. „Es war nie die Rede vom Feilschen. Also gut. Sechs Türme. Etemon wurde vernichtet. Sein ewiger Feind Datamon hat sich mit Takashi zusammengetan, schon am Anfang unseres Spiels, und sie haben es gemeinsam besiegt. Myotismon konnte ich für mein Spiel nicht gebrauchen. Es wäre vielleicht zu eigensinnig gewesen, und wenn ich seine Erinnerungen umgeschrieben hätte, hätte es niemals ein so hartnäckiges Digimon ergeben. Außerdem waren seine Daten zu lange fremden Welten ausgesetzt. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Die Meister der Dunkelheit nehmen ebenso nicht an unserem Spiel teil. Sie bekamen ihre Macht von Apocalymon, das, wie du sagtest, kein Digimon der DigiWelt war. Selbst wenn ich wollte, könnte ich es nicht wiederherstellen, es war tot, ehe es die DigiWelt betrat. Darum kann ich auch nichts von seiner Macht zurückbringen. Bist du zufrieden?“ Ja. Ich gebe die Türme sofort in Auftrag. Ken funkte die entsprechende Stelle an. Sechs Türme für die Gewissheit, dass er sich um die anderen früheren Feinde der DigiRitter keine Sorgen machen musste. Schon lange ätzte dieser Gedanke in seinem Hinterkopf. Es war ein guter Preis, fand er. Deemon verschwand wieder. Ken war froh darüber, denn eigentlich wollte er im Moment lieber in der Wirklichkeit sein und nicht in seinen Gedanken. Ich habe auch allen Grund dazu, dachte er und streichelte das Digimon auf seinem Schoß. Leafmon öffnete träge die Augen, und er lächelte. „Habe ich dich geweckt?“ „Nein“, sagte es mit hoher Stimme. „Ich habe nur vor mich hingedöst.“ „Du verpasst den Ausblick.“ Er hatte das Digimon wie ein Baby in sein Cape eingewickelt, damit der Flugwind ihm nichts anhaben konnte. Es war wie der erste Lichtstrahl nach einer langen Nacht gewesen, als Devimon ihm gestern Abend die Nachricht hatte zukommen lassen, dass ein Leafmon aus einem DigiEi geschlüpft war. Als hätte es nur darauf gewartet, dass Ken seinen Kampfgeist wiederfand und Deemon die Stirn bot. Deswegen war er auch sicher gewesen, dass es sich um seinen Partner handelte. Er war sofort losgeflogen, alleine, und hatte Leafmon in seiner Wiege im Schatten eines Baumes liegen sehen. In dem Moment hatte er es bedauert, nicht jeden Tag zur File-Insel geflogen zu sein und die Stadt des Ewigen Anfangs nach ihm durchsucht zu haben. Damals hatte er es schließlich auch schon in seinem DigiEi gefunden und damit zum Schlüpfen gebracht. Aber nun, nachdem er endlich wieder mit ihm vereint war, war dieses Bedauern wie weggewischt. Zum ersten Mal seit langem war er tatsächlich glücklich. Hier, so hoch oben, herrschte Frieden. Frieden. „Es tut mir leid“, sagte er plötzlich. „Warum entschuldigst du dich?“ Leafmon sah ihn mit großen Augen unter seinem Blatt an. „Ich wollte, dass du in eine friedliche Welt wiedergeboren wirst, aber ich habe es noch nicht geschafft, diesen Krieg zu gewinnen.“ „Mach dir keine Gedanken“, sagte es aufmunternd. „Du brauchst mich eben, um das zu schaffen. Jetzt bin ich ja wieder da, also werden wir das ganz schnell gemeinsam in die Hand nehmen, ja?“ Ken lächelte. „Einverstanden.“ „Ken, noch etwas.“ „Ja?“ „Ich weiß, dass du als Nächstes anfangen wirst, dir Vorwürfe zu machen, weil ich mich für dich geopfert habe. Aber das habe ich gern getan. Und ich weiß, dass du es genauso für mich tun würdest, selbst wenn ich es nicht will. Lass uns also nicht darüber reden, ja?“ Er lachte. „Du kennst mich zu gut. Okay, lass uns nur in die Zukunft sehen.“   Wenige Minuten später machten sie einen Zwischenstopp auf der Stiefelspitze. Das Meer war rauer geworden; zwischen sprühender Gischt und schroffen Felsen trafen sie sich mit Oikawa und Datirimon. Oikawa hatte Nadines Idee kopiert, einen kleinen Pavillon wie eine Sänfte auf den Rücken eines Ookuwamons zu bauen, um darin relativ ruhig und windgeschützt reisen zu können. Die Konstruktion erinnerte Ken zwar ein wenig an die Dornen, die die Rose in seinem Herzen hinterlassen hatte, aber dann würde er diese Erinnerungen eben einfach mit etwas Angenehmerem überschreiben. Vor dem Weiterflug frühstückten sie, auf einer Klippe, die gerade hoch genug war, dass die brandenden Meereswellen sie nicht nassspritzten. Oikawa hatte einen Klapptisch und zwei Stühle vorbereiten lassen und aus einem nahen Dorf Backwaren besorgt; außerdem gab es schwarzen Kaffee. Das Frühstück hatte etwas Unwirkliches, fast war es, als machte Ken inmitten einer fantastischen Landschaft Urlaub. Oikawa übertraf sich jedes Mal selbst, wenn es darum ging, ihn zu überraschen – und seinen Worten zufolge lag das daran, dass er die DigiWelt einfach so wunderbar fand, dass er jede Möglichkeit ausnutzen wollte, sie zu genießen. Vielleicht war das auch das Geheimnis, wie man diesen Krieg als eine der Schlüsselfiguren durchstehen konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Datirimon und Leafmon verstanden sich auf Anhieb gut und tollten bald über die Felsen. Oikawa hatte seinem Partner alles über den Kampf gegen MaloMyotismon erzählt, und es machte riesige Augen, als es erfuhr, dass Leafmon selbst Teil des Digimons gewesen war, das es letztendlich besiegt hatte. „Takashi hat übrigens ohne Schwierigkeiten kapituliert. Unsere Digimon halten ihn momentan fest“, berichtete Oikawa und goss sich noch eine Tasse ein. Für sie beide war es eine schlaflose Nacht gewesen, aber der frischgebackene Fürst hatte auch etliche Koordinationsarbeiten übernommen, als Ken zur File-Insel geflogen war. „Sehr gut.“ Plötzlich ist alles so einfach. Ken sah lächelnd zum Horizont. Deinen Blick sollst du zum Anfang des Himmels richten … Kurz darauf flatterten die Stoffplanen im Wind, als sie unter dem Knattern von Ookuwamons Insektenflügeln weiter in Richtung Kaktuswüste flogen. Währenddessen folgte die nächste gute Nachricht: Spadamon funkte ihn kurz an, wünschte ihm aber lediglich einen guten Morgen. Jeder, der sein Kommunikationssystem abhorchte, würde höchstens die Stirn runzeln, aber Ken wusste, was es bedeutete. Musyamon hatte Erfolg gehabt. Die Felsenklaue gehörte nun ihm allein.   Sie überflogen die Stiefelbucht und kamen so schneller in die Wüste als auf dem Landweg, aber es wurde trotzdem Nachmittag, ehe sie die Stelle erreichten, an der Arukenimons Schwarzturmtruppen Takashis Hauptquartier, die Pyramide, gefunden hatten. Mittlerweile war es dort brütend heiß. Weit und breit gab es keine Schwarzen Türme mehr, aber es waren bereits neue im Aufbau. Ken würde sein DigiVice an ihnen benutzen, wenn er die Zeit fand. Arukenimon war erschöpft. Es lehnte im Schatten der Sphinx, die sich gleich gegenüber der Pyramide befand. Vermutlich hatte es die bisher anstrengendste Nacht seines Lebens hinter sich. Allein mit Schwarzturmdigimon und einer kleinen Eskorte treuer Soldaten hatte es die Wüste erobert. Zum Glück konnte es auch Takashis Türme in Digimon verwandeln. Nachdem es die Armee hinter den feindlichen Linien vergrößert hatte, hatten schnelle Schwarzturmdigimon einen Blitzschlag gegen den Einhornkönig ausgeführt. Danach hatte Arukenimon nur wenig Zeit gehabt, auch die restlichen Türme in der Wüste zu verwandeln, ehe General Baronmon mit seiner Armee nachgerückt war. Mehreren Ultra-Digimon zugleich war es schließlich gelungen, sogar das fürchterliche Deckerdramon auszuschalten. Als klar gewesen war, dass der König verloren hatte, hatte Baronmon zum Rückzug geblasen. Ironischerweise war ihm dasselbe passiert wie General Zephyrmon, gegen das es gekämpft hatte. Ken war froh, dass er dieses Digimon endlich los war. Mummymon war bei Arukenimon und redete auf es ein, was es zu nerven schien, aber Ken überließ die beiden Oikawa. „Du kannst sie ruhig loben, Yukio“, flüsterte er ihm noch zu. Oikawa lächelte rätselhaft und stapfte auf die Sphinx zu, während Ken sich, Leafmon auf der Schulter, dem entthronten König zuwandte. Takashi stand in der prallen Sonne vor dem Eingang der Pyramide, die Hände brav hinter dem Kopf verschränkt. Der Junge ist gewachsen. Nur seine braunen Locken waren dieselben geblieben. Er trug legere Kleidung, unpassend für einen König. Sein Digimon war nirgendwo zu sehen; nach allem, was Ken wusste, hatten Arukenimon und Mummymon es weggesperrt und Takashi sein DigiVice abgenommen. Die Nachricht von ihrem Sieg hatten sie auf offenem Kanal gesendet; auch wenn er damit Angriffe provozierte, es sollte ruhig jeder wissen, dass der DigimonKaiser noch sehr scharfe Klauen hatte. „Da hast du mich aber ziemlich erwischt“, sagte Takashi. Offenbar bewahrte er seine Kontenance. Dass er so respektlos mit ihm sprach, störte Ken nicht; nur hirnlose Schwarzturmdigimon waren in der Nähe. „Du bist doch Ken, oder?“ „Ja. Derjenige, der glaubt, dass das hier mehr ist als ein Spiel“, murmelte Ken düster. Takashi lachte. Wenn man den Berichten Glauben schenken durfte, war er freiwillig aus der Pyramide hervorgekommen, sobald seine Verteidigungstruppen besiegt worden waren. Als wollte er aus irgendeinem Grund keine Belagerung riskieren, hatte er sich erstaunlich schnell ergeben. „Schön, du hast mich überrumpelt. Verrätst du mir den Trick, wie du so schnell Truppen bekommen hast? Oder ist das ein Bug?“ „Nein“, sagte Ken nur. „Wo ist Keiko?“ „Keine Ahnung. Vermutlich noch in Chinatown. Bringst du mich jetzt um?“ „Nein!“, knurrte Ken. „Und ich schwöre dir, wenn du irgendwie Selbstmord begehst, weil du glaubst, dass du wiedergeboren wirst, dann lasse ich dich hinterher überall in der DigiWelt suchen und foltere dich!“ „Autsch“, murmelte Takashi unbeeindruckt. „Schön, was hast du dann mit mir vor?“ „Ich sperre dich zu deinen Kumpanen. Aber zuerst lieferst du mir ein paar Informationen. Mummymon!“ Er winkte das Mumiendigimon her, das wenig erpicht darauf war, wieder Gefängniswärter spielen zu dürfen. „Ist das Innere der Pyramide schon gesichert?“ „Was? Nicht ganz.“ „Dann bring ihn in die Sphinx. Ich komme gleich nach.“ Während Mummymon den Einhornkönig an der Schulter packte und vor sich herschieben wollte, rief dieser Ken noch etwas über die Schulter hinweg zu. „Ich weiß, du glaubst, dass du mich entmachtet hast. Aber ich sag dir was: Egal, ob du mich umbringst oder nicht, ich werde wiedereingesetzt werden, so oder so.“ Während genau dasselbe Digimon, das Takashi vor so vielen Jahren schon einmal entführt hatte, ihn nun in sein neues Gefängnis bugsierte, sah Ken ihm nachdenklich hinterher. Irgendetwas an seinen Worten beunruhigte ihn.     Die Reise dauerte lange, aber hier im Halbdunkel konnte man auch schnell jedes Zeitgefühl verlieren. Yolei tigerte in Whamons Maul auf und ab. Gern hätte sie sich irgendwo ein paar Stunden aufs Ohr gelegt, aber sie fand es ekelig genug, wenn nur ihre Stiefel die weiche, nasse Zunge des Digimons berührten. Betamon hatte weniger Abscheu vor dem Maul, in dem es reiste. Es huschte zwischen den Zähnen des Whamons umher und spielte Verstecken mit Michael, der halbherzig so tat, als würde er es verfolgen. Obwohl sich das Gesicht des Ritters mit jeder vergehenden Stunde mehr umwölkte, brachte er somit Mimi zum Lachen. Yolei hatte einmal mehr das Gefühl, einfach im Weg zu sein. Fast wünschte sie sich, nach dem Fall von Little Edo einfach ihrer Wege gegangen zu sein. Immerhin war sie eine Rōnin. Nur eine herrenlose Söldnerin. Die Ninjamon in der Hauptstadt hatten das ja oft genug betont. Ach, diese ewige Finsternis und der Geruch nach Fisch machten sie noch ganz depressiv! „Komm, Hawkmon“, sagte sie. „Wir tüfteln einen Schlachtplan aus.“ „Wir?“ Der Vogel blinzelte verwirrt. „War nicht immer Michael für unsere Pläne zuständig?“ „Das ist mir egal. Wir schmieden einen eigenen Plan!“ „Na, wenn es dir ein Anliegen ist …“, murmelte Hawkmon, nicht überzeugt. Was war bloß los mit allen? War sie denn für nichts gut genug? „Sagt mal, Yolei …“, hörte sie Michael hinter sich, während Hawkmon ihr zum dritten Mal erklärt hatte, dass der Plan, den sie sich auf Whamons Zunge vorstellen mussten, nichts taugte. „Was?“, fragte sie ungehalten. „Kann es sein …“, begann er zögerlich, „dass ich Euch irgendwie brüskiert habe? Ihr seid so … abweisend mir gegenüber.“ Yolei runzelte die Stirn. „Alles bestens“, erklärte sie, zu spät, um glaubwürdig zu wirken, und stand auf. „Ich sehe Euch an, dass Euch etwas an mir stört. Wenn es möglich ist, würde ich das gern aus der Welt schaffen“, blieb er hartnäckig. Sie stöhnte. „Das ist ja das genau das Problem! Ihr seid einfach so perfekt! Ihr seid ein edler Ritter, ein guter Stratege, ständig um uns besorgt, Ihr bringt Mimi zu lachen und kaum benimmt sich jemand mal seltsam, sucht Ihr die Schuld bei Euch, anstatt diejenige zu fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat!“ Michael blieb überrascht der Mund offen stehen. „Ich … Ich bin weit davon entfernt, perfekt zu sein. Was genau stört Euch denn jetzt überhaupt?“ „Alles! Und nichts!“ Yolei überlegte eine Weile herum, wie sie es in Worte fassen sollte, dann brach es einfach aus ihr hervor und sie vergaß jede Höflichkeit. „Ach, keine Ahnung, was ich habe! Wahrscheinlich bin ich einfach nur eifersüchtig, weil du und Mimi euch so gut versteht! Ich habe meine ArmorEier nicht mehr und bin kaum noch für irgendetwas zu gebrauchen.“ Michael betrachtete sie lange. Sie spürte seinen Blick, kühl und klar wie der Ozean. „Ich finde nicht, dass Ihr zu nichts zu gebrauchen seid.“ Er schenkte ihr ein Lächeln. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? „Ihr seid eine fähige Kämpferin und Mimi eine treue Freundin. Fragen wir sie; ich bin sicher, ohne Euch würde sie nicht weiterziehen wollen.“ „Untersteh dich!“, rief sie. „Das ist mein Problem, und nicht das von Mimi.“ „Ich sehe da gar kein Problem. Hört auf, Trübsal zu blasen, ja? Ihr macht Euch umsonst Sorgen. Wir alle brauchen Euch, Yolei.“ „Aber …“, begann sie, doch da ertönte eine tiefe Stimme, die alles zum Vibrieren brachte. „Wir sind fast da. Ich werde auftauchen, hier ist das Wasser nicht mehr so tief. Wollt ihr euch selbst davon überzeugen, dass keine Feinde auf euch warten?“ „Werden wir.“ Kabukimon trat auf Yolei zu. „Yolei, Hawkmon, wir drei werden als Erstes rausgehen. Whamon selbst hat vielleicht nicht die scharfen Augen, die wir brauchen.“ „Da seht Ihr“, meinte Michael mit einem Lächeln, das wie festgewachsen schien. „Ihr werdet doch gebraucht.“ Yolei verkniff sich jede Antwort. Sie nickte Hawkmon zu und gemeinsam folgten sie Kabukimon nach vorne zu Whamons Zahnreihen. Das Digimon öffnete sein Maul nur ein winziges Stück, gerade so weit, dass sie hindurchschlüpfen konnten, aber erstmal mussten sich Yoleis Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnen. Sand und Meer, dachte sie. Das spiegelt das Sonnenlicht sicher besonders gut. Kabukimon bückte sich zuerst durch die Lücke, dann Yolei. Hawkmon konnte aufrecht hindurch gehen. Frische, salzige Luft strömte in ihre Lungen. Es war eine Wohltat. Das Meer rauschte, und irgendwo kreischten Digi-Möwen. Also finden sie sogar in der Wüste Nahrung. Interessant. Als Yoleis Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten, war von einer Wüste jedoch keine Spur. Eine halbe Meile vor ihnen erhob sich eine Insel aus dem offenen Meer. Schräg lag eine Bucht da, daneben waren Auswüchse aus Fels zu erkennen, mindestens drei, wahrscheinlich mehr. Mit etwas Fantasie sah die Insel aus wie eine riesige Hand, die aus dem Wasser ragte, wobei der Bereich zwischen Daumen und Zeigefinger die Bucht bildete. Das Fundament der Insel bestand aus gelbbraunem, zerklüftetem Gestein. Über den Steilklippen waren ein sattgrüner Wald und bunte Orchideen zu sehen. „Was soll das?“, murmelte Yolei. „Wo sind wir? Wo ist das Festland?“ Unsicher wandte sie sich zu Kabukimon um. Das Digimon wirkte gar nicht überrascht. Es hatte die Arme verschränkt, sein Tänzergewand wehte im Wind. „Man nennt sie die Hand-Insel. Du kannst sehen, warum. Es gibt kaum Karten, auf denen sie verzeichnet ist. Mehr oder weniger ist sie ein Paradies – es gibt genug zu essen für uns alle.“ Yolei fühlte sich wie im falschen Film. „Was heißt das, genug zu essen? Was wollen wir hier? Wusstest du, dass Whamons uns hierher bringt?“ „Natürlich. Ich habe es ihm so aufgetragen.“ „Warum?“, hakte Yolei nach. „Was hast du wieder ausgeheckt?“, fragte Hawkmon und flatterte irritiert in die Lüfte. „Du bist Prinzessin Mimis beste Freundin, Yolei. Es ist besser, wenn sie es von dir erfährt.“ „Was erfährt?“ Wann rückte es endlich mit der Sprache raus? „Dass wir nicht zur Kaiserwüste fahren, um den Ehernen Wolf zu befreien“, erwiderte Kabukimon. „Wir werden hier auf der Insel bleiben und das Ende des Krieges abwarten.“ „Das Ende des Krieges? Was soll da heißen? Was hast du vor?“ Das Digimon schnaubte. „Dein Ritter-Freund hat recht, was die Festung des DigimonKaisers angeht. Selbst mit all unseren Digimon kommen wir nicht hinein. Den Wolf befreien zu wollen ist Selbstmord. Aber hier … Hier können die Prinzessin und ihre Getreuen unterkommen. Selbst wenn die anderen Reiche den Kontinent in Stücke reißen, sind wir hier sicher. Und das war doch immer unser erklärtes Ziel, nicht wahr? Die Sicherheit der Prinzessin zu garantieren. Und sie will diejenigen schützen, die ihr treu ergeben sind.“ Yolei schüttelte fassungslos den Kopf. „Dieses ganze Theater … hast du das etwa alles geplant?“ „Ich bin ein treuer Diener des alten Shoguns“, beteuerte Kabukimon. „Nichts liegt mir mehr am Herzen, als sein Mündel zu beschützen.“ „Der alte Shogun ist aber tot“, schnappte Yolei. „Und Mimi ist jetzt die Königin! Sie hat dich nie gebeten, sie fortzubringen!“ „Ein treuer Untertan muss sich manchmal über seine Befehle hinwegsetzen“, behauptete der Rebellenführer. „Ich habe getan, was das Beste war.“ „Von wegen! Du hast uns hierher verschleppt! Hawkmon, sag doch auch was dazu!“ „Ich kann seine Ansichten verstehen, Yolei“, sagte ihr Partner. „Es wollte einen sicheren Platz für uns alle.“ „Dann hätte es das sagen sollen!“, rief Yolei zornig. „Du hast uns belogen, Kabukimon, uns alle! Wir waren bereit, in den Kampf zu ziehen! Du hast Mimi falsche Hoffnungen gemacht!“ Wir alle brauchen Euch, Yolei. Ach ja? Kabukimon brauchte sie nur, um seinen Lügenmantel zu perfektionieren. „Wenn du es ihr erklärst, wird sie es verstehen.“ „Nein! Ich lasse mich von dir nicht mehr für so etwas einspannen! Die Sache mit Karatenmon hat mir schon gereicht! Ich sage ihr sofort, was du für ein mieser Verräter bist!“ „Yolei, denk doch nach“, bat Kabukimon, aber sie zwängte sich schon wieder an Whamons Zähnen in dessen Inneres und wäre dort fast mit Michael zusammengestoßen. „Alles in Ordnung?“, fragte er überrascht. „Wir dachten, euch streiten gehört zu haben.“ „Gar nichts ist in Ordnung“, machte Yolei ihrem Ärger lautstark Luft. „Kabukimon hat uns alle auf den Arm genommen! Wir sind gar nicht vor der Wüste! Da ist nur irgendeine Insel, und wir sollen uns darauf verstecken!“ Überraschte Rufe wurden unter den Digimon laut, fragende Blicke wurden ausgetauscht. Offenbar wussten selbst Kabukimons treueste Anhänger nichts davon. „Ist das wahr?“, fragte Mimi. „Ich hätte es Euch gern auf andere Weise beigebracht, aber ja“, sagte Kabukimon, das sich unter den Zähnen hindurchbückte. „Wir haben einen sicheren Hafen erreicht, Prinzessin. Hier können wir in Frieden leben. Ihr seid bei Eurem Volk. Spielt es eine Rolle, wo Ihr Euer Königreich aufbaut?“ „Mein Volk? Mein Volk?“, wiederholte Mimi schrill. „Matt wird vom DigimonKaiser gefangengehalten!“ „Wir können leider nichts für ihn tun. Fragt Euren Ritter.“ „Und was ist mit den ganzen armen Digimon, die jetzt Schwarze Ringe tragen? Sollen wir Musyamon und den DigimonKaiser einfach tun lassen, was sie wollen?“, fragte Yolei. „Wir haben gerettet, so viele wir konnten. Nehmt Vernunft an, Prinzessin. Sir Michael, Ihr werdet verstehen, warum ich das getan habe.“ Ausgerechnet Michael wollte es als Verbündeten. Der Ritter kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Ich hatte unsere Abmachung anders in Erinnerung.“ „Kabukimon war immer ein guter Anführer“, wagte es ein Ninjamon, zu sprechen. „Es hatte sicher nichts Böses im Sinn. Vielleicht ist es ein guter Plan.“ „Von wegen!“, rief Yolei. „Als wir in Little Edo waren, wusste es, dass wir in eine Falle liefen! Die Ninjamon, die mit uns dort waren, sind nur gestorben, damit es so tun kann, als hätte es Karatenmon zu seinem Nachfolger ernannt!“ „Das musst du mir jetzt erklären“, sagte Mimi. Sie war ein wenig blass um die Nase. Kabukimon senkte die Stimme. „Untersteh dich. Wir waren uns einig.“ „Was?“, drängte Mimi. „Was ist in Little Edo geschehen?“ „Karatenmon war schon längst tot! Es ist direkt nach der Hochzeit gestorben! Kabukimon wollte nur ein paar gute Zeugen, um dein Vertrauen zu gewinnen! Und ich …“, sagte Yolei kleinlaut, „ich hab mich zu der Lüge überreden lassen. Aber ich mache das nicht mehr mit!“ „Du hast erkannt, dass es das Beste war“, sagte Kabukimon. „Prinzessin, wenn Ihr einst unser Volk führen wollt, müsst Ihr verstehen, dass man zuweilen unangenehme Entscheidungen treffen muss.“ Mimi schwieg nachdenklich. „Lass dir nichts einreden“, sagte Michael zu ihr. „Mit dieser Haltung könnte man viele Verbrechen entschuldigen. Deine Entscheidung, Matt zu helfen, war auch keine einfache. Und trotzdem glaube ich, dass du recht hast. Ich habe Kabukimon nie gemocht“, fügte er hinzu. „Der Ritter der Konföderation“, höhnte Kabukimon. „Natürlich, Ihr wollt Mimi lieber auf dem Thron in Little Edo sitzen sehen, wo Ihr sie wie eine Marionette kontrollieren könnt. Euer Kamerad hat ja bereits seine grenzenlose Loyalität und Ehrlichkeit unter Beweis gestellt.“ „Ich bin von niemandem die Marionette“, fauchte Mimi. „Und wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann ist das Unehrlichkeit!“ „Wenn Ihr reifer seid, werdet ihr die Notwendigkeit davon erkennen“, sagte Kabukimon. „Behandel mich nicht wie ein kleines Kind!“ Mimi stampfte wütend auf. „Du warst es doch, das mir immer eingeflüstert hat, wem ich trauen kann und wem nicht! Damit ist jetzt Schluss! Wir fahren zur Kaiserwüste, und damit basta!“ „Wir bleiben. Lasst uns die Insel gemeinsam erkunden, ich bin sicher, dass …“ „Nein!“, sagte sie mit Nachdruck. Kabukimons Kehle verließ ein hohles Knurren. „Muss ich Euch zu Eurem Glück zwingen? Die Digimon hier wissen, was auf dem Spiel steht. Wollen wir herausfinden, was sie darüber denken?“ Als sein Tonfall drohend wurde und es einen Schritt auf Mimi zutrat, brach der Damm der Selbstbeherrschung in Yoleis Innerem. Mit einem lauten Schrei stürzte sie sich auf Kabukimon, klammerte sich in seine Kleidung und versuchte, es von den Füßen zu reißen. „Yolei!“, schrie Hawkmon. Auch Michael und Betamon stürzten herbei. „Runter von mir!“, schnarrte Kabukimon und schüttelte sich. Helle Blitze verließen seine Hände und schossen haarscharf an Yoleis Armen vorbei. Whamon erbebte. „Nicht kämpfen!“, rief es – und plötzlich stand die Welt Kopf, als es sich aufbäumte. Yolei verlor den Halt, als sie alle unter lautem Geschrei tiefer in Whamons Schlund fielen. Dann traf sie plötzlich von irgendwoher Wasser – und im nächsten Moment fühlte sie sich in die Luft katapultiert und landete auf etwas Gummiartigem. Hustend und spuckend tastete sie nach ihrer Brille und sah sich um. Sie waren alle auf Whamons Rücken – es hatte sie durch sein Atemloch gesprüht. Von hier konnte man die Hand-Insel gut sehen. Yolei war völlig durchnässt. „Dummes Mädchen“, hörte sie Kabukimon knurren und fuhr herum. Obwohl das Digimon seine Maske trug, wirkte allein seine Haltung sauer. „Musstest du dich querstellen? Begreifst du nicht, dass es nur ein paar beruhigender Worte von dir bedurft hätte, um die Prinzessin zu überzeugen?“ „Bevor du daran denkst, solltest du erst mal mich überzeugen! Und mit Lügenmärchen wirst du das ganz sicher nicht schaffen!“, schleuderte sie ihm entgegen. „Du … Alles war perfekt!“ Kabukimons Brüllen war unheimlich, verzerrt und hohl wegen der Maske. Es richtete seine Blütenhände auf Yolei. Ihr DigiVice erglühte, und Aquilamons Krallen rissen Kabukimon von den Füßen. Es überschlug sich, polterte über Whamons Rücken bis dorthin, wo es rutschig in die Tiefe ging. Ächzend richtete es sich auf. „Bist du noch ganz richtig im Kopf?“, schrie Mimi, die sich neben Yolei aufgebaut hatte. „Was war das eben? Wolltest du Yolei gerade angreifen?“ „Prinzessin, ich würde nie …“, begann das Digimon, doch seine Prinzessin unterbrach es. „Lüge! Du wolltest Yolei und mich und Michael manipulieren, und jetzt zeigst du dein wahres Gesicht?“ „Bitte, Prinzessin“, flehte Kabukimon verzweifelt. „Selbst wenn ich Euer Vertrauen missbraucht habe – bleibt auf dieser Insel. Hier seid Ihr sicher!“ Mimi schnaubte. „Als ob Sicherheit allein reichen würde. So viel habe ich gelernt, Kabukimon. Sag Whamon sofort, dass es umkehren soll.“ Der Rebellenführer ließ den Blick über all die Digimon wandern, sie sich hinter Yolei und Mimi aufgestellt hatten. Dann seufzte es schwer. „Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Ich bereue es. Ich hatte wirklich nur Euer Bestes im Sinn, Prinzessin.“ Es drehte sich um und sah zu der Insel hinaus. „Vielleicht könnt Ihr mich eines Tages verstehen. Es tut mir leid. Ohne Euer Vertrauen bin ich nutzlos.“ Damit setzte es eine Blütenhand unter sein Kinn. Licht leuchtete auf … „Warte! Kabukimon!“, rief Yolei und rannte los, doch sie erreichte es nicht mehr. Ein greller Blitz durchschlug Kabukimons Kiefer, seine Maske spaltete sich und wurde davongeweht. Kabukimon fiel mit wehenden Kleidern hintenüber, schlitterte Whamons Rücken hinab und löste sich in Daten auf, ehe es das Wasser erreichte. Schweigend standen sie da und blickten ihm hinterher. Yolei fühlte sich furchtbar. War das ihre Schuld gewesen? Hätte sie das Digimon nicht in die Enge treiben dürfen? Es schien, als wäre genau das eine der unangenehmen Entscheidungen gewesen, von denen Kabukimon gesprochen hatte. Sie atmete tief durch. Das Digimon hatte nur einen Traum gehabt, den es verwirklichen wollte. Es war nicht böse gewesen. Als sie sich mit leidvollem Blick herumdrehte, fiel Mimi ihr in die Arme. Schweigend drückte sie sie an sich. „Danke, dass du auf meiner Seite warst“, flüsterte Yolei ihrer Freundin zu, als sie sich wieder voneinander lösten. Es half nicht wirklich dabei, das Gefühl von Reue zu vertreiben. „Was ist jetzt?“, ließ Whamons tiefe Stimme vernehmen. „Die Reise wurde bereits bezahlt. Wer bestimmt nun, wohin es gehen soll?“ Yolei sah erwartungsvoll in die Runde – aber die Rebellen sahen ihr genauso erwartungsvoll und bedrückt entgegen. „Wer wohl“, sagte Mimi plötzlich. „Die neue Rebellenanführerin wird uns führen.“ Sie drückte Yoleis Hand. „Ich?“, fragte sie ungläubig. „Aber ich bin doch …“ „Du bist genau die Richtige dafür“, sagte auch Michael. „Die treueste Freundin der Prinzessin sollte das Rebellenheer anführen.“ Yolei sah, wie die Digimon zustimmend nickten. Sie schienen mit Kabukimons Entschluss auch nicht einverstanden gewesen zu sein – aber ihren Entschlüssen wollten sie vertrauen? Sie schnaubte, grübelte eine Weile darüber nach und lächelte dann Aquilamon zu. Offenbar hatte sie sich nicht nur einmal an diesem Tag geirrt. „Dann los, Whamon! Bring uns zurück zum Kontinent! Ab jetzt tun wir, was wir selbst für das Richtige halten!“, rief sie, und ihre Entscheidung wurde begeistert aufgenommen.   Out in the shadows I’ve lived all my life Now it’s time for revenge, this is a good day to rise Through daylight and darkness I rode with my troops Now this day has arrived when I will not lose I will fight! (Celesty – Revenge) Kapitel 48: Kneipengeflüster ---------------------------- Tag 127   Er hatte geglaubt, man würde ihn sofort erkennen, wenn er in Santa Caria eintraf. Vielleicht wäre es eindrucksvoller gewesen, wäre er auf Garurumon geritten, aber um Gabumons Kräfte zu schonen und in Kriegszeiten keinen herausfordernden Eindruck zu machen, war es zurückdigitiert, und Matt und Gabumon waren Seite an Seite in der brütenden Mittagshitze den Weg zum Stadttor hinaufgestiegen. Offenbar kamen in letzter Zeit viele wichtige Persönlichkeiten in die Stadt. Matt hatte sich in einem der letzten Dörfer sagen lassen, dass irgendetwas in Santa Caria vorfallen würde, wozu man Fürsten und Ritter aus dem ganzen Königreich brauchte. Erst nach einer Weile hatte er Gerüchte von Wahrheit unterscheiden und sich zusammenreimen können, dass offenbar der letzte König im Krieg gefallen war und man eine Kür für den nächsten abhalten wollte. Matt wusste nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht für ihn und Gabumon war. Die Piximon am Tor waren besonders wachsam und versperrten ihnen zunächst den Weg. Es dauerte eine Weile, ehe Matt erklärt hatte, dass er der Eherne Wolf war. Dass er zufällig auch der rechtmäßige Shogun von Little Edo war, behielt er für sich. Sollten sie es sich selbst zusammenreimen; er war nicht stolz auf das, was während seiner Hochzeit passiert war. Schließlich wurden er und Gabumon als Arbeitssuchende anerkannt. In die Armee wollte sie noch niemand aufnehmen, aber sie durften die Stadt betreten und sich ein Quartier suchen. Ab da wusste Matt, dass die Kür ihnen zum Nachteil gereichte. Die angereisten wichtigen Persönlichkeiten nahmen zwar nur die luxuriösen Unterkünfte in Beschlag, aber auch viele Schaulustige waren gekommen, die die Diskussion und die erwartete Krönung interessierte. Die Preise für ein Doppelzimmer waren horrend, und Matt und Gabumon hätten nicht einmal die Hälfte des Wuchers für das billigste Zimmer in der ganzen Stadt bezahlen können. „Wir werden als Tagelöhner arbeiten müssen“, meinte Matt missmutig, als er ihr letztes Geld für ein Essen ausgab, das andernorts ebenfalls nur die Hälfte gekostet hätte. „Vielleicht brauchen sie doch ein paar Söldner? Leibwachen vielleicht?“, schlug Gabumon vor. Matt glaubte das eher weniger. Die meisten einflussreichen Digimon waren selbst ziemlich stark und brauchten keinen Aufpasser. Er sah sich schon in einem der Gasthäuser kochen oder Teller waschen, als er auf dem überfüllten Hauptplatz fast mit einem anderen Menschen zusammengestoßen wäre, der sich eilig durch die Menge schob. „Ah – tut mir leid!“ Der Junge war jünger als Matt und rempelte, gerade als er sich entschuldigte, ein ziemlich massiges Mamemon an, dessen schiere Leibesgröße einen Zusammenstoß geradezu provozierte. Ein BigMamemon, erkannte Matt. „Was soll denn das?“, maulte das Digimon. Seine Augen sahen strunzdämlich und etwas verwirrt aus, als stünde es total neben sich, aber seine mit Boxhandschuhen bewehrten Hände hatte es über die Menge erhoben. „Tut mir leid, kommt nicht wieder vor!“, meinte der Junge entschuldigend. Er trug für Matts Geschmack viel zu warme Kleidung, die noch dazu mit Flammen bestickt war. Selbst sein Haar hatte eine rötliche Farbe. „Das glaub ich auch“, brummte BigMamemon, eindeutig drohend. „Hey, wir wollen keinen Ärger“, wiegelte ein Veemon ab, das neben dem Jungen hergelaufen war. „Und du solltest lieber auch keinen Ärger mit uns wollen. Wir sind Davis und Veemon und stehen ziemlich hoch in der Gunst des Königs“, erklärte es. „Ja, genau!“, bekräftigte Davis. „Du bist wohl nicht von hier. Jeder in der Stadt kennt uns. Wir haben zu zweit die Belagerung der Blütenstadt beendet.“ Der letzte Satz war BigMamemon entweder zu hoch, oder es ignorierte ihn. „Der König ist tot, sagen sie“, brummte es. „Aber wir haben trotzdem viel für dieses Land getan“, sagte Veemon. „Und wir sind stark.“ „Stark.“ BigMamemon lachte. „Wollen wir’s ausprobieren? Wir probieren’s aus.“ „Ganz ruhig“, sagte Matt und berührte den Wanst des Digimons – bis zu BigMamemons Schulter langten seine Arme nicht. „Er hat sich ja entschuldigt. Du musst doch sicher noch was Wichtigeres tun, oder? Er ist doch so klein, das ist doch die Mühe nicht wert.“ Eigentlich wollte er sich nicht einmischen, aber auf dem überfüllten Marktplatz konnte eine Schlägerei wohl gefährlich werden. Das würde sich wiederum darauf auswirken, wie Fremde in der Stadt behandelt werden würden ... Und außerdem, falls Davis und Veemon tatsächlich wichtige Persönlichkeiten waren – wonach sie absolut nicht aussahen –, war es vielleicht eine gute Investition, Streitschlichter zu spielen. BigMamemon war nicht so stur, wie es manche Digimon mit ähnlicher Intelligenz oft waren. Es bedachte Davis und Veemon noch einmal mit einem finsteren Blick, dann Matt, dann ging es seiner Wege und murmelte irgendetwas vor sich hin. „Alles klar?“, fragte Matt Davis. „Och, ja ... Hätten deine Hilfe nicht gebraucht“, murmelte er beleidigt. „Seid ihr wirklich die Helden von der Schlacht um die Blütenstadt?“, fragte Gabumon. Sie hatten Geschichten darüber gehört. Die Belagerung lag eine Weile zurück, aber sie war damals in aller Munde gewesen. „Ja! Also, naja – wir waren es natürlich nicht alleine, aber ... Sagen wir, wir haben einen beachtlichen Beitrag geleistet.“ Davis lachte. „Und ihr kanntet den verschiedenen König gut?“, fragte Matt. Diesmal antwortete Veemon. „Oh ja. Leomon war ein guter König. Es ist traurig, was mit ihm geschehen ist.“ Matt brannte es auf der Zunge nachzuhaken, aber das hatte noch Zeit. „Und den Drachenritter?“ „Den kennen wir auch. Das Volk hat einen Narren an ihm gefressen, wie’s aussieht, obwohl er in letzter Zeit gar nicht so erfolgreich war. Und wir haben es nicht geschafft, ihn zu ...“ Davis brach ab und grinste. „Naja, er ist sowieso auf dem Weg hierher. Eigentlich müsste er noch heute Nachmittag ankommen.“ „Der Drachenritter kommt hier her?“ „Er ist der beliebteste Kandidat für die Kür“, sagte Veemon und wandte sich Davis zu. „Eigentlich sollten wir schon bei Wizardmon sein und bei den Vorbereitungen helfen.“ „Verdammt! Das hab ich ja total vergessen!“ Davis wandte sich zum Gehen. „Wir reden später weiter, Gabumon und – wie heißt du nochmal?“ „Matt. Einfach nur Matt.“ „Also dann, bis irgendwann mal!“ Sie blickten den beiden hinterher, bis sie in der Menge verschwanden. „Wolltest du ihn nicht fragen, ob er Arbeit für dich hat?“, fragte Gabumon. Matt antwortete nicht. Taichi kam hierher, und auf seinem Weg lag die Krone. Natürlich, er war ein Hochgeborener, und egal was Davis sagte, er war erfolgreicher als Matt. Wenn er Davis um Arbeit fragte, würde er womöglich Taichis Megadramon füttern dürfen oder Ähnliches, und das vertrug sein Stolz nicht. Er war Shogun für wenige Sekunden gewesen, hatte den Drachenritter glorreich ausgestochen und dafür sogar in einer Schlacht gekämpft, und trotzdem war es umsonst gewesen. Und Taichi würde nun König seines eigenen Reiches werden. Deprimiert beschloss er, sich anderswo umzusehen.     Die viele Aufmerksamkeit war Sora unangenehm. Sie hatte sich an die Eintönigkeit der Reise gewöhnt, hatte nur wenig im Inneren von König Takashis Wagen gesprochen. Nachdem sie in der Blütenstadt gewesen waren, hatte sie der Fürst dieses Ortes, ein Wizardmon, herzlich empfangen, versorgen lassen und sie dann weiter nach Norden geschickt, wobei es selbst vorausgeflogen war. Agumon, das die meiste Zeit geschlafen hatte, war von etlichen Pflanzendigimon behandelt worden, aber es schien immer noch unverändert kraftlos zu sein. Sora hatte nicht gewusst, was sie mit Tai oder den anderen reden sollte, daher hatte sie wieder die meiste Zeit geschwiegen und war ihren eigenen Gedanken nachgehangen. Meistens drehten sich diese um MetallPhantomon. Als sie Santa Caria erreichten, gab es einen großen Empfang. Piximon mit blitzenden Speeren eskortieren den Wagen die rumpelige Straße in die Stadt hinein. Eine ganze Armee von Digimon wartete auf dem Hauptplatz, als sie vor einem großen Gebäude hielten und ausstiegen. Das grelle Licht blendete Sora, und der Lärm überstieg sogar das Chaos, das sie in ihren Träumen heimsuchte. Aus dem großen Haus – es musste das Rathaus sein – kamen Wizardmon, ein Meramon und ein Centarumon und hießen Tai herzlich willkommen. Auch Sora begrüßten sie freundlich, wenngleich niemand wusste, wer sie in Wirklichkeit war. Es wäre Blut geflossen, hätte Tai es ihnen verraten, und mit Sicherheit wäre es ihr Blut gewesen. „Sie hat mich auf der Reise begleitet“, hatte Tai nur gesagt, als das Gesprächsthema auf sie gelenkt wurde. „Ihr Name ist Sora. Sie war ebenfalls in der Gewalt des DigimonKaisers. Wir sollten sie hier als unseren Gast empfangen.“ Daraufhin waren sie ins Rathaus geleitet worden. Auf einem Besprechungstisch waren Speisen aufgetragen worden, um eine Sitzung mit einer Mahlzeit zu verbinden. Tai aß nur wenig und Sora hatte ebenfalls keinen Appetit, obwohl ihr Magen knurrte. Es wurde viel Politik behandelt. Tai wurde auf den neuesten Stand der Dinge gebracht und hörte die meiste Zeit über nur stumm zu. Er sah grimmig aus mit seiner Augenklappe, ernst und gefasst. Offenbar war auch in diesem Land ein Umbruch geschehen, als sie beide in Gefangenschaft gewesen waren. König Leomon war tot, und es sollte eine Wahl geben, um seinen Nachfolger zu bestimmen. Wizardmon und Centarumon drängten Tai, sich aufstellen zu lassen. Er hätte unter den Fürsten und Rittern genügend Sympathie. Da die Zeit drängte, würde die Kür morgen beginnen und einige Tage andauern, bis alle Ritter und Fürsten des Königreiches Gelegenheit gehabt hatten, ihre Stimme abzugeben. Tai würde vor der Menge sprechen, Versprechungen machen und seine Heldentaten schildern müssen. Ein Angemon, das ebenfalls an dem Tisch saß und anscheinend ein Ritter war, wollte sogar Tais fehlendes Auge für die Kür benutzen und als Zeichen seiner Tapferkeit und seines Durchhaltevermögens verkaufen. Tai nickte nur immer wieder und trank roten Wein. Er sah sehr müde aus. Auch Sora schwieg, doch sie rührte keinen Tropfen an. Agumon wurde von den besten Ärzten der Stadt behandelt. Nach dem Essen kam ein Bote und überbrachte Tai die Nachricht, dass es auf dem Weg der Besserung wäre. Als Sora das hörte, musste sie unwillkürlich an Piyomon denken. Es war aus ihrem Schloss geflohen, daran konnte sie sich dumpf erinnern – aber wo war es jetzt? Als es dunkel wurde und das Essen abgeräumt war, verlangte Tai ein Schlafgemach für Sora. „Aber es sollte ihres Standes angemessen sein. Sie ist eine Adelige“, sagte er ohne Erklärung. Schließlich bekam Sora ein Zimmer im Rathaus, direkt neben dem von Tai. Dabei hätte ihr selbst eine Besenkamer gereicht, denn erstens fühlte sie sich nicht besonders adelig, zweitens hatte sie sowieso nicht vor, zu schlafen. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer begegnete sie einem jungen Mann, den sie bereits gesehen hatte, als sie in der Stadt angekommen waren. Er war zu Beginn der Sitzung dabei gewesen und hatte sich von allen Anwesenden am meisten über Tais fehlendes Auge entsetzt gezeigt. Ansonsten hatte er sich eher im Hintergrund gehalten, aber kräftig beim Essen zugeschlagen, ehe er und sein Partner Veemon sich zurückgezogen hatten. Eben kamen sie die Treppe herunter und er sah sie lächelnd an. „Oh – hallo.“ „Hallo“, murmelte Sora. Ihre Stimme war wie eingefroren, heiser und träge. „Ich heiße Davis. Dein Name war Sora, oder?“ Als sie nickte, fügte Veemon hinzu: „Dein Zimmer ist oben, am Ende des Ganges, falls du es suchst.“ „Vielen Dank“, sagte sie. „Seid ihr beide Dienstboten hier?“ Davis‘ Mund klappte auf. „Was?“ Er klang beleidigt. „Wir sind ... wir waren enge Vertraute von König Leomon. Wir wurden auserwählt, die DigiArmorEier des Mutes und der Freundschaft zu besitzen, und wir waren die Helden im Kampf gegen das Blutende Herz, weißt du?“ „Oh.“ Sie fühlte diese Worte wie einen Schlag in ihre Magengrube. Diese beiden waren einmal ihre Feinde gewesen. Zu Recht. „Da fällt mir etwas ein“, sagte Davis plötzlich und sah todernst aus. Auch Veemon hatte sich verändert. Es stand nun eine Treppenstufe unter Sora – die beiden hatten sie in ihre Mitte genommen. Ihr Herz begann zu klopfen. „Sora ist dein Name, hast du gesagt?“, fragte Davis erneut. Sie nickte zögerlich. „Wir haben gehört, dass die Schwarze Königin auch Sora heißt“, sagte Davis lauernd. „Ist das ein Zufall?“ Sora biss die Zähne zusammen. Was würden sie mit ihr machen, wenn sie es bejahte? Sie war ihre Feindin gewesen, mit Sicherheit hatten sie ihr Leben riskiert, als sie gegen ihre Armeen gekämpft hatten ... Sie packte den Saum ihres Kleides. „I-ich weiß nicht“, sagte sie mit hoher, zitternder Stimme. „Ich war Gefangene im Düsterschloss, wie Tai, und dann sind wir mit einem Digimon des DigimonKaisers durch das Land gezogen …“ Es stimmte, dass sie gefangen gewesen war. Nur nicht hundertprozentig. „Wenn du nicht die Schwarze Königin bist, dann wirst du auch nicht wissen, wer Piyomon ist“, sagte Veemon. Sora starrte es mit geweiteten Augen an, die Antwort genug waren. Piyomon. „Es geht ihm gut“, sagte Davis. „Wir wissen, wo es ist. Wenn du willst, bringen wir es zu dir.“ Sora entfuhr ein Schluchzen. Sie schlug die Augen nieder. „Danke ... Ihr ... Ja, ihr habt recht ... Ich bin die Schwarze Königin. Ich bin für all das Leid hier im Norden verantwortlich, ich ganz alleine, aber ich ... ich wollte nie ...“ Sie brach in Tränen aus, mitten auf der Treppe, und Davis und Veemon schien die Situation plötzlich mehr als unangenehm. „Wir … äh … wir bringen dich mal in dein Zimmer“, sagte der Junge, nahm sie sanft am Arm und bugsierte sie die Stufen hoch. Am Ende des Ganges zeigten sie ihr ihr Zimmer, das tatsächlich sehr geräumig und fast luxuriös war. Sora ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder und schluchzte hemmungslos. „Es ist mir egal, was ihr mit mir macht“, flüsterte sie. „Lasst mich nur Piyomon sehen … es kann für all das nichts …“ „Das wissen wir“, sagte Davis. „Hör auf zu weinen, wir wollen dir ja gar nichts tun. Du musst uns eins erklären – war es wirklich diese Höhle, die dich so verändert hat?“ Sora wurde noch immer von Schluchzern geschüttelt. Veemon reichte ihr ein Tuch, mit dem sie sich das Gesicht abtupfte. „Ja“, schniefte sie. „Ich … ich glaube schon … aber ich weiß nicht, plötzlich war es, als würde ich aus einem ewig langen Traum erwachen, und ich … Erst da habe ich erkannt, was ich eigentlich alles getan habe.“ „Dann kannst du uns danken.“ Veemon schlug sich gegen die Brust. „Wir waren es, die diese Höhle besiegt und dich befreit haben.“ Sora sah ihn aus wässrigen Augen an, dann suchte sie ein neuerlicher Weinkrampf heim. „Aber Veemon“, tadelte Davis es. „Siehst du nicht, wie schwer es ihr fällt, das alles zu verarbeiten?“ „Entschuldige.“ „Nein – es geht schon“, sagte sie erstickt. „Ich sollte euch tatsächlich danken. Wenn das wirklich wahr ist, wenn ihr mich wirklich befreit habt…“ Sie sah sie ängstlich an. „Ihr … habt es niemandem erzählt? Wer ich bin, meine ich?“ „Weißt du, es kam uns alles selbst ein wenig merkwürdig vor, darum haben wir es für uns behalten, wie die Schwarze Königin heißt“, sagte Davis. „Der DigimonKaiser war es nämlich, der uns gesagt hat, dass wir dir helfen könnten. Du weißt schon, das mit der Höhle. Als wir dann vor deinem Schloss waren, ist er uns aber zuvorgekommen und mit Taichi weggeflogen. Er hat uns ganz schön gelinkt.“ „Und jetzt wussten wir nicht, wie viel von der Geschichte mit dir und dieser Höhle wirklich wahr ist“, schloss Veemon. Sora schluckte. „Der DigimonKaiser? Aber Tai … Sir Taichi war doch bei mir und Sir Taomon.“ „Sir Taomon?“ „Wir waren zu Fuß unterwegs. Der DigimonKaiser ist vorausgeflogen.“ Jetzt bekam Davis große Augen. „Er ist was? Dieser Mistkerl!“ „Das spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr, reg dich nicht auf“, sagte Veemon lässig. „Nicht aufregen? Wir sind fast gegen die Felswände gekracht, als wir ihn verfolgt haben, und du und Tai waren gar nicht auf seinem Airdramon?“ Sora schüttelte nur den Kopf. Dieser ungestüme Junge war ihr nicht ganz geheuer, aber es schien, als wäre er auf ihrer Seite. Obwohl er wusste, wer sie war. Er war genau wie Tai. Er verurteilte sie nicht und verzieh ihr … Ihr wurde warm ums Herz. „Naja, wie auch immer, wir werden darüber den Mund halten. Falls du was brauchst, sag uns einfach Bescheid. Wir werden morgen bei der Kür anwesend sein“, sagte Davis. „Und Piyomon?“, traute sie sich fast nicht zu fragen. „Es ist hier in der Stadt. Es war ziemlich schwach, daher wird es gerade von einigen Heilern versorgt. Wir schicken es zu dir, wenn es ihm wieder besser geht.“ „Nein“, sagte sie entschlossen. „Bringt mich zu ihm. Jetzt. Bitte.“ Davis machte ein unglückliches Gesicht. „Zu dieser Stunde lässt man uns sicher nicht rein. Agumon ist auch dort, weißt du? Die Heiler werden gar nicht erfreut sein.“ „Und Piyomon wird sicher schlafen wollen“, fügte Veemon hinzu. „Warte bis morgen. Wir kommen gleich in der Früh vorbei und holen dich ab.“ Sora schluckte, dann nickte sie. „Danke.“ „Keine Ursache“, meinte Davis großspurig. „Brauchst du sonst noch was? Du musst es nur sagen. Hier im Rathaus gibt es nicht wirklich so was wie Bedienstete, aber wenn du irgendjemandem aus der Armee Bescheid sagst, bringen sie dir, was du willst.“ Sora nickte. „Etwas zu essen“, sagte sie. „Ich hätte gerne etwas zu essen.“ Plötzlich hatte sie wieder unglaublichen Appetit.      „Wie geht’s Nadine und Hiroshi, dem alten Halunken?“ „Ich stelle hier die Fragen.“ Es war sofort zu sehen, dass Takashi wenig bis gar nicht kooperieren würde – warum sollte er auch? Es war für ihn nichts als ein Spiel. Ob er lebte oder starb, spielte für ihn keine Rolle, und die Furcht vor der Folter hatte Deemon ihm wohl ausgeredet. Er gab sich gelassen, spielte aber gleichzeitig den schlechten Verlierer. „Wie viele Truppen hat Keiko noch?“, versuchte Ken es trotzdem. Die Territorialherrin war das Einzige der Saatkinder, von denen er wusste, das noch auf freiem Fuß war und dem Deemon wichtige Informationen geben konnte. „Keine Ahnung. Ich hab sie einfach machen lassen.“ Takashi sah sich demonstrativ in der Höhle um, die sich perfekt rechteckig durch die ganze Sphinx zog. Vorerst hatten sie seine schweren Ketten einfach in die Wände getrieben. „Sicherlich nicht so viele, dass dein Zauberheer sie nicht aufhalten könnte. Hast du diesen Bug eigentlich zufällig entdeckt?“ Das ist kein Spiel, dachte Ken müde, ging aber nicht darauf ein. „Gibt es noch andere Kinder in der DigiWelt, die mit Deemon sprechen können?“ Takashi zuckte nur mit den Schultern. Gut, ich kann auch anders. Ken wandte sich direkt an Deemon. Wie sieht es aus? Ich wende unsere neue Regel an. Gibt es noch andere Saatkinder, von denen ich nichts weiß, oder sind diese vier die einzigen? Deemon wartete, als wüsste es nicht, ob es Ken diese Informationen liefern sollte. Er fragte sich, ob es die neue Regel bereits verfluchte. „Sieben Türme“, sagte es dann. Einverstanden. Also gab es vielleicht noch sieben weitere Kinder? „Takashi, Keiko, Hiroshi und Nadine sind außer dir die einzigen Menschen in der DigiWelt, die je mit der Saat der Finsternis in Berührung gekommen sind“, sagte Deemon dann und klang belustigt. Vermutlich, weil diese doch eher wenig wertvolle Information ihm sieben überflüssige Türme beschert hatte. Ken unterdrückte ein Zähneknirschen. Im Grunde war das ja eine gute Nachricht. Aber er musste ganz sichergehen. Damit meinst du aber nicht, dass sonst keiner in dieser Welt mit der Saat zu tun hatte, oder? Dieser vier und ich sind die Einzigen hier, die in beiden Welten, zu jeder Zeit, von der Saat besessen waren. Wiederhole das. „Du scheinst mir nicht zu trauen, Ken.“ Ja, belustigt, es klang eindeutig belustigt. Du sagst nur gerne Halbwahrheiten und rückst erst spät mit wichtigen Details heraus. Das will ich gleich unterbinden. „Es ist so, wie du es sagst“, erwiderte Deemon sofort. „Was unser Spiel betrifft, so seid nur ihr fünf je mit der Saat in Berührung gekommen, egal in welcher Welt, und nur mit euch fünf kann ich sprechen. All die anderen, die damals in Oikawas Laster waren, nehmen nicht an unserem Spiel teil. Vergiss meine Türme nicht, Ken.“ Ich werde noch heute den Befehl dazu geben. Ken wandte sich wieder an Takashi, nun etwas entspannter, sodass er sogar ein Lächeln zustande brachte. „Was befindet sich in dem versteckten Untergeschoss der Pyramide?“ Takashis Gesichtsmuskeln zuckten kurz. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Komm schon. Deemon hat behauptet, du hättest noch einen Menschen gefangen. Ist er da unten? Wo in der elektrischen Wand ist der geheime Durchgang?“ Endlich schien Takashi fassungslos. „Du … Woher weißt du davon?“ „Es kann sehr vorteilhaft sein, wenn man die Erinnerungen noch hat“, meinte Ken rätselhaft. Tai und Izzy hatten ihm irgendwann von ihrem Abenteuer in der Pyramide erzählt. Es war ein wichtiger Meilenstein auf ihrer Reise gewesen: Tai hatte den geheimen Durchgang in der Strommauer gefunden und sein Wappen damit zum Glühen gebracht. So wie Izzy würde auch Ken den Durchgang ganz leicht berechnen können. Seine Digimon hatten bereits das Programm an den Wänden der Sphinx nach einer Lagekarte durchforstet und probierten ein paar Dinge aus. Takashi hatte wohlweißlich alles von seinen Computern gelöscht. „Also, wen hast du gefangen gehalten? Ist er dort unten?“ Der entmachtete König biss sich auf die Lippen. „Find’s doch selbst heraus“, schmollte er. Ken wollte eben zu einer scharfen Antwort ansetzen, als sich ein Hagurumon über den Connector meldete. „Majestät, wir haben den Durchgang gefunden und den Raum dahinter ausgeleuchtet.“ Während Takashi resigniert seufzte und den Kopf gegen die Wand lehnte, machte sich Ken mit hastigen Schritten auf den Weg zur Pyramide. „Und?“ „Bisher keine Ergebnisse. Wir haben aber dort unten noch eine verschlossene Tür gefunden. Mekanorimon schweißt sie gerade auf.“ „Ich bin in zwei Minuten da.“ Der elektrische Zaun blitzte unheilvoll, als er die Treppen in das versteckte Geschoss hinunterstieg. Er konnte sich vorstellen, wie viel Mut Tai hatte aufbringen müssen, um durch diese tödliche Wand zu gehen, der man mit freiem Auge nicht ansah, wo der Durchgang versteckt war. Da tat es gut zu wissen, wo er langgehen musste, denn das Hagurumon schwebte halb in der Wand versunken und winkte ihm. Dahinter hatte es sich Takashi gemütlich eingerichtet. Eigentlich müsste hier eine Art Labor oder Computerzentrale sein, unter der einst ein Knäuel aus dunklen Kabeln und Schläuchen gedräut hatte. Der Einhornkönig hatte sich den Raum wohl zu einem Wohnzimmer umfunktioniert. Hinter einem zur Seite gerückten Bücherregal werkte das Mekanorimon mit seinem Laser an einer halbhohen Stahltür. Die anderen Digimon verbeugten sich höflich vor ihrem Kaiser. Ken hatte für die Durchsuchung seine eigenen Soldaten mitgebracht, Schwarzturmdigimon erschienen ihm zu tumb. Er musste nicht lange warten. Mekanorimon trat zurück, packte die Tür mit den langen Armen und hob sie einfach zur Seite. Der Strahl seines Scheinwerfers stach in einen kleinen, dunklen Raum. Soll es eine ägyptische Grabkammer sein? Das hier ist immerhin eine Pyramide. Ken trat näher. Das Licht riss eine Gestalt aus der Düsternis. Ken blieb der Mund offen stehen. „Was zum …?“ Das konnte doch nicht sein! Das war doch vollkommen unmöglich … Erst nach und nach wurde ihm die Tragweite von dem, was er hier sah, begreiflich. Wie von selbst tastete seine Hand nach seinem Connector.     Matt hätte nicht erwartet, Davis ein zweites Mal an diesem Tag zu treffen. Er und Gabumon hatten schließlich doch Arbeit in Santa Caria gefunden – als Rausschmeißer in einer Kellertaverne in der Nähe der Stadtmauer. Da viele Gäste aus der Ferne angereist waren, kam es schneller zu Streitereien als üblich, und das geizige Digitamamon, das der Inhaber des Lokals war, hatte ihnen ein Dach über dem Kopf und Verpflegung geboten, wenn sie diese rasch und rabiat schlichteten. WereGarurumon war ein eindrucksvolles Digimon, das ordentlich zuschlagen konnte – Matt wurde im Grunde nur gebraucht, um Gabumon digitieren zu lassen. Es war keine entwürdigende Arbeit, aber auch keine besonders würdevolle, und wenn es nichts zu tun gab, war sie vor allem langweilig. Während WereGarurumon an der Wand stehen und furchterregend aussehen musste, saß Matt auf einem der hölzernen Tische und verzechte den Vorschuss, den er erhalten hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er das letzte Mal in einer ähnlichen Spelunke getrunken hatte – bis an die Grenze der Besinnungslosigkeit, zusammen mit dem Drachenritter, vor einer Ewigkeit. Diese Taverne hier war düsterer, aber auch größer, die Wände aus feuchtem Stein. Seit damals hatte er keinen Alkohol mehr angerührt, nun saß er über seinem zweiten Bier. Vielleicht sollte er mit dem Trinken anfangen. Als sich ein besonders großes Mushroomon ihm gegenüber erhob, sah er Davis und Veemon auf dem benachbarten Tisch sitzen, offenbar verdrückten sie gerade einen kleinen Mitternachtssnack. Die beiden waren ebenso erstaunt wie er, packten ihre hölzernen Essensschalen und ihre Krüge und setzten sich zu ihm. „Du bist der von heute Mittag, oder?“, fragte Davis. Matt nickte. „Ich bin überrascht, dass ich euch hier treffe. Ich dachte, ihr seid so beliebt in der Stadt – warum müsst ihr in so einer billigen Taverne essen?“ Dass sie beliebt waren, stimmte. Matt hatte herumgeforscht. Davis zuckte mit den Schultern. „Wir sind ja keine Ritter oder so etwas. Wir bekommen den normalen Armeesold ausbezahlt. Außerdem ist das Essen hier nicht schlecht, und die Gäste sind auch in Ordnung.“ Dann werden wir lange nichts zu tun haben, dachte Matt. „Keine Ritter? Nach allem, was ich gehört habe, scheint ihr fast so beliebt wie der Drachenritter zu sein, je nachdem, wen man fragt.“ Wieder nur ein Achselzucken. „Wir waren früher mal Gesetzlose“, erklärte Veemon. „Eigentlich sind wir es nicht anders gewohnt.“ Matt nickte und nippte an seinem Bier. „Ist der Drachenritter sicher angekommen?“ Er hatte nur den Wagen und seine Eskorte gesehen. Die Menschentraube war zu groß gewesen, als der Drachenritter das Rathaus betreten hatte, aber angeblich war eine fremde Frau bei ihm gewesen. Seither hatte niemand etwas von ihm gehört. Die Kür würde erst morgen beginnen. „Och, ja, es scheint ihm gut zu gehen … den Umständen entsprechend“, fügte Davis mit kaum merklich veränderter Tonlage hinzu und kratzte sich unbewusst an der Augenbraue. Dabei wich er Matts Blick aus, als gäbe es in der Angelegenheit etwas, über das er nicht reden wollte. „Agumon macht mir eher Sorgen. Es scheint irgendeine seltene Digimonkrankheit erwischt zu haben. Aber das wird schon wieder.“ „Und morgen geht es also los“, meinte Matt dann. „Hat Sir Taichi gute Karten?“ „Die Fürsten, mit denen wir gesprochen haben, meinen schon“, sagte Veemon. „Und ihr beide dürft nicht mit abstimmen?“ Davis schüttelte den Kopf. „Leider. Aber sie werden schon wissen, was sie tun.“ „Vergönnst du es Taichi?“ „Klar, wieso nicht?“, fragte Davis eine Spur zu schnell. „Das heißt, ein wenig neidisch kann man da schon werden.“ „Wie gesagt, ihr beide seid auch beleibt. Wärt ihr Ritter, kämet ihr vielleicht auch für die Kür infrage.“ Matt hörte sich bitterer an, als er es beabsichtigt hatte. Das Bier stieg ihm bereits zu Kopf. „Laut Gesetz kann sich jeder für die Kür bereitstellen. Sogar du könntest dich wählen lassen.“ „Tatsächlich?“ „Die Frage ist, ob du gewählt wirst. Die Fürsten und Ritter stimmen ja darüber ab.“ Jetzt seufzte Davis. „Und so beliebt sind wir gar nicht. Die meisten erkennen uns nicht mal. Nur wenn sie unsere Namen hören, klingelt’s bei ihnen.“ „Da geht es euch so wie uns.“ Matt stürzte den Rest seines Biers hinunter, weil er den Geschmack nicht mehr ertragen konnte und trotzdem das wattige Gefühl in seinem Kopf ausbauen wollte. „Wie meinst du das?“ Er würde es ihnen einfach erzählen. „Kennt ihr den Ehernen Wolf?“ „Den Anführer dieser freien Truppe? Klar.“ Davis riss die Augen auf. „Moment, willst du sagen, du bist der Eherne Wolf?“ Matt lächelte schwach. „Siehst du? Den Namen kennt man, aber mich nicht.“ „Dann kennst du Taichi doch auch!“ „Wir haben mal derselben Frau den Hof gemacht, ja.“ Davis schien merkwürdig zufrieden. Er hob die Hand. „Noch drei Bier! Wo ist dein Gabumon? Trinkt es auch mit?“ „Hat Dienst“, erklärte Matt knapp und nickte in WereGarurumons Richtung. Davis wirkte beeindruckt. Es war erstaunlich angenehm, mit den beiden zu reden. Davis war eine echte Frohnatur und glich Matts Gemütszustand ziemlich aus. Er und Veemon schliefen bei den Wachsoldaten, also verabschiedeten sie sich irgendwann zu später Stunde. „Sag mir Bescheid, wie die Kür abläuft“, sagte Matt. „Darfst du denn wenigstens zusehen?“ „Wizardmon hat es uns versprochen“, sagte Davis. „Was ist mit dir? Du bist ja eigentlich auch sowas wie ein General. Mindestens. Wenn du den hohen Digimon sagst, wer du bist, werden sie dich vielleicht sogar um deine Meinung beten.“ Matt winkte ab. „Ich bleibe lieber ein wenig unsichtbar“, sagte er. „Außerdem will ich nicht bei der Kür im Weg stehen. Ich kenne ja keinen von euren Kandidaten.“ „Außer Taichi.“ „Außer Taichi“, bestätigte Matt. Davis seufzte. „Weißt du, ich konnte ihn am Anfang nicht leiden. Aber er ist ganz in Ordnung. Ein Vorbild für jemanden wie mich, eigentlich.“ „Aber du kannst nie sein wie er.“ Matts Zunge war schwer vom Bier. „Nein. Leider. Vielleicht hätte ich eine Chance bei der Kür, wenn er noch gefangen wäre. Aber ich bin froh, dass es ihm gut geht, also soll er meinetwegen König werden.“ „Ich weiß nicht, ob er ein guter König wäre“, platzte es aus Matt heraus. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, aber nun war es zu spät und er musste sich rechtfertigen. „Er hat sicher gute Eigenschaften, auch für einen Anführer. Aber es reicht nicht, bei seinen Untertanen beliebt zu sein.“ Das hatte Davis offenbar nicht hören wollen. Er verzog den Mund. „Ach, und warst du bei deinen Wölfen beliebt, bevor sie sich aufgelöst haben?“ Als Matt nicht antwortete, ging er.     „Bist du sauer?“, fragte Veemon, als sie die Treppen im Soldatenquartier des Rathauses hochgingen. „Nein“, brummte Davis. „Du bist sauer“, stellte Veemon fest. „Ach, lass mich in Ruhe!“ „Hat Matt vielleicht einen wunden Punkt erwischt? Mir kannst du‘s ja sagen.“ Davis seufzte tief und blieb mitten auf der steinernen Wendeltreppe stehen, lehnte sich gegen die kühle Mauer. „Es ist nicht so, dass ich es Taichi nicht vergönne, König zu werden“, sagte er. „Ich finde es nur ein wenig ...“ „Ungerecht?“ „Nein, eher ....“ Wieder seufzte er. „Ja, du hast recht. Man muss ein Sir Taichi der Drachenritter sein, um eine Chance auf die Krone zu haben. Wir können noch so gut sein und noch so viele Heldentaten mehr vollbringen als er, aber die Fürsten und Ritter werden ihn trotzdem bevorzugen.“ „Willst du jetzt etwa auch König werden?“, fragte Veemon bestürzt. „Blödsinn. Aber sie könnten mich wenigstens nach meiner Meinung fragen“, brummte Davis. „Du kannst deine Meinung ja sagen“, meinte Veemon hintergründig. „Du darfst nur nicht abstimmen, aber sprechen lassen sie dich während der Kür sicher. Vieleicht kannst du ja die anderen davon überzeugen, dass deine Meinung die richtige ist.“ „Und was ist meine Meinung, Veemon?“ „Du hast gesagt, du gönnst Tai die Krone.“ „Schon, aber ...“ „Dann wirst du doch auch zu seinen Gunsten aussagen, oder?“ Davis konnte seine Seufzer an diesem Tag schon gar nicht mehr zählen. Irgendetwas störte ihn immer noch an dem Gedanken, dass Tai, sein unerreichbares Vorbild, nun in noch unerreichbarere Ferne rücken würde. Es wäre ihm lieber, einmal Seite an Seite mit ihm zu kämpfen, als ihm zu dienen. Sie gingen weiter und kamen an Davis‘ Kammertür an. Er und Veemon hatten ein Zimmer für sich allein. Immerhin hatten sie eine Sonderstellung unter den Wachsoldaten. „Naja, wie auch immer du dich entscheidest, ich unterstütze dich“, sagte Veemon. „Und ich glaube, du wärst auch ein guter König, Davis.“ Davis schmunzelte. „Danke, Veemon. Lass uns einfach noch eine Nacht drüber schlafen, ja?“ Er öffnete die Kammertür.   Total subordination A thing you don’t know at all You’d rather be dead man Before you start to crawl (Primal Fear – Fight The Fire) Kapitel 49: Die Königskür ------------------------- Tag 128   Im Grunde war Matt ein Frühaufsteher – zumindest war er das gewesen, als er noch mit seinen Wölfen die Steppe unsicher gemacht hatte. Nun, als Rausschmeißergehilfe in einer Taverne, standen die Dinge freilich anders. Digitamamon hatte ihre Schicht bis in die frühen Morgenstunden verlängert, und je später es geworden war, desto leichter reizbar wurden die Gäste. WereGarurumon hatte mit Mühe einen Streit zwischen zwei Veggiemon verhindert, danach war ein Streit zwischen zwei etwas aggressiveren RedVeggiemon nur mehr zu beenden gewesen, indem es die Pflanzendigimon vor die Tür gesetzt und sie sich draußen hatte weiterprügeln lassen. Es hatte beinahe gedämmert, als Matt und Gabumon völlig geschafft im billigsten Zimmer der Kneipe in ihre Betten gesunken waren. Und nun wurden sie nach vielleicht drei Stunden Schlaf von einem heftigen Pochen geweckt. Zuerst konnte Matt gar nicht sagen, ob es nicht nur sein Kopf war, der pochte. Er hatte bei drei oder vier Krügen Bier aufgehört, aber das Zeug war verdammt stark gewesen, und so brummte ihm der Schädel und sein Mund war trocken. Missmutig öffnete er die Kammertür und war überrascht, Davis davor zu sehen, die Hand eben wieder zum Klopfen erhoben. Er sah aufgeregt aus, Veemon war nicht bei ihm. „Was ist los?“, murmelte Matt verschlafen. Seine blonde Mähne musste fürchterlich aussehen. Davis schob sich an ihm vorbei in sein Zimmer, ehe Matt ihn daran hindern konnte. „Also?“, fragte er. Auch Gabumon hatte sich gähnend aufgesetzt. „Du musst mir helfen“, sagte Davis. „Wobei? Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?“ „Kurz vor neun. Die Kür beginnt gleich.“ „Die werden den Drachenritter auch ohne uns küren können“, brummte Matt. „Darum geht es ja“, sagte Davis und sah sich im Raum um, als befürchtete er, noch jemand anderen zu erblicken. „Du musst mir helfen, Matt.“ „Das hast du schon gesagt. Was ist los?“ „Tai … Der Drachenritter … Wie soll ich sagen …“ Davis holte tief Luft und starrte Matt dann unverwandt an. „Du musst mir helfen, seine Krönung zu verhindern.“ Für einen Moment war Matt perplex. „Was hast du gerade gesagt?“ „Du musst deinen Einfluss geltend machen und mich unterstützen. Wir müssen verhindern, dass Tai bei der Kür zum nächsten König gewählt wird.“ „Du willst gegen deinen Landsmann komplottieren?“, fragte Mat verwirrt. Gestern hatte Davis mit Tais Kandidatur bei der Kür zwar nicht zufrieden gewirkt, aber trotzdem … „Er ist nicht mein Landsmann“, sagte Davis bestimmt. „Er ist …“ Er biss sich auf die Zunge, suchte nach Worten. „Bitte. Du hast doch sicher keine Skrupel, gegen ihn zu arbeiten, oder? Du warst schon in Little Edo sein Rivale.“ Matt schloss die Tür und setzte sich wieder auf sein Bett. „Vergiss es. Ich werde nicht gegen ihn antreten. Nicht bei dieser Königswahl.“ „Du wärst aber eine gute Wahl“, behauptete Davis. „Du kennst mich doch gar nicht“, versetzte Matt trocken. „Er hat aber nicht unrecht“, sagte Gabumon. „Fang du nicht auch noch damit an!“ „Taichi ist Kommandant der Drachenstaffel, das stimmt“, fuhr sein Digimon-Partner fort. „Aber er hat die meisten seiner Befehle sicher auch nur von König Leomon erhalten. Ein Land selbst zu regieren, ist eine völlig andere Sache. Du hast schon beweisen, dass du alleine zurechtkommst und Digimon dir folgen lassen kannst, ohne dass dir jemand anders den Rücken stärkt.“ Matt hätte es gerne darauf hingewiesen, dass er einen Gutteil seiner Autorität bei den Ehernen Wölfen eben doch Gabumons Beistand verdankte, aber er schwieg und fuhr sich nur durch sein Haar. „Er ist nicht dafür gemacht, König zu sein“ beharrte Davis. „Der Drachenritter wird viele Stimmen bekommen, aber wenn er König wird, wird das Land furchtbar darunter leiden! Das … Das ist mir jetzt klar.“ „Übertreibst du da nicht ein bisschen?“, fragte Matt. „Er wird doch auch Berater haben.“ „Aber er wird König sein! Das Nördliche Königreich braucht wieder jemanden wie Leomon, der …“ „… ganz bestimmt nicht ich sein werde“, schnaubte Matt. „Wie kommst du auf so eine Idee? Deine Fürsten würden mir nie ihre Stimmen geben. Tritt doch selbst als Kandidat an, wenn du unbedingt einen anderen König willst. Das hast du doch wohl ohnehin vor, oder?“ „Ich …“ Davis verstummte. Seine Augen huschten im Raum hin und her. „Ja, ich könnte es versuchen, aber … Wenn du ihnen sagst, wer du bist, bekommst du sicher auch das Stimmrecht.“ „Ach daher weht der Wind?“ „Nein“, knurrte Davis ungehalten. „Ich bin nicht scharf darauf, König zu sein. Das heißt, es wäre schon eine tolle Sache, aber … Leomon war die meiste Zeit über in der Stadt und hat kaum Gelegenheit gehabt, selbst zu kämpfen. Ich möchte auch was für Digimon tun, die nicht hier in Sicherheit leben.“ „Als König könntest du machen, was du willst.“ „Ja, aber …“ Davis seufzte. „Na gut, du hast mich erwischt. Mir wäre es lieber, wenn ich König bin. Wolltest du das hören? Hilfst du mir jetzt?“ „Vergiss es.“ Matt hatte ihn wohl falsch eingeschätzt, aber darum ging es nicht. Er würde Tai nicht einfach so seine glorreiche Zukunft vermasseln, nur weil er selbst kein Glück hatte. Sollte der Drachenritter König werden. Matt würde etwas anderes finden, mit dem er sich zufrieden geben konnte – aber er würde ihm bei aller Rivalität nicht ins Handwerk pfuschen. Es wäre ihm böswillig vorgekommen – und es wäre das, was der DigimonKaiser tun würde. Davis seufzte tief. „Na schön“, murmelte er. „Dann werde ich es eben alleine machen. Vergiss, dass ich hier war. Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen.“ Matt und Gabumon sahen ihm zu, wie er zur Tür ging. Ehe er sie öffnete, sagte Davis noch, ohne sich zu ihnen herumzudrehen: „Aber ich schwöre es dir. Ich werde verhindern, dass Tai zum König gekrönt wird. Er ist einfach nicht der Richtige dafür. Und ich werde tun, was ich tun muss.“ Er streckte die Hand nach der Klinke aus, und plötzlich ging Matt ein Gedanke durch den Kopf. Eine Erinnerung an ein gewisses Clockmon in den düsteren Eingeweiden der Festung des DigimonKaisers. Jener hatte die Macht der Dunkelheit aus seinem Machtbereich vertrieben. Derselbe Mann, der Matts Hochzeit ruiniert und seinen eigenen Thron gestohlen hatte, verfolgte noch ein anderes Ziel, und er hatte Matt besser behandelt, als er es hätte tun müssen. „Warte“, sagte er. Davis verharrte, die Türklinke nach unten gedrückt, die Tür noch im Rahmen. Es wäre, was der DigimonKaiser tun würde. Er war der erklärte Feind dieses Reiches, er war auch Matts Feind gewesen, aber das bedeutete nicht, dass alles, was er tat, schlecht war. Matt würde Tai nichts vermasseln, er würde ihn testen. Es war ein schmutziger Trick gewesen, mit dem er ihm einst Prinzessin Mimi ausgespannt hatte. Nun konnte er ihm eine faire Revanche bieten. Tai war zweifellos aus dem Holz geschnitzt, aus dem Legenden gemacht waren. Es gab eine einfache Methode, zu prüfen, ob er auch eine Krone tragen konnte. „Unsere momentane Arbeit ist nicht ganz zufriedenstellend“, sagte Matt. „Wir könnten hier einen Freund gebrauchen, der uns eine bessere organisieren kann. Und eine besser Bleibe.“ Anstatt die Megadramon zu füttern, würde Matt als Anführer vor Tai treten und ihn erneut zu einem Duell um die Krone eines Landes herausfordern. Vielleicht hatte er mit seinen düsteren Gedanken recht gehabt und Tai wäre besser für das Shogunat von Little Edo geeignet gewesen. Viel Alkohol und eine wählerische Prinzessin hatten diese Entwicklung verhindert, und viele Digimon mussten nun leiden. ShogunGekomon war tot, Mimi vielleicht auch. Er war es den beiden schuldig, im nächsten Land, das einen König brauchte, sein Bestes zu geben, um den geeignetsten Kandidaten zu finden.     Die Königskür fand im Ratssaal statt. Wer einen bestimmten Posten im Reich innehatte, durfte sitzen – andere Digimon, die nur als Kandidaten hergekommen waren, standen an den Wänden zwischen den Säulen. Sora war erstaunt, wie viele Fürsten und Persönlichkeiten mit ähnlichem Einfluss es in diesem Land, das noch gar nicht so lange existierte, gab. Da war einmal das eiskalte Frigimon, das über den hohen Norden herrschte, wo es nur wenige Einwohner gab und in letzter Zeit auch weniger Kämpfe. Es war sanft und zurückhaltend, trotz seiner buchstäblich frostigen Ausstrahlung. Meramon war das genaue Gegenteil. Es war kein Fürst, sondern ein Ritter ohne Landsitz, doch es war ebenfalls ein enger Freund des verstorbenen Königs gewesen, hatte Sora sich sagen lassen, und somit ein Mitglied seines Rates. Es war laut, impulsiv und temperamentvoll. Centarumon hatte eine ähnliche Position wie es inne. Es schien die Truppen zu befehligen, die gegen Soras einstige Armee kämpften, in dem Moment, in dem es hier diskutieren musste. Wizardmon kannte Sora bereits aus der Blütenstadt, die einmal fast an sie gefallen wäre. Es war sehr besonnen und klug und nicht nur ein respektierter Fürst, sondern auch ein geschickter Diplomat. Ebidramon, ein junger Fürst von den Strandgebieten im Osten, hatte einen Vertreter, ein ungelenkes Coelamon, geschickt. Dann war noch fast ein Dutzend an Rittern angereist. Einer davon war das Angemon, das Sora bereits kannte, ein anderer Sir Taichi. Und sie selbst saß ebenfalls an dem Tisch. Tai bestand darauf, dass sie an der Kür teilnahm, auch wenn sie keine Stimme besitzen würde. Draußen vor dem Rathaus wartete die Menge auf jede noch so kleine Neuigkeit, die die zusehends stickig werdende Halle verließ. Die Kür würde heute nicht entschieden werden, da es immer noch Digimon von Rang und Namen gab, die erst anreisen mussten, aber es war sozusagen die erste Runde. Sora konnte sich nicht richtig auf das Gesagte konzentrieren. In Gedanken war sie bei Piyomon. Davis und Veemon waren heute Morgen nicht erschienen, um sie zu ihm zu bringen. Sie hatte es gewagt, das Rathaus zu verlassen, es aber nicht lange draußen ausgehalten. Wenn Piyomon nicht in Sicherheit gewesen wäre, hätte sie nicht gezögert, sich durch das Gedränge zu wühlen und in ihrem Kleid und der gnadenlose Sonne zu schwitzen, auch nicht von neugierigen Digimon schief angeschaut zu werden, doch nachdem sie heute Morgen nach einer Weile schwer atmend und kreidebleich wieder in die Kühle des Rathauses gekrochen war – der Schlafmangel und der Lärm taten ihr auch nicht gerade gut –, war auch schon Tai die Treppe herauf gekommen und hatte sie zur Kür eingeladen. Hier saß sie nun, war von Davis enttäuscht und sehnte sich nach Piyomon. Und die Diskussion würde den ganzen Tag andauern. Soeben hatte Wizardmon das Wort. „Ich plädiere für Sir Taichi den Drachenritter. Er hat in der Vergangenheit immer wieder seinen Mut bewiesen. Seine Drachenstaffel ist in der ganzen DigiWelt bekannt und sein Digimon eines der stärksten, das es gibt. Selbst die Schwarze Königin und der DigimonKaiser zusammen konnten ihn nicht daran hindern, wieder zu uns zurückzukehren. Er wird ein guter König sein, und er hatte das Vertrauen von König Leomon. Ich sage es noch einmal, ich plädiere für Sir Taichi den Drachenritter.“ „Und ich plädiere dagegen.“ Die ganze Versammlung wandte sich um, als eine der Türen des Saals schwungvoll aufgestoßen wurde. Ein junger Mann kam hereinmarschiert, mit entschlossenen, selbstbewussten Schritten. Er sah gut aus, fand Sora, nicht so abgekämpft und draufgängerisch wie Tai, sondern auf eine andere Weise wild, aber besonnen. Er trug ein einfaches, schwarzes Hemd und eine gleichfarbige Hose. Sein einziges Schmuckstück war eine silberne Kette, die an seinem Hals baumelte. Sein Haar war goldblond und mehr als schulterlang und kess gekämmt. Nur unter den Augen hatte er dunkle Ringe, als hätte er schlecht geschlafen, ansonsten war sein Erscheinen einfach, aber makellos. Begleitet wurde er von einem Gabumon und von Davis und Veemon, die in einigem Abstand den Saal betraten. „Was erdreistest du dich?“, polterte Meramon los. „Mit welchem Recht störst du unsere Königskür?“ „Ich habe größeres Recht auf eine Stimme als jeder von euch“, behauptete der Fremde, zog sich ungefragt einen leeren Stuhl heran – blieb dann aber am Tisch stehen. „Ich habe den Kerl schon in der Stadt gesehen“, knurrte Agunimon, ein Ritter aus der Kesselstadt am Band. „Wer bist du?“ „Davis“, sagte Centarumon ruhig. „Kannst du uns erklären, was hier vorgeht? Ist dieser Mann vertrauenswürdig?“ „Ja.“ Davis trat vor und räusperte sich. Als er Soras Blick begegnete, wich er ihm aus. „Das ist Matt, besser bekannt als der Eherne Wolf. Er war lange Zeit der Anführer der gleichnamigen Soldatentruppe und ist der rechtmäßige Herrscher über das momentan besetzte Little Edo.“ Am Tisch brachen Unruhen aus. Tai starrte Matt finster an, aber Sora wusste nicht genau, was seine Worte bedeuteten. War das also jemand Wichtiges? „Ein Herrscher ohne Land ist ein Nichts“, blaffte Meramon. „Im Gegenteil“, sagte Matt. „Wer herrscht, ist niemals ein Nichts. Er kann seine Untertanen zu den Fahnen rufen und trägt die Verantwortung, sie zu leiten, egal, wer sie knechtet. Das ist es, was ich als Nächstes tun werde, doch vorher muss ich verhindern, dass in eurem Land etwas Ähnliches geschieht wie in Little Edo.“ „Willst du damit sagen ...“, begann Tai gefährlich leise, doch Matt unterbrach ihn. „Wollt Ihr damit sagen, Sir Taichi. Ich bin nicht mehr ein einfacher Heerführer wie bei unserer letzten Begegnung. Mittlerweile bin ich Shogun.“ Tai kniff die Lippen zusammen. Er wirkte plötzlich nachdenklich. Aber es war gar nicht nötig, dass er etwas sagte. Die Fürsten und Ritter, die hinter ihm standen, bombardierten Matt sogleich mit Vorwürfen. „Ihr seid unfähig!“ „Was mischt Ihr Euch in unsere Angelegenheiten ein?“ „Wenn Ihr tatsächlich würdig wärt, hättet Ihr Euch nicht wie ein gewöhnlicher Bauer in unsere Stadt geschlichen!“ „Shogun nennt Ihr Euch? Euer Reicht gehört jetzt dem Kaiser, weil Ihr es nicht ausreichend beschützt habt!“ Matt ertrug all das, ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Mienenspiel war kühl und gefasst. „In diesem Punkt mögt Ihr irren“, sagte Centarumon. „Die Übernahme von Little Edo war ein lange zuvor geschmiedetes Komplott. Wer immer die Prinzessin geheiratet hätte, wäre in die Falle getappt.“ „Vermutlich hätte es Sir Taichi auch so gehen können“, meinte Fürst Frigimon sanft. „Ich hätte mich nicht so einfach austricksen lassen.“ Tai stand ebenfalls auf, offenbar erkannte er, dass, wer stand, mehr Autorität ausdrückte. Er sah sehr edel aus in seinem neuen, schwarzgoldenen Mantel, und grimmig mit der Augenklappe. „Hättest du die Prinzessin nicht für dich eingenommen, wäre ich jetzt Shogun und König des Nördlichen Königreichs. Unser Land wäre das stärkste, das die DigiWelt je gesehen hat. Tu nicht so, als würde dir das Schicksal von Little Edo am Herzen liegen. Die Digimon dort sind für dich doch Fremde!“ „Eure Worte entbehren schon wieder jeglichen angebrachten Respekt“, versetzte Matt kühl. „Glaubt Ihr, mit Eurem Geschrei könntet Ihr eine Kür beeinflussen, die hoffentlich auf Vernunft fußt?“ „Wir sollten ihn rauswerfen“, meinte Agunimon. „Er hat nur einen Titel.“ „Den er sich mühsam erkämpft hat“, sagte Davis. „Ich bin dafür, wir lassen ihn sprechen.“ „Sprechen kann er“, knurrte Meramon. In der hitzigen Stimmung schien es sich wohlzufühlen. „Seine Stimme dürfen wir ohnehin nicht berücksichtigen.“ „Ihr tätet aber besser daran.“ Matt begegnete dem feurigen Starren ohne Weiteres. „Ich beabsichtige, ein Bündnis auszuhandeln.“ „Ein Bündnis? Womit? Mit dir und deinem Gabumon?“, höhnte Tai. „Ein Bündnis mit Little Edo“, beharrte der Eherne Wolf. „Früher oder später wird der DigimonKaiser fallen. Dem habt Ihr Euch ja wohl verschrieben, oder? Ich ebenfalls. Wenn das Shogunat wieder frei ist, werden sie sich lieber ihrem rechtmäßigen Shogun anschließen als einem König, den sie noch als den erfolglosen Freier ihrer Prinzessin kennen.“ „Da ist allerdings etwas dran“, sagte Wizardmon. Tai funkelte es wütend an, als es ihm in den Rücken fiel, doch von einem Diplomaten war tatsächlich nichts als Vernunft zu erwarten. „Fahrt bitte fort.“ „Ihr gewährt mir eine Stimme als Gastkönig“, verlangte Matt. „Sobald Little Edo frei ist und die Digimon sich wieder mir als Herrscher zuwenden können, verlautbare ich ein inniges Bündnis mit dem Nördlichen Königreich. Vermutlich werden wir Hilfe brauchen, das Land wieder aufzubauen, sollten die Kämpfe heftig sein. Im Zuge dessen räume ich Eurem König große Rechte ein. Es wird sein, als hättet Ihr selbst die Fäden in der Hand, aber so sind die Digimon zufriedener.“ „Ihr wollt eine Marionettenregierung anführen?“, fragte Sir Agunimon ungläubig. „So würde ich es nicht nennen. Wie Ihr alle treffend gesagt habt, war ich nicht lange Shogun. Ich habe nicht bewiesen, wie gut ich ein Land führen kann. Aber ich kann andere Könige beurteilen. Gewährt mir das Stimmrecht, und ich wähle selbst den König, der letztendlich über Little Edo herrscht, während ich selbst nur der Repräsentant bin. Die Gekomon bestehen auf Tradition“, behauptete Matt. Wieder brach Gemurmel aus, aber es klang eindeutig weniger feindselig. Die Versammelten schienen der Idee tatsächlich was abzugewinnen. „Ihr werdet einen Vertrag unterschreiben, in dem Ihr uns genau das garantiert“, verlangte Meramon. „Dann bekommt Ihr Euer Stimmrecht.“ „Wie Ihr wollt.“ Matt neigte den Kopf. „Das kann nicht Euer Ernst sein!“, rief Tai erbost. „Er ist nur ein dahergelaufener Wilder!“ „Auch für Euch könnte dieses Angebot von Nutzen sein, Sir Taichi.“ Matt betonte den Sir nur allzu deutlich. „Solltet Ihr trotz meiner Gegenstimme König werden, habt Ihr Euren Wert mehr als deutlich bewiesen, und als Belohnung winkt Euch Little Edo.“ Tai verstummte, überlegte, dann zuckte er mit den Schultern. „Na gut. Einverstanden. Sagt, wem Ihr Eure Stimme geben wollt. Ihr werdet das Nördliche Königreich nicht davon abhalten, den besten Herrscher zu wählen.“ „Meine Rede.“ Matt ließ den Blick über die Versammelten schweifen. „Aber ehe ich meine Stimme abgebe, möchte ich erfahren, wer sonst noch aufgestellt ist. Und setzt diesen Vertrag auf, so etwas habe ich lieber rasch unter Dach und Fach.“ Wizardmon verfasste das Schreiben, während die Diskussion weiterging. Tatsächlich hatte man sich bisher nur für Tai ausgesprochen, nun erst kamen die anderen Kandidaten ans Licht. Es sah so aus, als wollte sich Sir Agunimon aufstellen lassen, außerdem bekundete Sir Angemon seine Bereitschaft, die Krone zu tragen. Coelamon meldete stellvertretend Fürst Ebidramon als Königskandidaten an. Aus dem gemeinen Volk hatten sich auch einige Digimon aufstellen lassen, aber die wurden kaum ernst genommen. Alle sprachen über ihre Vorzüge und Heldentaten. Man durfte sich nicht selbst wählen, daher schwenkte eine klare Linie zunächst in Richtung von Tais Krönung, dann, als sie merkten, dass sie damit von ihren eigentlichen Zielen abkommen würden, wählten die drei anderen Kandidaten sich sogar gegenseitig, um ihm Stimmen zu stehlen. Matt schüttelte schließlich den Kopf. „Ich kann mit Euch allen nichts anfangen“, sagte er. „Ich stimme für Davis den Auserwählten, den Helden der Schlacht um die Blütenstadt, Bezwinger des Blutenden Herzens.“ Wieder schaffte er es, die Versammelten kurz aus der Fassung zu bringen. Er nutzte den Moment, um seinem Günstling zuzunicken. „Du lässt dich aufstellen, nicht wahr, Davis?“ Davis klappte der Mund auf. „Ich ... äh ... ja?“ „Lächerlich“, sagte Angemon sofort. „Deine Heldentaten in Ehren, Davis, aber ich halte das für keine gute Idee.“ „Mein Herr wird dem nicht zustimmen“, bekräftigte Coelamon. „Der Junge hat keinen Titel vorzuweisen.“ „Sondern nichts als Taten?“, fragte Matt herausfordernd. „Was ist daran schlecht? Unter uns, Eure Ansichten von Adel und Titeln sind lachhaft. Ich habe mir sagen lassen, dass Leomon sich selbst zum König gemacht hat, ohne von irgendwelchen Königen abzustammen. Es stammte nicht einmal von diesem Kontinent! Hier haben wir das Gleiche: Davis ist ein tapferer Krieger, der seinen Mut vielfach unter Beweis gestellt hat, zusammen mit seinem Partner. Er setzt sich für die Schwachen ein und war früher ebenso ein Niemand wie Leomon selbst.“ Diese letzten Worte riefen Wutausbrüche bei Meramon und Agunimon hervor, doch er sprach unbeirrt weiter: „Nach einiger Zeit hätte Leomon ihm gewiss auch die Ritterwürde verliehen oder ihn mit Land beschenkt. Es sollte wohl nicht sein, aber das darf uns nicht davon abhalten, Vernunft walten zu lassen.“ „Und du willst ihm jetzt eine Krone geben?“, fragte Tai. „Ich halte das für eine gute Idee. Davis hat gesagt, dass er sich aufstellen lässt. Ich stimme für ihn. Dürfte auch das Volk mitwählen, würde es mir beipflichten.“ Sora sah unbehaglich zwischen den beiden Männern hin und her. Alles, was Matt sagte, brachte Tai Schritt für Schritt von seiner Krone weg. Sie überlegte fieberhaft, wie sie ihm helfen konnte – der Drachenritter hatte sie gut behandelt, obwohl er allen Grund gehabt hätte, sie zu hassen. Sie hatten Seite an Seite viel durchgemacht. Sie wusste, dass Tai den Königsthron verdiente. Meinungen wurden ausgetauscht, Stimmen verschoben. Einigen der Fürsten schien die Idee zu gefallen. Es wurde noch nicht in Stein gemeißelt, wer sich für wen aussprach, aber Meramon schien nach einigem Überlegen sogar Davis zu bevorzugen. Centarumon stimmte für Tai, Frigimon ebenfalls, Wizardmon enthielt sich noch der Stimme, Coelamon ebenso. Agunimon stimmte schließlich auch für Davis, wohl um Tai zu benachteiligen. Die anderen Ritter stimmten ebenfalls meistens für Tai und Davis, wohl weil sie beide viel für das Reich geleistet hatten und Wizardmons Worte vorher und Matts Worte gerade eben nachvollziehbar waren. Nur wenige stimmten für die anderen Kandidaten. Es wurde noch lange debattiert, doch der Ausgang des ersten Tages der Kür änderte sich nur mehr minimal. Tai und Davis, der seine Überwältigung kaum verbergen konnte, waren die Favoriten und die Anzahl ihrer Stimmen ungefähr gleichauf. Die Abenddämmerung senkte sich über das Land und Sora tat vom viele Sitzen der Rücken weh, als Wizardmon sich über die Streitenden erhob und verkündete, dass die Kür am nächsten Tag fortgesetzt werden würde. Centarumon gab seine Stimme dauerhaft Tai, denn es würde morgen früh wieder zur Front aufbrechen. Noch zwei Ritter wurden erwartet, für die ein Gazimon eifrig Protokoll geschrieben hatte. Als sich der Saal geleert hatte, blieb Sora noch eine Weile neben Tai sitzen, der nachdachte. Immerhin schien er sich nicht verspannt zu fühlen. „Ich hoffe, dass du gewinnst“, meinte sie. Er zuckte mit den Achseln. „Die Sache mit dem Ehernen Wolf und Davis war unerwartet, aber ich glaube, ich habe gute Karten.“ Sora nickte. „Ich halte dich für den geborenen Anführer.“ „Danke“, murmelte er nach einer Weile. Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. „Sag mal – du hast nicht zufällig vor, Agumon zu besuchen? Ich würde gerne mitkommen.“ Es war ihr egal, ob sie die Nachtruhe des Krankenhauses störte, sie wollte endlich Piyomon sehen. Wieder überlegte er. Er war so nachdenklich in letzter Zeit, dass Sora sich fragte, was ihn bedrückte. „Das sollte ich wohl tun“, meinte er dann und stand auf. „Gehen wir.“   „Sora!“ Piyomon flatterte in ihre Arme. „Ach, Piyomon.“ Sie hatte Tränen in den Augen, als sie ihr Digimon an sich drückte. „Es tut mir so leid ... Kannst du mir je verzeihen?“ „Sora ...“ Auch Piyomon weinte. „Ich war dir doch niemals böse ... Ich bin so froh, dass du wieder du selbst bist ...“ Piyomon hatte längst keine so luxuriöse Behandlung bekommen wie Agumon, aber das war auch nicht notwendig gewesen. Die Cutemon, die das Gros der Ärzteschaft bildeten, waren über die späte Störung tatsächlich nicht erbaut gewesen. Schließlich hatten sie jedoch vor ihrem hohen Besuch gekuscht und Tai in die oberen Stockwerke geleitet, dabei allerdings deutlich gemacht, dass Agumon viel schlafen sollte. Er versprach, es nicht mit den Neuigkeiten um die Kür zu belasten und es nicht aufzuwecken, falls es schlief. Soras Partner war in einem Krankenzimmer mit mehreren Betten gelegen, von denen die meisten leer waren. Es war vor allem erschöpft gewesen und hatte Mittel zur Stärkung erhalten, außerdem diente der Raum quasi als sein Quartier in der Stadt. Sora bedankte sich überschwänglich bei den Cutemon, denen die viele Aufmerksamkeit unangenehm schien. Bis spät in die Nacht hinein saß Sora bei Piyomon und sie sprachen über alles Mögliche, über Wochen und Monate, die sie nachzuholen hatten. Sora erkannte erst jetzt, wie sehr sie das rosa Digimon vermisst hatte und wie gut es ihr tat, es wieder um sich zu haben. Wieder und wieder machte sie sich Vorwürfe und bat um Verzeihung, doch Piyomon vergrub irgendwann nur noch seinen Schnabel an ihrer Brust und umarmte sie fest. Es war fast Mitternacht, als sie sich schweren Herzens trennten. Die Cutemon wollten Piyomon noch für ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten. Als Kompromiss wurde dann aber beschlossen, dass sie es am folgenden Tag noch gründlich untersuchen wollten, ehe es in Soras Quartier ziehen durfte. Sora verabschiedete sich mit einem unglaublichen, vorfreudigen Glücksgefühl und ging beschwingt alleine über den gepflasterten Platz von Santa Caria auf das Rathaus zu. Die Nachtluft war angenehm in ihren Lungen. Leise Stimmen wehten an ihr Ohr. Sie fragte sich, wer so spät noch auf sein mochte, als sie Davis und Veemon durch eine winzige Gasse auf den Platz treten sah. Wo waren sie wohl so spät noch gewesen? Vermutlich hatten sie Kriegsrat mit Matt gehalten. Er blieb stehen, als er sie sah. Sora kniff die Lippen zusammen, raffte ihren Rock – sie brauchte unbedingt neue Kleidung, diese hier war längst nicht mehr ansehnlich und erinnerte sie zudem an düstere Zeiten – und trat entschlossen auf ihn zu. „Auf ein Wort, Davis.“ Er sah sie aus unergründlicher Miene an und zuckte mit den Schultern. „Gern. Wir haben ja denselben Weg.“ Bis zum großen Tor des Rathauses schwiegen sie, dann sagte er: „Hör mal, es tut mir leid, dass ich nicht mit dir zu Piyomon gegangen bin ... Es gab einiges zu tun, das hat mich davon abgehalten ... Wenn du willst, zeige ich dir, wo das Spital ist. Ich habe wahrscheinlich wenig Zeit, bis die Kür stattgefunden hat, du weißt schon ...“ „Ich war heute schon mit Tai dort“, sagte sie. „Oh. Verstehe.“ Davis‘ Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Das Mondlicht im Freien wurde von unstetem Fackellicht im Inneren des Gebäudes abgelöst und ließ unheimliche Schatten tanzen. „Warum?“, fragte Sora, als sie die Treppen erklommen. „Ich hatte wenig Zeit, das hab ich doch schon ...“ „Warum fällst du Tai plötzlich in den Rücken? Was für eine Abmachung hast du mit diesem Ehernen Wolf getroffen? Ich dachte, du würdest es Tai gönnen.“ „Das stimmt ja auch“, räumte er ein. „Aber er ist ...“ Davis blieb stehen und atmete tief durch. „Vergiss es. Du wirst es nicht verstehen.“ „Es hört sich viel besser an, König zu sein, als es wirklich ist“, murmelte Sora. „Das solltest du bedenken.“ „Ja, das ist mir schon klar“, erwiderte er. „Es kommt eben darauf an, wer König wird. Wenn man den Falschen krönt, dann bringt das nichts als Leid.“ Sie hatte Davis zwar als offenen Menschen kennengelernt, dennoch war sie schockiert über seine Worte. Schockiert und traurig. Sie zupfte an den Ärmeln ihres Kleides und sah betreten zu Boden. Vor ihrem inneren Auge sah sie Bilder auftauchen, schreckliche Bilder von gefolterten, verstümmelten Digimon, von Tais Auge, dessen Verlust sie zu verantworten hatte. „Davis“, flüsterte Veemon ihm zu und knuffte ihn in die Seite. Davis zuckte zusammen und hob abwehrend die Hände. „Oh, das ... Das hab ich nicht so gemeint, ich ...“ „Ich weiß schon, wie du es gemeint hast“, murmelte sie leise und stieg weiter die Treppen hoch. „Gute Nacht, Davis.“     Er stand da, mitten auf der Treppe, und überlegte, ob er Sora hinterherrufen sollte. Ehe er dazu kam, ging unten knarzend wieder die Tür auf. Wizardmon kam die Stufen hochgeschwebt. „Davis“, sagte es. „Gut, dass ich dich treffe.“ „Was ist denn los?“ „Am Stadttor ist ein Aufruhr“, berichtete der Fürst. „Der Drachenritter schläft bereits, aber vielleicht würdest du mich dorthin begleiten.“ Davis nickte. Ablenkung konnte er jetzt gut gebrauchen. „Komm, Veemon.“ Die Straßen der Stadt waren sogar nachts nicht völlig ausgestorben. Der Platz lag zwar ruhig da, aber je weiter man zur Mauer kam, desto lauter, heller und lustiger wurde es. Man könnte meinen, die Digimon würden noch um ihren alten König trauern, aber offenbar begossen sie bereits den neuen, wer auch immer es werden würde. Nicht wenige prosteten Davis zu und wünschten ihm Glück für morgen. Die Sache hatte wohl die Runde gemacht. Das Licht vor dem gewaltigen Torbogen konnte nur von Meramon stammen. Es stand lodernd und strahlend vor den halb geöffneten Flügeln, um es herum flatternde Piximon-Wachen. „Ist mir egal, wo ihr herkommt“, knurrte es soeben. „Wenn ihr glaubt, ihr könnt mit so einer Truppe einfach so mitten in der Nacht in diesen Zeiten hier auftauchen, habt ihr euch geschnitten.“ „Was ist denn los?“, fragte Davis, als sie durch das Tor traten. Nun erst sah er die Gestalten, mit denen Meramon sprach und die die steinerne Straße säumten. Wie Schatten waren sie, in der Ferne kaum zu erkennen, aber es schien sich um etwas wie Divermon zu handeln, die wie übergroße Frösche auf dem Pflaster kauerten. Ganz vorne standen zwei Menschen und zwei andere Digimon, die wohl die Anführer der Truppe waren. Er blieb wie vom Donner gerührt stehen.   Fly with the wind to the gates of destiny (Fly together) Beware on your way when you walk through mysteries (They free my mind) You are the key who can save this century Screaming the name of our land together That we serve forever more (Celesty – Euphoric Dream) Kapitel 50: Die beiden aus dem Höllenschlund -------------------------------------------- Tag 128   Das Mädchen wandte den Kopf und bekam große Augen. „Davis!“, rief sie. „Und Wizardmon!“ Das Gatomon neben ihr machte erfreut einen Hüpfer auf sie zu, doch der Feuerball, der in Meramons Hand erschien, ließ es innehalten. „Die standen plötzlich vor dem Tor und wollen hereingelassen werden“, sagte Meramon. „Sind anscheinend mit einer Elephantmon-Herde aus dem Süden gekommen. Ihr wisst schon, eins von diesen freien Heeren, die nur auf Verpflegung hoffen und bei der ersten Schlacht desertieren. Ich hab sie wieder fortgejagt, aber die hier lassen sich einfach nicht einschüchtern.“ „Gut, dass wir endlich jemanden getroffen haben“, meinte der junge Mann erleichtert. „Sag ihnen, dass sie uns reinlassen sollen, Davis. Es gibt viel zu bereden.“ Aber Davis hatte nur Augen für das Mädchen. Er kannte sie. Er hatte sie in seinem Traum gesehen, damals, als MetallPhantomon ihn in der Blütenstadt heimgesucht hatte. Er wusste, dass sie es war. Jetzt stand sie in Fleisch und Blut vor ihm, ohne die Aura des Geheimnisvollen, die sie in seinen Gedanken besessen hatte. Wer war sie wohl? „Kennst du sie etwa?“, fragte Meramon. „Naja, ich ...“ Davis‘ Zunge fühlte sich schwer an. Sein Blick glitt über die Divermon. Waren sie Verbündete? Er glaubte nicht, dass sie ihnen Böses wollten. Die ganze Truppe sah äußerst müde und abgekämpft aus. „Woher kommt Ihr denn, und was führt Euch nach Santa Caria?“, fragte Wizardmon. Gatomon ließ plötzlich die Ohren hängen. „Es ist ein anderes Wizardmon“, stellte es fest. „Hört euch seine Stimme an.“ „Das Wizardmon, das wir kennen, ist damals in der Realen Welt gestorben“, sagte der blonde Junge mit dem hohlwangigen Gesicht. „Sogar Jahre danach hat es den Fernsehturm als Geist heimgesucht. Es ist unwahrscheinlich, dass wir ihm in der DigiWelt wieder begegnen.“ Er richtete den Blick wieder auf Davis. „Wir reden später, ja? Kari und die Digimon sind völlig erschöpft. Sag Meramon, dass es uns hereinlassen soll.“ „Ja, wartet ...“ Davis war immer noch perplex. Der Kerl tat, als wären sie beste Freunde, dabei hatte er ihn noch nie im Leben gesehen. „Zuerst beantwortet ihr Wizardmons Fragen. Wer seid ihr, und was wollt ihr hier?“ Das Mädchen riss die Augen auf, der Junge schien ebenfalls verblüfft, dann wurden seine Augen schmal. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze, Davis“, sagte er mit gefährlich leiser Stimme. „Ich mache keine Scherze! Wenn ihr in die Stadt wollt, stellt euch wenigstens vor“, platzte er heraus. Der Junge stöhnte. „Veemon, sag du es ihnen.“ „Ist schon gut, T.K.“, sagte das Mädchen, das die Fassung wiedergefunden hatte. An Wizardmon und Meramon gewandt sagte sie mit lauter Stimme. „Mein Name ist Kari, das sind Gatomon, T.K. und Patamon. Das hier“, sie deutete auf eines der Divermon, „ist mein Gemahl.“ Während dieser Worte sah sie Davis forschend in die Augen, als erwartete sie eine bestimmte Reaktion. Er runzelte nur die Stirn. Sie war also mit einem Digimon verheiratet? So etwas sollte angeblich vorkommen; Gerüchten zufolge hatte der verschiedene Shogun von Little Edo sein Mündel auch mit seinem Digimon-Daimyo verheiraten wollen. Das hatte letztendlich zur Vernichtung des Shogunats geführt, aber in Kriegen waren diplomatische Hochzeiten wohl notwendig. „Ich bin Davis“, sagte er, obwohl sie seinen Namen zu kennen schienen. Vermutlich hatten sie von der bevorstehenden Kür gehört. „Weißt du, wo die anderen sind?“, fragte T.K. „Welche anderen?“ „Wie lange willst du dich eigentlich noch blöd stellen?“, fragte der Blondschopf gereizt. „Bist du sauer, ist es das? Kari und ich wären gerne schon früher gekommen, aber wir saßen am Meer der Dunkelheit fest! Sie hat sich mit einem von den Schattenwesen verheiratet, damit wir euch zur Hilfe kommen können!“ „Meer der Dunkelheit?“, fragte Meramon. „Von so einem Ort hab ich noch nie gehört. Aber egal, wo das ist, ihr kriecht besser wieder dorthin zurück, sonst mach ich euch Feuer unter’m Hintern!“ „Was hältst du von ihnen?“, fragte Wizardmon Davis. Er überlegte noch. „Verdammt, Davis“, rief T.K, aber Kari legte ihm die Hand auf den Arm und schüttelte bezeichnend den Kopf. „Bitte, lasst ihr uns jetzt ein? Wir sind auf eurer Seite.“ „Ich denke, wir können ihnen vertrauen“, sagte Davis. Immerhin hatte Kari ihn einmal gerettet. Meramon grunzte enttäuscht. „Auf deine Verantwortung. Ihr habt ihn gehört, geht schon. Dein Gemahl darf mit, Mädchen, aber die anderen Divermon bleiben außerhalb der Stadt. So viele fremde Digimon sorgen für Unruhen, und sowas können wir hier nicht gebrauchen. Außerdem fühlen diese Weichtiere sich im Fluss sicher wohler.“ Kari nickte den Divermon zu, die gehorsam und ohne einen Laut von sich zu geben die Straße zurückwatschelten. Nur das größere, ihr Gemahl, wie sie sagte, blieb. Als sie auf das Tor zukamen, merkte Davis, dass es eine ungewöhnlich dunkle Farbe hatte. Das Tor wurde wieder zugezogen, und sie marschierten Richtung Stadtzentrum. Meramon wollte es Davis überlassen, die Fremden unterzubringen. Kari schloss zu ihm auf und flüsterte ihm zu: „Was ist los? Wirst du von den Digimon gefangen gehalten? Kannst du deshalb nicht frei sprechen?“ Sie waren seltsame Leute, alle beide. „Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte er wahrheitsgemäß. T.K. beugte sich von der anderen Seite zu ihm. „Gibt es hier irgendwo einen Ort, an dem wir ungestört reden können?“ Davis überlegte. Sollte er ihnen trauen? Seine Neugier siegte schließlich. „Wizardmon, Meramon, ich bringe die fünf in eine Kneipe.“ Wizardmon schien davon nicht erbaut. „Wir werden dir eine Leibwache mitgeben“, sagte es. „Du weißt, was auf dem Spiel steht. Die Kür ist noch nicht entschieden.“ „Veemon ist Leibwache genug“, sagte er bestimmt. „Wie du meinst.“     Davis hatte sie in eine feuchte, düstere Kellertaverne gebracht. Sie war proppenvoll; nicht unbedingt das, was Kari als ungestört bezeichnet hätte, aber niemand interessierte sich für sie und der Lärm schottete ihr Gespräch ab. Sie betrachtete den Inhalt der Krüge, den die Lilamon-Bedienung ihnen auf Davis‘ Bestellung hin gebracht hatte. Sie wusste, dass er nicht besonders regelaffin war, aber sie hatte ihn noch nie öffentlich Alkohol trinken sehen. Überhaupt war sein ganzes Erscheinungsbild ungewöhnlich: Sein Haar war ungewaschen und länger, als sie es in Erinnerung hatte, und Bartstoppeln säumten seine Wangen. Auch T.K. war eher skeptisch. Das Bier war stark, und auf nüchternen Magen würde es sie beide umhauen. Zum Glück würde in Kürze auch das Essen kommen. Bald würden sie ohnehin vor Hunger aus den Latschen kippen. „Würdet ihr uns dann freundlicherweise erklären, was hier los ist?“, fragte T.K. Davis und Veemon ungeduldig. „Was ist in der DigiWelt passiert?“ „Ich dachte, das wäre klar.“ Davis nahm einen großen Schluck. „Wir sind im Krieg.“ „Gegen den DigimonKaiser.“ „Genau.“ „Ist er denn so ein DigimonKaiser wie Ken damals?“, fragte Kari. „Was meinst du?“ „Na, ob er auch Schwarze Ringe und Teufelsspiralen benutzt.“ Sie ärgerte sich über seine Begriffsstutzigkeit. Natürlich hatten sie auf dem Weg hierher allerlei Erkundigungen angestellt, aber sie wollte lieber eine konsistente Geschichte aus dem Mund eines DigiRitters hören. „Schwarze Ringe und Schwarze Türme benutzt er.“ Davis überlegte. „Von Teufelsspiralen habe ich noch nie gehört.“ Kari nickte. Also war es, wie sie vermutet hatten. Wenn der neue DigimonKaiser noch keine Teufelsspiralen entwickelt hatte, war die Sache noch nicht ganz so schlimm. „Also kommen wir um die Armor-Digitation nicht herum.“ „Die funktioniert super.“ Davis strahlte übers ganze Gesicht, und Kari fragte sich, was ihn so stolz machte. „Wo sind denn Ken und die anderen?“, fragte T.K. „Wurdet ihr getrennt? Auch wenn es wieder Schwarze Türme in der DigiWelt gibt, wir könnten die Kraft von Imperialdramon gebrauchen.“ Davis runzelte die Stirn. „Wer sind jetzt Ken und Imperialdramon?“ Das Gefühl in Karis Magengegend wurde flauer, je länger sie an Davis‘ Antworten arbeiten mussten, und das lag nicht an ihrem Hunger. Schon das völlige Fehlen von Wiedersehensfreude in Davis‘ Augen hatte sie beunruhigt. Irgendetwas stimmte nicht ... T.K. wurde allmählich ungeduldig. „Wie lange willst du dich eigentlich noch blöd stellen? Es tut uns leid, dass wir erst so spät kommen, aber wir können nichts dafür. Geht das nicht in deinen Schädel? Als ihr alle verschwunden wart, sind nur Kari und ich übriggeblieben. Wir haben es gerade so geschafft, ein Tor zum Meer der Dunkelheit zu öffnen. Kannst du dir vorstellen, was wir alles durchgemacht haben, um hierher zu kommen? Kari hat sich sogar mit einem Schattenwesen verheiratet, damit wir euch helfen können!“ Klecks saß schweigsam am Ende des Tisches, schlürfte in langsamen Schlucken sein Bier und reagierte gar nicht auf T.K.s Worte. Davis schien sichtlich verwirrt, dann hellte sich sein Blick auf. „Kann es sein, dass ...“ Kari machte sich schon Hoffnungen, dass diese Tragikomödie nun vorbei war, als er sich verlegen am Kopf kratzte. „Nein – ihr wart nicht früher bei den Getreuen des Staubes, oder?“ Sie seufzte. „Also, wenn ihr uns helfen wollt, seid ihr herzlich willkommen“, sagte Veemon. „Eure Divermon können wir sicher gut im Kampf gegen den DigimonKaiser gebrauchten. Wahrscheinlich wird es aber noch dauern, bis wir wieder ins Feld zielen. Ehe wir einen neuen König haben, haben die Fürsten anderes zu tun.“ „Einen neuen König?“, fragte Kari. „Ja.“ Davis‘ Miene wurde düster. „König Leomon ist tot. Wir halten momentan eine Kür ab, um seinen Nachfolger zu bestimmen.“ „Leomon ist ...“ Kari verstummte und sah traurig auf die Tischplatte. Das Lilamon kam und brachte duftendes, nur leicht angebranntes Fleisch, aber sie wusste nicht, ob sie noch Appetit hatte. „Davis“, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme. Aus den Augenwinkeln sah Kari, wie T.K. sich stocksteif aufsetzte. „Hallo, Matt! Hätte ich mir ja denken können, dass ich euch hier wieder treffe.“ Davis hob grüßend seinen Krug. Matt ließ sich neben ihm auf die hölzerne Bank fallen. Es war eindeutig Matt. Seine blonde Mähne reichte ihm bis über die Schultern, und er trug altmodische, schwarze Kleidung und eine Silberkette um den Hals. Gabumon war nicht dabei. Er nickte T.K. und Kari zu. „Freunde von dir?“ „Matt.“ T.K. war aufgesprungen, als sein Bruder sich gesetzt hatte, aber nun schien ihm jedes Wort im Halse stecken zu bleiben. „So was Ähnliches“, meinte Davis. „Such dir deine Freunde lieber unter den Adeligen“, riet Matt. „Die Sitzung heute ist ganz gut verlaufen, aber wir dürfen nicht nachgeben.“ „Jaja, das weiß ich.“ „Matt“, wiederholte T.K, damit er ihn ansah. „Kannst du uns verraten, was hier gespielt wird? Wo sind die anderen?“ Matt sah seinen Bruder mit einem kühlen Blick fragend an. „Kennen wir uns?“ Kari spürte förmlich, wie T.K. den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte. Er wankte sichtbar, fing sich dann aber ab, indem er die Hände auf die Tischplatte knallte. Sein Unverständnis wich Zorn. „Verdammt, was ist los mit euch? Wollt ihr mir alle weismachen, dass ihr uns vergessen habt? Wie oft soll ich es noch sagen – wir wollten euch ja zur Hilfe kommen! Es ist nicht unsere Schuld, dass Leomon gestorben ist! Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was Kari alles durchmachen musste?“ „T.K.“, murmelte Kari. „Ist schon gut.“ „Nichts ist gut! Du wärst fast gestorben! Hast du gehört, Davis? Kari hätte beinahe ihr Leben gelassen, weil sie immer wieder davon geträumt hat, was in der DigiWelt geschehen ist! Sie hat gesehen, dass wir versagt haben! Wenn wir nicht zusammenhalten, wird genau das passieren! Sogar Tais Tod hat sie im Traum gesehen.“ Davis zuckte zusammen. Sein Mund blieb offen stehen. „Sein... Seinen Tod?“ „T.K, es reicht!“, zischte Kari. In ihrem Traum war Davis es gewesen, der Tais Herz durchbohrt hatte. Vielleicht würde es T.K. herausrutschen, und sie wollte ihren Freund nicht damit belasten. „Es gibt immer Drohungen gegen die Königskandidaten“, sagte Matt trocken. „Die meisten sind leer und als solche zu erkennen. Wie sollen wir das verstehen, sie hat davon geträumt?“ „Die DigiWelt hat Kari in ihren Träumen Visionen gezeigt“, erwiderte T.K. ungeduldig. „Dann kann sie also hellsehen?“ „Ich kann nicht hellsehen“, murmelte Kari. „T.K, setz dich wieder hin. Wir müssen jetzt vor allem ruhig bleiben.“ „Ich kann nicht ruhig bleiben, solange mir nicht jemand erklärt, was hier abgeht! Wo sind die anderen? Steckt Deemon hinter der neuen Bedrohung? Wann zum Teufel hört ihr auf, die Dummen zu spielen?“ Er funkelte Matt böse an. „Von meinem Bruder hätte ich ein wenig mehr erwartet.“ Matt begegnete seinem Blick ruhig. „Ich habe keinen Bruder“, sagte er. Es musste wie ein Schlag in die Magengrube sein. T.K. holte tief Luft, aber ihm fiel keine Erwiderung ein. „Das war nicht nett“, sagte Kari. Langsam wurde auch sie zornig. „Es ist die Wahrheit.“ Matt zuckte mit den Schultern. „Mir ist auch aufgefallen, dass wir uns ähnlich sehen, aber ich kenne den Jungen nicht.“ „Das kann doch nicht ... Ich glaub das einfach nicht“, murmelte T.K. Er war erbleicht. „Jetzt setz dich doch erst mal und hau ordentlich rein“, versuchte Davis ihn zu beschwichtigen. „Das Fleisch hier ist köstlich. Naja, zumindest schmeckt es besser, als es aussieht. Schlafen wir eine Nacht drüber, dann wird sich alles einrenken.“ T.K. starrte Davis an, als würde er allen Zorn, der sich am Meer der Dunkelheit in ihm aufgestaut hatte, nun an ihm auslassen wollen. T.K. hatte die Dunkelheit immer gehasst. Sie war der eine Grund gewesen, aus dem er die Beherrschung hatte verlieren können. Nun so lange in Dunkelheit eingesperrt gewesen zu sein, hatte diese Empfindung zugespitzt wie mahlende Wellen einen Felsen im Meer. Doch er beherrschte sich. Nach zähen, angespannten Minuten atmete er tief durch und senkte den Blick. „Ich erwarte eine Entschuldigung.“ Matt wartete mit unbewegter Miene, bis er fortfuhr, Davis schien verwirrt. „Wir haben uns jetzt oft genug entschuldigt“, sagte T.K. Seine Stimme knirschte wie rollende Felsblöcke. „Jetzt seid ihr dran. Kari hat den Schattenwesen alles versprochen, ihren Körper und ihre Seele, nur damit sie zu euch kommen und euch helfen kann. Ich weiß, wir haben es euch nie erzählt, aber sie wollen sie benutzen, um Nachkommen zu zeugen. Versteht ihr, verdammt noch mal?“ Kari schluckte und sah beschämt auf ihr Essen, das langsam auskühlte. Am Ende des Tisches aß Klecks, langsam, aber ungerührt. „Ihr habt keine Ahnung. Ihr habt ja keine Ahnung, wie es am Meer der Dunkelheit war.“ T.K.s Stimme wurde allmählich lauter. „Ihr hattet hier Krieg und habt gekämpft? Schön. Wir haben alle schon mal gekämpft. Aber wisst ihr, wie uns die ganze Zeit zumute war? Wir hatten nur Karis Träume, wir wussten nicht, wie es euch geht – wie es unseren Familien geht oder der DigiWelt. Und dann kommen wir hier an, endlich, nach all den Strapazen, halb verhungert und verzweifelt, und ihr spielt uns so ein Theater vor? Das ist nicht gerecht!“ Tränen klatschten auf die Tischplatte. Kari sah ihn bestürzt an. Sie hatte gewusst, dass er nur wütend war, weil er sich beständig Sorgen um sie gemacht hatte. Das ganze Ausmaß seiner Wut und seiner Sorgen erkannte sie jedoch erst jetzt. Es war für ihn zum Alltag geworden, für sie zu leiden. „T.K. ...“ Patamon machte Anstalten, zu ihm hochzufliegen, tat es dann jedoch nicht. „Ihr sucht also einen neuen König?“ Glitzernde Linien zogen sich über T.K.s Wangen, aber sie sah ihn lächeln. „Kari ist eine Königin geworden. Die Königin über die abscheulichsten Kreaturen, die es je gab. Reicht das, um euch zu beeindrucken? Wir sind in den Höllenschlund marschiert, haben mitten in ewiger Dunkelheit ein trostloses Dasein gefristet, und die ganze Zeit über war sie das Licht, das uns auf Kurs gehalten hat. Sie hat nie ein schlechtes Wort über diese schleimigen Untiere verloren, die sie nur für ihren Nachwuchs wollen. Verdammt, wenn sich irgendjemand Königin nennen kann, dann sie! Was habt ihr in der Zwischenzeit getan? Euch getrennt? Bier getrunken?“ „Wir haben gekämpft“, sagte Matt sachlich. „Politische Hochzeiten sind in diesen Zeiten etwas ganz Normales.“ Er wollte noch etwas anfügen, aber Davis fiel ihm ins Wort. „Wenn sie eine Königin ist, kann sie als Gastkönigin auftreten. Wenn wir es geschickt einfädeln, wird der Rat ihr eine Stimme gewähren, dann kann sie uns helfen!“ „Hast du überhaupt zugehört, was ich gesagt habe?“, fuhr T.K. ihn an. „Ich bin ja nicht taub!“ Davis‘ Stimme war ebenfalls laut geworden. „Ich versuche nur, logisch zu denken! Matt hat schließlich recht mit dem, was er sagt! Ich finde es ja auch tragisch, wenn man jemanden heiratet, den man nicht liebt, aber ...“ „Du findest es tragisch?“, höhnte T.K. „Was ist los, hat der arme Davis die Abfuhr von damals noch nicht überwunden? Gönnst du Kari ihr Unglück etwa?“ „Hört schon auf“, murmelte Kari. Der Bratenduft stieg ihr immer noch in die Nase, doch mittlerweile war ihr nur noch schlecht. „Wovon redest du überhaupt?“ Davis sprang nun ebenfalls auf. „Spielst du immer noch auf blöd? Soll ich dir etwa erst ein bisschen Verstand in deinen dicken Schädel prügeln?“ T.K. ballte die Fäuste. Auch Davis hob kampfeslustig die Arme. „Das ist ja interessant. Glaubst du, ich hätte Angst? Schlag doch zu, wenn du kannst!“ „Kannst du ha...“ T.K. holte bereits aus, aber plötzlich schnellte Matt in die Höhe und stieß seinem Bruder kräftig die Hände vor die Brust, sodass er rücklings über die Sitzbank stürzte und dabei krachend zwei benachbarte Stühle umriss. „T.K! Matt!“, rief Kari entsetzt und starrte den Älteren an. „Was soll das?“ Matts Mienenspiel war immer noch kühl. Keine Spur der Wärme, die er immer für seinen Bruder empfunden hatte. „Damit wir uns richtig verstehen“, sagte er laut und deutlich. „Es kümmert mich nicht, wer ihr seid und woher ihr kommt. Von mir aus kannst du dich mit Davis prügeln, soviel du willst – aber erst, nachdem die Kür zuende ist. Wir können es uns nicht leisten, dass er seinen guten Ruf aufs Spiel setzt, weil er sich zu einer hirnlosen Schlägerei hinreißen lässt.“ Bei den letzten Worten maß er Davis mit einem strafenden Blick, der schuldbewusst die Arme senkte. T.K. blieb auf dem Boden liegen. Völlig überrumpelt blickte er zu seinem älteren Bruder hoch, der ihn einfach fortgestoßen hatte, als wäre er ein lästiger Störenfried, der ihm im Weg war. Patamon flog zu ihm. „Tut es weh? T.K, sag doch was“, flehte es hilflos. Erst jetzt wurde Kari bewusst, dass die ganze Taverne sie beobachtete. Ihr wurde zusehends unwohler zumute. Nur Klecks konzentrierte sich ausschließlich auf sein Essen. Unbehaglich wagte es Kari nicht, sich zu rühren. Am liebsten wäre sie zu T.K. gelaufen und hätte ihm auf die Beine geholfen, doch sie fühlte sich plötzlich wieder wie in einem Traum. Die Albtraumvisionen am Meer der Dunkelheit waren realistischer gewesen als diese Scharade hier. Nach einer schieren Ewigkeit kam T.K. wieder auf die Beine. Er spuckte Blut aus – offenbar hatte er sich bei dem Sturz auf die Zunge gebissen. „Du sagst also, du hast keinen Bruder“, sagte er zu Matt. „Wie du meinst. Für mich bist du gestorben.“ Er packte Kari am Arm und zog sie in die Höhe. Ohne ein Wort zerrte er sie aus der Taverne. Klecks erhob sich und folgte ihnen, stumm wie ein Fisch. Kari blickte zu Davis, Matt und Veemon zurück. Sie ließen sie schweigend ziehen, folgten ihnen aber mit Blicken. Keiner von ihnen hatte sein Essen auch nur angerührt.     „Sie haben den Verstand verloren. Alle beide“, sagte T.K. „Ich glaube, da steckt mehr dahinter“, murmelte Kari. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns etwas vorspielen. Irgendetwas stimmt nicht.“ T.K. wünschte, er könnte ihr glauben. Immer noch zog er sie hinter sich her durch die Gassen der Stadt, die sie vor Ewigkeiten einmal vom damaligen DigimonKaiser befreit hatten. Sie wusste genauso gut wie er, dass er kein Ziel hatte. Es hatte zu nieseln begonnen – den ganzen Tag über war es sengend heiß gewesen, in der Wüste wie höher im Norden, und nun regnete es wie in einem kitschigen Film. Die warmen Pflastersteine sonderten angenehmen, feuchten Geruch ab. Das und die kühlen Spritzer, die T.K.s Stirn trafen, halfen ihm, seine Gedanken zu ordnen. Je länger sie durch die Straßen irrten, desto mehr verstand er Karis Standpunkt, desto mehr begann er zu hoffen, dass sich Matt und Davis tatsächlich nicht erinnerten. Hoffnung war schließlich sein Wappen ... Wie oft hatte er in letzter Zeit diesen Gedanken gehegt? So oft, dass er sich abgenutzt hatte. Irgendwo, in einer verwaisten Gasse, blieben sie stehen. Hinter einem weit entfernten Fenster brannte eine Kerze, ansonsten war alles dunkel und ruhig. Tropfen sammelten sich an Dachkanten und fielen auf sie herab. Der Regenduft hatte etwas Beruhigendes an sich. Der schweigsame Klecks blieb in einigem Abstand zu ihnen stehen, als wüsste er, dass sie lieber unter sich waren. T.K. atmete tief durch. Er musste stark sein. Was immer ihn schockierte, Kari traf es schlimmer. Sein Bruder hatte ihn nicht erkannt – sie hatte vom Tod ihres Bruders geträumt. Und sie hatte wesentlich mehr geopfert. Sie würde mehr opfern. Schaudernd dachte er an die Reise hierher zurück. Sie hatten dem See einige Fische für ein Mittagsmahl abgerungen, und die Divermon waren wieder zu Kräften gekommen. „Wir haben den Wunsch unserer Königin erfüllt“, hatte eines die Dreistigkeit gehabt zu behaupten. Seine Stimme war nicht angenehmer, nun, da es ein Digimon war. „Wann erfüllt sie den unseren?“ T.K. hatte es unwirsch daran erinnert, dass die Abmachung lautete, dass die Schattenwesen für Kari kämpfen würden. Die schwarzen Digimon waren geduldig, aber ab und zu fragten sie nach. Als sollte Kari auf keinen Fall vergessen, was sie ihnen versprochen hatte. Und davor graute T.K. mit jedem Tag mehr. Nun galten seine Sorgen nicht mehr der Frage, wie sie von dem dunklen Meer fliehen sollten, er konnte sich jetzt auch wieder um die Zukunft sorgen, nun, da sie eine hatten. Was für eine Ironie. War es falsch zu hoffen, dass die Divermon in den kommenden Kämpfen alle starben? Er wusste nicht, wen er im Moment mehr hasste: Klecks, Deemon, das Schicksal, Matt, weil er ihm als Bruder gekündigt hatte, oder Kari für ihre aberwitzige Entscheidung. Er zuckte zusammen, als sie seine Wange berührte. „Woran auch immer du gerade denkst, hör auf damit.“ T.K. sah ihr in die Augen. Sie war es, die stark war. Fast hätte er gelacht. Er wollte für sie beide den starken Mann spielen, und was tat er? Er verlor die Beherrschung, dann begann er zu heulen und schließlich lief er davon wie ein kleines Kind. Kari war wesentlich gefasster. Wer von ihnen war nun wirklich am Ende? „Du musst es nicht tun.“ Ihre Stimme war leise im stärker werdenden Regen. „Was?“ „Für mich leiden. Ich bin okay, wirklich.“ „Du bist damit zufrieden, das da ...“ Er deutete auf Klecks, sprach aber nicht weiter. Er würde es nie aussprechen können. Kari antwortete nicht. Sie hob den Kopf und sah in den Schauer aus winzigen Tröpfchen, die sie verhöhnten. Dann lächelte sie plötzlich. „Wie oft haben wir uns in letzter Zeit gestritten? Wir waren harmonischer, als wir noch ein Paar waren. Und immer ging es um mich. Ist das nicht seltsam?“ T.K. schnaubte. „Andere Zeiten, andere Sitten“, meinte er halbherzig. „Oder haben wir uns verändert?“ „Schon möglich.“ Wahrscheinlich. Hoffentlich nicht. „Sicher nicht so sehr wie Matt und Davis. Das verzeihe ich denen nie!“ „Hör schon auf“, meinte sie genervt. „Du hast dich auf jeden Fall verändert. Früher warst du nicht so halsstarrig.“ „Und du nicht so dumm.“ Er musterte Klecks mit finsterem Blick und ergriff wieder ihr Handgelenk. „Komm, wir laufen davon. Er kann uns mit seinen Divermon-Füßen nicht einholen. Die anderen sind vor den Toren; wir verstecken uns und hauen aus der Stadt ab, sobald es geht.“ Kari seufzte. „Wir brauchen sie.“ „Nein, brauchen wir nicht. Sie haben uns auch nicht geholfen, vom Meer fortzukommen. Wir brauchen unsere Freunde. Imperialdramon, MetallGarurumon und WarGreymon.“ „Ich habe geträumt, dass ...“ „Dass wir mit einem kleinen Heer in die DigiWelt kommen. Ich weiß. Und? Deine Träume zwingen dich zu nichts.“ „Du verstehst das nicht.“ Sie sprach mit ihm wie mit einem störrischen Kind. Es machte ihn rasend. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er packte sie im Gegenzug fester. „Stimmt. Ich verstehe dich nicht.“ Wieder der Zorn. Warum war er in letzter Zeit nur immer wieder so wütend? „Ich werde nie kapieren, was in deinem Kopf vorgeht. Es gab eine Zeit, da habe ich geglaubt, ich wüsste es.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das beweist wohl nur, dass wir wirklich nicht füreinander gemacht sind.“ „Sieht so aus.“ „Also gut. Wir schlagen uns noch durch dieses Abenteuer, dann gehen wir unserer Wege und hoffen, dass die DigiWelt dann nie wieder unsere Hilfe braucht.“ Warum war ihm nur schon wieder zum Heulen zumute? „Ich werde in die Reale Welt zurückkehren, du zum Meer der Dunkelheit. Tolle Aussichten.“ Sie wich seinem Blick aus. „Das ist nicht gerecht.“ „Aber ist es nicht das, was du willst?“, höhnte er. Jedes Wort, das sie verletzte, stach ihm selbst in die Brust. „Den Rest deiner Tage an einem Ort verbringen, der dich fast umgebracht hätte? Mit Klecks schlafen und irgendwelche missgebildeten Gestalten zur Welt bringen? Ich frage mich, wie viele Geburten du überlebst. So ein Schattenwesen muss reines Gift sein.“ „Halt den Mund!“, zischte sie ihn an und wollte ihm eine Ohrfeige verpasst, doch er fing ihre Hand ab und hielt auch sie fest. Ihre Wangen waren gerötet. „Es muss ja nicht sein, dass ...“ „Oh doch.“ Er sah ihr tief in die Augen. Ihre Pupillen waren geweitet wegen der Dunkelheit. Sie kamen ihm wie schwarze, leblose Flecken vor. „Weil du zu freundlich bist. Weil du dein verfluchtes Versprechen halten willst! Haben wir uns damals nicht auch das Blaue vom Himmel versprochen? Ihnen hast du nur Schatten versprochen, aber das ist dir wichtiger.“ „Wie lange willst du mir noch Vorwürfe machen?“, schrie sie aufgebracht. Er dachte schon, sie würde gar keine Emotionen mehr zeigen. Tot wie ein Schatten, innen und außen. „Was bleibst du überhaupt bei mir, wenn du mit mir nicht klarkommst? Was geht es dich an, was ich für die DigiWelt zu opfern bereit bin? Wenn du es nicht aushältst, bei mir zu sein, dann verzieh dich doch! Hau ab und versuch die DigiWelt auf deine Weise zu retten! Ich habe meinen Weg gewählt, weil es der einzige ist, den ich gehen kann!“ „Ich habe eine bessere Idee“, sagte er kehlig. „Vielleicht sollte ich dir einen Gefallen tun und Klecks und die Divermon irgendwie aus dem Weg schaffen, damit du nicht in deinen Untergang rennst!“ Ein weiterer Stachel, brutaler und glühender als die bisherigen. Kari wollte aufbrausen, aber in dem Moment beugte er sich vor und presste seine Lippen auf ihren Mund, drückte sie gegen die steinerne Hauswand hinter ihr, ganz kurz, dann ließ er sie los. Sie stieß ihn von sich. In ihren Augen brannten Wut und Verwirrung. T.K. gab ihr keine Gelegenheit ihn anzuschreien, zu schlagen oder sonstwie zu reagieren. Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon, durch den Regenschleier, ohne Ziel. Die Kerze hinter der fernen Fensterscheibe ging aus.   I’m staring at the stars as they shine inside my room How they dance on my floor, like we did long ago Flowing around, free from all, dancing together Like we did before (Celesty – Empty Room) Kapitel 51: üDer Würfel fällt ----------------------------- Tag 128   Sie stellte fest, dass es gar nicht so schlimm war, allein zu sein. Immerhin hatte sie noch Gatomon, und T.K.s Schmerz, den er so offensichtlich wegen ihr empfand, war schwer auszuhalten gewesen. Und Klecks war ein angenehmer Begleiter auf den nächtlichen Straßen; sie spürte seine Anwesenheit kaum. Er hatte alles mitangesehen und –gehört; was T.K. über die Divermon gesagt hatte, was er ihr vorgeschlagen hatte, und dass er sie geküsst hatte. Mit keinem Wort hatte sich das Divermon beschwert. Nur von Karis Seite weichen wollte es nicht mehr, also ließ sie es hinter sich her trotten. Es musste nach Mitternacht sein. Der Regen hatte aufgehört, eine warme Brise war dabei, Karis Klamotten zu trocknen. Mittlerweile kannte sie die Stadt auswendig. Vermutlich war sie jede Gasse und jede Treppe abgekommen, mit Ausnahme der großen, die auf den Berg hinter der Stadt führt. T.K. hatte sie nicht wieder gesehen. Um ihrer Sache willen verfluchte sie seine Gereiztheit. Digitamamon hatte davon gesprochen, dass Tai ein Kandidat für den Königsthron war. Die bevorstehende Kür in Santa Caria war in aller Munde gewesen. Matt und Davis hatten ebenfalls davon geredet, aber Kari war nicht dazu gekommen, nachzufragen. War Tai überhaupt in der Stadt? Sie blieb vor dem größten Gebäude am Hauptplatz stehen. Es musste wichtig sein, vermutlich war es sogar das Rathaus. Die oberen Etagen zählten auffallend viele Fenster. Irgendetwas zog ihren Blick magisch dorthin. Würde sie dort drin wohl Antworten auf ihre Fragen finden? Sie wusste, dass sie hier nur zu Gast war. Aber Gäste konnten zu wenig bewegen. „Klecks, ich brauche deine Hilfe“, sagte sie. Eine Digitation wäre zu auffällig in der Nacht. Sie überließ es ihrem Gemahl, seine Harpune mit aller Kraft in die Höhe zu schleudern, sodass sie sich knapp über einem Fenster im dritten Stockwerk ins Mauerwerk bohrte. Von seiner Kraft her unterschied Klecks sich nicht von einem gewöhnlichen Divermon. Kari erklärte Gatomon, was sie vorhatte, und ihr Digimonpartner bot an, die Vorhut zu bilden. Mit dem langen Schwanz die Balance haltend, kletterte es geschmeidig das Seil hinauf, das die Harpune mit Klecks‘ Hand verband, und verschwand in der dunklen Fensteröffnung. Kari beobachtete unruhig die Umgebung. Was, wenn man sie dabei erwischte, wie sie ins Rathaus einbrechen wollte? Sie war sich nicht sicher, ob sie in der Stadt jemanden hatte, der sich als ihren Freund sah, T.K. vielleicht ausgenommen. Sie vertrieb sich die Zeit damit, über den Kuss nachzudenken. Er war grob, unerwartet und impulsiv gewesen, aber hatte er gerade deshalb etwas zu bedeuten? Gatomons Kopf erschien im Fenster. Behutsam, aber flink kletterte es wieder herunter. „Das Fenster führt in ein Stiegenhaus“, berichtete es. „Dort sind viele Türen. Mehrere Zimmer, fast wie in einem Hotel. Aus dem Erdgeschoss habe ich etwas gehört.“ „Dann bleiben wir so weit oben wie möglich.“ Kari sah zu Klecks zurück. „Ich werde hinaufklettern. Würdest du hier die Stellung halten und mich und Gatomon wieder herauslassen, wenn wir fertig sind? Ich laufe nicht weg, vertrau mir.“ Klecks fragte nicht nach, was sie dort drin zu finden hoffte, und sie war dankbar dafür. Das Divermon nickte nur, packte das Seil mit beiden Händen und spannte es möglichst hoch, um ihr den Aufstieg zu erleichtern. Dennoch hätte Kari ihn fast nicht bewältigt. Sie war immer noch viel zu erschöpft für sportliche Höchstleistungen, und im Seilklettern war sie immer nur dann gut gewesen, wenn sie in der DigiWelt und in Gefahr gewesen war. Als sie sich drei Stockwerke höher durch die gähnende Fensteröffnung zog, lief ihr der Schweiß in Strömen über ihr Gesicht, ihre Kleidung klebte an ihrem Körper und ihr war speiübel. Ein paar Minuten saß sie nur da und keuchte, dann gab sie Klecks draußen ein Zeichen. Mit einem Ruck riss er die Harpune aus der Steinmauer und fing sie lautlos wieder auf. „Einbruch geglückt“, flüsterte Kari Gatomon zu. Ihr Digimonpartner erwiderte nichts, zuckte nur mit den Ohren. „Die Geräusche von unten sind verstummt.“ „Wollen wir hoffen, dass das so bleibt.“ Auf Zehenspitzen und leisen Pfoten schlichen sie die Treppe hinauf. Kari hoffte, irgendetwas zur aktuellen Lage in der DigiWelt zu finden, Aufzeichnungen über den Krieg vielleicht, oder einen Hinweis auf Tais Aufenthaltsort. Aber ob sie hier in diesen Hotel-Etagen auf etwas Brauchbares stoßen würden? Die Treppe wand sich um das ganze Gebäude herum. Ein Stockwerk höher, knapp unter dem flachen Dach, zuckte sie zurück, als sie um die Ecke biegen wollte. Am Ende des Flurs, vor einem einzelnen, breiten Fenster, das nach Osten wies, stand jemand und sah nach draußen. Karis Augen hatten sich an die Düsternis in dem alten Gemäuer gewöhnt, trotzdem erkannte sie das feuerrote Haar erst auf den zweiten Blick, als die Gestalt sich, von ihren Schritten aufgeschreckt, umdrehte. Kari wusste, dass Sora in den letzten Jahren immer weiblicher geworden war. Dennoch schien dieses bodenlange, edle grauschwarze Kleid nicht zu ihr zu passen. Es war zerschlissen und schmutzig, und dazu trug sie abgewetzte Stiefel, die noch weniger passten. Erschrocken musterte Sora sie, und Kari rettete sich in ein Lächeln. „Ich wollte dich nicht stören“, flüsterte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sora musterte sie eingehend. Wie Kari befürchtet hatte: Kein Funken von Erkennen glitzerte in ihren Augen, die ungewöhnlich grau und schwermütig wirkten. „Schon in Ordnung“, murmelte ihre Freundin. „Wohnst du auch hier?“ Es wohnten also tatsächlich Leute im Rathaus, und Sora war eine von ihnen. „Hast du mich noch nie vorher gesehen?“ Sora schüttelte den Kopf. „Ich bin erst seit gestern hier. Mein Name ist Sora.“ „Kari.“ Sie trat an Soras Seite und blickte an ihr vorbei aus dem Fenster. „Wonach hältst du Ausschau?“ „Nach nichts Bestimmtem“, murmelte Sora. „Nach dem Morgengrauen.“ „Morgengrauen?“ Kari runzelte die Stirn. „Es ist noch mitten in der Nacht.“ „In ein paar Stunden wird es hell.“ „Willst du denn nicht lieber schlafen gehen?“ Kari beschloss, einfach mitzuspielen. Sie glaubte nicht, dass Sora es böse meinte. Ihre Freundin hatte tatsächlich vergessen, wer sie war, genauso wie Davis und Matt, Digitamamon und womöglich alle anderen. Sora erschauerte. „Lieber nicht.“ Warum, sagte sie nicht. Eine Weile stand Kari nur neben ihr. Gatomon hockte sich auf den Fenstersims und sah ebenfalls nach draußen. Kühle Luft wehte Kari ins Gesicht. Sie streckte die Hand aus und strich durch das Fell ihres Digimons. „Hast du keinen Digimonpartner?“, fragte sie, um wieder etwas aus Sora herauszubekommen. „Doch.“ Nun lächelte sie leicht. „Piyomon. Es ist krank, aber morgen kann ich es abholen.“ „Verstehe.“ Kari räusperte sich. „Möchtest du ein wenig Gesellschaft? Ich will heute Nacht auch nicht schlafen. Wir könnten in dein Zimmer gehen, hier ist es kalt.“ Eigentlich war sie todmüde. Sora brauchte so lange mit ihrer Antwort, dass Kari schon glaubte, sie hätte sie nicht gehört, und die Antwort bestand nur aus einem Nicken. Mit rauschenden Röcken wandte Sora sich um und führte Kari und Gatomon zu einer Tür eine Etage tiefer. Sie schloss auf und schob die rohen Holzbalken auf, zögerte dann aber, als wüsste sie nicht, ob sie Kari vertrauen konnte. Diese schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte Sora plötzlich. Ich weiß es, aber weißt du es selbst? „Gute Frage. Ein wenig kommst du mir bekannt vor.“ Sora nickte. „Du mir auch ... Ich kenne dich nicht, aber vielleicht habe ich jemanden wie dich schon einmal in einem Traum gesehen.“ „Das ist gut möglich“, meinte Kari ernst. Sora führte sie in eine kleine Kammer, die jedoch schick eingerichtet war. Ein weiches Bett, ein Schrank aus kostbarem Holz, ein Tisch und ein Stuhl, beides reich verziert. Sora bot Kari Letzteres an und ließ sich selbst auf dem Bett nieder. „Würdest du mir etwas von dir erzählen? Aus deiner Vergangenheit?“, fragte Kari. Sora wich ihrem Blick aus. „Da gibt es nicht viel Erzählenswertes“, murmelte sie, so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Kari fragte sich, warum sie so verschüchtert war. „Erzähl doch du von dir. Woher stammst du?“ Kari atmete tief durch. „Von einem fernen, finsteren Ort“, sagte sie ausweichend. „Man nennt ihn das Meer der Dunkelheit.“ Sora ließ den Kopf hängen. „Ich glaube, dort war ich auch.“ War so etwas möglich? Nein – Sora wusste nicht, was sie sagte. „Ich habe dich dort aber nicht gesehen.“ Karis Freundin schnaubte belustigt. „Nein, ich meinte, ich war auch lange an einem sehr dunklen Ort. Meer der Dunkelheit fand ich einen guten Vergleich.“ „Und woher kommst du nun wirklich? Wenn du die Nacht hinter dich bringen willst, ohne zu schlafen, sollten wir reden.“ Sora ließ sich Zeit. „Ich bin in Masla aufgewachsen.“ „Masla?“ „Eine Sklavenstadt, weit im Süden. Das heißt – ich bin nicht sicher, ob es jetzt noch eine Sklavenstadt ist. Piyomon und ich sind von dort fortgegangen. Eine Zeitlang haben wir ... in den Nadelbergen gewohnt, bis uns ein Ritter des DigimonKaisers gefangen hat. Er hat uns und Sir Taichi wieder nach Süden bringen wollen.“ „Sir Taichi?“ „Der Einhornkönig hat uns aber befreit.“ „Wer ist der Einhornkönig?“ Sora zuckte mit den Schultern. „Na, der König aus der Wüste, mit dem Unimon auf seinem Wappen. Takashi ... Ich glaube, so hieß er.“ Der Name kam Kari vage bekannt vor. Sie musste ein wenig in ihren Erinnerungen suchen, um ihn auszugraben. „Takashi? Hatte er wirres, braunes Haar?“ „Ja.“ Zufall? Oder ist das eins der Kinder, denen Oikawa die Saat der Finsternis eingepflanzt hat? „Und er ist ein König?“ Sora seufzte schwer und knetete die Hände. „Es braucht nicht viel in dieser Welt, um ein König zu sein“, meinte sie bedrückt. „Weiter im Text. Was ist dann passiert?“ „Der Einhornkönig hat sich mit dem Nördlichen Königreich gegen den DigimonKaiser verbündet, deswegen hat er Sir Taichi und mich hierher nach Santa Caria bringen lassen.“ „Und wie lange ist das her? Wann seid ihr aus Masla fortgegangen?“ Sora überlegte. „Ich weiß nicht genau. Sicherlich mehrere Monate.“ „Und davor? Wo wart ihr, bevor ihr nach Masla gekommen seid?“ Wollte sie Kari weismachen, dass sie keine Erinnerungen mehr an die Reale Welt hatte? Sora wirkte verwirrt. „Was meinst du? Wir sind in Masla geboren und aufgewachsen.“ „Das heiß, ihr wart etwa zwanzig Jahre dort?“ Sora zuckte mit den Schultern. „Was willst du mit der Fragerei eigentlich bezwecken? Glaubst du mir nicht?“ „Sekunde noch. Was ist mit deinen Eltern? Erinnerst du dich an deine Eltern?“ Sora wurde das Verhör sichtlich unangenehm. „Sklaven haben keine Eltern“, sagte sie schließlich. „Du warst eine Sklavin?“ Kari war entsetzt. „Das ist normal, wenn man eine Waise ist.“ Du bist keine Waise, wollte Kari schon sagen. Das ergab doch keinen Sinn! Sora glaubte, ihr ganzes Leben in der DigiWelt verbracht zu haben? Kari stand auf und tigerte im Raum hin und her. „Sag mal, weißt du, was DigiRitter sind?“ „Nein.“ „Erinnerst du dich an die Meister der Dunkelheit?“ Sora lächelte bitter. „Ich glaube, ich war selbst eine Meisterin der Dunkelheit.“ Kari lief es kalt den Rücken hinunter. „Ich möchte dich gerne noch etwas zu ein paar Namen fragen. Namen von Menschen, die in der DigiWelt sind.“ „Warum sollte ich diese Menschen kennen?“, fragte Sora. „Es gibt doch nur wenige Menschen in der DigiWelt. Nach meinen Erfahrungen kennen sich die meisten gegenseitig.“ „Ich nicht“, murmelte sie. „Lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Tai kennst du. Was ist mit Yamato Ishida?“ „Yamato Ishida ...“ Sora überlegte. „Noch nie gehört.“ „Er ist auch in der Stadt. Manche nennen ihn auch Matt.“ Nun wurde Sora hellhörig. „Matt. Der Eherne Wolf.“ „Der Eherne Wolf?“ Sie nickte. „Ich weiß nicht viel über ihn, aber er ist heute Morgen in die Ratssitzung geplatzt. Er hat ein Sonderstimmrecht bekommen, weil er der rechtmäßige Shogun von Little Edo ist.“ „Matt ist was?“ „Jetzt will er Davis zum neuen König machen. Die beiden sind Tai und mir in den Rücken gefallen“, berichtete Sora düster. Das ist ja interessant. Kari hatte nach wie vor keine Ahnung, was in der DigiWelt geschehen war, aber ihre Freunde hatten offenbar jeder eine eigene Rolle, die sie erst aufdröseln musste. „Was ist mit Izzy? Koshiro Izumi?“ „Nie gehört“, meinte Sora kleinlaut. „Mimi Tachikawa?“ Sie presste nachdenklich die Lippen aufeinander „Tachikawa sagt mir nichts, aber eine Mimi hat Tai mal erwähnt. Sie war die Prinzessin von Little Edo, glaube ich.“ „War?“ Karis Herz machte einen erschrockenen Sprung. „Der DigimonKaiser hat Little Edo überrollt, als gerade ihre Hochzeit mit Matt stattfand.“ „Matt hat Mimi geheiratet?“, ächzte Kari. Sie hatte das Gefühl, der Raum drehte sich um sie. Sie torkelte zum Fenster, um frische Luft zu bekommen. Es half nichts. Es waren ihre Gedanken, die rotierten. „Was ist mit Joe?“, fragte Gatomon. Sora schüttelte den Kopf. „Ken?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Davis kennst du ja. Was weißt du über ihn?“ „Nicht viel. Wir haben kaum miteinander gesprochen.“ „Und Yolei und Cody?“ „Tut mir leid.“ Sora sah betreten die Wand an. „Ich war lange vom Rest der Welt abgeschnitten, wisst ihr?“ „Was kannst du mir über Tai sagen?“ Kari hatte sich herumgedrehte. Sie konnte nicht fassen, dass sie Sora zu ihrem eigenen Bruder befragte. Nun lächelte Sora. Offenbar war Tai ein angenehmer Gedanke in ihrer geglaubten dunklen Vergangenheit. „Er ist der Drachenritter des Nördlichen Königreichs. Ich habe mal jemanden sagen hören, er ist der Stoff, aus dem man Legenden macht.“ Plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck wieder bitter. „Er hat mir verziehen, dass ich ihn ... dass ich ...“ Ihre Stimme klang erstickt. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und verstummte. Kari setzte sich zu ihr aufs Bett und strich ihr beruhigend übers Haar. Sie hätte sie gerne getröstet, ihr gesagt, dass nichts, was sie erlebt zu haben glaubte, real war, aber für Sora war es das. Sie mussten unbedingt einen Weg finden, die Wirklichkeit wieder geradezubiegen! „Weißt du, wo ich ihn finden kann?“, fragte sie sanft. Es dauert eine Weile, ehe Sora antwortete. Ihre Augen waren gerötet, aber sie hatte still geweint. „Er ist hier. Im größten Zimmer, gleich über dem Ratssaal.“   Kari wollte unbedingt alleine mit ihrem Bruder reden, aber Sora überzeugte sie, sie wenigstens bis zur Tür zu begleiten. Immerhin kannte er Sora, und es war mitten in der Nacht und er schlief wahrscheinlich. Kari hoffte fast, ihn bis auf den Gang heraus schnarchen zu hören, wie früher, aber es blieb still vor der eisernen Tür. Eisen, kein Holz. Er war hier jemand Wichtiges. Entschlossen pochte Kari mit dem eisernen Klöppel. Hoffentlich hörte sie nicht jemand anderes, ein Nachtwächter vielleicht, der sich wunderte, was sie hier verloren hatte. Vielleicht war es ganz gut, dass Sora bei ihr war. Es dauerte, dann wurde ihnen tatsächlich geöffnet. Das Erste, was sie unter Tais struwweligem Haar ausmachen konnte, versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht. Wieder schwindelte sie. „Tai“, hauchte sie entsetzt. Sein rechtes Auge war nur ein gähnendes Loch. Kari wandte sich nach Sora um, doch ihre Freundin war plötzlich verschwunden. Himmel, was ist mit ihm geschehen? Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. „Was ist denn?“, brummte er verschlafen. Er war in Unterwäsche, um die Schultern hatte er sich einen schwarzen Umhang gewickelt wie einen improvisierten Morgenmantel. „Ich, ähm ...“ Plötzlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Vermutlich sollte sie sich freuen, dass er überhaupt noch lebte, aber ... „Darf ich reinkommen?“ Er warf einen unsicheren Blick zu Gatomon. „Es wird hier warten“, versprach Kari. Schließlich nickte er und hielt ihr die Tür auf. Tais Kammer war viel luxuriöser als Soras, wie erwartet. Der Boden war gefliest und mit hübschen Mustern geschmückt. Ein Schachbrett stand in einer Ecke, doch niemand hatte darauf gespielt. Das Bett war groß, mit einem Baldachin ausgestattet, und ein schwerer, roter, runder Teppich war davor ausgebreitet. Auf einer Kommode stand eine Karaffe mit Wein. Tai schenkte schweres Rot in zwei Kristallgläser und bedeutete Kari, sich auf einen der kostbaren, mit Samt überzogenen Stühle zu setzen. Fenster hatte dieser Raum keine, das war das Einzige, das ihn trostlos erscheinen ließ. „Also, was willst du?“ Tai sah sie forschend an, als überlegte er, ob er sie kannte. Ein schwacher Hoffnungsschimmer flackerte in Kari auf. Sie wusste, dass er töricht war. „Es scheint so einiges aus dem Ruder gelaufen zu sein“, sagte sie schließlich, nachdem sie doch von dem Wein gekostet hatte. Süß, sodass man den Alkohol nicht schmeckte. Vielleicht sollte sie sich einfach betrinken und ebenso wie ihre Freunde alles vergessen. „Ich habe schon mit Sora gesprochen und mit Matt und Davis.“ Es spielte wohl keine Rolle, was sie ihm erzählte. So oder so würde er sie für verrückt halten. Aber die Worte brachen einfach aus ihr hervor. Er war ihre Familie, auch wenn er es nicht wusste. „Sie haben mich alle nicht erkannt. Weder mich, noch T.K. Und jetzt frage ich mich, ob … ob auch ein großer Bruder seine kleine Schwester vergessen kann.“ Der Blick aus Tais Auge senkte sich nachdenklich auf das Kristallglas. Der rote Wein schien von innen heraus zu leuchten, ein Trugbild, das die Kerzen auf dem Nachttisch erschufen. „Schwester?“, fragte er heiser. „Du weißt es vielleicht nicht. Oder vielleicht weißt du es nur tief in deinem Inneren“, sagte Kari und wich seinem Blick aus; zu weh tat es, ihn direkt anzusehen. „Aber wir sind Geschwister. Ich bin Kari, deine kleine Schwester, und ich habe dich so lange gesucht ... und jetzt endlich gefunden.“ Er schieg lange, schwenkte das Glas und grübelte. „Meine Schwester“, murmelte er. „Kari.“ „Erinnerst du dich?“, fragte sie. „Sag mir, dass du dich erinnerst.“ Tai stand auf und lächelte. „Es ist viel passiert“, sagte er und trat auf sie zu. „Tai.“ Am liebsten wäre sie ihm einfach um den Hals gefallen, doch das erschien ihr falsch. „Meine kleine Schwester, die ich lange nicht gesehen habe.“ Plötzlich zog er sie hoch und in eine innige Umarmung. „Wie könnte ich dich vergessen?“ Kari konnte es zuerst nicht glauben. Er erinnerte sich? Er erinnerte sich tatsächlich? Mit einer Woge der Glückseligkeit, die durch ihre Adern rauschte, erwiderte sie die Umarmung. Nun fanden die Tränen ihren Weg über ihre Wangen. „Tai … Ich hab dich so vermisst ...“ „Es ist seltsam“, murmelte er. „Ich weiß, dass du meine Schwester bist, aber ich ... Ich kann mich an nichts erinnern, was wir zusammen erlebt haben. Irgendetwas ... etwas in meinem Kopf stellt sich quer.“ „Das wird schon wieder“, flüsterte sie, überglücklich, ihn zurück zu haben. „Das wird wieder, Tai. Es ist noch nicht alles verloren. Ich bin hier, deine kleine Schwester ist mit einem Heer aus Divermon gekommen, um dir zu helfen.“ „Kari“, murmelte er.     Davis hatte eigentlich mehr trinken wollen. Er spürte die nahende Verantwortung, die er als König würde schultern müssen, aber noch mehr spürte er die Verantwortung, erst mal König zu werden. Matt hatte ihm schließlich den dritten Krug Bier verboten, und sie hatten Schlachtpläne für den zweiten Tag der Kür geschmiedet. Es war anstrengend gewesen, und außerdem waren Davis die beiden Neuankömmlinge nicht aus dem Kopf gegangen. Vor allem dieser T.K. hatte ihn zum Grübeln gebracht. Was hatte er nur für ein Problem? Sie schienen wirklich einiges durchgemacht zu haben, und er hatte wohl auch jedes Recht, gereizt zu sein, aber seine Anschuldigungen konnte er einfach nicht verstehen. Warum taten sie, als würden Matt und er sie kennen? Er hatte den Ehernen Wolf doch selbst erst gestern kennengelernt! Lange nach Mitternacht stieg Davis die Treppen im Rathaus hoch, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Veemon hatte Davis‘ Zurückhaltung wettgemacht: Es war sturzbetrunken und taumelte, stieß immer wieder gegen die Wände des Stiegenhauses. „Ach Veemon, reiß dich zusammen“, zische Davis, fand es aber irgendwie lustig. „Lass mich doch“, lallte Veemon. „Nur weil ich bald ein Königsdigimon sein bin, muss ich ja nicht plötzlich auf einmal brav und anständig werden. Sein.“ Als Veemon nach dieser Ansage auch noch Schluckauf bekam, musste Davis sich beherrschen, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. In dem Moment öffnete sich vor ihnen eine Tür – die Tür zu Tais Gemach. Davis prallte zurück und zog Veemon, das heftig protestiert, um die Ecke – doch nicht sein Rivale auf den Thron verließ das Zimmer, sondern das Mädchen von heute Abend. Kari. Was hatte sie dort drin zu suchen gehabt? Sie eilte beschwingten Schrittes die Treppen hoch. Ihr Gatomon und Sora erwarteten sie nach der nächsten Biegung. Das Digimon entdeckte Davis, der ihnen hatte nachschleichen wollen, und starrte ihn an. Schließlich bemerkten ihn auch die anderen. Ohne eine Erklärung abzugeben, maß Kari ihn nur mit traurigem Blick und die drei gingen schweigend weiter. „Was machst du hier?“, rief Davis Kari hinterher. „Du hast hier nichts verloren!“ „Sie schläft bei mir“, sagte Sora und maß ihn mit einem finsteren Blick. „Hast du etwas dagegen?“ „Dagegen hab ich nichts“, knurrte er. „Aber warum war sie in Tais Gemach?“ „Frag ihn das doch selbst“, zischte Sora. Wunderbar, sie war immer noch sauer und schien sich eine neue Verbündete gesucht zu haben. Kari schwieg weiterhin, als wollte sie ihren glücklichen Moment nicht zerstören – glücklich, wieso? War sie etwa Tais Geliebte oder so etwas? Davis kniff die Lippen zusammen. Soras Kammertür krachte wütend ins Schloss. „Was is’n los, Davis?“, murmelte Veemon. „War das nicht das Mädchen von heute gesehen? Wir, haben.“ „Ja, das war sie“, brummte Davis. „Verdammt, hoffentlich ist die Kür bald entschieden.“ Er hatte plötzlich ein ganz mieses Gefühl.     Tag 129   „Verehrte Ratsmitglieder, Ritter und Fürsten unseres Reiches, werte Königskandidaten“, eröffnete Wizardmon den zweiten Tag der Kür. „Bevor wir mit der Diskussion beginnen, sollt Ihr die beunruhigenden Nachrichten hören, die wir heute Morgen aus Süden und Westen gehört haben.“ Es räusperte sich. „Die Geisterhorde aus den Nadelbergen hat gestern unsere Linien durchbrochen. Momentan ist ein Heer auf dem Weg ins Herz unseres Reiches.“ Erschrockenes Gemurmel wurde laut. Sora knetete die Hände. Centarumon war an die Front zurückgekehrt, aber anscheinend hatte MetallPhantomon seine kurze Abwesenheit nutzen können. „Weiters erreichte uns die Nachricht, dass die Truppen des DigimonKaisers wieder mobil machen. Momentan verbreiten sie sich in bedenklicher Zahl auf der Großen Ebene“, fuhr Wizardmon fort. „Verdammt nochmal!“ Meramon schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wo nimmt er die nur alle her? Langsam müsste ihm die Digimon ausgehen, bei den Kriegen, die er dauernd führt.“ „Ich möchte Euch alle bitten, diese Informationen im Hinterkopf zu behalten, wenn Ihr Eure Stimmen abgebt. Wir sollten die Kür nicht länger als nötig hinauszögern“, schloss Wizardmon und die Versammelten setzten ernste Gesichter auf. „Centarumon hat seine Stimme Sir Taichi gegeben. Ich möchte die Kandidaten bitten, noch einmal ihre Vorzüge und Versprechen zu betonen, ehe wir mit der Abstimmung fortfahren.“ Die Ritter, die gestern gefehlt hatten, zwei KaiserLeomon, hörten aufmerksam zu. Sora sah unsicher zu Tai, dann zu Kari und ihrem Gemahl Klecks, die an seiner anderen Seite saßen. Das Divermon hatte die ganze Nacht über treu auf Kari gewartet, und am Morgen hatte sie es herein beten lassen. Nun saßen sie auf Tais und Soras Wort hin auch am Ratstisch. Über Nacht hatten sich einige Stimmen geändert. Tai und Davis waren immer noch die klaren Favoriten. Letzterer saß neben Matt und hatte eine grimmige Miene aufgesetzt. Die Ritter, die selbst kandidierten, gaben nun erstmals auch den Favoriten ihre Stimmen, damit die Kür beendet wurde. Nur Coelamon wollte sichtlich seinen eigenen Fürsten an die Macht bringen, weswegen es Agunimon seine Stimme gab. „Ich bin für Sir Taichi“, sagte Agunimon. „Soll er König werden. Das ist besser, als wenn uns das Blutende Herz oder der DigimonKaiser überrollen.“ Wizardmon nickte. „Meine Stimme gehört Davis“, erklärte es. „Ich denke, er ist würdig.“ „Seid Ihr hierbei nicht befangen, Fürst Wizardmon?“ fragte Sir Angemon. „Er hat Eure Stadt gerettet, stimmt Ihr deswegen für ihn?“ „Dadurch hat er beweisen, was er zu tun vermag. Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen“, erklärte Wizardmon. Auch die anderen stimmten ab, manche Meinungen schwenkten sogar wieder um. Sora hielt es vor Anspannung kaum aus, still zu sitzen. Tai und Matt waren die Ruhe selbst, Kari ließ sich nichts anmerken, Klecks sowieso nicht, Davis war ebenfalls nervös. „Somit erzielen wir ein Unentschieden“, fasste Wizardmon zusammen, als jeder, der durfte, seine Stimme abgegeben hatte. Coelamon war das Einzige, das nicht Davis oder Tai bevorzugt hatte. Aller Augen richteten sich auf es. „Bleibt Ihr Eurer Stimme treu, Coelamon?“ „Ihr habt die Macht, unseren König zu bestimmen, wenn Ihr Eure Meinung jetzt ändert“, betonte Angemon. Coelamon schien verunsichert. „Ich ... Darüber müsste ich mit meinem Fürsten sprechen ...“ „Wir werden garantiert nicht warten, bis du deinen schleimigen Hintern zur Küste und wieder zurück schaffst“, polterte Meramon. „Mäßigt Euch, ich bitte Euch“, sagte Wizardmon. „Was sagt Ihr, Coelamon? Die Entscheidung liegt bei Euch.“ Coelamon zögerte. Schließlich begann es stammelnd: „Fürst Ebidramon hätte sicher ... Also, es ist ja selbst ein junger Fürst, der von König Leomon die Adelswürde zugesprochen bekommen hat. Darum glaube ich, dass es mit einem König einverstanden wäre, der sich in kurzer Zeit nach oben gearbeitet hat.“ Noch bevor es aussprach, zog sich etwas in Sora zusammen. „Ich stimme vertretend im Namen von Ebidramon, Fürst des Net Ocean-Strandes im Osten, für Davis, den Held der Blütenstadt.“ Gemurmel erhob sich wieder, sogar manche Verwünschungen wurden laut. Davis lächelte zufrieden, Matt nickte hm zu. „Somit führt Davis um eine Stimme“, sagte Wizardmon und nickte. „Allerdings haben wir jemanden in unserer Runde, der sich noch nicht geäußert hat.“ Es wandte sich direkt an Kari. und Klecks. „Seid Ihr hier, um jemand anderes zu nominieren, oder wollt Ihr Eure Meinung kundtun? Noch ist nichts in Stein gemeißelt. Wohlgewählte Worte können noch die ganze Abstimmung kippen.“ Kari nickte und stand auf. Nacheinander sah sie allen Versammelten in die Augen, dann blickte sie zu Tai, wie um Kraft zu tanken. „Ich bin hier, um mein Stimmrecht als Gastkönigin einzufordern“, erklärte sie schließlich. „Königin?“, lachte Meramon. „Von einem Haufen Divermon? Denkst du, das reicht aus, um dich Königin nennen zu dürfen?“ „Ja, ich bin Kari, Königin der Divermon. Ich habe gehört, dass Ihr sogar einem mittellosen Shogun eines verlorenen Reiches eine Stimme gewährt habt“, sagte Kari mit einem bezeichnenden Blick auf Matt. „Ich habe einen Vertrag unterzeichnet“, sagte Matt tonlos, „wonach Little Edo in das Nördliche Königreich eingegliedert wird, sobald wir es zurückerobert haben.“ „Und wann wird das sein? Ich biete Euch achtzig Divermon auf dem Ultra-Level, die treu und bis in den Tod für Euch kämpfen werden, vielleicht, um gerade Euer Shogunat zu befreien.“ „Mädchen, du weißt nicht, was du da redest“, brummte Meramon abfällig. „Es mischen mir hier eindeutig zu viele Fremde bei unseren Regierungsangelegenheiten mit.“ „Aber was sie sagt, stimmt“, meldete sich Frigimon freundlich zu Wort. „Außerdem ist fast unsere gesamte Flotte vor der File-Insel zerstört worden. Die Divermon könnten wir gebrauchen, um die Küsten zu schützen.“ „Das stimmt“, sagte Coelamon. Nun stand auch Tai auf. Er nickte Kari zu. „Kari und ihr Gemahl regieren über ein weit entferntes Meer. Ihnen ist die beschwerliche Reise hierher gelungen, und ihr einziges Ziel ist es, uns im Kampf gegen den DigimonKaiser zu unterstützen. Uns drohen von jeder Seite Gefahren – wir brauchen dringend jedes Digimon.“ Wizardmon nickte. „Wenn uns dieses ferne Königreich jede auch noch so kleine Hilfe zuteilwerden lässt, ist es recht und billig, dass wir der Königin eine Stimme gewähren. Wem würdet Ihr Euer Heer zur Verfügung stellen?“ „Sir Taichi dem Drachenritter“, sagte Kari entschlossen und setzte sich wieder. Meramon grunzte. „Wie klug von dir, Mädchen. Jetzt haben wir wieder ein Unentschieden. Willst du uns in den Untergang laufen lassen?“ „Wir werden doch wohl auch so eine Lösung finden“, fuhr Tai ihm über den Mund. Davis wirkte zerknirscht. Wahrscheinlich hatte er diese Entwicklung erwartet. Aber selbst wenn man Kari die Stimme wieder entzog, müsste das auch für Matt gelten, der Davis gewählt hatte. Wizardmon hüstelte. „Ich gehe davon aus, dass niemand der Versammelten seine Stimme jetzt noch zurücknehmen wird?“ Keiner antwortete. „Ich bleibe der meinen ebenfalls treu“, erklärte es. „Somit haben wir keine Wahl, als die Kür um einen weiteren Tag zu verlängern.“ „Wartet.“ Ehe sie wusste, was sie tat, war Sora aufgesprungen. Sie schwitzte plötzlich unglaublich in ihrem Kleid. Denk an Piyomon, sagte sie sich. Sobald das hier vorbei ist, kannst du es abholen. „Ich verlange ebenfalls ein Stimmrecht als Gastkönigin.“ Davis und Tai sahen sie schockiert an, Meramon lachte. „Und wovon willst du nun plötzlich Königin sein?“, fragte Agunimon lauernd. Sie beschloss, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Für Tai. „Ich bin Sora, die rechtmäßige Königin der Nadelberge und des Düsterschlosses, mit dem Wappen der Liebe.“ Das Gemurmel schwoll wieder an, doch nun klang es zorniger. „Was soll das heißen?“, knurrte Meramon. „Nadelberge? Düsterschloss? Sprecht Ihr vom Blutenden Herzen?“ „Sora hat mit dem Blutenden Herzen nichts zu tun“, sagte Tai. „Ich fand sie als Gefangene vor, als ich zum Düsterschloss flog. MetallPhantomon hat sie überlistet. Es hat in Wahrheit die Kontrolle über die Geisterarmee und die Briganten.“ „Widersprecht mir, wenn ich mich irre, Drachenritter“, sagte Sir Angemon, „aber die Briganten, die wir fingen, sowie die Digimon im Kriegsgebiet sprachen von einer Schwarzen Königin. Ich glaube nicht, dass sie damit MetallPhantomon meinten.“ „Nein. Meinten sie nicht“, sagte Sora. Ihre Stimme zitterte, ihr Herz schlug wie verrückt, aber sie wollte nicht länger vor ihrer Vergangenheit davonlaufen. „Keine Ausflüchte mehr. Ich danke Euch, Sir Taichi, aber ich werde die Wahrheit sagen.“ Sie holte tief Luft. „Ich bin es, die Ihr Schwarze Königin nennt.“ Die Eröffnung, gleichauf mit dem DigimonKaiser ihr schlimmster Feind zu sein, ließ die Versammelten aufspringen. In Meramons Hand züngelte eine Flamme. Agunimons Handgelenkwaffen fauchten. „Keiner rührt sie an!“, schrie Tai. „Jeden, der es wagt, sie anzugreifen, lasse ich ein Duell auf Leben und Tod mit WarGreymon ausfechten!“ Die Attacken flauten ab, aber die Digimon waren nur umso ungehaltener. Eine Welle der Feindseligkeit schwappte Sora entgegen und schnürte ihr schier den Hals zu. „Ich war lange Zeit unter einem finsteren Zauber“, sagte sie, „aber ich bin deswegen nicht unschuldig daran, was ich getan habe und was in meinem Namen getan wurde. Ich habe Krieg gegen Euch geführt, Eure Digimon getötet und bedroht, und ich war es, die Sir Taichi das rechte Auge genommen hat.“ Eines der KaiserLeomon knurrte, ein hohles, durchdringendes Geräusch. Die Halle hielt den Atem an. „Alles, was ich tun kann, ist ihn jetzt zu unterstützen. MetallPhantomon hat die Macht an sich gerissen, weil ich schwach war. Ich weiß, seine – meine – Armee hält auf Eure Tore zu, und deswegen will ich etwas unternehmen. Ich will mich nicht länger als Randfigur fühlen. Ich kann nicht erwarten, dass andere den Schmutz aufwischen, den ich hinterlassen habe!“ Kari nickte ihr aufmunternd zu, doch Meramon unterbrach sie. „Selbst wenn du Königin bist, du bist eine verlogene, hinterhältige Schlange. Ein Stimmrecht willst du? Sollen wir denn dem DigimonKaiser auch eins einräumen?“ „Mäßigt Euren Tonfall, Meramon“, sagte Tai eiskalt. Sie konnte die Höhle nicht ins Gespräch bringen. Sie wollte keine Ausreden mehr, und außerdem wäre Davis der Einzige, der davon wusste, und dieser wirkte, als könnte er jeden Moment aus der Haut fahren. „Als ich MetallPhantomon zu meinem General gemacht habe, ist mein wahres Volk geflohen“, fuhr Sora fort. „Es wird zurückkommen, wenn MetallPhantomon besiegt ist. Da ich eine schlechte Königin war, möchte ich, dass auch die Nadelberge ins Nördliche Königreich eingegliedert werden. Das ist das Beste für mein Volk.“ „Und den König bestimmst somit du?“, fragte Davis wütend. „Du kennst Tai kaum! Du weißt nicht, wie er regieren würde!“ „Auf jeden Fall besser als ich. Meine Entscheidung steht fest.“ Sora nickte Kari zu. „Ich würde ihr das Stimmrecht gewähren“, meinte Angemon. „Es wird Zeit, dass eine Entscheidung gefällt wird. Besser wir wählen den Drachenritter, als dass wir noch länger warten, bis uns unsere Feinde überrennen. Sie ist von königlichem Geblüt, auch wenn sie finstere Taten begangen hat.“ „Und damit sollen wir uns abspeisen lassen?“ Meramon streckte seinen flammenden Finger nach ihr aus. „Ich weiß, was wir machen. Du willst deine Schuld begleichen? Auge um Auge, sage ich. Gib uns eines von dir, und wir erkennen dein Stimmrecht an.“ Sora wich ängstlich zurück. „Danke, dass Ihr so um mein Recht besorgt seid, Meramon“, spottete Tai. „Wir sprechen darüber, wenn ich König bin. In jedem Fall werdet Ihr dann nur das tun, was ich Euch befehle.“ Wizardmon nickte. „Ich finde auch, dass das Stimmrecht unter diesen Umständen recht und billig ist. Sir Taichi scheint der Schwarzen Königin zu vertrauen.“ „Weil sie auf seiner Seite ist“, warf Matt ein. „Wer würde sie da zurückweisen? Übereilt etwas so Wichtiges zu beschließen, ist dumm.“ „Willst du etwa sagen, dass wir nochmal Centarumon und Ebidramon antanzen lassen sollen, um was an den Stimmen zu rütteln?“ Es war schwer zu sagen, auf wessen Seite Meramon eigentlich war. „Gestehen wir ihr ihre Stimme zu, und die Sache ist erledigt“, sagte Agunimon. „Euch ist es ja egal, wer gewählt wird, weil Ihr es selbst nicht seid!“, behauptete ein KaiserLeomon. Da bekannt war, wen Sora wählen würde, sprachen sich vor allem Tais Anhänger dafür aus, ihr das Stimmrecht zu gewähren. Letztendlich räusperte sich Wizardmon. „Nun gut, wir haben nun alle Argumente gehört, denke ich. Königin Sora, ich bitte Euch, denselben Vertrag zu unterzeichnen, den auch Shogun Matt unterschrieben hat.“ Es gab einem Gazimon einen Wink. „Einspruch!“, rief Davis. „Kann sie denn beweisen, dass sie die echte Königin ist?“ „Ich bin ihr Zeuge“, sagte Tai. „Das zählt nicht!“ „Vertraut Ihr alle meinem Wort als Ritter nicht mehr?“, knurrte Tai. „Oder soll ich jetzt auch bezweifeln, dass Matt der entthronte Eherne Wolf ist?“ Sora wurde ein Pergamentblatt gereicht, in dem sie sich verpflichtete, auf ihren Thron zu verzichten und als Vasallin des Nördlichen Königreiches die Nadelberge und die angrenzenden Gebiete zu verwalten. „Das kann ich nicht unterschreiben“, sagte sie. „Da habt Ihr’s“, rief Davis. Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin es nicht wert, eine Fürstin zu werden. Der neue König darf meine Gebiete unter seinen Vasallen aufteilen, wie er es für richtig hält.“ Davis brummte irgendetwas. Die entsprechenden Passagen wurden geändert und Sora setzte ihren Namen darunter. „Dann sagt, wen Ihr wählt, Königin Sora vom Blutenden Herz“, sagte Wizardmon. Sie schluckte. „Ich wähle Sir Taichi den Drachenritter zum neuen König des Nordreiches, von Little Edo und den Nadelbergen!“ Kari seufzte erleichtert auf, Davis wurde bleich. Die Fürsten und Ritter brummten zufrieden, die meisten jedenfalls. „Einspruch!“, rief Davis heiser. „Es wurde gewählt.“ „Ich schlage einen anderen König vor! Wer schließt sich meiner Meinung an, dass wir Sir Agunimon wählen sollten?“ „Dir scheint es egal zu sein, wer König wird, solange ich es nicht bin“, knurrte Tai. „Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht. Du gönnst es mir nur nicht. Und so jemand wie du wäre fast gewählt worden!“ „Die Kür ist beendet“, verkündete Wizardmon. „Heute Nachmittag wird Sir Taichi der Drachenritter zum König gekrönt. Teilt es dem Volk mit und bereitet alles vor.“ Davis sprang auf und stürmte aus dem Raum. Während die anderen Versammelten sich erhoben, sah Sora, wie Kari unter dem Tisch Tais Hand drückte. Sie selbst fühlte sich plötzlich so schwach, dass sie in ihren Sessel zurücksank. Dennoch gestattete sie sich ein Lächeln. Sie hatten es geschafft.   I know I was destined to rule alone All for myself I have claimed the throne Born to rule My time is now (Sabaton – Carolus Rex) Kapitel 52: Die Krönung ----------------------- Tag 129   Auf dem Hauptplatz von Santa Caria herrschte reges Treiben. Die Nachricht vom Ende der Kür wurde eifrig von Mund zu Ohr weitergereicht. Bis in den späten Nachmittag dauerten die Vorbereitungen an. Man zimmerte eilig ein provisorisches Podest aus frischem Holz, das einzige Zugeständnis an die Feierlichkeit, das nicht von der drängenden Hektik der Stunde zerquetscht wurde. Digimon liefen freudig herum, einige strichen Geld für gewonnene Wetten ein. In manchen Gassen schimpften die Bürger, die Davis bevorzugt hätten, doch im Großen und Ganzen schienen sie sich auch mit Tai zufrieden zu geben. Missmutig stand der Verlierer auf dem Dach des Rathauses mit Matt, Gabumon und Veemon und sah zu, wie die Zimmerer ihre Sachen packten. Überall in der Stadt wurden Gongs geschlagen. Der Lärm war unbeschreiblich. „Wir können wohl nicht hoffen, dass meine Anhänger einen Aufstand machen?“, fragte er halbherzig. „Hörst du dir zu? Du willst doch wohl keinen Bürgerkrieg provozieren!“, rief Gabumon erschrocken. „Du solltest dir eingestehen, dass du verloren hast“, meinte Matt ruhig. Davis schnaubte. „Du hast gut reden.“ Da Tai dieser Kari vertraute, hatte man ihren Divermon erlaubt, bei der Krönung zugegen zu sein. Nicht nur das: Mit griffbereiten Harpunen schlurften sie über den Platz. Von hier oben sah man trotz ihres fehlenden Systems deutlich, dass sie gleichzeitig eine Art Schutztruppe waren, sollte es wider Erwarten doch zu Ausschreitungen kommen. Tai war nirgends zu sehen; er wartete im Rathaus, wo Wizardmon ihm den Ablauf der Zeremonie erklärte. Soras roten Haarschopf glaubte Davis in der Menge zu erspähen. Er ballte die Fäuste. Sie hatte ihn ja ganz schön gelinkt! Er hatte aus Rücksicht auf sie nicht erwähnen wollen, wer sie wirklich war – und dann hatte sie ihre Karten von selbst auf den Tisch gelegt. Flügelrauschen ertönte, und eine prächtige Gestalt landete auf dem Flachdach. „Sir Angemon. Ist was passiert?“, fragte Davis. Es nickte ihm zu. „Es gibt Anlass zur Beunruhigung“, sagte es. „Späher haben die Vorhut der Geisterarmee im Westen herannahen sehen.“ Irgendetwas an Angemons Stimme störte ihn, aber diese Nachricht ließ ihn alle Merkwürdigkeiten vergessen. „Am helllichten Tag?“ Sir Angemon nickte wieder knapp. „Sie sind keine Wegstunde von der Stadt entfernt. Kommt schnell, einige der Ritter und Fürsten wurden zu einer Besprechung gebeten. Wir sollen uns darum kümmern, ohne die Krönung zu stören.“ „Ich komme mit“, sagte Matt. „Tut mir leid“, sagte Angemon sofort. „Nur Vertraute des alten Königs sind zu der Besprechung zugelassen. Folgt mir, Davis.“ Es schlug mit den Flügeln und flog voraus. Davis und Veemon mussten erst die Treppe in der Hauswand hinunter hetzen. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn die Geister nahe genug kämen, um die Krönung zu stören ... Es hing alles davon ab, wie er in der Besprechung handelte. Angemon landete in einer Seitengasse und führte ihn fort vom Platz. Offenbar wollte es das Stadtzentrum meiden, um die jubelnde Menge nicht zu beunruhigen. Davis lief ihm hinterher, bis er eine ausgestorbene Gasse erreichte – und plötzlich riss ihn jemand brutal an der Schulter herum und stieß ihn gegen eine Hauswand. Flinke Finger fanden das DigiVice an seinem Gürtel und rissen es fort. „Hey!“, schrie Davis auf. „Wer ...“ „Hab ich dich“, hörte er eine Stimme an seinem Ohr. Er erkannte sie. T.K. „Verdammt, lass mich los!“ Davis wand sich in seinem Griff, doch der blonde Junge drehte ihm den Arm auf den Rücken, sodass ein hohler Schmerz durch seine Schulter schoss. „Ich weiß nicht, was du vorhast“, murmelte T.K, „aber du wirst die Krönung nicht stören.“ „Du verdammter … Veemon!“ Aus den Augenwinkeln sah Davis Veemon heranstürmen – das mit voller Geschwindigkeit genau in Angemons Stab rannte und fortgeschlagen wurde wie ein Ball. Ächzend überschlug es sich noch am Boden. Verdammt! Ohne sein DigiVice waren sie aufgeschmissen ... „Lass ihn sofort los!“ Matt scharfe Stimme. Er saß auf Garurumon und war ihm offenbar gefolgt. „Dachte ich mir doch, dass etwas faul ist, als ich Sir Angemon auf dem Platz gesehen habe“, sagte er und saß ab. T.K. machte ein abfälliges Geräusch. „Das hat nichts mit dir zu tun!“ „Doch, hat es.“ In Matts Brust glühte sein Wappen auf, Blau auf Schwarz. „Du hast einen Freund von mir angegriffen. Das hat mit mir zu tun.“ Garurumon wurde in helles Licht gehüllt, richtete sich auf die Hinterbeine auf. Blaues Glühen verformte seinen Körper, bildete Hosen und schuf das Bild des rauen WereGarurumons. „Wie schön, dass du von Freundschaft redest“, murmelte T.K. düster. Immer noch hielt er Davis fest, sodass dieser ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. „Dabei hast du deinen eigenen Bruder vergessen!“ Eine zweite Lichtsäule, diesmal um Angemon. Seine Kleidung veränderte sich, ihm wuchsen neue Flügel ... Und ein Engeldigimon, wie Davis es noch nie gesehen hatte, stand plötzlich in der Gasse, strahlender noch als Angemon. Dann war das also T.K.s Digimon-Partner? Dieses kleine, unscheinbare Patamon von gestern? Eines brüllend, eines würdevoll, gingen die beiden Digimon aufeinander los.     „Bürger von Santa Caria, Volk des Nördlichen Königreiches“, begann Wizardmon mit den Krönungsfeierlichkeiten. „In diesen stürmischen Zeiten hat uns unser gütiger König Leomon verlassen. Doch ist dies nun kein Grund zur Trauer mehr. Denn selbst wenn unser König stirbt, ist es uns möglich, unabhängig von Rang und Alter einen Nachfolger aus unserer Mitte zu wählen. Wir haben uns hier versammelt, um den Ausgang dieser Kür zu feiern und die neue Sonne zu begrüßen, die über dem Nördlichen Königreich aufgeht, die unter dem Banner des Mutes für alles, was recht und gerecht ist, kämpfen und uns eine strahlende Zukunft bieten wird!“ Wizardmon war ein guter Redner. Die Digimon, die sich auf dem Platz versammelt hatten und auch die angrenzenden Straßen verstopften, jubelten vielstimmigen Beifall. Kari musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an den verschiedenartigsten Geschöpfen vorbei aufs Podium sehen zu können. Als ein neuerlicher Jubel aufbrandete, hielten sie und Sora aufgeregt nach Tai Ausschau, der in diesem Moment aus dem Rathaus kommen musste. Flankiert von den Digimon, die bald die ihm untergebenen Ritter sein würden, wurde er aufs Podium begleitet, dann schloss sich der Kreis der Schaulustigen wieder. Kari sah ihn schließlich neben Wizardmon stehen, das schreckliche, zerstörte Auge entblößt. Man hatte ihm geraten, seine Augenklappe zu tragen, doch er hatte es verweigert. „Sie sollen ruhig sehen, was ich alles zu opfern bereit bin“, hatte er grimmig gemeint. Kari versuchte, Davis und T.K. in der Menge zu erspähen, aber bei dem Gedrücke und Geschiebe aus Leibern war das ein Ding der Unmöglichkeit. Klecks stand an ihrer Seite; er war in dieser Form viel kleiner und konnte unmöglich sehen, was sich auf dem Podium abspielte, doch es schien ihn wie üblich nicht zu kümmern. „Unser Reich wird von vielen Seiten von Feinden bedroht“, fuhr Wizardmon fort, als sich der Lärm wieder etwas gelegt hatte. „Doch müssen wir nicht verzagen, denn hier und heute wird der neue König gekrönt, ausgewählt von jenen, die König Leomon treu ergeben waren.“ Es verlautbarte wohlweißlich nicht, wie knapp die Kür ausgegangen war. Der Jubel, der seine Worte auch diesmal wieder begleitete, wurde übertönt von einem schauerlichen Gebrüll, das mit einem Mal die Luft erfüllte. Erstaunte Ausrufe wurden laut, Digimon zeigten in den Himmel. Kari sah riesige Megadramon mit ihren langen, schlangenhaften Leibern über der Stadt kreisen. „Die Drachenstaffel, Tais persönliche Garde“, rief Sora Kari über den Lärm hinweg zu. Tai hob die Hand, und das Gebrüll der Megadramon wurde noch lauter. Kari fand es schade, dass Agumon noch im Krankenhaus lag, aber es würde wohl erstaunt sein, wenn es aufwachte und Tai als neuen König vorfand. Sie dachte daran, welches Gesicht es machen würde, und musste lächeln.     Der Zusammenprall von WereGarurumon und MagnaAngemon war vergleichsweise dumpf, Körper gegen Körper, auch wenn der Wolf seine Krallen einzusetzen versuchte. MagnaAngemon hieb ihm mit der Breitseite seines Schwerts gegen den Kopf und stieß es damit gegen die Wand. T.K. war froh, dass Matt Gabumon nicht zu MetallGarurumon hatte digitieren lassen – das hätte mit seiner Angriffskraft garantiert auch die Stadt schwer beschädigt. Immer noch hielt er Davis im Polizeigriff. Kurz waren MagnaAngemons Flügel im Weg, und er verlor Matt aus den Augen. Das Brüllen der Megadramon über der Stadt übertönte alle Geräusche, und so bemerkte er ihn viel zu spät. Matts Finger krallten sich in T.K.s Haar und rissen seinen Kopf zurück. Er schrie auf, ließ Davis aber nicht los, biss die Zähne zusammen. „Hast du geglaubt, ich lasse nur mein Digimon kämpfen?“, hörte er Matts Stimme, die Stimme eines eigenen Bruders, der ihn eben verriet. Knurrend warf T.K. den Kopf in den Nacken, um ihn irgendwie zu erwischen, doch Matt packte nur noch fester zu, stieß ihn zur Seite und donnerte ihn mit dem Gesicht voraus gegen die Hausmauer. Mit einem grausigen Knacken brach seine Nase, und T.K. ließ Davis los. Bunte Farbflecken tanzten vor seinen Augen, Blut strömte ihm übers Gesicht. Er schmeckte es eklig und metallisch auf seinen Lippen und seiner Zunge. Kraftlos sackte er in sich zusammen. Irgendwo links von ihm keuchte Davis. Ein Luftzug, als er sich herumdrehte ... Halb blind warf T.K. sich herum, bekam ihn am Knöchel zu fassen und riss ihn zu Boden. T.K. wusste nicht, wie viel er auf Karis Träume geben konnte, aber eins wusste er: Sie hatten sie unendlich gequält, und er würde alles tun, damit sie sich nicht erfüllten. Knurrend und hustend von dem Blut, das ihm die Kehle hinunterkroch, krallte er die Finger in Davis‘ Jacke und zog sich auf ihn, nagelte ihn fest. „Verdammt, du bist irre!“, kreischte der Junge, der in einer anderen Welt einmal sein Freund gewesen war.     Wizardmon bekam von Agunimon die Krone auf einem Kissen überreicht. Hübsch war sie nicht, einfach nur ein plumper Reif aus Eisen mit einigen unförmigen Zacken. Sora hatte sich sagen lassen, dass Leomon sie damals extra für seine eigene Krönung hatte anfertigen lassen, um den Digimon ein Symbol zu geben, das sie verinnerlichen konnten. Seither war die Krone irgendwo in einem Keller verstaubt. Ob Tai sie öfter tragen würde, konnte er selbst entscheiden. Wizardmon schaffte es irgendwie, das Stück Metall so in die Höhe zu halten, dass es das Sonnenlicht einfing und wenigstens ein bisschen schimmernde Pracht ausstrahlte. Tai kniete vor ihm nieder, sein wallender schwarzer Umhang war ausgebessert worden und floss ihm, länger und breiter als zuvor, mit einem prächtigen, goldenen Saum über die Schultern „Alle hier Anwesenden sollen es bezeugen. An diesem glorreichen Tag ernenne ich Taichi zum König von Santa Caria und dem gesamten Nördlichen Königreich, und zum Herrscher über alle Digimon vom Net Ocean bis zu den Nadelbergen, vom Band bis zur Eisregion!“ Der Jubel und das festliche Gebrüll der Drachendigimon waren nicht mehr zu überbieten, als Wizardmon Tai die Krone aufs Haupt setzte. Der frischgebackene König erhob sich, und er sah prächtig aus. Sora lächelte. Es war zu schade, dass Piyomon die Zeremonie nicht sah. Sobald sie vorüber war, wollte sie es abholen. Als Nächstes brachte Fürst Frigimon ein Kissen, auf dem eine lederne Schwertscheide samt Waffengurt lag. Wizardmon hob auch diese hoch, wobei es beide Hände brauchte. Offenbar war das Schwert ziemlich schwer. „Die Krone tragt Ihr zum Zeichen Eurer neuen Verantwortung, die Ihr Euch zum Wohle aller Digimon des Reiches auf die Schulter gelegt habt. Nehmt auch diese Klinge. Sie wurde nach dem Vorbild von König Leomons Schwert geschmiedet und soll Euch stets daran erinnern, dass Ihr genau wie Euer Vorgänger König und Krieger sein werdet, und dass Ihr nach König Leomons Idealen leben und handeln sollt.“ Tai hob die Arme und ließ sich den Waffengurt umschnallen. Seine Hand packte den Griff. „Die Einfachheit dieser Waffe soll Eure Demut sein. Scharf wie die Spitze soll Euer Verstand sein. Und die Wucht, die man in einen Schlag mit ihr legen kann, soll der Kraft gleichen, mit der Ihr Euer Volk aus allen Nöten befreien, von allen Feinden erretten und in eine glorreiche Zukunft führen werdet“, verkündete Wizardmon. Tai zog das Schwert, das tatsächlich ein äußerst einfaches, zweckmäßiges und schweres Ding war, schaffte es aber, es mit einer Hand zu halten. In einer triumphalen Geste stieß er es in den Himmel, und die Digimon um Sora herum schrien sich heiser und sprangen jubelnd auf dem Platz herum.     Sein Gesicht war ein einziger Schmerz, doch T.K. ließ nicht los. Je lauter Davis ihn anschrie, von ihm abzulassen, desto fester packte er zu. „Du bleibst hier, bis alles vorbei ist“, nuschelte er. Seine Stimme klang für ihn selbst fremd. Matt hatte ihn an den Schulter gepackt und wollte ihn von Davis herunterreißen. Am Rand des Lichtertanzes, der in seinem Blickfeld tobte, sah er MagnaAngemon nach einem Schlag von WereGarurumon stöhnend zusammensinken. Verdammt ... Wir werden nicht aufgeben! „Was ist denn hier los?“, erscholl eine hohe, dennoch herrische Stimme, die nur einem Piximon gehören konnte. „Sie haben Davis angegriffen!“, rief Veemon. Sofort landeten die rosa Kobolddigimon links und rechts von T.K. Er spürte das kalte Eisen ihrer Speere an der Kehle, die Stacheln daran piekten in seine Haut. „Lass ihn lieber los, Bursche“, riet ihm eines der Digimon. Gehorsam hob T.K. die Arme und richtete sich auf. Davis kam keuchend auf die Beine, während er selbst auf den Knien hocken blieb. Matt riss ihm Davis‘ DigiVice, das er eingesteckt hatte, aus der Jackentasche und warf es seinem Freund zu. Kein Mitleid war in seinen Augen zu sehen. In dem Moment digitierte MagnaAngemon zurück und Patamon flatterte erschöpft zu ihm. „Tut mir leid, T.K.“ Ehe es ihn erreichte, wurde T.K. von zwei Piximon-Stäben mit für die kleinen Digimon erstaunlicher Kraft wieder zu Boden gepresst. Die Pflastersteine fühlten sich kalt und hart auf seiner Wange an. „Dafür setzt es was, Kleiner“, drohte ihm einer der Wächter an. „Komm, Veemon, vielleicht können wir die Krönung noch verhindern!“, rief Davis. Er ließ das DigiArmorEi der Freundschaft erstrahlen und preschte auf Raidramons Rücken davon, ohne noch einen Blick zurück zu werfen. „Nein!“, brachte T.K. unverständlich hervor, Blut im Mund, doch die Piximon presste ihn nur noch fester zu Boden.     Fürst Wizardmon verbeugte sich zum Zeichen, dass es fertig war. „Nun ist es an Euch, einige Worte an Euer Volk zu richten, Majestät.“ Majestät. Das Wort kribbelte in Soras Ohren. „Danke.“ Tai hatte das Schwert wieder in die Scheide geschoben und breitete die Arme aus, während Wizardmon sich an den Rand des Podiums zurückzog. „Volk des Nördlichen Königreichs! Ich muss euch nicht erst erzählen, wie heftig der Krieg momentan in der DigiWelt wütet! Nicht nur, dass uns von Westen her Gefahr durch eine Geisterhorde droht, die in diesem Moment auf die Stadt zuhält, auch der DigimonKaiser ist eine ständige Gefahr. Wie ich hörte, hat er vor kurzem die Kaktuswüste erobert. König Takashi ist nicht mehr. Während wir unfähig waren zu handeln, haben wir einen wertvollen Verbündeten verloren. Aber ich sage euch: Wir werden nicht so einfach untergehen! Und kein Opfer, das je jemand gebracht hat, um diesen Wahnsinnigen aufzuhalten, wird vergebens sein!“ „Hoch lebe der König!“, schrie ein Digimon. Zustimmende Rufe, vereinzelt weiterer Jubel, ernste Gesichter. Tai wusste, wie man seine Untertanen fesselte. Gebannt hingen sie an seinen Lippen.     Davis und Raidramon erreichten den Hauptplatz mitten in Tais Rede. Er sah Meramon am Rand der Versammlung stehen, mit zufrieden verschränkten Armen. „Meramon!“, rief er. „Ihr müsst die Krönung abbrechen!“ Das Flammendigimon starrte ihn erst an, dann lachte es schallend. „Du kommst zu spät, Auserwählter. Die Krönung ist bereits vorüber.“ Davis keuchte auf. „Aber ... aber Tai ist ...“ „Du bist einfach ein schlechter Verlierer“, fiel Meramon ihm ins Wort und drehte sich wieder um. „Stiehl mir nicht meine Zeit.“ Davis biss die Zähne zusammen. „Soll ich?“, fragte Raidramon.     „Ich werde euch ein würdiger König sein!“, rief Tai soeben. „Ich werde dieses Reich zu neuer Blüte führen und unsere Feinde besiegen! Ich werde ...“ Ein jähes Raunen ging durch die Menge, als Raidramon wie aus dem Nichts auf das Podium sprang, Blitze unter den Pfoten und Davis auf seinem Rücken. Tai verstummte. Kari sog scharf die Luft ein. Wo kam er so plötzlich her? Ihre Finger gruben sich in Soras Unterarm. „Davis“, sagte Wizardmon und trat mit Agunimon auf die beiden zu. Die Megadramon fauchten. Ihre Kreise am Himmel wurden schneller. „Gatomon“, flüsterte Kari. Gleißendes Licht hüllte sie und ihr Digimon ein. Die Menge teilte sich, um Angewomon Platz zu machen. Klecks packte seine Harpune fester, seine erste Regung, seit sie sich in der Menge eingereiht hatten. Tai streckte würdevoll den Rücken durch. „Bist du hier, um mir öffentlich zu gratulieren?“, fragte er. Davis schwang sich von Raidramons Rücken. Sein Digimon machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Grimmig ging er auf Tai zu, alleine. „Nein“, brummte er schließlich. So schnell, dass Kari seinen Händen gar nicht folgen konnte, packte er den Griff von Tais neuem Schwert und zog es aus der Scheide. „Angewomon!“, schrie sie erschrocken, ihr Herz sprang ihr bis zum Hals und in ihrem Magen wurde es so flau, dass sie sich leichter als eine Feder fühlte. Bewegung kam in die Fürsten und Ritter, Agunimons Handschuhe fauchten Flammen, Meramon schrie etwas, Wizardmon starrte nur. Tai war zu verdutzt, um sich zu rühren. Angewomon ließ einen Pfeil aus reinem Licht erscheinen und legte ihn auf den Bogen, der aus seiner Hand wuchs, doch es musste eine Sekunde lang zielen, um nicht einen der beiden Jungen versehentlich zu treffen. Diese Sekunde nutzte Davis, um das Schwert mit beiden Händen schräg von oben in Tais Brust zu stoßen. Das Gewicht der Klinge ließ sie seinen Rücken durchbohren. Die ganze Stadt hielt den Atem an, während Karis Schrei ihr schier die Kehle zerfetzte.   Time for a new sin Get down, take their side and you’ll win A bright future Believe this and you’ll find yourself filled with sadness (Celesty – New Sin) Kapitel 53: Der Schatten hinter dem Thron ----------------------------------------- Tag 129   Die Welt versank im Chaos. Sora drohte schwarz vor Augen zu werden. Neben ihr sackte Kari mit einem Schrei auf die Knie, der kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Davis stand keuchend da, die Hände noch immer um den Schwertgriff geschlossen. Noch stand Tai aufrecht, durchbohrt und reglos, ebenso reglos wie die Digimon, die den Mord beobachtet hatten. Dann glitzerte etwas in seinem Auge wie eine Träne; ein helles Flimmern, das kurz aufflammte und dann erstarb. Schließlich löste Tai sich auf, von den Füßen aufwärts, wurde zu roten, perfekt rechteckigen Datenfragmenten, die kurz kreiselten und sich in Nichts auflösten. Der Schwertgurt fiel zu Boden, die Krone folgte, dumpf auf der hölzernen Tribüne. Schreiend stürmten die Ritter heran, eine Welle des Wehklagens, des Staunens und des Schocks rollte durch die Zuschauermenge. „Hast du den Verstand verloren?“, schrie jemand, eine Stimme, die Sora vage bekannt vorkam. Im nächsten Moment stoben die Megadramon auseinander. Als sie ihren Herrn sterben sahen, schienen sie jedes Gefühl für Freund und Feind verloren zu haben. Mit einem metallischen Schnappen klappten ihre Geschützvorrichtungen auf, und unter einem Schauer aus Rauch und begleitet von einem vielstimmigen Zischen sausten ihre Raketen auf den Platz hernieder. Sora dachte gar nicht daran, in Deckung zu gehen. Alles geschah gleichzeitig; etwas flog knapp über sie hinweg, ließ ihr Haar in kaltem Wind flattern. Dann war Matt plötzlich neben Davis, und ein MetallGarurumon, das das Maul gen Himmel öffnete und einen trichterförmigen Schwall eisige Luft den Raketen entgegenwarf. Sie explodierten nicht einmal, wurden einfach eingefroren und fortgeweht. Die Megadramon ergriffen brüllend die Flucht in alle Himmelsrichtungen. „Du Idiot!“ Matt schlug Davis mit der Faust ins Gesicht. Auch die Menge schwappte nun der Tribüne entgegen, Attacken peitschten auf Raidramon ein, bis es grollend zurückdigitierte. „Genug!“ Wizardmon breitete die Arme aus, doch die Digimon griffen weiter die beiden Männer auf dem Podium an. Erst als Angemon, Agunimon und Frigimon hinzutraten und sie umkreisten, hörten sie auf. Kari saß immer noch schluchzend neben Sora. Mit einem Kloß im Hals kniete sie sich zu ihr und streichelte ihr über den Rücken. Mehr konnte sie nicht tun. Ihre neue Freundin schien sie gar nicht zu bemerken. Mir riesigen Augen, in denen winzige Pupillen zitterten, starrte sie ins Leere und murmelt immer wieder dasselbe Wort: „Nein, nein, nein ...“     Matt konnte nicht fassen, was Davis getan hatte. Ging sein Ehrgeiz etwa so weit? Hatte er ihn falsch eingeschätzt? Und dabei hatte er ihn unterstützt ... Tai war auch schon sein Rivale gewesen, aber er hätte niemals seinen Tod in Kauf genommen! „Du hast hoffentlich ein paar schöne letzte Worte parat“, knurrte Meramon, das hinzugetreten war. Seine Flammen züngelten höher als je zuvor. „Denn wir werden diese Krönung in eine öffentliche Hinrichtung verwandeln!“ Agunimon trat Davis ins Gesicht, sodass er hintenüber fiel. Das Schwert entglitt seinen Fingern. „Davis!“, rief Veemon und wollte zu ihm kriechen, doch eines der KaiserLeomon drückte ihn mit seiner Pranke zu Boden. „Du hast unseren Helden und neuen König ermordet“, stellte Wizardmon fest und schüttelte den Kopf. „Ich ... ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“ „Du hast uns schwer enttäuscht.“ Selbst das gutmütige Frigimon klang zornig. Davis schüttelte sich das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Er hatte die Zähne zusammengebissen, aber kein Funken Reue lag in seinem Blick. „Versteht ihr es immer noch nicht? Das war nicht Taichi!“ „Drehst du jetzt völlig durch?“ Agunimon hob die Hand zum Schlag, und Funken flogen darum herum. „Denkt doch einmal nach!“, stöhnte Davis. Sein Jochbein begann anzuschwellen. „Habt ihr je von einem Menschen gehört, der so gestorben ist?“ „Kann schon sein“, knurrte Meramon. „Man sieht nicht oft Menschen sterben, weil es kaum welche gibt. Dank dir gibt es einen weniger.“ „Und gleich wird es noch einen weniger geben, dann können wir ja sehen, ob Menschen so sterben!“, knurrte Sir Agunimon. „Wartet!“, rief Veemon verzweifelt. „Ich flehe Euch an, lasst es uns erklären!“ „Da gibt’s nichts zu erklären!“, versetzte Meramon. „Er ist ein Verräter und Königsmörder.“ „Seid Ihr so wild darauf, noch einen Helden zu verlieren? Lasst ihn sich wenigstens erklären“, sagte Matt, auch wenn er nicht wusste, warum er für Davis Partei ergriff. Vielleicht die Macht der Gewohnheit, oder er hatte nach wie vor das Gefühl, Davis würde sich nur in Schwierigkeiten hinein- und nicht wieder hinausmanövrieren, wenn er nicht auf ihn aufpasste. „Ha! Du steckst ja mit ihm unter einer Decke, Wolf!“ Meramons Zorn richtete sich nun auch gegen ihn, und die anderen Digimon wandten sich ebenfalls drohend um. „Nein, tue ich nicht“, widersprach Matt. MetallGarurumon trat an seine Seite und Matt legte ihm die Hand an die Flanke. „Aber MetallGarurumon ist momentan das stärkste Digimon in der Stadt.“ Die versteckte Drohung erzielte die gewünschte Wirkung. Angemon schürzte die Lippen. „Du kannst uns nicht alle besiegen. Nicht die ganze Stadt.“ „Aber Ihr wollt es nicht auf einen Versuch ankommen lassen“, erwiderte er. „Alles, was ich verlange, ist, dass Ihr ihn aussprechen lasst.“ Er ging vor Davis in die Knie, sodass ihre Augen auf gleicher Höhe waren. „Und wenn es nur darum geht, mir zu beweisen, dass ich mich doch nicht so sehr in ihm getäuscht habe“, murmelte er. „Also streng dich an, Davis.“ Der Verräter schluckte und nickte dankbar. „Ich ... Er ... Also, dieser Tai, den ihr gesehen habt, das war nicht der echte Tai, sondern nur eine ... eine Kopie.“ „Lächerlich“, fauchte Meramon. „Wie meinst du das?“, ermunterte Wizardmon ihn, fortzufahren. „Als Tai und Sora Gäste beim Einhornkönig waren, muss er sie kopiert und den echten Tai gegen einen Klon ausgetauscht haben. Bitte, das ist die Wahrheit“, sagte Davis flehend. Meramon schüttelte nur den Kopf. „Kannst du das irgendwie beweisen?“, fragte Matt. „Der ... Der echte Tai, er muss noch irgendwo in der Wüste sein ...“ „Der will uns wohl veralbern“, meinte Meramon. Matt ließ den Blick über die versammelten Digimon wandern, bis er Sora fand. Nachdenklich musterte er sie.     Die Menge wurde allmählich unruhig; die Digimon wollten wissen, was auf dem Podium besprochen wurde. Dreck wurde auf die Bühne geworfen, sicherlich von einigen ungehaltenen Numemon. Sir Angemon erhob sich in die Lüfte und verkündete mit lauter Stimme: „Wir bitten um Ruhe! Der Mord an unserem neuen König wird soeben untersucht! Wer das Verhör stört, wird hart bestraft!“ „Wer soll uns denn bestrafen, wenn es keinen König gibt?“, rief irgendjemand aus der Menge bitter. „Ich“, grollte MetallGarurumon, und schlagartig kehrte Ruhe ein. „Wir können doch nicht die ganze Wüste absuchen, um den Kö... den Drachenritter zu suchen!“, rief Agunimon. Seine Augen wurden schmal. „Woher willst du das überhaupt wissen?“ „Weil ... Weil ich ...“ Davis verstummte. Er fühlte sich geschlagen. Er hatte alles gegeben, um eine Katastrophe zu verhindern. Vielleicht hatte er sogar das Königreich gerettet – nur hatte es von Anfang an wenige Chancen für ihn gegeben. Wie weit sein Entschluss reichen würde, hatte er vorgestern Abend noch gar nicht geahnt, als er die Tür zu seiner Kammer aufgeschlossen hatte. Seine Gedanken waren noch um Sora gekreist, der er versprochen hatte, sie zu Piyomon zu bringen, und dann hatte plötzlich dieses Spadamon in seinem Zimmer gewartet. „Der DigimonKaiser hat es mir gesagt“, erzählte er schließlich. Das allein war ein Skandal für sich, aber jetzt war es auch schon egal. „Was?“, platzte Meramon heraus und loderte erneut auf. „Sag mir, dass ich mich verhört habe!“ Matt wirkte immer noch nachdenklich, die anderen wie erwartet schockiert. „Der DigimonKaiser hat einen Boten in meine Kammer geschickt, mit einem Schwarzen Ring in der Hand, der ein Hologramm erzeugt hat“, fuhr Davis fort. „Er war unter der Pyramide, in der König Takashi gelebt hat. Es war der Tag, an dem er ihn in die Knie gezwungen hat. Da war eine winzige Kammer, und ich habe Tai darin gesehen, und den DigimonKaiser. Er hat mir gesagt, dass ein Datamon, ein Diener des Einhornkönigs, Tai womöglich kopiert hat, weil er ja angeblich hier in Santa Caria sein sollte. Versteht Ihr? Datamon wollte seinen Klon zum König über den Norden machen, durch ihn über uns herrschen und Takashi wieder einsetzen, nachdem er den DigimonKaiser zurückgedrängt hätte!“ „Wenn dir der DigimonKaiser das gesagt hat, war es höchstwahrscheinlich eine Lüge“, gab Angemon zu bedenken. „Das hab ich mir auch gedacht! Haltet Ihr mich für blöd? Aber es war eine echte Übertragung. Tai hat mit mir gesprochen, und der DigimonKaiser hat mich aufgefordert, ihn etwas zu fragen. Es war eindeutig der echte Tai! Er hat erzählt, dass er mit Sora und Agumon unterwegs gewesen war, und dass sie in Datamons Wagen geschlafen und den Einhornkönig getroffen haben. Er hat sich an alles erinnert, was wir je miteinander geredet haben. Und so, wie sich der falsche Tai aufgelöst hat – es ist doch wohl klar, dass er eine Fälschung war!“ „Du machst es mir nicht leicht, dich ernst zu nehmen“, brummte Meramon. „Jetzt hört doch endlich auf mit Euren lästigen Kommentaren“, knurrte ein KaiserLeomon. „Die Sache ist doch ganz einfach. Finden wir den echten Drachenritter, dann hat dieser Junge hier die Wahrheit gesagt. Finden wir ihn nicht, machen wir ihn einen Kopf kürzer.“ „Und das Reich lassen wir solange ohne König, ja?“, giftete Meramon. „Was ich nicht verstehe“, überlegte Wizardmon, „ist, warum der DigimonKaiser ausgerechnet zu dir Kontakt aufgenommen hat, Davis.“ „Was weiß ich?“, fuhr er es schärfer an als beabsichtigt. Weil er das schon mal gemacht hat. Das konnte er unmöglich erzählen. Es war auch so schon merkwürdig genug, und er verstand es selbst nicht wirklich. „Wer hat dir die Nachricht überbracht? Ist er noch in der Stadt?“, fragte Matt. „Es hat sich als Spadamon vorgestellt. Ich habe es seither nicht mehr gesehen.“ „Die Sache stinkt zum Himmel“, stellte Meramon fest. „Warum hast du nicht eher etwas gesagt?“ „Wem denn?“, schnaubte Davis bitter. „Seien wir uns ehrlich – diejenigen von Euch, die mich angehört hätten, hätten mich gleich danach wegen Hochverrats einsperren lassen. Als ob jemandem wie mir zustehen würde, den Drachenritter zu kritisieren!“ „Du bist also an diesem Morgen zu mir gekommen und hast mich gebeten, mit dir Tais Kür zu sabotieren, weil du diese Nachricht von Spadamon bekommen hast?“, fragte Matt. Davis nickte. „Ich wollte nicht, dass ihr den Falschen krönt“, meinte er kleinlaut. „Irgendwie war es dann am einfachsten, mich selbst aufstellen zu lassen.“ Agunimon schüttelte den Kopf, schnaubte aber amüsiert. „Es kann immer noch gelogen sein“, meinte KaiserLeomon, gab aber Veemon endlich frei, das zu Davis lief. „Es ist sogar eindeutig gelogen“, knurrte Meramon. „Seht Ihr nicht, dass er nur seinen Hals retten will? Er erzählt uns Märchen!“ „Wartet.“ Matt drehte sich wieder um. „Sora!“ Er winkte sie auf das Podium. Davis konnte ihr bleiches Gesicht durch die bunte Menge schimmern sehen. Sie wirkte erschrocken, bückte sich dann jedoch und zog Kari auf die Füße, die neben ihr gekauert war. Zu zweit erklommen sie die Tribüne. „Ja? Was ... ist denn?“, fragte Sora zögerlich. Kari anzusehen tat Davis fast körperlich weh. Sie wirkte völlig zerstört, aber in ihrem Blick flackerte etwas wie Hoffnung auf. „Würdet Ihr uns ins Krankenhaus begleiten, Hoheit?“, fragte Wizardmon förmlich. „Wir müssen Euch und Agumon dringend ein paar Fragen stellen.“     In der Finsternis des Wagens, der eine exakte Replikation von Etemons einstigem Gefährt war, blinkte nur Datamons mechanisches Auge hektisch. Es brauchte kein Licht, war mit allen Geräten verbunden. Das Blinken brachte seinen Zorn zum Ausdruck. Seine Puppe war zerstört worden. Es ließ sich von den Instrumenten mit Daten füttern. Datamon benötigte keinen Computer; sämtliche Rechenleistung brachte es selbst auf. Berechnungen flogen an seinem inneren Auge vorbei, Wahrscheinlichkeiten, Fakten und Möglichkeiten. Es hatte das Verhalten der Menschen dort im Norden falsch einkalkuliert. In Windeseile berechnete es einen zweiten Plan. Takashi, dieser Einfaltspinsel, hoffte sicherlich, dass Datamon ihn wieder auf den Thron bringen würde. Mit Taichi als König wäre ihm das gewiss gelungen – nur warum einen unerwünschten Rivalen begünstigen, wenn man selbst herrschen konnte? Eine Möglichkeit gab es noch. Taichis Begleiterin, Sora. Datamons Berechnungen hatten von Anfang an nur den Schluss zugelassen, dass sie etwas mit der Schwarzen Königin zu tun hatte. Bei der Kür hatte sie dann gestanden, dass sie sogar die Schwarze Königin war. Mit ihr konnte Datamon nach einem weiteren Königsthron greifen und sich nehmen, was ihm in Santa Caria verwehrt geblieben war. Es musste sich diesmal wohl auch nicht so sehr in die Psyche des Originals hineinversetzen, um die Kopie realistisch handeln zu lassen. Die Schwarze Königin hatte kaum jemand je kennengelernt. Datamon würde nicht wieder ins Schwitzen kommen wie bei Taichi, als plötzlich dessen Schwester aufgetaucht war. Man hatte nie von einer Schwester des Drachenritter gehört, aber wenn sie tatsächlich so weit weggewesen war – an einem Meer, von dem Datamon seltsamerweise noch nie gehört hatte –, bestand immerhin die Möglichkeit. Gut, dass sie ihm das Schlupfloch mit der beschädigten Erinnerung angeboten hatte. So hatte Datamon vortäuschen können, nicht alles zu wissen, was der echte Taichi eigentlich wissen müsste. Informationen flogen durch Kabel und Gerätschaften, als ein ungewöhnliches Geräusch Datamons Sensoren erreichte. Ein Schaben und Kratzen, dann das Kreischen von Metall. Es blickte auf, tastete die Umgebung nach Wärme und Erschütterungen ab. Draußen, vor dem Wagen war jemand. Wie konnte das sein? Niemand außer dem Piximon kannte den magischen Raum, und Piximon hatte kein Tageslicht mehr gesehen, seit Datamon es gefangen hatte! Metall barst, als sich etwas durch die Außenhülle des Wagens bohrte. Die Sonne schickte Lichtnadeln in die Dunkelheit, die rasch breiter wurden; mit gewaltiger Kraft riss etwas das ächzende Metall auseinander. Drei Gestalten vor gleißendem Sonnenlicht, zwei davon umgeben von einem Kranz kalten Feuers, dahinter der Dschungel des magischen Raums. Datamon analysierte die Digimon sofort – entgegenzusetzen hatte es ihnen wenig. Die SkullMeramon bogen die Außenwand weiter auf. Das Mummymon legte den Kopf schief. „Haben wir dich also endlich gefunden. Der DigimonKaiser will dich sprechen.“ „Wie habt ihr herausgefunden, dass ich mich in dem magischen Raum verstecke?“, fragte Datamon. „Ihr dürftet nicht einmal wissen, dass es so einen Raum überhaupt gibt.“ „Aber wenn man es weiß, weil man zum Beispiel in einem anderen Leben davon gehört hat, ist es leicht, ihn aufzubrechen“, sagte Mummymon geheimnisvoll und wies die SkullMeramon an: „Nehmt es gefangen. Unser Kaiser wird sehr daran interessiert sein, ob es noch weitere Kopien von DigiRittern gibt.“     Der Oberarzt, ein Cutemon mit einem seltsam unpassenden Zylinder und Monokel, zeigte sich wenig erfreut über den Auflauf an Rittern und Fürsten, der plötzlich sein Spital stürmte und das Digimon des Drachenritters zu sehen verlangte. Offenbar lebten die Cutemon schon in Santa Caria, ehe Leomon hierher kam, und waren wenig beeindruckt von seinem provisorischen Kabinett. Piyomon saß bereits auf einem Stuhl im Vorraum. Es sah wieder völlig gesund aus. Sora trat lächelnd zu ihm, um ihm die Sache zu erklären. Kari zerrte sie einfach mit sich mit. Das Mädchen war seit der Szene auf dem Podium in eine apathische Starre gefallen, war leichenblass, sagte kein Wort, aber lauschte aufmerksam jedem Wort, das gesprochen wurde. Nach langem Ringen gab das Cutemon ein Stück weit nach. „Schön“, meinte es. „Ihr dürft Agumon besuchen – aber es hat seine Medikamente für heute bereits bekommen. Es wird schlafen, und Ihr werdet es nicht aufwecken.“ Das war es nicht, was Meramon und die anderen hatten hören wollen. Sora blieb mit Kari bei Piyomon, während die Mitglieder der Kür die Treppe hoch stiegen, um sich selbst von Cutemons Worten zu überzeugen. Sogar Davis schleppten sie mit sich. „Und sie lassen dich bestimmt schon gehen?“, fragte Sora Piyomon, das sie liebevoll in den Arm genommen hatte. „Ich bin schon lange wieder fit. Sie haben mich nur so lange hierbehalten, weil ich keine andere Bleibe habe.“ Sora lächelte. „Das sind gute Digimon, oder?“ „Sie tun alles für ihre Patienten“, bestätigte Piyomon. Agunimon und Meramon trampelten die Treppe lauter herunter, als sie hinaufgestiegen waren, die anderen Digimon waren leiser. Sie alle wirkten ungehalten. „Schöne Bescherung“, brummte Meramon. „Das einzige Digimon, das Licht in diese Sache bringen könnte, ist nicht ansprechbar. Diese verfluchten Winzlinge werden uns morgen sicher auch keine Gelegenheit dazu geben.“ „Und das Volk wird ungeduldig, wenn es unwissend bleibt“, bekräftigte eines der KaiserLeomon. „Aber kommt es euch nicht auch seltsam vor?“, meinte Angemon. „Der Drachenritter wird ausgetauscht, und sein Partner, das Einzige, das die Veränderung sofort bemerken müsste, wird rein zufällig zur gleichen Zeit so sehr krank, dass es mehr schläft als wach ist?“ Meramon blieb abrupt stehen. Es war offensichtlich, dass ihm dieser Gedanke noch gar nicht gekommen war. „Das haben wir gleich. Agumon war ja nicht allein bei ihm.“ Agunimon trat auf Sora zu. „Wir haben dich nicht umsonst mitgenommen. Es wird Zeit, dass du unsere Fragen beantwortest.“ „Haltet Euch an die Etikette, Sir“, sagte Wizardmon. „Sie ist eine Königin. Wir alle haben das akzeptiert.“ Agunimon schnaubte nur. Sora neigte demütig den Kopf. „Fragt, was immer Ihr wollt.“ „Ihr wart doch die ganze Zeit an Sir Taichis Seite, oder? Seit Ihr den ersten Handlangern von König Takashi begegnet seid“, erkundigte sich Wizardmon. Sora nickte. „Ja. Das heißt, nicht ganz. Wir haben eine Nacht in König Takashis Pyramide verbracht. Dort hat man Sir Taichi und Agumon und mir getrennte Zimmer zugewiesen.“ „Haltet Ihr es für möglich, dass man ihn in dieser Nacht durch einen Klon ersetzt hat?“ „Möglich ist es.“ Sora dachte angestrengt nach. „Ich glaube mich zu erinnern, dass Tai am nächsten Tag etwas ... seltsam war. Ich dachte, er hätte vielleicht getrunken, aber ...“ Angemon nickte. „Braucht Ihr noch eine Erklärung, Sirs?“ „Das beweist noch gar nichts“, meinte Meramon. „Sie ist die Schw...“ KaiserLeomon trat ihm auf dem Fuß, dass die Flammen auf seiner Pranke zischten. „Nicht hier in der Öffentlichkeit“, warnte es knurrend. „Trotzdem. Vertraut Ihr ihr etwa? Wenn das der falsche Sir Taichi war, hat sie mitgeholfen, ihn trotzdem zu krönen. Und die Kleine da auch.“ Kari blickte mit stumpfem Blick auf, als das Flammendigimon sie ansprach. „Jetzt macht Ihr Euch lächerlich.“ Matt, der bisher geschwiegen hatte, trat vor. „Wer hier hat noch für Sir Taichi gestimmt? Ihr wurdet alle getäuscht, oder wollt Ihr die Mehrzahl Eurer Mitstreiter auch anschuldigen?“ „Es ist eine Pattsituation“, sagte Wizardmon gewohnt ruhig. „Entweder hat die eine Hälfte von uns für einen Betrüger gestimmt, oder für den echten Drachenritter. Und die anderen haben entweder einen gemeinen Mörder bevorzugt oder einen Helden. Es liegt in unserem Interesse, wenn an Davis‘ Geschichte etwas dran ist.“ Das klang äußerst eigennützig, fand Sora, verbat es sich jedoch, weiter darüber zu urteilen. Die Ritter und Fürsten wurden plötzlich nachdenklich. „Er lebt“, sagte plötzlich Kari, so leise, das man sie kaum verstand. „Tai lebt. Er muss leben, sonst war alles umsonst.“ „Sie hat recht“, sagte Angemon. „Wir haben zwei Tage und eine Front geopfert, um den neuen König zu küren. Wenn der wahre Taichi heute Nachmittag gestorben ist, haben wir ein zu großes Problem, als dass wir es akzeptieren könnten.“ Sora glaubte nicht, dass Kari das damit gemeint hatte, aber es brachte das Gespräch in eine neue Richtung. Ihr wurde plötzlich klar, dass in so wichtigen Angelegenheiten, in Politik und im Adel, die tatsächliche Wahrheit weniger wert war als das, was man für die Wahrheit hielt. Ein befremdlicher Gedanke, doch irgendwie konnte sie ihn nachvollziehen. „Wir haben Sir Taichi doch zum König gekürt“, sagte Frigimon. „Auch wenn wir dem Falschen die Krone aufgesetzt haben. Der Träger der Krone ist tot. Heißt das nicht, dass unser jetziger König irgendwo in der DigiWelt vom DigimonKaiser gefangen gehalten wird?“ „So kann man es sehen“, meinte Sir Angemon und nickte. „Wir werden ihn erneut in einer Zeremonie krönen müssen, damit niemand seine Herrschaft anzweifeln kann, aber wir haben uns seiner Fähigkeiten und Heldentaten wegen dazu entschieden, ihn zu unserem König zu machen. Und das Volk braucht einen König. Solange sie jemanden haben, zu dem sie aufblicken können, ist die Moral der Digimon gestärkt. Und wenn dieser in den Fängen unseres Feindes ist, wird es sie vielleicht umso eifriger kämpfen lassen.“ „Was haltet Ihr dann von folgender Lösung?“, fragte Wizardmon. „Sir Taichi wurde in einer ordnungsgemäßen Kür zum König bestimmt, doch derjenige, der bereit stand, um die Krone zu empfangen, war ein Betrüger. Davis, der Held der Blütenstadt, hat das erkannt und uns allen, wenn auch etwas rabiat, vor einem falschen König bewahrt. Unser wahrer König ist Gefangener des DigimonKaisers, und wir werden alles tun, um ihn nach Santa Caria zu bringen.“ „Das klingt gut“, sagte Agunimon. „Und es ist die Wahrheit“, fügte Davis hinzu, der die Schlinge um seinen Hals verschwinden sah. „Kann ich dann gehen?“ „Ich werde es der Stadt verkünden, damit es kein böses Blut gibt.“ Angemon marschierte nach draußen. Sora sah es vor der Tür des Spitals hoch in die Lüfte steigen. Davis atmete erleichtert auf, Veemon ebenfalls. „Ich hoffe, du lässt es dir nicht zu Kopf steigen“, warnte ihn Agunimon. „Was denn?“ „Wenn die Nachricht die Runde macht, wird man dich vermutlich einmal mehr als Held feiern. Für den Moment ist alles gut. Aber wenn wir den Drachenritter nicht bald finden oder sich herausstellt, dass du ihn doch getötet hast – dann kannst du dich auf was gefasst machen!“     Je mehr der Schock von ihr abfiel, desto sicherer war Kari, dass ihr Bruder noch lebte. Erst sträubte sie sich gegen die Hoffnung, da sie ihr so verzweifelt vorkam, doch Davis war trotz allem niemand, der andere Menschen tötete. Nicht einmal Digimon konnte er wirklich etwas antun. Sie erinnerte sich, als Imperialdramon Deemons SkullSatamon getötet hatte. Davis war hinterher bestürzt gewesen. Nein, er musste einen triftigen Grund für seine Tat gehabt haben. Ihre Hoffnung war wie ein Feuer, das von einem Funken zu einem Waldbrand anwuchs, je mehr sie darüber nachdachte. Sie hatte geträumt, dass Davis Tai tötete, und es war in gewisser Weise eingetroffen, aber nicht so, wie sie es befürchtet hatte. Ihre Visionen mochten die Wahrheit erzählt haben, oder zumindest diese hatte es getan. Aber es konnte trotzdem alles anders sein, als es den Anschein hatte. Brennende Hoffnung. Nun konnte sie wieder hoffen, dass sie diesen Krieg gewinnen und die DigiWelt retten konnten. Sie würden fallen, in ihren Träumen waren sie die Klippen hinabgestürzt, aber was mochte das noch alles bedeuten! Sie würde kämpfen. Darum kämpfen, dass alles gut ausging ... Sie erfuhr, wo T.K. abgeblieben war. Offenbar hatte er sich mit den Piximon-Stadtwachen angelegt und war in eine jener Kerkerzellen gesperrt worden, aus denen sie gemeinsam vor Ewigkeiten die Gefangenen des DigimonKaisers befreit hatten. Kari stieg mit Gatomon die Stufen hinunter, um mit ihm zu sprechen. Die Neuigkeiten überstrahlten ihren Streit, und heute war sie ein anderer Mensch. Dennoch ließ sie Klecks vor dem Tor warten, damit T.K. ihn nicht zu Gesicht bekam. Er war in fürchterlichem Zustand, wie er da hinter den Gitterstäben hockte, schmutzig und blutig im Gesicht. Seine Nase schien gebrochen; der Knochen schimmerte weiß hervor. Kari fühlte ein unangenehmes Ziehen im Magen, als sie das sah. Er hörte ihre Schritte und hob blinzelnd den Kopf, mit müden Augen unter verklebten Haarsträhnen. Er schwieg. „Du hast dich mit den Piximon geschlagen?“, fragte sie. Irgendwie verwunderte es sie gar nicht. Sie hatte T.K. wegen seiner sanften Seite gemocht, dennoch war sie nicht überrascht. Neben ihm sah sie Patamon, das auf dem Boden zusammengesunken war und zusätzlich an einer Kette hing. „Mit Davis“, murmelte er. „Und Matt.“ Kari machte große Augen. „Das haben sie mir gar nicht erzählt.“ „Warum sollten sie? Sie sind jetzt andere Menschen, Kari. Sie sind nicht mehr die, die wir kennen.“ „Nein“, sagte sie bestimmt. „Sie sind es. Wir biegen das wieder gerade. Definitiv.“ Als er schwieg, zögerte sie. „Hast du ... Hast du gewusst, was er vorhat?“ Sein neuerliches Schweigen war Antwort genug. „Ich danke dir“, murmelte sie. Ein trockenes Schnauben. „Es hätte nicht sein müssen, oder?“ „Nein.“ T.K. zuckte mit den Achseln. Kari überlegte, wie sie es ihm beibringen sollte, ohne ihn einem Schockmoment auszusetzen. „Aber der Traum hat sich bewahrheitet.“ Nun starrte er sie eindeutig schockiert an. Aber wie hätte sie es formulieren sollen? „Davis hat aber nicht Tai umgebracht, sondern einen Doppelgänger“, fuhr sie hastig fort. „Du warst bei der Sache mit Datamon und Sora dabei, oder? Dasselbe Datamon hat dasselbe mit Tai gemacht. Der echte Tai ist in der Gewalt des DigimonKaisers.“ „Verdammt“, murmelte er. Dann sagte er plötzlich heiser: „Aber Datamon ist tot. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Etemon es damals getötet hat.“ Der Gedanke war Kari noch gar nicht gekommen. „Was ... bedeutet das?“ Wieder ein Achselzucken. „Ich habt nicht gesehen, dass es gestorben ist, oder? Vielleicht hat es all die Jahre überlebt oder wurde in der Stadt des Ewigen Anfangs wiedergeboren. Oder es war am Ende doch ein anderes Datamon.“ „Vielleicht.“ Kari sah sich noch eine Weile unbehaglich um. „Ich werde deine Freilassung erwirken.“ „Lass dir ruhig Zeit“, sagte er spöttisch. „Ich bin wahrscheinlich schon Volksfeind Nummer eins.“ Sie zögerte, ehe sie antwortete. „Kann sein.“ Wenn herauskam, dass er Davis angegriffen hatte ... der nun wieder ein Held war ... würde man T.K. als Datamons Komplizen ansehen? Vielleicht nicht, aber Gerüchte mochte es geben, über einen streitlustigen Fremden, der sich mit wichtigen Landsleuten angelegt hatte. Kari musterte ihn in der dunklen Zelle und überlegte, ob T.K. so etwas wie der Schatten hinter Tais Königsthron werden würde, so wie er schon der Schatten hinter ihrem eigenen war – eine Finsternis, die er sich nie selbst ausgesucht hätte.     Tag 130   „Das ist das Dämlichste, was ich je gehört habe“, meinte Arukenimon sarkastisch. „Es würde überhaupt keinen Sinn machen, dass irgendjemand die Festung belagert. Unser kleiner Kaiser hat mich eigens davor gewarnt, Funksprüchen zu vertrauen. Wobei die Wissens-Armee dich erstaunlich gut nachgemacht hat.“ „Ich bin es ja auch!“, rief Cody dem Digimon aus dem Hologramm zu. „Das ist keine Fälschung! Die Festung des DigimonKaisers steht unter Beschuss; wenn Ihr weiterfliegt, ist Eure kostbare Fracht in Gefahr!“ Arukenimon schnalzte verärgert mit der Zunge. Es war gemeinsam mit einigen Schwarzturm-MetallMamemon auf dem Schwarzturm-Ookuwamon unterwegs. Die Eingangsplane des Pavillons flatterte im Flugwind, die purpurnen Stoffwände bauschten sich. Die kostbare Fracht saß Arukenimon gegenüber, sodass sie nicht in der Übertragung enthalten war. Ken wollte niemandem erzählen, wen er im Keller der Pyramide gefunden hatte, nur seinen Busenfreund im Norden schien er eingeweiht zu haben. Er musste geradezu irrsinniges Vertrauen zu ihm haben; immerhin standen sie auf verschiedenen Seiten. Er hatte Tai nicht in der Obhut von lauter Schwarzturmdigimon lassen wollen, und so war Arukenimon die undankbare Aufgabe zugefallen, Babysitter für ihn zu spielen. Mummymon hatte es immerhin noch schlechter erwischt; es sollte in den Tiefen der Wüste auf Phantomjagd gehen. Es hatte ewig gedauert, bis Ken Tai aufgepäppelt hatte – er hatte lange nur geblinzelt, weil er die Helligkeit nicht gewohnt gewesen war, und war halb verdurstet gewesen –, und der angebliche Drachenritter hatte sich sogar heftig gewehrt, als man ihn auf den Rücken des Ookuwamons gebracht hatte. Nun flog er unter der Bezeichnung kostbare Fracht und sollte in die Festung gebracht werden, von einer Wüste in die nächste, dorthin, wo er sicher verstaut werden würde, genauso wie man es mit einer kostbaren Fracht eben tat. In frisch eingenommenem Gebiet wäre es auf Dauer zu gefährlich für ihn, wenn der andere Junge – Davis war sein Name, erinnerte Arukenimon sich – zu reden anfing. Ken hatte ihm die Neuigkeiten angeblich so verklickert, dass er damit zögern würde, aber Arukenimon hatte den Jungen als ungestümen Heißsporn in Erinnerung. Der würde kaum dicht halten. Überhaupt waren die DigiRitter von damals einfach lästig. Sah man von Kens eigenen, lächerlich hehren Zielen ab, waren sie immer noch ein anstrengendes Pack. Die Festung wurde automatisch verständigt, wenn sich ihr jemand näherte, und als sie die ersten Sanddünen überflogen, hatte sich plötzlich Cody über den Connector gemeldet, den Ken Arukenimon, Mummymon und Oikawa aufgeschwatzt hatte. Er warnte sie eindringlich, weiterzufliegen. So ein Schwachsinn. „Wir bleiben auf Kurs“, sagte Arukenimon. „Schlimm genug, dass ich mich von einem Halbwüchsigen herumkommandieren lassen muss.“ „Wollt Ihr mich eigentlich nicht verstehen?“, rief Cody gereizt. „Wenn Ihr noch näher kommt, werdet Ihr ...“ Was er sagen wollte, hörte Arukenimon nicht mehr, doch es wusste im gleichen Moment, wie sein Satz geendet hatte. Etwas traf das Ookuwamon und rüttelte es kräftig durch. Mit einem erstickten Ächzen wurde Arukenimon zu Boden geschleudert, Tai hielt sich, trotz gefesselter Arme, irgendwie fest. Ein gedämpfter Laut verließ seinen Knebel aus Spinnenfäden, den Arukenimon ihm für die Dauer der Kommunikation mit Cody verpasst hatte. „Was zum Teufel geht hier vor sich?“ Arukenimon riss die Plane zur Seite. Etwas roch verbrannt. Ookuwamon taumelte ein paar Sekunden. Seine linke Scherenhand war verletzt, schwarzes Turmmaterial lugte aus dem Panzer hervor. „Na toll“, murmelte Arukenimon. „Sag bloß, der Knilch hat die Wahrheit gesagt.“ Die Festung war als verwaschener Fleck im Osten sichtbar, und Arukenimon meinte, tatsächlich etwas zu sehen, das sich davor tummelte. Aber woher ...? Ein neuerlicher Treffer hätte es fast vom Rücken des Ookuwamons katapultiert. Unter ihnen, sie waren unter ihnen! Guardromon, kaum sichtbar in den Dünen, schossen ihre Granaten auf sie – aber keines von ihnen hätte Ookuwamon so schwer verletzen können, dass sein Panzer brach. Arukenimon kniff angestrengt die Augen zusammen. Da ist es. In weitem Bogen über der Festung kreiste ein Gigadramon. Wie um alles in der Welt kam ein Gigadramon hierher? Diese Dinger waren schwer zu erwischen und konnten daher sogar Megalevel-Digimon lästig werden. Im Moment schien es Ziele an der Außenmauer der Festung anzuvisieren, aber wenn es ihnen wieder seine Aufmerksamkeit zuwandte ... Einem Gigadramon entkam man schwer. „Wir fliegen zurück“, befahl Arukenimon Ookuwamon. Das Wendemanöver war halsbrecherisch und diesmal musste des Kaisers erste Ritter-Dame die Finger in den Stoff des Pavillons krallen. Eine weitere Rakete flog von der Festung her, abgeschossen von dem Gigadramon, das sein Glück auf die Entfernung versuchte, aber nicht traf. Trotzdem, Arukenimon sah sofort, dass es keine tumbe Vernichtungsmaschine war. Es hielt sich an einen Plan, wie auch immer der aussah. Immerhin verfolgte es sie nicht. Die MetallMamemon hatten sich auf den Zangen von Ookuwamon verteilt und feuerten in das Dünenmeer hinab. Die Guardromon starben, wie ordentliche Guardromon sterben sollten, wortlos, aber in lauten Explosionen. Arukenimon hatte immer noch keine Ahnung, wie die hierher kamen – auf Gigadramons Rücken vielleicht? –, aber immerhin eine vage Vorstellung, wer sie geschickt hatte. Der Drachenritter sah es aus einem rebellischen Auge an, als es in den Pavillon zurückging. „Nur keine dummen Ideen“, sagte es. „Du bist noch lange nicht aus dem Schneider. Es gibt genügend andere sichere Orte für kostbare Ware wie dich. Als Nächstes fliegen wir die Voxel-Stadt an.“   This time will soon be over, so you must be quick Together we can end this war eternally I will fight forever to find a way in there This place where I am is too empty for my soul (Celesty – Last Sacrifice) Kapitel 54: Kontakt ------------------- Tag 130   „Geschafft, sie kehren um“, seufzte Yolei erleichtert und sah dem Ookuwamon nach. „Kommt, wir sagen es Michael.“ Sie rutschte die Düne hinunter, hinter der sie sich versteckt hatte. Von der Festung her hagelte es immer noch Angriffe auf die Guardromon, aber schon war das Gigadramon im Sand gelandet und nahm sie alle auf. Schnell wie der Wind hielt es auf die Küste zu, wo Whamon mit all ihren Freunden auf sie wartete. „Alles in Ordnung!“, rief Yolei Michael zu, als sie landete. Er nickte, klappte seinen Laptop auf und funkte Izzy an, der sich vor einer Stunde so plötzlich bei ihnen gemeldet hatte. Yolei verstand nur die Hälfte der Geschichte. Es hatte mit dem legendären Drachenritter zu tun, der einmal um Mimis Hand angehalten hatte. Anscheinend war er in der Kaktuswüste in die Gewalt des Einhornkönigs geraten. Der hatte einen digitalen Klon von ihm gestellt und anstelle des echten Sir Taichi nach Norden geschickt, wo seine Landsleute vorhatten, ihn zum neuen König zu machen. Der DigimonKaiser war dahinter gekommen, und aus welchen Gründen auch immer hatte er eine Hologramm-Botschaft nach Norden geschickt, die Izzy, dem Tausendsassa der Wissens-Armee, in sein Computernetz gegangen war. In der Botschaft sprach der Kaiser jedenfalls über genau diesen Täuschungsversuch. Izzy hatte auch überlegt, ob es nicht nur eine Falle war, aber nun, drei Tage später, war plötzlich ein Ookuwamon von der Kaktuswüste hierher beordert worden. Als Izzy es auf seinem Schirm gesehen hatte, war ihm sofort der Verdacht gekommen, dass der DigimonKaiser nun versuchte, den Drachenritter in seine Heimatfestung zu bringen. Die Verlockung war dann doch zu groß gewesen: Izzy hatte Michael kontaktiert und ihn gebeten, ihm bei einer Operation zu helfen. Die Rebellen hatten das Whamon noch immer nicht verlassen, weil Michael, Yolei und Mimi ein ernstes Gespräch geführt hatten: Es würde tatsächlich nicht einfach werden, Matt zu befreien. Sie wollten den richtigen Moment, den richtigen Ort abpassen. Michael hatte die ganze Zeit über eifrig bei seiner Konföderation nach Hinweisen gefragt. Ein solcher Hinweis hatte dann all ihre Pläne über den Haufen geworfen: Gerüchten zufolge war der Eherne Wolf entkommen und hatte sich nach Norden durchgeschlagen. Mimi hatte zunächst ganz entgeistert dreingeblickt, dann erleichtert. Auch den Rebellen war spürbar ein Stein vom Herzen gefallen. Nun mussten sie sich doch nicht auf ein Himmelfahrtskommando begeben, um ihren rechtmäßigen Shogun zu befreien. Nicht lange danach, noch während sie sich ihre nächsten Schritte überlegt hatten, hatte sich Izzy mit der Bitte gemeldet, einige Digimon ins Landesinnere zu schicken und das Gigadramon zu unterstützen, das die Fabrikstadt geschickt hatte. Yolei hatte sich freiwillig für den Einsatz gemeldet, und sie hatten ihren Auftrag erfüllt: Das Ookuwamon mit Tai an Bord hatte den Kurs gewechselt. Michael zeigte ihr den Daumen zum Zeichen dafür, dass es tatsächlich die Voxel-Stadt anflog. Sie hätte zu gern gewusst, warum das wichtig war, aber das schien selbst Michael als Militärgeheimnis zu betrachten. „Werden wir jetzt ständig für die Konföderation die Lockvögel spielen?“, fragte Mimi gelangweilt, die auf einem Felsen saß und ihre Beine ins Meer baumeln ließ. „Das war nur eine Ausnahme.“ Michael zögerte. „Es sei denn, du möchtest uns weiterhin unterstützen. Die Rebellen sind eine Truppe, mit der sogar der DigimonKaiser rechnen muss.“ Mimi überlegte lange. Dann meinte sie: „Wenn Yolei auch dafür ist … dann würde ich gern mit Michael zusammenarbeiten. Wir haben ja sonst sowieso kein Ziel.“ „Was ist mit Matt?“, fragte Yolei. „Was soll mit ihm sein?“, meinte sie schulterzuckend. „Es geht ihm doch gut. Komm mir jetzt nicht wieder damit, dass er mein Ehemann ist. Wir haben diese Heirat beide nie gewollt!“ „Verständlich“, murmelte Michael. „Aber er ist immer noch der Shogun, den deine Digimon verehren.“ „Dann lass sie uns doch selbst fragen“, verkündete Mimi und sprang von ihrem Felsen. Nur Yasyamon und Palmon waren bei ihr, die anderen Digimon warteten auf Whamon. Sie würden bald wieder von hier verschwinden und forttauchen müssen. Michael packte eben seinen Laptop ein, ein stabiles Ding, dem selbst gelegentliche Nässe nichts auszumachen schien. „Aber erst, wenn unser Vertrag mit Whamon ausläuft“, fügte sie mit einem spitzbübischen Lächeln hinzu. Michael zufolge könnten sie das große Digimon noch etwa eine Woche lang mit Futter bezahlen, das die Konföderation zur Verfügung stellen würde. Yolei war verwundert. Warum wollte sie länger als nötig in Whamons Rachen bleiben? Im Nördlichen Königreich hätte sie es sicher bequemer. „Sag mal, weißt du, warum Mimi es so gar nicht eilig hat?“, fragte sie Palmon, als Mimi mit Yasymon und Michael begann, über die Felsen weiter ins Meer zu klettern, dorthin, wo Whamon sie auflesen würde. „Ich glaube, ich weiß es“, antwortete Palmon. „Michael hat Mimi gestern erzählt, dass er wahrscheinlich wieder von der Wissens-Armee woanders hinbeordert wird, sobald er Mimi sicher bei ihrem Gemahl abgesetzt hat. Schließlich hat sie jetzt eine ganze Rebellentruppe und braucht seinen Schutz nicht mehr.“ Yolei beobachtete, wie Michael Mimi über die glitschigen Steine half. „Ach, daher weht der Wind“, sagte sie trocken.     Tai weigerte sich, sich in die Rolle des Gefangenen zu fügen. Er war durch die halbe DigiWelt geflogen, um die Schwarze Königin gefangen zu nehmen, und seither hatte er selbst keine Freiheit mehr geschmeckt. Erst war er Soras Gefangener gewesen, dann der des DigimonKaisers, dann, als er endlich geglaubt hatte, alles würde sich zum Guten wenden, hatte man ihn nachts in seinem Zimmer in der Pyramide überfallen. Ehe man ihn fortgeschleppt hatte, in eine winzige Kammer in einer geheimen Ebene des Gebäudes, hatte er noch gesehen, wie Datamon mit seinen Kabelfingern etwas in Agumon gepumpt hatte. Danach hatte er gewartet, alleine in der Dunkelheit, für Ewigkeiten, wie es ihm vorkam. Hatte darauf gewartet, dass sich etwas tat, dass jemand mit ihm sprach oder man ihm Essen und Trinken brachte. Letzteres war ab und zu geschehen, aber die Tür hatte sich jedes Mal nur einen blendend weißen Spalt geöffnet. Als sie endlich aufgebrochen wurde und mehr Licht und frische Luft in dieses Grab drangen, hätte Tai am liebsten traurig aufgelacht. Ausgerechnet der DigimonKaiser war sein Befreier. Und sogleich war er wieder sein Gefangener gewesen. Er machte sich große Sorgen um Agumon. Auch um Sora. Er hatte sogar den DigimonKaiser nach ihnen gefragt, doch der hatte gemeint, er wüsste nicht, wo sie sich aufhielten. Wahrscheinlich schon in Santa Caria, gemeinsam mit einer Kopie von ihm, Tai. Der Tyrann war ungewohnt gesprächig gewesen, aber nur wenig von dem, was er sagte, ergab Sinn oder war verständlich. Tai verstand immerhin, dass er ihm weismachen wollte, König Takashi hätte sie alle hintergangen. Warum er stets fragte, ob er sich noch an seinen Namen erinnerte, war Tai ein Rätsel. Der DigimonKaiser war der DigimonKaiser. Eine Hassfigur für jeden, der recht und gerecht war, brauchte keinen Namen. Irgendwann hatte der DigimonKaiser die Gespräche mit ihm abgebrochen, sichtlich unzufrieden. Aber was hatte er sich erwartet? Dass der Drachenritter die Spielchen eines Tyrannen mitspielte, der in das friedliche Little Edo eimarschiert war, Krieg in alle Ecken des Kontinents brachte und ihn selbst auf einen Fußmarsch durch die DigiWelt geschickt hatte? Wohin sie nun unterwegs waren, hatte Tai geahnt. Man wollte ihn tief im Herzen des Kaiserreichs versenken, vermutlich würde man bei König Leomon Lösegeld für ihn verlangen. Das Arukenimon, das mit ihm flog und eigentlich weniger wie ein Digimon und mehr wie ein Mensch aussah, war überheblich und antwortete nicht auf seine Fragen. Dass es nun zur Voxel-Stadt gehen würde, war das Informativste, das er heute von ihm gehört hatte. Von einem Moment auf den anderen waren sie da. Arukenimon funkte die Stadt mit dem technischen Gerät an seinem Handgelenk an und erbat Landeerlaubnis. Eine Stimme – diesmal ohne Projektion – wies dem Ookuwamon eine Landefläche am Rand der Stadt zu, dann merkte Tai, wie es tiefer ging. Als die MetallMamemon ihm beim Aussteigen halfen, fand er sich in einem großen, betonierten Gehege wieder, das wie ein Truppenübungsplatz aussah. Dahinter waren Baracken und Wellblechschuppen zu sehen, als wären sie in einem Armenviertel der Stadt gelandet. In der Ferne erhob sich die beeindruckende Skyline der Voxel-Stadt, mitsamt dem Schwarzen Turm, dem einzigen Makel inmitten spiegelnder Wolkenkratzerfassaden. Eine Delegation aus Schwarzring-Digimon erwartete sie. „Hier sieht es ja noch öder aus als in der Wüste“, kommentierte Arukenimon die graue Atmosphäre und zog an seinem Kragen. „Und viel kühler ist es hier auch nicht. Wer von euch ist der Anführer? Ich hab hier etwas Kostbares.“ „Das wäre wohl ich“, grollte ein eindrucksvolles Kabuterimon, das einzige Digimon ohne Schwarzem Ring. „Wir haben keine Lieferung erwartet.“ „Eine Notlösung. In der Kaiserwüste geht es gerade drunter und drüber.“ Arukenimon nickte den MetallMamemon zu, die Tai einen Stoß verpassten. Betont grimmig blickte er Kabuterimon entgegen. „Ist er dieses Kostbare?“ „Ja. Kennst du ihn?“ „Ein Mensch“, stellte Kabuterimon fest. „Was du nicht sagst“, meinte Arukenimon ironisch. „Gut, dass jemand mit so viel Durchblick die Stadt kontrolliert. Der DigimonKaiser will, dass es ihm gut geht und dass er nicht flieht. Bekommt ihr das hin?“ Kabuterimon senkte den Kopf. „Ist das nicht ...“ „Ja, ihr nennt ihn Drachenritter“, meinte die Digimon-Frau genervt. „Noch Fragen?“ „Wir werden gut auf ihn achtgeben.“ „Versprich nichts, was du nicht halten kannst“, gab Tai sich rebellisch. Niemand reagierte. Er bot wohl auch einen bemitleidenswerten Anblick. „Schön. Ich fliege dann mal zu unserer Majestät zurück. Wir sollen wichtige Dinge ja nicht über Funk klären, also verklickere ich ihm das mal persönlich.“ Arukenimon trug eine violette Sonnenbrille, aber Tai war sich sicher, dass es die Augen rollte. „Ich darf dich wahrscheinlich persönlich zur Rechenschaft ziehen, wenn du versagst, also gib dir Mühe. Und du, sei zur Abwechslung mal brav und gib denen keinen Grund, dich anzugreifen“, sagte es an Tai gewandt. Er ballte die Fäuste. „Wir sprechen uns noch.“ „Vermutlich. Bis dahin solltest du überleben.“ Es stieg mit der MetallMamemon-Eskorte wieder auf Ookuwamons Rücken. Aus der Flugrichtung konnte Tai ungefähr abschätzen, wo die Kaktuswüste lag, und bekam somit ein Gespür für die Himmelsrichtungen. „Dann wollen wir mal“, grollte Kabuterimon und bedeutete den Schwarzring-Digimon, Tai ins Innere der Stadt zu eskortieren. Er hatte sich immer gefragt, wie die Voxel-Stadt aussehen mochte, mit ihren chromblitzenden Häuserfassaden, den Wolkenkratzern, der hohen Technologie, die im Norden einzigartig war und im Süden nur von der Fabrikstadt übertroffen wurde. Allerdings hatte er sich einen Ausflug hierher nicht so vorgestellt: Er war zwar nicht in Ketten, aber alleine ohne seinen Partner umgeben von Champion-Digimon zu sein, kam letztendlich aufs Gleiche hinaus. Wo war nur Agumon? Ging es ihm gut? Bald kamen Straßen in Sicht, als sie auf das Herz der Stadt zugingen, vorbei an den Baracken und grauen Übungsplätzen. Auch der Turm kam näher. Kabuterimon schlurfte vor ihm her, obwohl es hätte fliegen können. Offenbar war es sehr stolz auf seinen neuen Gefangenen … Tai fragte sich, wie Digimon freiwillig dem DigimonKaiser dienen konnten. Es musste von Grund auf verdorben sein. Der Asphalt war rissig, nur ein wenig, aber das machte den Weg wenigstens etwas interessanter. Ansonsten verlief die Straße schnurgerade und auch die Häuser links und rechts davon sahen gleich aus. Die Pracht der Voxel-Stadt ließ auf sich warten. Tai taten bereits die Füße weh, als sie auf einem kleinen Vorplatz stehen blieben – einem Vorplatz zu irgendetwas; einem relativ hohen Gebäude am äußeren Rand der Stadt. Er sah sich um und fragte sich, was hier sein sollte. Seine Zelle vielleicht? Mit einem leisen Surren glitten die verspiegelten Türen des Gebäudes auf, und ein Junge kam heraus. Tai war verwirrt. Nicht nur hatte er diesen Rotschopf noch nie in seinem Leben gesehen, er hatte auch nicht davon gehört, dass andere Menschen außer der Schwarzen Rose sich auf die Seite des DigimonKaisers geschlagen hatten. Aber wunderte es ihn? Söldner konnte man ja für alles begeistern. Der Junge hob sein DigiVice. Unter den Arm hatte er einen tragbaren Computer geklemmt. „Gut gemacht, Kabuterimon. Sie haben keinen Verdacht geschöpft?“ „Keinen. Es hat geklappt.“ Kabuterimon digitierte in hellem Licht zu einem Tentomon zurück. Die Schwarzringdigimon grinsten plötzlich alle unverschämt, als wäre ihnen ein lustiger Streich gelungen. Ein Numemon schob sich seufzend den Ring über den Kopf. Was ging hier vor? Der rothaarige Junge nickte Tai freundlich zu. „Seid mir gegrüßt, Sir Taichi. Ich bin Izzy, Generaloperator von Mission Seeungeheuer, rechte Hand von Premierminister Andromon und taktischer Berater des Komitees der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt. Ihr seid unter Freunden.“     Tag 138   Die Sitzungen zogen sich in die Länge, und T.K. war nicht eingeladen. Irgendwie hatte er es geschafft, als Störenfried zu gelten. Die Piximon beobachteten ihn mit Argusaugen, wann immer er in der Nähe war, obwohl Wizardmon eine öffentliche Entschuldigung hatte verlautbaren lassen. T.K.s Nase schmerzte in der trockenen, staubigen Stadtluft. Neun Tage waren mittlerweile vergangen, seit Davis freigesprochen worden war. Wieder einmal, wie er gehört hatte. Davis machte sich auch hier einen Namen als Helden, während T.K. die Randfigur spielen durfte. Er wollte nicht eifersüchtig sein, wollte nicht darüber nachgrübeln und stattdessen alles tun, um der DigiWelt zu helfen, doch er hatte so viel Energie am Meer der Dunkelheit aufgebraucht, sich so ins Zeug gelegt und so gelitten ... und all seine Freunde, die Einzigen, die es würdigen könnten, hatten keinen Plan von nichts. Sie torkelten ziellos durch die DigiWelt und bekamen Heldentitel, obwohl sie vergessen hatten, wer und was sie waren. T.K.s Kopf schwirrte vor Schmerzen und Hitze. „Du sitzt ja schon wieder hier.“ Er hob den Blick. Sora kam über den Platz und steuerte die Steinbank an, auf der er saß. Sie trug das weiße Kleid, das sie sich hatte nähen lassen und das ihr gestern übereicht worden war. Es war nichts, das sie in ihrem wahren Leben getragen hätte; prinzessinnenhaft und mit langem Rock mit Drahtgestell, schulterfrei, mit Spitze und ein paar Rüschen. Aber es stand ihr. Hinter ihr tappte Piyomon gut gelaunt über das Pflaster. Die beiden hatten sich in den letzten Tagen in das blühende Leben verwandelt. „Hier.“ Sora hielt ihm einen Tonbecher hin. Ein leicht saurer Geschmack drang in seine Nase. „Apfelwein“, erklärte sie auf seinen fragenden Blick hin. „Den gab es heute bei der Sitzung. Ist unerwartet erfrischend in der Hitze, aber mir schmeckt er nicht.“ T.K. nahm den Becher entgegen, sah aber nur auf die durchsichtige Oberfläche des Weins. Ob Alkohol tatsächlich Schmerzen lindern konnte? T.K. hatte die Minderjährigenregelungen immer strikt eingehalten – warum sollte er auch nicht? Bei seinem Vorstrafenregister in der DigiWelt schien es ihm hingegen nur recht und billig, wenn er trank – und genau deshalb verbat er es sich. „Also ist die Sitzung zuende?“, fragte er. Seine Stimme klang heiser. „Noch nicht. Sie diskutieren jetzt, wie sie die Große Ebene am unauffälligsten überqueren können. In dem Teil der DigiWelt war ich noch nie, daher kann ich ihnen dabei nicht helfen.“ Sie setzte sich neben ihn auf die Bank. „Sag … hast du von mir gehört?“, fragte sie zögerlich. „Was meinst du?“ „Ich kenne dich kaum, aber ich bin ... Also, ich wüsste gerne, ob du glaubst, was man über mich erzählt.“ T.K. hatte kaum mit jemandem gesprochen, seit er hier war, schon gar nicht über Sora. „Was erzählen sie denn über dich?“ Sie schwieg bedrückt, also antwortete Piyomon. „Sora hat Angst, dass man von ihr nur als wahnsinniger Tyrannin denkt.“ „Ach so, das meinst du.“ T.K. drehte den Becher in der Hand und leerte den Inhalt auf den heißen Boden. Das schreckte Sora aus ihrer Trance. „Keine Sorge. Dafür halte ich dich ganz sicher nicht. Im Gegenteil. Schließlich hast du meinem Bruder mal sehr nahe gestanden – auch wenn du es nicht mehr weißt. Und mir auch.“ Sie sah ihn erstaunt an, schien aber ihre Frage nicht in Worten formulieren zu können. „Du hast einen Bruder?“, fragte sie daher. T.K. sah starr auf den Apfelwein, der sich in den Ritzen der Pflastersteine verlor. „Ich hatte einen Bruder.“ „Oh“, murmelte sie. „Das … tut mir leid.“ „Ja“, brummte er. Der Wein würde in der Hitze bald getrocknet sein. „Ja, mir auch.“     Eigentlich sollte Kari ja mit vollem Eifer bei der Sache sein, dennoch konnte sie nur mühsam ein Gähnen unterdrücken. Seit Stunden, Tagen diskutierten sie hier schon, wie sie Tai finden könnten, und das nur zu siebt – oder eher zu viert, denn Klecks saß nur teilnahmslos daneben, und Gatomon und Veemon stimmten stets wie ihre Partner und löschten ihre Stimmen damit gegenseitig aus. Denn Kari und Davis waren selten einer Meinung. Die Tage, in denen er mit Freuden nach ihrer Pfeife getanzt hatte, schienen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Die meisten Adligen der Königskür waren in ihre Provinzen zurückgekehrt, vor allem um zu den Fahnen zu rufen und Digimon für den Kampf gegen die Geisterarmee um sich zu scharen. Wizardmon war ebenfalls in die Blütenstadt gezogen, und Kari vermisste Matt, der dem Rat mit seinem kühlen Kopf sicher eine Bereicherung gewesen wäre. Wegen der neuen Entwicklungen hatte er sich bereiterklärt, an der Front zu Centarumon zu stoßen. So blieben außer Klecks, Kari, Davis und ihren Partnern nur Meramon und Sir Agunimon, und diese beiden waren, genau wie Karis Freund, eher temperamentvoll. Vermutlich wollte man nicht, dass die Gastköniginnen das gebeutelte Reich überstimmten. Jedenfalls standen die Zeichen nun auf Angriff, man wurde sich nur nicht einig, welche Stellung des DigimonKaisers man zuerst überfallen sollte. Kari hatte bereits all ihre Bedenken an diesen Plänen geäußert: den Krieg gegen MetallPhantomon, die geschwächten Reihen des Nördlichen Königreiches und die Gefahr, dass der DigimonKaiser Tai als Geisel benutzen könnte. Die anderen hatten ihre Einwände zwar aufgenommen, aber sie hielten Angriff in diesem Fall trotzdem für die beste Verteidigung. „Es wird immer später“, knurrte Agunimon irgendwann. „Wir kommen heute wieder zu keiner Lösung.“ „Wir gehen nicht, bevor wir nicht einen Konsens erreicht haben!“ Die Tischplatte war schon ganz verrußt von Meramons wiederholten Faustschlägen. „Trotzdem, ich sage, wir sehen uns noch den letzten Hinweis an und kommen dann langsam zu einem Ende“, beharrte Agunimon. Kari horchte auf. Ein Hinweis? „Einem Schwarzen Ring ist nicht zu trauen“, befand Meramon. „Schmeißt das Ding weg. Es spioniert uns höchstens aus.“ „Was für ein Schwarzer Ring?“, fragte Davis. Er schien auch nichts davon zu wissen. „Man hat ihn heute Morgen vor dem Tor gefunden.“ Agunimon stand trotzig auf, öffnete eine Seitentür und winkte einen Candlemon-Diener herein. „Er ist seltsam manipuliert. Spielt uns eine Nachricht vor – aber Meramon und ich sind überzeugt, dass es nur ein Trick des Kaisers ist.“ Candlemon hüpfte auf seinem Kerzenständer heran und legte etwas auf den Tisch, das tatsächlich nach einem Schwarzen Ring aussah. Kaum lag er fest auf der Tischplatte, geschah jedoch etwas Merkwürdiges: Das Ding begann zu summen – Veemon ballte die Fäuste – und zu vibrieren, dann erschien plötzlich eine geisterhafte Projektion darüber. Kari schnappte nach Luft. Den anderen mochte das Gesicht nichts sagen, selbst Davis nicht, doch sie erkannte Izzy sogar in seiner Militäruniform. „Seid gegrüßt“, erklang seine Stimme. Hinter ihm sah man Computerröhren und technische Geräte. „Ich bin Izzy, taktischer Berater des Komitees der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt. Ich hoffe, der gefälschte Ring konnte den DigimonKaiser täuschen. Ich gehe hiermit ein großes Risiko ein, doch es wird Zeit, unsere Karten auszuspielen. Sir Taichi der Drachenritter ist bei uns, in Sicherheit. Wir haben die Voxel-Stadt eingenommen, und noch weiß niemand davon. Ihn euch zurückzuschicken wird schwierig, da wir die Stadt nicht verlassen können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Ich schlage daher einen gemeinsamen Angriff vor. Wenn wir unsere Deckung aufheben, dann nur, um den Kaiser in einem letzten Feldzug zu besiegen. Der Plan sieht vor, dass Ihr nach Süden zieht und Little Edo angreift. Sind die Streitkräfte des Kaiserreichs abgelenkt, fallen wir ihnen von Südosten in den Rücken. Sobald unsere Heere aufeinander stoßen, können wir den Drachenritter wieder an Eure Seite stellen. Sofern wir dann unsere Stellungen halten, wird der DigimonKaiser zu geschwächt sein, um weiter Widerstand zu leisten. Ich hoffe, Ihr vertraut mir. Ich gebe Euch drei Tage Zeit. Wenn Ihr einverstanden seid, schickt Digimon in das Gebiet der Knöchelküste. Wir haben das System des DigimonKaisers gehackt und werden uns mit Euch darüber verständigen, wie viele Digimon-Signaturen seine Türme in diesem Gebiet aufzeichnen. Schickt ein Digimon für jeden Tag, den Ihr danach noch braucht, um Eure Dinge zu regeln, ehe wir gemeinsam losschlagen. Seid Ihr bedauerlicherweise nicht gewillt, mit uns zusammenzuarbeiten, tut einfach nichts. Wir werden Sir Taichi beschützen und auf eine neue Gelegenheit warten.“ Izzy lehnte sich zurück. „Das wär’s. Wollt Ihr noch etwas anfügen?“, fragte er über die Schulter hinweg. Davis murmelte überrascht etwas, als sich tatsächlich Tai ins Bild schob. Die Projektion verlieh ihm etwas Geisterhaftes. Kari tat es wieder weh, seine Augenklappe sehen zu müssen. Etwas in ihr hatte gehofft, dieses Detail wäre nur dem Klon hinzugefügt worden. „Davis. Meramon. Wer auch immer sonst noch zusieht. Agumon? Ihr könnt ihm vertrauen, es ist wahr, was er sagt. Und sein Plan ist gut – ich bin dafür! Richtet das meinen Drachen aus, sie sollen sich auch beteiligen. Mit Izzys Plan können wir den verhassten Tyrannen besiegen – ein für alle Mal!“ Izzy nickte, sah noch einmal entschlossen in die Kamera, drückte dann irgendwo hin und das Bild erlosch. „Wie gesagt“, brummte Meramon in die folgende Stille hinein und riss Kari damit wieder ins Hier und Jetzt. „Ausgekochter Blödsinn. Eine Falle, nichts weiter. Der DigimonKaiser hat Sir ... König Taichi in seiner Gewalt. Er wird ihn unter Folter gezwungen haben, das da zu sagen. Wir können diesem dürren Wicht nicht trauen.“ „Aber – was, wenn es stimmt?“, fragte Davis hoffnungsvoll. „Es wäre doch zu schön.“ Agunimon schüttelte den Kopf, dass seine blonde Mähne flog. „Die Voxel-Stadt? Ohne dass der DigimonKaiser etwas ahnt? Ich bitte Euch. Selbst wenn die Nachricht von der Wissens-Armee stammt, mit deren technischen Mitten können sie Sir Taichis Abbild sicher ganz leicht fälschen. Sie wollen uns ausnutzen. Der DigimonKaiser und wir sollen unsere Klauen aneinander stumpf schaben, darauf hoffen sie. Warum sollten sie plötzlich an einer Zusammenarbeit interessiert sein? Die Sache stinkt zum Himmel.“ „Vielleicht, weil sie Tai tatsächlich befreit haben?“, schlug Davis vor. „Wie gesagt. Zu viel des Zufalls.“ „Ihr könnt ihm vertrauen“, sagte plötzlich Kari mit einer Überzeugung, die ihr die überraschten Blicke aller einbrachte. „Und wie könnt Ihr da so sicher sein, Königin vom Schwarzen Meer?“, fragte Agunimon nicht ganz unhöflich. „Weil ich Izzy kenne. Und das sieht genau nach seiner Handschrift aus.“ Während das Feuer der Diskussion wieder aufloderte und in eine neue Richtung brannte, dachte Kari an ein anderes Feuer. Die Pipeline. Izzys Plan, an das Herz des DigimonKaisers heranzukommen. Vielleicht war es ihre immerwährende Sorge um Tai, aber sie konnte nicht anders, als voll und ganz auf Izzy zu setzen.     Tag 140   Tagelang wartete Izzy nun auf eine Antwort, und er wurde immer nervöser. War der Schritt zu gewagt gewesen? Trauten sie ihm nicht? War der Ring über dem Territorium des DigimonKaisers abgefangen worden, obwohl Izzy seine Präsenz verschleiert hatte? Oder funktionierte die Überwachung des Küstengebiets gar nicht? Tat der DigimonKaiser am Ende gerade etwas, das er nicht hatte vorhersehen können? Auch Taichi wurde zunehmend unruhig. Stundenlang tigerte er in Izzys Zentrale auf und ab. Nachdem Joe sich seine Verletzung angesehen hatte, versuchte er sich nun als Katalysator für die Angespanntheit der beiden, war aber selbst besorgt, obwohl er gar nicht in den Plan eingeweiht war. Als Izzys virtueller Sensor plötzlich anschlug, waren er, Tentomon und Taichi deshalb sofort vor dem Bildschirm, auf dem das Muster der unregistrierten Digimon-Signaturen in dem Küstenlandstrich zu sehen war. „Fünf?“, meinte Izzy entgeistert. „Sie brauchen noch fünf Tage?“ „Das heißt, dass sie es ernst meinen“, überlegte Taichi. „Sie haben noch einen Feind im Westen, vermute ich. Erst, wenn der erledigt ist, können sie sich auf den DigimonKaiser konzentrieren.“ Izzy atmete tief durch. Es konnte immer noch sein, dass der DigimonKaiser Bescheid wusste und das Signal fingiert war. „Sei’s drum“, murmelte er. „Wir haben genug gewartet. Noch fünf Tage, und es wird sich entscheiden. Tentomon, benachrichtige Andromon und die anderen und bereite alles auf einen schnellen Schlag vor.“     Raidramons Blitze fuhren mit vernichtender Wucht in die Bakemon. Sie waren einander nur zwei Reitstunden vor der Stadt begegnet. Auf Raidramons Rücken saß Davis, der sein Digimon anfeuerte. Endlich konnten sie wieder etwas tun! „Ihr könnt das uns überlassen“, rief ihm Kari zu, neben der engelsgleich Angewomon schwebte. Um sie herum kämpften ihre Divermon träge, aber effektiv gegen alle, die sie packen wollten. Auch dieser T.K. war bei dem Ausfall dabei, mit seinem MagnaAngemon. „Sie hat recht“, rief er gerade. „Die langsamen Digimon werden mit denen hier allein fertig. Die schnellen sollten zur Front, wir sehen uns dort!“ T.K. schien Davis seine gebrochene Nase weniger übel zu nehmen, als dieser geglaubt hatte, auch wenn er ihm für gewöhnlich sehr kühl begegnete. „Ist gut!“, rief Davis zurück. Raidramon stürmte weiter, gefolgt von einigen Triceramon, Monochromon, Tuskmon und Tyrannomon. Sie hatten Santa Caria nur mit den Piximon und Agunimon als Verwalter zurückgelassen. Um ihren König zu retten, mussten sie MetallPhantomon in weniger als fünf Tagen besiegen. Während sie über Feldwege galoppierten, verdunkelte kurz ein Schatten die Sonne. Davis sah zu Garudamon hoch. Sora hatte es sich nicht nehmen lassen, auch in den Kampf zu ziehen. Vor allem wollte sie ihren Träumen und ihrer Vergangenheit den Kampf ansagen, hatte sie gemeint.     „Das Heulen ist das Schlimmste. Sie können vor meinen Augen Digimon zerreißen und uns stinkenden Unrat entgegenwerfen, meinetwegen, aber das Heulen …“, murmelte Gaogamon. „Es fängt immer schon bei Einbruch der Dämmerung an. Dann geht es die ganze Nacht. Schlafen können wir sowieso nicht, aber es tut in den Ohren weh, dieses Kreischen und Stöhnen, so als würden sie sich selbst gegenseitig die Haut abziehen. Wenn’s doch nur so wäre! Und dann greifen sie nicht mal jede Nacht an. Wenn sie jedes Mal angreifen würden, müssten wir nur darauf warten, aber so ... Man weiß nie genau, wird es heute Nacht losgehen oder nicht? Erleben wir den Morgen noch oder nicht?“ Matt lauschte ihm schweigend. „Mach dir keine Sorgen. Jetzt sind wir wieder zusammen. Es wird bald vorbei sein.“ Er stand auf, nickte Gaogamon noch einmal zu und ließ es dann allein an seinem Lagerfeuer weiterzittern. Tief durchatmend schritt er die langen Gräben und provisorischen Holzwälle ab, die bestenfalls als Schutzschild vor Attacken schützten, aber schnell überrannt werden konnten. In regelmäßigen Abständen brannten Feuer oder Fackeln auf den hölzernen Wachtürmen, die viel zu schnell gebaut worden waren, um stabil zu sein. Zuerst hatte er sich gefreut, das Gaogamon wiederzusehen. Diese Freude war schnell verflogen, als er erkannt hatte, wie sehr sich das Wolfsdigimon verändert hatte. Gaogamon war nie ängstlich gewesen. Keiner der Ehernen Wölfe war ein Feigling. Dass es mittlerweile so verstört war, bewies nur umso deutlicher, wie schlecht es um die Nordarmee stand. Er hatte von zwei weiteren Wölfen gehört, die sich Centarumon als Söldner angeschlossen hatten. Einer von ihnen war bei einem Gefecht getötet worden, der andere desertiert. Dass sie mit MetallGarurumon nun ein Megalevel-Digimon bei sich hatten, hob die Moral der Soldaten nur bedingt. Die Front war einfach zu breit. Matt ließ den Blick über das weite Feld aus Erde, Gras und verbrannter Asche wandern. Centarumons Digimon hatten am Rand des Mori-Mori-Waldes alles niedergebrannt, was dem Feind als Deckung dienen könnte, aber sie hatten jetzt keinerlei strategischen Vorteil mehr, keinen Engpass, in dem sie die Feinde aufhalten konnten, sondern eine endlose Linie aus Zelten, Baracken, brütenden Digimon, Wachtürmen und zugespitzten Holzpfählen, von Gräben durchzogen wie sehniges Fleisch. Die Briganten hatten ihre Lager irgendwo außer Sichtweite, aber Kundschafter berichteten ebenfalls von Holzbauten, Gräben und Erdhöhlen. Bislang war es Centarumons Heer nicht gelungen, diese Nester auszuräuchern – sie hatten genug mit der Verteidigung zu tun. Die Veteranen erzählten, dass MetallPhantomon bei der Belagerung der Blütenstadt die Träume der Verteidiger vergiftet hatte. Das war nun gar nicht mehr nötig, denn sie kamen kaum zum Schlafen. Ihre Feinde hatten dieses Schlachtfeld sicher gewählt, um die Vorteile von Geistern und Briganten zusammen auszuspielen. Andernfalls hätten die Geister auch einfach durch die Berge kommen und Santa Caria angreifen können; das Heer der Briganten jedoch hätte dabei Schwierigkeiten gehabt, sich zu formieren, und die Stadt konnte man gut gegen Angriffe aus den Bergen verteidigen. Deshalb waren sie alle zusammen im Norden aus den Nadelbergen geklettert und versuchten, nach Osten durch den Mori-Mori-Wald zu gelangen. Tagsüber griffen die Briganten an, die MetallPhantomon unter seinem Banner vereint hatte. Sie pickten Stücke aus dem Nordheer wie aus einem verwundeten Beutedigimon, gingen wenige Risiken ein und beschränkten sich zumeist darauf, sie zu terrorisieren und ihnen die Erholung zu verweigern. Nachts dann, unter schauerlichem Geheul, kamen die Geister. Von ihnen hatte MetallPhantomon eine solche Menge, dass es sie ungeordnet und ohne große Taktik in den Kampf schickte. Sie waren die wahre Gefahr. Alle Verteidigungswälle nützten nichts gegen sie, und man wusste auch nie, wo sie als Nächstes angreifen würden. Matt fragte sich, ob MetallGarurumon seine gewaltige Stärke gegen einen so breitgefächerten Feind ausspielen konnte. Die Nacht würde es wohl zeigen. Langsam ging er an den Türmen vorbei, die die Mitte der Frontlinie verstärkten. Tagsüber hatte MetallGarurumon recht gute Dienste geleistet. Zumindest einen Teil des Brigantenheers hatte es fast ausgelöscht, mit einem einigen Schlag, dann hatten sich die Gesetzlosen zurückgezogen. Die Angriffe waren aber nicht zuende gewesen – den halben Tag lang hatten Matt und Garurumon die Briganten von einem Ende der Front bis zum anderen gejagt. Das Areal war einfach viel zu groß, und ihr Feind legte es auf Zermürbung an. Matt rieb sich den schmerzenden Nacken. Wenigstens war es nun etwas ruhiger. Nur am frühen Morgen und jetzt, wenn die Abenddämmerung düster über das Land blutete, war ihnen eine Auszeit vergönnt, nicht genug, um sich zu erholen, aber immerhin. Centarumons Zelt lag zwischen den Türmen. Es war durch nichts von den anderen verschieden; sie wollten die Feinde nicht wissen lassen, wo sich ihr Anführer aufhielt. Von dort kam Matt Gabumon entgegen. Ihm fiel sofort auf, dass seinen Partner etwas beschäftigte. „Was hast du?“ Gabumons Blick wanderte über die Feuerstellen „Ich weiß nicht“, meinte es zögernd. „Irgendwas stimmt nicht. Findest du es nicht auch zu ruhig?“ „Zu ruhig?“ Matt lauschte. Tatsächlich, außer den gesenkten Stimmen der Verteidiger und dem Prasseln der Flammen war die Abendluft still, dick und schwer. Die Dunkelheit senkte sich bereits über den Norden. „Die Digimon haben alle gesagt, dass das Geistergeheul anfängt, sobald die Briganten abgezogen sind“, erinnerte sich Gabumon. „Wieso hören wir dann nichts davon?“ „Wer weiß?“ Matt seufzte. „Sie sind alle völlig erschöpft und verängstigt. Sicher haben sie nur übertrieben.“ „Trotzdem, irgendwas stimmt nicht.“ Ein Blick in Gabumons Augen sagte Matt, wie ernst es ihm war. Er nickte. „Gut, dann lass uns wachsam ...“ „Da! Pass auf!“ Auf Gabumons Schrei hin wirbelte Matt herum. Sofort sah er es. Auf einem der Türme, ganz in der Nähe, wo eigentlich einige Gotsumon Wache halten müssten, blitzte etwas auf, das wie eine Blüte aus Sternsplittern aussah.“ Matt kniff die Augen zusammen. Was war das? „Vorsicht!“ Im nächsten Moment bereute er sein Zögern. Die glimmenden Splitter lösten sich aus der Wolke und rasten auf ihn zu. Matt stieß sich mit aller Kraft ab und versuchte, sich zur Seite zu werfen, doch er war zu langsam. Ein scharfer Schmerz flammte in seinem rechten Bein auf, als etwas wie rasiermesserscharfe Klingen sich in seine Haut bohrte. Er landete hart auf dem Boden, schmeckte Erde und Asche im Mund und rollte sich herum. Gerade sah er noch einen Schatten, der sich von der Turmspitze löste … Ein Faden blaues Feuer schoss aus Gabumons Maul und an dem Turm vorbei. Das flackernde Licht riss die Silhouette eines menschengroßen Fuchsdigimons aus der Finsternis, das dem Erdboden entgegen sauste. „Gabumon!“, ächzte Matt. „Digitiere!“ Sein DigiVice glühte an seinem Gürtel auf. Gabumons Kräfte waren noch vom Tag überbeansprucht, aber sie hatten sich ohnehin auf eine ereignisreiche Nacht eingestellt. Goldenes Licht hüllte Gabumon ein, seine Haut begann blau zu schillern, als es sich daran machte, das Mega-Level zu erklimmen. Die Schüsse erklangen zunächst wie aus einem Traum. Ohne zu verstehen, was geschah, sah Matt Erde und plattgedrückte Grashalme überall um sich herum aufspritzen. Auf einem anderen Turm, hinter Gabumon, flackerte Licht auf, dann wurde Matts Partner von einer Salve erwischt, mitten in seiner Digitation. Gabumon wurde herumgeworfen, stieß einen abgehackten Schrei aus, und das blaue Licht erlosch. „Gabumon!“, keuchte Matt. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, trotz des sengenden Schmerzes, der in seiner Wade glühte. Rings um ihn wurden Rufe laut, Attacken blitzten auf, irgendwo wirbelten bereits Datensplitter auf. Nach dem ersten unbeholfenen Schritt stürzte er wieder und erhaschte mehr zufällig einen Blick über seine Schulter. So leise, dass er es nicht gehört hatte, war das Digimon von vorhin hinter ihm aufgetaucht. Nun erkannte er ein fast zwei Meter großes Renamon, das ihn aus kleinen Fuchsaugen musterte. Attentäter, ging es Matt durch den Kopf. Dann traf ihn ein harter Schlag in den Nacken und löschte jeden weiteren Gedanken aus.   A world full of conflict Time patiently waits Emotions directing The choices he makes (Firewind – World Of Conflict) Kapitel 55: Nemesis ------------------- Tag 140   Matt erwachte, als man ihm einen Eimer eisiges Wasser ins Gesicht spritzte. Prustend und spuckend riss er die Augen auf und versuchte etwas zu erkennen – das Erste, was er mitbekam, war grölendes Gelächter. Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein. Er lehnte mit dem Rücken zu einem der Holztürme. Es war stockdunkle Nacht, nur die Lagerfeuer brannten vor sich hin. Ein Dutzend ungeschlachter Gestalten hatte sich um Matt geschart, und er erkannte keine davon als Freund. Die meisten von ihnen waren stinkender Abschaum, Sukamon, Numemon, Garbagemon. Da war ein Nanimon, dessen Wanken vermuten ließ, dass es seinen Sieg bereits mit Alkohol getauft hatte. Neben ihm, würdevoll und halb im Schatten, Renamon. Und direkt vor Matt stand eine menschenähnliche Kreatur mit Anzug und Dämonenmaske, die eben den Eimer fortwarf und sich zu Matt herunterbückte. Er bemerkte, dass seine Arme über dem Kopf an einen Holzbalken gefesselt waren. „Sieh an“, sagte das Digimon und warmer Atem schlug Matt ins Gesicht. „Das ist also der Mensch, dessen Digimon uns tagsüber so in Atem gehalten hat.“ Als Matt wusste, wen er vor sich hatte, rieselte es ihm kalt den Rücken runter. Astamon. Renamon und Nanimon – den Steckbriefen nach waren das drei der Brigantenanführer, die nun in MetallPhantomons Namen den oberen Teil der DigiWelt terrorisierten. Und Astamon erkannte, dass er es erkannte. Es legte den Kopf schief. „So ist es. Von den sechs Winden der Nadelberge mögen nur noch drei übrig sein, aber wir sind mehr als genug, um dieses jämmerliche Königreich zu stürzen.“ Gelächter von den anderen. Nur Renamon verzog keine Miene und hatte stur die Arme verschränkt. „Gabumon“, stieß Matt zwischen den Zähnen hervor. „Was habt ihr mit Gabumon gemacht?“ „Nur die Ruhe.“ Astamons Kopf ruckte nach links. „Da liegt es doch.“ Die Briganten traten zur Seite, damit Matt einen Blick auf Gabumon erhaschen konnte. Es lag noch immer dort, wo Astamons Schüsse es getroffen hatten, und es war immer noch bewusstlos. Matt biss die Zähne zusammen. „Es geht ihm gut“, beteuerte Astamon mit einem teuflischen Grinsen. „Ich bin mir sicher, MetallPhantomon kaut gerade genüsslich auf seinen Träumen.“ Matts Strampeln brachte ihm nur weiteres Lachen ein. Astamon stand auf. „Gut, ich denke mal, das reicht. Wir haben dich nur aufgeweckt, damit du weißt, wem du es verdankst, dass du bald MetallPhantomons persönliches Traumlager sein darfst.“ Matt zog die Brauen zusammen. „Du fragst dich, was das bedeuten soll, stimmt’s? Ich seh’s dir an. Weißt du, unser lieber König hat beschlossen, die menschliche Denkweise besser zu verstehen. Du wirst ihm dabei helfen. Aber keine Sorge – es wird dich nicht nur durch Albträume jagen. Vermutlich.“ Nach seinem letzten Wort ging das Gegackere wieder los. „Na dann. Renamon, darf ich bitten? Noch so ein gekonnter Schlag, Kamerad.“ Renamon nickte stumm und kam auf leisen Pfoten näher. Matt riss an seinen Fesseln, schaffte es aber nur, sich die Haut wundzuscheuern. Als das Fuchsdigimon direkt vor ihm stand und einen Arm hob, zuckte ein Blitz über das nächtliche Firmament, obwohl tagsüber keine Spur von einem Unwetter zu sehen gewesen war. Der Blitz verglomm nicht einfach. Wie eine Guillotine stürzte er auf die Briganten herab, die nicht wussten, wie ihnen geschah – außer Renamon. Als zwei Sukamon von der leuchtend blauen Klinge, deren Ursprung Matt gar nicht sehen konnte, in Daten verwandelt wurden, wirbelte der Fuchs herum und schaffte es, den Blitz mit seinen Armen abzufangen. Es war stärker, als man vermuten mochte. „Verflucht, was …“, wollte Astamon rufen, doch es wurde von einer Stimme unterbrochen, die Matt kannte. „Lasst sie sofort frei!“ Auf Raidramons Rücken sprang Davis in den verwirrten Kreis der Briganten. Ein weiterer Blitz sprühte aus dem Horn des Digimons, pulverisierte die schwächeren und ließ die anderen auf Abstand gehen. Im nächsten Moment erzitterte die Erde. Röhrend jagte eine ganze Dinosaurierherde aus der Nacht hervor. Die Briganten brachen in heillose Panik aus. Von den Türmen, die am Tag noch der Nordarmee gehört hatten, flogen Wurfgeschosse aus Kot – diese Digimon waren wirklich widerlich. In dem Chaos war Astamon plötzlich verschwunden. Matt sah, wie ein Triceramon das flüchtende Nanimon auf die Hörner nahm und meterweit davonschleuderte. Renamon behielt als Einziges einen kühlen Kopf. Es sauste wie ein Schatten zwischen den Dinosaurierdigimon hin und her und sprang Raidramon an. „Davis!“, schrie Matt. Er bemerkte das Fuchsdigimon fast zu spät. Als er sich von Raidramons Rücken fallen ließ, schossen bereits die ersten Diamantsplitter heran. Ächzend landete er in der Erde, aber er schien nicht schwer verletzt. Raidramon stieß einen wüsten Fluch aus und wollte Renamon rammen, doch mit einem gewagten Sprung schnellte es meterweit in den Himmel und breitete die Arme zu einer neuen Attacke aus. Matt biss die Zähne zusammen. Es ist einfach zu schnell! Da tauchte hinter Renamon ein riesiger Schatten auf, der die schwarzen Umrisse eines Vogels vor den Sternenhimmel malte. Matt meinte zu sehen, wie Renamon den Kopf drehte, um über die Schulter zusehen – und im nächsten Moment entzündete sich die Silhouette des Vogels, der Schatten wurde von einem Flammenkranz eingerahmt. Erst im Tod hörte Matt Renamons Stimme, ein kurzer, abgehackter Schrei, als es am Himmel verglühte. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sora ging neben Matt in die Knie, inmitten der Schlacht, und versuchte, seine Fesseln zu lösen. „Ich … ja“, murmelte er. Die willenlose, eingeschüchterte Königin hatte sich verändert. Ihr neues Kleid stand ihr gut, aber das war es nicht. Ihr Blick war anders. Entschlossener. Der Blick einer Frau, die nur das rettende Seil loslassen musste, um in die Tiefe zu stürzen, und die sich doch entschieden hatte, den beschwerlichen Weg nach oben zu klettern. Auch Sora brachte die Fesseln nicht los, fand aber einen Stein, der scharfkantig genug war. Endlich frei, bedankte sich Matt mit einem Nicken und war dann sofort bei Gabumon. Schläfrig blinzelte es ihm entgegen. „Matt?“, murmelte es. „Was ist denn los?“ „Gute Frage.“ Er sah sich um. Die Schlacht war bereits vorbei. Ihr nächtliches Spektakel hatte den Briganten jede Formation genommen. Einer der Wachtürme lag rauchend am Boden. „Es sieht so aus, als wäre uns jemand retten gekommen.“ Lieber wäre es ihm gewesen, sie wären aus eigener Kraft freigekommen. „Waren das alle?“ Davis hatte wieder Raidramons Rücken erklommen und besah sich die überlebenden Digimon. „Astamon“, murmelte Matt. „Ist es entkommen?“ In dem Moment kam ein Monochromon angelaufen. „Davis!“, rief es. „Wir haben ein Problem! Centarumon!“ „Was ist mit ihm?“, fragte Davis erschrocken. Monochromon lotste sie einige Meter die Verteidigungslinie entlang, bis zu Centarumons Zelt. Das ganze Heer folgte. Matt hatte ein ungutes Gefühl, obwohl er schon ahnte, was los war. Als er und Davis die Zeltplane hochhoben, sahen sie Centarumon mit gefesselten Armen und Beinen in seinem Zelt liegen. Es lebte – aber auf ihm hockte Astamon und drückte ihm das Gewehr in den Nacken. Es hatte also herausgefunden, wo das Pferdedigimon schlief. „Hoppla“, meinte der Bringantenanführer. „Habe ich da etwa jemand Wichtiges?“ „Lass es sofort frei!“, verlangte Davis mit zusammengebissenen Zähnen. Matt sah, wie Centarumons Auge sie ausdruckslos ansah. „Du fragst dich, warum ich euren Anführer kenne?“, meinte Astamon, als es seinen Blick bemerkte. „Es war nicht weiter schwierig. Sein Zelt liegt genau in der Mitte der Frontlinie. Und wir sind nicht so dumm, als dass wir nicht wüssten, von woher eure Soldaten ihre Befehle bekommen. Seid jetzt so gut und stellt euch brav in einer Linie auf, bis meine Verstärkung kommt, wenn ich Centarumon nicht mit Kugeln durchsieben soll!“ Matt schluckte. Er hörte es nun – das Gekreische und Gejaule. Es war Nacht – die Geister waren im Anflug. „Davis …“, sagte Centarumon schwach. „Ich scheine meine Bestimmung nicht erfüllen zu können.“ „Verdammt!“, fluchte Davis und trat hilflos gegen eine Zeltstrebe. „Wir können nichts tun.“ „Das könnt ihr“, widersprach der Zentaur. „Besiegt Astamon und MetallPhantomon. Tut, weswegen ihr gekommen seid.“ „A-aber …“ Davis‘ Kieferknochen traten hervor. Sora war neben Matt getreten und sog scharf die Luft ein. „Schön brav sein“, ermahnte sie Astamon. „Keine Dummheiten, ja?“ „Du hast einen Fehler gemacht, Astamon“, sagte Centarumon. „Ich bin keine unersetzliche Figur in diesem Krieg.“ Damit hob es die gefesselten Arme. Astamon konnte es so nicht erwischen, doch es richtete seine Handflächen gegen sein eigenes Kinn. „Verdammt, was tust du da?“, rief der Brigant. Wie Blütenblätter öffneten sich die Klappen der Schussvorrichtungen in Centarumons Handflächen. Gelbes Glühen flammte auf, gefolgt von einem kurzen Zischen. „Centarumon!“, brüllte Davis. Astamon stieß sich gerade rechtzeitig ab, ehe Centarumons Körper sich in Daten verwandelte. Es sauste bis knapp unter die Zeltdecke, schlug dort einen Salto und hielt das Gewehr im Anschlag. „Attacke!“, befahl Matt. Die Digimon, die ins Zelt sehen konnten, griffen an. Raidramon verschoss einen Blitz, zwei Monochromon spien Feuerbälle. Garudamon packte schließlich die Zeltplanen von außen und riss sie einfach fort, und von allen Seiten hagelte es Attacken. Astamons Gewehr war das Letzte von ihm, das sich auflöste. Davis stand immer noch wie vom Donner gerührt. „Centarumon …“, murmelte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Das Digimon musste ihm nahe gestanden haben. „Davis.“ Matt legte ihm die Hand auf die Schulter. „Sie kommen.“ Das Heulen war so sehr angeschwollen, dass es in den Ohren wehtat, als beklagten selbst die Bakemon Centarumons Tod. Davis brauchte noch einige Sekunden, um sich zu fassen. Dann drehte er sich mit Feuer in den Augen zu den Digimon um. „Die Briganten sind ausgelöscht!“, sagte er. „Als Nächstes kommt MetallPhantomon dran!“     Tag 141   „Die Zeit wird knapp“, murmelte T.K. „Die Sonne geht schon wieder unter, und wir sind keinen Zentimeter weitergekommen. Und wir müssen auch noch einige Vorbereitungen treffen, wenn wir uns der Wissens-Armee anschließen wollen.“ „Und was schlägst du vor, das wir tun sollen, Schlaumeier?“, fragte Davis, von dem frustrierenden Kräftemessen gereizt. „Wir müssen irgendwo da hinein kommen.“ Unbeeindruckt zeigte T.K. zu Myotismons ehemaligem Schloss hoch. Er konnte es kaum fassen – es war tatsächlich dasselbe, auch wenn es nach Tais Angriff arg demoliert war. Und Sora hatte darin regiert. Nun schickte MetallPhantomon ihnen von dort Welle um Welle aus Geisterdigimon entgegen. Sie standen in dem Wald vor dem gewaltigen Felsen, unweit der Stelle, an der Gennai ihnen damals den Lichtstrahl geschickt hatte, der sie zu seinem Haus geführt hatte. T.K. hatte schon überlegt, dorthin zu gehen und den rätselhaften Mann um Hilfe zu bitten, aber der jüngere Gennai hatte schließlich ganz andere Methoden gehabt, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie hatten die Geister besiegt, die Front gesprengt und waren dann nach Süden weiter durch den Nebelwald marschiert. Auch an diesen Ort hatte sich T.K. erinnert – oder er glaubte es zumindest: Die dicht stehenden Bäume und die noch dichteren, weißen Schwaden schienen zu dem Wald zu gehören, in dem Kari, Yolei und Ken nach BlackWarGreymons Auftauchen einmal verlorengegangen waren. Weiter südlich hatten sie es geschafft, nahe an das Düsterschloss heranzukommen. „Irgendwann müssen denen doch die Digimon ausgehen“, knurrte Garurumon. Es digitierte nicht auf sein höchstes Level, um seine Kräfte für MetallPhantomon aufzusparen. „Aber wenn nicht, läuft uns die Zeit davon“, sagte Matt. Er hatte die Taktik des Feindes wohl schon erkannt: Die Geister, nun vor allem Ultradigimon, griffen immer wieder von verschiedenen Seiten an, manchmal sogar aus der Erde, und zogen sich zurück, sobald sie ins Visier genommen wurden. Die Nordarmee mochte endlich in die Nadelberge vorgestoßen sein und das Düsterschloss belagern, doch hier kam der Keil, den die DigiRitter ins Herz ihrer Feinde stießen, zum Stillstand. Das Schloss lag so hoch, dass es für die meiste Digimon nicht zu erreichen war, und die Belagerungsreihen wurden immer wieder von diesen Ausfällen geschwächt. Sie hatten schon einige Stoßtruppen losgeschickt, fliegende oder kletternde Digimon, mit dem einzigen Ergebnis, dass sie spurlos verschwanden. Das Schloss war zu gut bewacht für die Champion- und wenigen Ultralevel-Digimon, sie sie hinaufschicken konnten. „Matt hat recht. Wir müssen selbst hinter die Mauer fliegen und uns bis zu MetallPhantomon vorkämpfen“, sagte T.K. „Das ist unsere einzige Möglichkeit.“ „Aber dann müssen wir an vielen, vielen Phantomon vorbei“, meinte Sora besorgt. „Ich weiß, wie viele es davon gibt. MetallPhanomon hat noch nicht mal die Hälfte davon gegen uns losgeschickt. Sie bewachen sicher alle den Weg in den Thronsaal.“ „Was bedeutet, sie können uns so sehr schwächen, dass wir gegen MetallPhantomon nichts mehr ausrichten können“, setzte Matt den Gedankengang fort. „Kennst du nicht einen Geheimgang oder etwas in der Art?“, fragte Davis plötzlich. „Ich meine … du hast lange dort gelebt. Kommen wir irgendwie in den Saal, ohne dass die Phantomon uns entdecken?“ Sora senkte traurig den Kopf. „Ich … weiß nicht. Ich bin immer dieselben Wege gegangen, und ich habe nie wirklich auf die Umgebung geachtet. Tut mir leid.“ „Es gibt einen Weg“, ließ plötzlich Gatomon vernehmen. „Es gibt sogar mehrere.“ „Was sagst du da?“ Davis und die anderen waren völlig überrascht und starrten Gatomon mit großen Augen an. T.K. konnte es ihnen nicht verdenken. Für sie war Gatomon ein Fremder in diesem Teil der DigiWelt – aber in Wahrheit, auch wenn fast niemand mehr davon wusste, hatte es sicher weit mehr Zeit in Myotismons Schloss verbracht als Sora. „Kommen wir denn auch unbemerkt zu diesen Geheimgängen?“, fragte Kari. „So ganz unbemerkt sicher nicht“, gab das Katzendigimon zu, „aber wenn jemand die Wachen ablenkt, gelingt es uns vielleicht. Wir müssen in das Vorratslager, das in der nördlichen Ecke direkt unter der Burgmauer liegt. Dort gibt es einen Keller mit einem Fass ohne Boden. Eine Treppe führt von dort durch eine hohle Stelle in der Mauer in den Thronsaal. Man kommt direkt neben dem Tor zur Welt aus einer Nische. Myotismon hat die Nische zumauern lassen, aber eine starke Attacke kann sie sicher wieder aufreißen.“ T.K. war beeindruckt. Wie viel einfacher wäre es ihnen gefallen, in Myotismons Schloss einzudringen, wenn Gatomon schon damals auf ihrer Seite gewesen wäre … „Myotismon? Tor zur Welt? Wovon redest du?“, fragte Davis verdattert. „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber“, meinte T.K. „Überlegen wir uns lieber einen Plan. Ich schlage vor, alle Digimon patrouillieren weiterhin um das Schloss, um ausfallende Geister abzufangen. Einer von uns lenkt die Phantomon im Schlosshof ab, und die anderen huschen über die Mauer.“ „Seit wann bist du hier der Anführer?“, ereiferte sich Davis. Er schien T.K. auch in dieser Welt nicht besonders gut leiden zu können, obwohl er von der Sache mit Kari und ihm gar nichts wusste. Welch Ironie. „Also gut, ich würde die Mädchen für das Ablenkungsmanöver einteilen. Da drin im Thronsaal ist es sicher gefährlich, und immerhin sind das zwei Königinnen“, sagte Davis schließlich. „Aber das Ablenkungsmanöver kann auch ziemlich gefährlich werden“, warf Matt ein. „Stimmt …“, murmelte Davis nachdenklich. „Ich bin dafür, Davis sollte es machen“, sagte Kari frei heraus. „Er kann die Phantomon sicher effektiv weglocken.“ „Was?“ Davis fiel alles herunter. „Wie meinst du das?“ „Kari hat recht. Du kannst sie als Einziger so sehr veralbern, dass sie dir wie ein wilder Wespenschwarm nachfliegen“, meinte T.K. schmunzelnd. „Jetzt mach mal halblang – Centarumon hat mir die Verantwortung übertragen! Ich muss dabei sein, wenn ihr diesem Digimon den Garaus macht!“ „Wir haben mittlerweile alle unsere Gründe, MetallPhantomon zu hassen“, entgegnete Matt. „Und wir brauchen Gatomon, um den Weg zu finden.“ „Es bestreitet ja niemand, dass du der Anführer bist“, wiegelte Veemon ab. „Aber von draußen können wir unseren Digimon sicher besser Befehle erteilen.“ „Veemon!“, stieß Davis wutschnaubend hervor, „auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ „Lasst uns doch einfach Lose ziehen“, schlug T.K. vor. Davis blinzelte ihn misstrauisch an. „Wie meinst du das?“ T.K. wandte sich ab und zog eine Packung Taschentücher heraus. Er zwirbelte sie zu kleinen Stäbchen und kniete sich hin. Patamon verfolgte über seinem Kopf flatternd, wie er blitzschnell auf alle der Stäbchen Erde schmierte. „T.K, willst du etwa …?“, flüsterte es. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, als er sich wieder umdrehte, die Faust fest um die schmutzigen Enden der Taschentuchfetzen geschlossen. „Wir ziehen nacheinander jeder eines. Der, der das schmutzige zieht, ist der Lockvogel“, erklärte er. Davis blickte in ein unschuldiges Lächeln, dann zu Veemon, dann krempelte er die Ärmel hoch und sagte: „Dann ziehen wir das erste.“ Und fluchte, als er die Erde an seinem Stäbchen sah. „Dann müssen wir anderen wohl gar nicht mehr ziehen“, verkündete T.K. gut gelaunt und ließ die übrigen Fetzen in seiner Tasche verschwinden. Davis kickte mürrisch einen Stein weg. „So ein Mist“, brummte er. Manches änderte sich eben nie. Davis sah verständnislos Kari beim Kichern zu.     MetallPhantomon saß niemals auf seinem Thron. Es schwebte darüber, in Gedanken versunken, nicht in Träume. Seine Feinde hatten es tatsächlich bis vor sein – sein – Schloss geschafft. Das hätte es nie für möglich gehalten. Diese Menschen, die an der Seite der Digimon kämpften, waren eine Plage. Seit ihr Ansturm begonnen und es die Briganten verloren hatte, war kaum ein Tag vergangen. Noch hatten sie nicht einmal geschlafen, sonst hätte es ihnen die übelsten Albträume beschert, die sie je hatten, und ihre Pläne ausspioniert! Ob es sich doch überschätzt hatte? Nein! Dieser feige DigimonKaiser hatte es verunsichert, aber ein Blick in seine Ängste hatte MetallPhantomon gezeigt, dass er ein Mensch wie jeder andere war. Noch einmal würde es nicht darauf hereinfallen! Die Nordarmee mochte weit gekommen sein, doch bald hatten sie keine Kraft mehr zum Kämpfen. Santa Caria würde fallen, der Norden würde fallen, und dann kam der DigimonKaiser mit seiner angeblichen Macht der Dunkelheit dran! Ein Geräusch ließ MetallPhantomon hochschrecken. Schon lange hatte es nur den fernen Klänge von Attacken und Digimonschreien gelauscht, oder Geräuschen in fremden Träumen, aber dieses hier, in seiner unmittelbarer Nähe, wo wegen der vielen lautlosen Geisterdiener seit Wochen wattige Stille herrschte … Sofort hatte es die Sense parat, die heiß aufglühte. Im nächsten Moment schalt es sich. Hatte der Meister der Träume es nötig, wie ein verschrecktes Salamon die Augen aufzusperren? Vielleicht hätte es das tun sollen, dann hätte es das nächste Ereignis nicht so überrascht. Ein Teil der Wand rechts hinter dem Thron zerbarst, Splitter und Steinmehl wehten in seine Richtung. Instinktiv schwebte es mit der Wolke, wandte sich fauchend um. Aus dem Loch in der Wand kamen sie gekrochen wie schmutzige Roachmon. Zuvorderst ein junger Mann mit blonder Mähne und sein MetallGarurumon. Dahinter jemand, der ihm verblüffend ähnlich sah, begleitet von einer Lichtgestalt, blendend hell und unangenehm. Es folgte ein zierliches, blasses Mädchen, durch dessen Haut, kaum sichtbar, aber ebenso schmerzlich spürbar, ebenfalls Licht sickerte, und noch ein Engeldigimon. „Schon wieder?“, zischte MetallPhantomon verblüfft. Es wusste sofort, was los war. Es hatte das Schloss durchkämmt und viele geheime Wege ausfindig gemacht. Vielleicht war es zu nachlässig dabei gewesen – aus Stolz, weil es keine Zugeständnisse an den Intellekt des DigimonKaisers machen wollte. „Wie kann das sein? Warum kennen andauernd Menschen, die noch nie hier waren, die Geheimgänge in meinem Schloss?“     „Deine Schandtaten sind vorbei“, verkündete Matt, als sie sich aus dem Geheimgang drängten. Gatomon hatte recht gehabt, und es war gerade genug Platz darin gewesen, dass sie alle digitiert waren – alle bis auf Piyomon, das einfach zu groß geworden wäre. MetallPhantomon war so hässlich, wie er es sich vorgestellt hatte. Es kicherte blechern. „Glaubt ihr das? Nur weil ihr in meinen Thronsaal eingedrungen seid? Ihr habt ja keine Ahnung. Ich werde euren Geist brechen, in weniger als zehn Sekunden!“, brachten seine Metallzähne mahlend hervor. „Abwarten. Bist du bereit, MetallGarurumon?“ „Immer.“ Ein Hagel aus Raketen ging auf das Geistdigimon nieder, pflasterte den glatten Hallenboden mit Eis und ließ MetallPhantomons Mantel wehen, als es auswich. „Seine Sense! Passt auf die Sense auf!“, rief Sora von hinten. Das Digimon verschoss eine Welle aus blauen Sicheln aus seiner Waffe. MetallGarurumon wich den meisten aus, durch die letzte rannte es mittendurch. Seine Chromrüstung bekam einen Riss, doch es hielt nicht inne. Knurrend sprang es den Sensenmann an. Zähne und Krallen wetzten an der Stange, aus der die beiden roten Sicheln sprossen. MetallPhantomon wurde zurückgeschleudert. Aus nächster Nähe entwich MetallGarurumons eisiger Hauch. Der schwarze Kapuzenumhang des Geistdigimons wurde in einen Kokon aus Frost gehüllt, starr und klirrend, der Totenschädel keuchte. „Gut gemacht, MetallGarurumon!“, rief Matt. „Denkt ihr, das reicht?“, fauchte der Feind. Blaue Blitze umgaben es. Aus dem bereits durchlöcherten Boden schossen plötzlich gebogene Eisenstangen, die das Wolfsdigimon in einen metallenen Käfig sperrten – dann trafen ihn MetallPhantomons fliegende Sicheln aus nächster Nähe. „Hilf ihm!“, schrie T.K. MagnaAngemon glitt anmutig wie ein Sommerhauch auf den Kampfplatz zu – doch auch es wurde fast von plötzlich erscheinenden Eisenstacheln aufgespießt. Eilig flog es höher. MetallPhantomon ließ kurz davon ab, MetallGarurumons Panzer zu zerstören, und richtete seine glühenden Augen auf das Engeldigimon. Seine Sichel kappte zwei der Metallspieße, die daraufhin wie eigenständige Projekte auf MagnaAngemon zuschossen. Mit brachialer Gewalt trafen sie die Flügel des überraschten Engels und nagelten ihn an die steinerne Saalwand. „Sie sind im Boden“, sagte Kari plötzlich. „Was?“ T.K. wirbelte zu ihr herum. MetallPhantomon begann auf MetallGarurumon einzuschlagen, das sich unter Schmerzen wand. Immer wieder konnte der Wolf sich aus dem eisernen Gefängnis befreien, so kräftig war er – doch immer wieder sausten weitere Metallspieße aus dem Thronsaalboden hervor und klammerten sich regelrecht an ihn. „Die Eisenstangen sind im Boden!“, sagte sie atemlos. „MetallPhantomon kann sie irgendwie kontrollieren.“ „Piyomon, du musst ihnen helfen“, rief Sora. „Mach ich!“ „Nein, wartet, ihr solltet nicht …“ Matt wurde vom Licht der Digitation unterbrochen. Im Nu stand das riesenhafte Garudamon im Thronsaal. „Du bist zu leicht angreifbar!“, schrie er zu ihm hoch. MetallPhantomon kicherte und schwenkte fast kunstvoll seine Sense. Mehrere Lichtsicheln brachen daraus hervor, jede einzelne auf Garudamon gezielt. Es hatte die Rechnung ohne Angewomon gemacht. Das Engeldigimon flog in die Höhe und bildete mit seinen Flügeln und Armen einen schützenden Kreis, der die Sicheln abblockte, alle bis auf zwei, denen Garudamon knapp auswich. Im nächsten Moment zog Angewomon einen unsichtbaren Pfeil und schoss ihn auf MetallPhantomon ab, das verächtlich zischte – doch offenbar konnte es nicht einfach ausweichen. Halb im Boden versunken traf der Pfeil es knapp unter dem Kopf. „Jetzt werden wir gleich sehen, ob es von der Macht der Dunkelheit besessen ist“, hörte Matt T.K. murmeln, doch er wusste nicht, was er meinte. Etwas in seinem Kopf klingelte jedoch, etwas, was ihn ironischerweise an ein Gespräch mit dem DigimonKaiser erinnerte … Worauf immer sie gehofft hatten, es geschah nicht. Der Pfeil erlosch, und MetallPhantomon kam mit lautem, schrillem Wehklagen wieder ganz zum Vorschein. Es war wütend, aber nicht besiegt. Ohne Worte, doch ausdrucksstark laut, schwebte es in die Mitte des Raumes. „Bring es zuende, MetallGarurumon!“, rief Matt. Als sein Digimon keine Antwort gab, blieb ihm fast das Herz stehen. MetallGarurumon lag in seinem Eisenkäfig, reglos. Es konnte nicht tot sein, oder? „MetallGarurumon!“, rief er erneut und lief wider besseres Wissen zu seinem Partner. „Schrei nur“, krächzte MetallPhantomon. „Es schläft, und so einfach lasse ich es nicht wieder erwachen! Sieh zu, ob du es wiedererkennst, wenn es erwacht!“ „Du Monster!“, zischte Matt, der neben MetallGarurumon kniete – und für einen Moment die versteckte Gefahr vergaß. „Du machst es mir zu leicht“, stellte MetallPhantomon fest. Er riss die Augen auf, als er verstand, und ein bohrender Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper.     Sora schrie auf, als fiese Metallspitzen aus dem Boden Matt regelrecht aufspießten. Hoch über ihnen keckerte MetallPhantomon. „Matt!“ T.K. wollte schon zu ihm stürzen, aber Kari packte ihn. „Lass mich, ich muss zu ihm!“ „Nein! Dann erwischt es dich auch!“, rief sie schrill. „Wir müssen dem ein Ende machen“, sagte MagnaAngemon und klang gebieterisch. Es hatte sich von seinen Stacheln befreit. „Aber es ist zäh“, warf Angewomon in der gleichen Stimmlage ein. „Ihr habt mir lange genug meine Zeit gestohlen! Schlaft am besten einfach alle“, knurrte MetallPhantomon. Mit sichtlich großer Anstrengung fixierte es zuerst Angewomon, dessen Glieder plötzlich schlaff wurden. Es sank dem Boden entgegen. „Schnell, MagnaAngemon!“, rief T.K. „Das Himmelstor!“ „Auf engem Raum ist es zu gefährlich“, meinte der Engel. „Wir könnten selbst hineingeraten.“ „Es geht nicht anders!“ T.K. klang ein wenig panisch. Angewomon landete auf dem Boden, Federn und blondes Haar bedeckten den schlafenden Körper. MetallPhantomon schien es große Schwierigkeiten zu bereiten, seine Kräfte auf so starke Digimon zu wirken, denn es röchelte schwer und tat für den nächsten Moment nichts, als Garudamons Prankenhieben auszuweichen. Schließlich zog MagnaAngemon einen Kreis mit seinem Schwert. Ein goldenes … Ding schwebte hinter das Geistdigimon, das sich befremdet umsah – und schnell davonflog, als der Kreis sich als flimmerndes, saugendes Tor öffnete. „Stoßt es hinein! Schnell!“, rief T.K. MagnaAngemon war bereits auf dem Weg. „Ihr unterschätzt mich schon wieder!“ MetallPhantomon schien es aufgegeben zu haben, seinen Schlafzauber zu wirken. Wie eine schwarze Kanonenkugel rammte es MagnaAngemon. Das violette Engelsschwert zersplitterte und MagnaAngemon wurde gegen die Wand geschleudert, als die Sense seine Flügel zerfetzte. Als es unter metallischem Gelächter zu Boden sank, schlief auch es ein, im Schatten der Sense, die das Geistdigimon wieder auf es richtete. „Nein!“ Nun konnte T.K. selbst Kari nicht zurückhalten, die neben Angewomon kniete. MetallPhantomon kicherte. „Freimütige Beute. Doch ihr seid schlafend mehr wert.“ Es atmete geräuschvoll aus. Offenbar konnte es Menschen viel einfacher einschlafen lassen, denn T.K. knickte mitten im Laufen weg und blieb liegen, trotzdem er hart auf dem Boden aufschlug. Im nächsten Moment sank Kari über Angewomon zusammen. Nur noch Sora stand aufrecht – und hinter ihr Garudamon. MetallPhantomon kam herangeschwebt. Seine Augen glühten vorfreudig. „Willkommen zuhause, kleine Königin“, verkündete es. „Dich habe ich mir natürlich für den Schluss aufgehoben. Ich kenne dich mittlerweile sehr gut. Wie haben dir die Träume gefallen, die ich dir schickte?“ Sora musste erst schlucken, ehe sie heiser ihre Stimme fand. „Du hast keine Macht mehr über mich“, sagte sie und klang dabei nur allzu unsicher. MetallPhantomon lachte, Garudamons riesige Gestalt gänzlich ignorierend. „Ist das so?“ „Nach heute“, fügte sie hinzu. „Nach heute ist es vorbei mit deiner Macht!“ Das ließ das Digimon nur umso lauter lachen. In der Tat war es wieder und wieder in Soras Träume eingedrungen, denn sie hatte nie ständig wach bleiben können. Selbst, wenn sie sehr müde gewesen war, war ihr Schlaf nicht traumlos gewesen. Ständig hatte sie das Einschlafen gefürchtet, hatte die Träume möglichst distanziert betrachtet und nach dem Aufwachen versucht, nicht darüber nachzudenken, auch wenn es sie danach minutenlang geschüttelt hatte. Es wurde Zeit, dass das aufhörte! Zeit, mit ihren dunklen Tagen abzuschließen. „Was ist? Lässt du mich auch einschlafen?“, fragte Sora herausfordernd. „Für dich habe ich mir etwas Besseres einfallen lassen“, erklärte ihr ehemaliger General. „Ich kenne deinen Charakter gut genug. Du langweilst mich.“ Ein kurzes Stück Eisen schwebte herbei, eine Stange, nicht länger als einen Meter. Knapp vor Soras Stirn hielt sie an, sie konnte sie kaum mit den Augen fixieren. „Das Eisen, das deinen Thronsaal gestärkt hat, soll seine Königin durchbohren. Was hältst du davon?“ „Sora!“ Garudamon streckte seine Pranken aus, doch Sora war schneller. Sie packte die Eisenstange, zog sich damit direkt auf das verblüffte MetallPhantomon zu und griff nach seiner Sense. Ein Stromstoß durchfuhr Sora, doch sie ließ nicht los. Wo ihre Hand sich um die Griffstange schloss, blitzte rote Elektrizität auf – und unter MetallPhantomons Fingern blitzte es blau. „Was tust du da?“, fragte es schrill. „Mein Thronsaal“, wiederholte sie grimmig. „Mein Reich. Meine Sense.“ Die Sense schien sich zu erinnern, dass sie einst ihr gehört hatte. Die Waffe war zwischen ihren beiden Besitzern hin- und hergerissen. Sogar die leuchtenden Sensenblätter verglommen. „Lass los!“, kreischte MetallPhantomon, doch Sora tat nichts dergleichen. Sie klammerte sich regelrecht an die Metallstange. Hinter ihr hörte sie den Eisenspeer, eben noch von MetallPhantomon kontrolliert, zu Boden fallen. „Garudamon, jetzt!“, rief sie und stieß sich von der Sense fort. Fast beschützend umarmte MetallPhantomon seinen kostbarsten Schatz – und erkannte den gewaltigen, vogelförmigen Feuerstoß nicht, der es erwischte. Fauchend, aber immer noch unzerstört, wurde es noch rückwärts gerissen – genau in den Sog von MagnaAngemons Himmelstor, das immer noch offen stand. Für den Moment bemerkte es gar nicht, wie ihm geschah, dann riss es den stählernen Kiefer auf – doch dieses eine Mal blieb es stumm. Die Grimasse in seinem Totenkopfgesicht konnte Sora nicht entziffern, aber es mussten Ingrimm und Verbitterung gewesen sein, die darin zum Ausdruck kamen. Ohne ein Geräusch verschluckte das Tor das Digimon, das Träume beherrschte, schloss sich und hörte auf zu sein.   As the night goes by I’m facing the truth And a ghost holds my hand A candle, a flame And I’m fighting the evil (Primal Fear – Demons And Angels) Kapitel 56: Intermezzo in Schwarz und Weiß ------------------------------------------ Tag 141   Als Kari erwachte, sah sie Sora bei Matt knien. Es traf sie wie ein Blitz. MetallPhantomon! Was war mit MetallPhantomon? Unter ihr lag Angewomon, das sich ebenfalls regte … Was war geschehen? „Matt!“ Halb benommen stolperte T.K. zu seinem Bruder, unter dem sich eine schreckliche Blutlache gebildet hatte. Was um alles in der Welt war nur geschehen? Wo war MetallPhantomon hin? Auch sie robbte sich erst mal zu Matt. Er hatte offenbar auch geschlafen, worüber sie froh war. In dem Maße, in dem er wach wurde, stahlen sich Schmerzlaute auf seine Lippen und gequälte Krämpfe in seine Glieder. Kari konnte gar nicht zählen, von wie vielen Eisenstangen er durchbohrt war, an Beinen, Armen, sogar seine Schulter hatte es erwischt. Zum Glück waren wenigstens sein Torso und Kopf unversehrt, aber wären die Stacheln ein wenig anders gelandet … „Helft mir“, murmelte T.K. mit zitternder Stimme und zitternden Händen. „Helft mir, solange er noch nicht wach ist!“ Es war schrecklich. Da die Stangen im Boden verankert waren, mussten sie Matt von ihnen herabheben. Das nasse, gleitende Geräusch, das viele Blut und die Schmerzen, die er fühlen musste, verursachten bei Kari heftige Übelkeit. „Wo ist MetallPhantomon?“, fragte Gatomon, zu dem Angewomon wieder geworden war. „Ist es besiegt?“ Sora nickte fahrig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre blutigen Hände hinterließen eine rote Spur. „Es ist vorbei“, sagte sie und schien noch etwas anderes damit zu meinen. „Ich bleibe auf jeden Fall bei ihm“, sagte T.K. Mit ernstem Gesicht betrachtete er Matt, der endgültig das Bewusstsein verloren hatte und nun mit all den offenen Wunden vor ihm lag. „Ihr holt Hilfe, ja?“ Er zerriss bereits sein Hemd, um mit behelfsmäßigen Verbänden dienen zu können. Kari nickte. Sie wollte ihn nicht allein lassen, aber wahrscheinlich hatte er nicht weniger zu befürchten, wenn sie hier blieben. Ihre Digimon waren ziemlich erschöpft. Und sie war froh, von Matts erbärmlichem Zustand wegzukommen und etwas Nützliches für ihn zu tun. Auf Nefertimon, zu dem Gatomon gerade noch so digitieren konnte, flog sie mit Sora und Piyomon durch den Geheimgang. Es wird schon alles gut werden, redete sie sich ein. Ich habe nie gesehen, dass Matt der Erste ist, der stirbt. Jetzt, da MetallPhantomon tot war, konnten sie die Geister sicher besiegen oder zumindest verstreuen. Der Krieg an dieser Front war gewonnen. Als Nächstes würde sie Tai wiedersehen … Aber der Preis war hoch. Sie hoffte nur, nicht das Leben ihres Bruders gegen das eines ihrer Freunde eingetauscht zu haben. Dieses Opfer würde sie sich trotz allem niemals verzeihen.     Tag 144   Ab und zu musste Ken gegen den Drang ankämpfen, Nadine in ihrem Gefängniszimmer zu besuchen. Er fühlte eine Verpflichtung, mit ihr zu sprechen und sich zu entschuldigen. Es war schwierig, ihr nicht irgendwie ansatzweise zu verzeihen, doch er verbot es sich immer wieder aufs Neue. Es hätte keinen Sinn – mit Vernunft kam er nicht weit, wenn seine Gesprächspartnerin der festen Überzeugung war, dass es sich nur um ein Spiel handelte. Er hatte von Arukenimon erfahren, dass die Mobile Festung belagert wurde. Sobald er jemanden gefunden hatte, dem er die Kaktuswüste anvertrauen konnte, hatte er sich auf den Weg gemacht. Soldaten hatte er nun genug, es wäre dumm gewesen, das Gebiet nicht sofort zu besetzen und Türme zu bauen. Als er mit dem beschädigten Ookuwamon, Arukenimon, Mummymon, Oikawa und dem gefangenen Datamon die Festung anflog, gab es keine Spur mehr von einer Belagerung. Wer immer diese Dreistigkeit besessen hatte, hatte sich zurückgezogen. Ken würde Nachforschungen anstellen; ihm behagte der Gedanke an eine so sinnlose Attacke nicht. In der Festung angekommen, wurden sie von Cody begrüßt, der ihnen Einzelheiten erzählen konnte. Vor allem das Gigadramon stank mächtig nach der Wissens-Armee. Cody hatte sich zum Glück dazu entschlossen, mit Armadillomon an Kens Seite zu bleiben – unter Vorbehalt zwar, aber Ken konnte einen kritischen Verbündeten durchaus gebrauchen. Er überließ Oikawa das Verhör von Datamon, das erstaunlich stur war. Er selbst schickte einige Ultra-Digimon unter Mummymons Führung in die Voxel-Stadt, um Tai in die Festung zu holen. Am späten Nachmittag, als er auf der Brücke war, geschah etwas, mit dem er nie und nimmer gerechnet hätte – und fortan waren alle Gedanken an Nadine fortgewischt und die Gedanken an Tai zumindest in den Hintergrund gerückt. Ein Alarmsignal erreichte die Hagurumon – und es stammte von dem Ort, den Ken mittlerweile eigentlich wieder als sicher erachtet hatte. „Ein Notruf aus Sektor null“, meldete eines der neuen Brückenwachen blechern. Ken stürzte zum nächstbesten Monitor und ließ ihn heller schalten. „Die File-Insel? Ganz sicher?“ „Signal zu achtundneunzig Prozent verifiziert. Empfangen eingehende Verbindung.“ „Sofort durchstellen!“ Ein Video? Warum zum Teufel sollte Devimon ihm eine Videobotschaft schicken? Ken hatte ihm eingeschärft, im Falle eines Falles nur konkrete Daten zu schicken, die die Hagurumon auswerten konnten – und es dürfte nicht genug freien Willen haben, um gegen diese Anweisung zu rebellieren. War es etwa …? Der Monitor flackerte, Wellen wie aus Elektrizität wanderten über das Bild. Ken hielt unbewusst den Atem an. Es war kaum etwas zu erkennen, nur schwarze und graue Schemen, durchsetzt von grün glühenden Punkten. „Auf Nachtsicht umschalten“, sagte jemand. Ken gefror das Blut in den Adern, als er diese Stimme aus den Lautsprechern hörte, verzerrt, aber eindeutig befehlsgewohnt. Das Bild wurde allmählich klarer, aber die grünen Flecken mehrten sich; die Aufzeichnung barg die Defizite eines Nachtsichtgeräts, aber die Wirkung auf Ken hätte nicht größer sein können. Seine Befürchtung schien sich zu bewahrheiten. Das Video wurde aus Devimons Hallen am Berg der Unendlichkeit gesendet, und Devimon selbst war zu erkennen. Es sah in das Übertragungsgerät, offensichtlich auf etwas wartend. Ken konnte auf den ersten Blick keine Spur der Schwarzen Ringe entdecken, die seine Oberarme und Hörner umschlingen sollten. Es war wieder sein eigener Herr – aber wie war das vonstattengegangen? „Jetzt“, sagte die Stimme von vorhin. Ihren Besitzer konnte man nicht ausmachen, aber etwas an der Stimme störte Ken. Devimon entblößte die Zähne zu einem bitteren Grinsen. Seine Augen wirkten in der Übertragung verstörend gelb. „Ich hoffe, du kannst es sehen, DigimonKaiser. Du wirst für die Zeit, die du mich deinem Willen unterworfen hast, bitter bezahlen – freu dich schon darauf!“ Ken biss sich auf die Lippen, und dann geschah das Unfassbare. Durch Devimons Körper ging ein Ruck, als hätte es jemand in den Rücken gestoßen. Für einen Moment wurde seine Miene noch grimmiger, dann zerstob es so plötzlich in dunkle Datensplitter, dass Ken zurückprallte. Ein anderes, ziemlich kleines Digimon war in dem Wirbel aus Digimonfragmenten zu sehen, dann wurde die Nachtsicht deaktiviert und er konnte wieder nur grauschwarze Sandstürme ausmachen. „Du hast dich mit ganz schön mörderischen Digimon eingelassen, DigimonKaiser“, erklang eine weibliche Stimme, die Ken noch nie zuvor gehört hatte. „Ein ziemliches Risiko für die DigiWelt. Jemand wie Devimon sollte nicht die Stadt des Ewigen Anfangs kontrollieren.“ Damit erstarb die Aufzeichnung und Ken blickte minutenlang auf den nunmehr schwarzen Bildschirm. „Lagebericht“, murmelte er dann. „Was ist auf der File-Insel geschehen?“ Es dauerte keine zehn Sekunden, bis die neuen Hagurumon alle Daten beisammen hatten; Ken kam es dennoch wie eine Ewigkeit vor. „Das Angriffssignal kam erst achtzehn Sekunden vor der Übertragung. Gründe wurden bereits analysiert. Ein Angriff vom Meer aus, der den Landstrich mit der Stadt des Ewigen Anfangs ins Visier nahm. Gleichzeitig wurde Gouverneur Devimons Hauptquartier auf dem Berg der Unendlichkeit gestürmt.“ Bilder und Daten von Digimon tauchten auf mehreren Bildschirmen auf. „Die Schwarzen Türme haben über vierhundert feindliche Digimon aufgezeichnet. Das Gros davon waren PawnChessmon und KnightChessmon. Vom Berg der Unendlichkeit fehlen ansonsten sämtliche Daten.“ „Vierhundert ...“, ächzte Ken. Wer um alles in der Welt besaß noch ein so großes Heer? Da fiel ihm ein, dass Leomon irgendwo auf See verloren gegangen war. Warum hatte er nicht gleich gedacht, dass sich dort noch jemand – etwas – befand, das in diesem Krieg mitmischen konnte? „Verflucht!“ Er schlug mit der Faust auf die Konsole. Die File-Insel war ihm entrissen worden, und mit ihr die Stadt des Ewigen Anfangs, einfach so, in einem gezielten Schlag unbekannter Feinde. Deemon! Du hast mich belogen! „Ich habe dich nie belogen.“ Du hast noch ein Saatkind vor mir versteckt, gib’s zu! „Nein, Ken. Außer dir kamen nur vier Menschenkinder mit der Saat in Berührung, die jetzt in der DigiWelt sind.“ Er schnaubte wütend und verließ mit wehendem Umhang die Brücke. Deemon konnte er trotz allem nicht trauen. Es war an der Zeit, seinen Stolz zu überwinden. Minomon, zu dem Leafmon auf der Reise hierher digitiert war, erwartete ihn auf dem Gang. Ken nahm das verspielte Digimon und setzte es sich auf die Schulter. Er wollte es bei sich wissen. „Was ist denn los, Ken? Schon wieder auf Achse?“ Er antwortete ihm nicht. Nadines Zimmer befand sich im unteren Bereich der Festung. Man konnte dort das Surren des Maschinenraums hören, aber die Kälte aus früheren Tagen kroch dort nicht mehr durch die Flure. Das Zimmer besaß ein einfaches digitales Türschloss, das man nur von außen aufschließen konnte. Die Commandramon, zwei von Devimons letztem Kadettentrupp, salutierten, als Ken und Minomon vorbeikamen und er sie mit einer Handbewegung zur Seite scheuchte. Die Tür glitt fauchend auf, dick und hochmodern. Nadine lag lässig auf ihrem Bett und sah auf, als Ken eintrat. „Oh. Hallo“, sagte sie. „Hallo“, erwiderte er hölzern. Die Tür blieb offen. Weiter als bis zur Schwelle wollte er nicht eintreten. Arukenimon hatte eine gute Wahl getroffen, als es Nadine weggesperrt hatte. Das Zimmer war recht groß, mit angrenzendem Bad und bequemen Möbeln. Es war einer der Räume, den Ken ursprünglich für mögliche Gäste hatte herrichten lassen, als er noch nicht gewusst hatte, wie wenig man in anderen Teilen der DigiWelt von ihm halten würde. „Du hast nicht mal angeklopft“, stellte Nadine spöttisch fest. „Ist sich der Kaiser zu gut für sowas?“ „Der Kaiser hat vor allem keine Lust für deine Neckereien“, murmelte Ken. Sein Zorn und seine Entschlossenheit … alles war verraucht, als er Nadine gesehen hatte. Sie würde immer der Dorn sein, der ihm ins Fleisch stieß, wenn er ihn nur ansah. In Gefangenschaft hatte sie nicht die Möglichkeit – und wohl auch nicht das Interesse –, viel Wert auf ihr Äußeres zu legen. Ihr Haar war unordentlich, das Kleid zerknittert und sie war ungeschminkt. Dennoch sah Ken das strahlende Gesicht einer Königin vor sich, seiner Königin, die ihm in Zeiten der Not mehr als sonst jemand den Rücken gestärkt hatte. Und die ihm die ganze Zeit bloß ein Messer hatte hineinrammen wollen. Sie seufzte. „Was willst du dann? Was kann der gute Ken, der endlich wieder seine Ruhe auf seinem langweiligen Egotrip hat, wohl von der armen, geschlagenen Nadine wollen? Setz mich wieder ins Amt, und ich tu alles, was du willst. Es ist schrecklich langweilig hier.“ „Dann sag mir, wer noch dabei ist“, murmelte er. „Wer noch wo dabei ist?“ „Du. Hiroshi. Keiko und Takashi. Wer noch?“ Sie blinzelte verständnislos. „Ich weiß nicht, was du meinst. Außer dir sind wir die einzigen Spieler. Die anderen Menschen sind nur Figuren. NPCs.“ Ken seufzte entnervt, aber er wollte sie nicht schon wieder vergeblich belehren. „Kann es sein, dass du jemanden zu decken versuchst? Jemanden, der dich vielleicht hier rausholen soll?“, fragte er ganz offen. „Nein. Ich würde es dir vermutlich nicht sagen, wenn es so wäre, aber – nein.“ Er glaubte ihr. Vielleicht ein weiterer Fehler. „Ich habe es dir doch gesagt, Ken. Ich lasse mich nicht umsonst mit Türmen für die Wahrheit bezahlen“, meldete sich Deemon wieder zu Wort. „Hör auf es“, sagte Nadine grinsend. Sie schien es auch gehört zu haben. „Deemon kann dir auch ein paar Tipps geben, wie du das Spiel interessanter gestalten kannst.“ Sag ihr die Wahrheit, Deemon, verlangte Ken. Wenn sie alle drei miteinander sprachen, konnte Deemon nicht anders, als seine Karten offen darzulegen – oder zu lügen. Ken würde das Biest einfach in die Enge treiben! „Es ist ein Spiel“, erwiderte es. Da haben wir die Lüge! Es ist alles andere als ein Spiel! „Nadine kann dich nicht hören, Ken. Nur ich. Du kannst auch ihre Gedanken nicht hören, aber sie dachte gerade, dass du eine jämmerliche, humorlose Person bist.“ In Deemons Schatten klirrte Belustigung. „War es nicht die Einladung zu einem Spiel, der du zugestimmt hast? Habe ich dir nicht gesagt, dass es ein Spiel sein wird, das die DigiWelt umschließt?“ Du redest um den heißen Brei herum! Sag Nadine die Wahrheit, und ich baue dir zehn weitere Türme! „Abgelehnt.“ Mehr sagte es nicht. Es passte wahrlich gut auf, was es sagte, zog sich sogar aus dem Rand seines Gesichtsfelds zurück. Ken starrte Nadine wütend an. „Schön“, sagte er und es klang in seinen Ohren wie der Entschluss eines Richters, der den Angeklagten zum Tode verurteilte. „Dann finde ich selbst heraus, was hier los ist.“   Tag 145   Oikawa übergab er das Kommando über die Festung und das übrige Reich. Arukenimon nahm er mit, gemeinsam mit genügend Granulat für eine Instant-Armee Schwarzturmdigimon. Es war eine innere Unruhe, die Ken antrieb. Etwas war nicht, wie es sein sollte. Es dürfte keine Mächte mehr in der DigiWelt geben. Internationale DigiRitter vielleicht? Er wollte nicht so recht daran glauben. Allen anderen hatte Deemon bisher untergeordnete Rollen gegeben, vom Opfer des Wahnsinns bis zum wandernden Barden. Als er spät nachts auf den Rücken des Ookuwamons kletterte, mit dem er die Rückeroberungsarmee anzuführen gedachte, ging er noch mal die Fakten durch. Jemand hatte es geschafft, Devimon von seinen Schwarzen Ringen zu befreien. Dann hatten sie es festgehalten, bis es Ken eine Nachricht gesendet hatte, und es dann getötet. Devimon war nur auf dem Champion-Level, dennoch sollte es nicht so einfach sein, es zu vernichten, nicht auf seiner Insel. Und das Meer um die File-Insel war in ständiger Beobachtung, die Verteidigung, die Ken auf Leomons Aufbruch hin hatte anlegen lassen, müsste noch aufrecht gewesen sein. Trotzdem hatte sich jemand angeschlichen und sie alle überrascht. „Worüber denkst du nach, Ken?“, fragte Minomon, als wäre das nicht offensichtlich. „Dem Feind ist es so leicht gefallen, uns unser wertvollstes Gebiet zu nehmen. Das beunruhigt mich“, sagte er. „Treibst du deswegen all den Aufwand?“ Arukenimon spielte, auf der Bank im Pavillon ihm gegenüber sitzend, mit einer Haarsträhne. „Ich bekomme noch Spliss von deinen Ängsten.“ Es meinte Kens Geschwader, das es auf sein Geheiß hin zusammengestellt hatte. Er hatte Truppen zusammengezogen, wo es möglich war, vor allem, weil er nicht warten wollte, bis sich die Nachricht von Devimons Niederlage herumsprach. Darüber hinaus hatte Arukenimon ihm mehrere Hundert Haare geopfert, um seine Schlagkraft zu erhöhen. Es war praktisch, sich einfach nur Digimon wünschen zu müssen – Arukenimon konnte sie nach Belieben herstellen. So besaß er jeweils um die vierzig Pteramon, Snimon, Thunderboltmon und Kuwagamon, dann ein paar MegaKabuterimon – kleiner als Izzys und blau –, MetallMamemon und nun sogar drei eigene Megadramon. Ein stolzes Aufgebot, schnell und wendig und allesamt fliegend. „Ich will kein Risiko eingehen“, verteidigte sich Ken. „Wenn es dir zu viel wird, sag es mir rechtzeitig.“ Arukenimon schnaubte. „Es ist nicht so, als wäre die File-Insel besonders wichtig, jetzt, da du mich hast. Bin ich nicht unendlich praktischer als kleine Hosenscheißer, die erst aus ihren Eiern kriechen müssen?“ Ken lächelte. „Was ist denn jetzt so lustig? Du hast mir besser gefallen, als du vor mir immer mit den Zähnen geknirscht hast.“ „Ich weiß auch nicht. Irgendwie macht mir deine Unbekümmertheit Mut.“ Wieder erntete er ein genervtes Schnauben. „Erhoff dir nur nicht zu viel. Ich kann dir nur neue Digimon zaubern, wenn du die Türme dafür hast, und auf der Insel werden kaum noch welche stehen.“ Das konnte Ken nur unterschreiben. Sie sahen die File-Insel aus dem Dunst auftauchen, als gerade der Morgen graute. Als Ken die Plane des Pavillons zur Seite schlug, wirkte sie ruhig und friedlich. Er schluckte und spürte die Müdigkeit einer verpassten Nacht. Es wird schon gut gehen, versuchte er sich zu beruhigen. Was immer uns erwartet, wir sind so viele, dass wir nicht verlieren können. Er atmete tief durch, ehe er mit Deemon Kontakt aufnahm. Der rasende Flugwind, die dahinsausenden Wellen des unruhigen Meeres unter ihm, das alles fror ein und verblasste. Ich gebe dir eine letzte Chance, Deemon. Sag mir, welche Teufelei du wieder ausheckst. Wer führt diese Chessmon an? Deemons Gestalt erschien direkt neben ihm und vor Arukenimon, das in der Welt seiner Gedanken zur Salzsäule erstarrt war. „Ich verrate es dir, wenn du den Preis bezahlst.“ Und der wäre? „Fünfhundert Türme.“ Abgelehnt. Ken verscheuchte das Digimon, indem er sich wieder auf den Flug konzentrierte und auf die Insel, die rasch näher kam. Fünfhundert Türme zu verlangen, war auch schon eine Antwort. Deemon setzte große Stücke auf diese Schachfiguren-Armee, da war Ken sich sicher. Sei’s drum. Er würde keinen Rückzieher machen. Das Geschwader umflog die Insel in einem Abstand von mehreren Seemeilen. Ken hatte die Wahl, in welcher der vielen Klimazonen der File-Insel er landen wollte, und er hatte sich für die Eiswüste entschieden. Der Tag war relativ klar, keine Wolken über der Insel. Auf den weiten Feldern aus Schnee und Frost waren Hinterhalte schwierig. Als sie sich von Norden her der gefrorenen Küste näherten, wurden sie prompt beschossen. Etwas, das aussah wie ein Turm, war auf eine Landzunge gebaut worden, einige Meilen weiter entfernt stand noch einer. Der erste hatte Kens Geschwader ins Visier genommen und feuerte aus mindestens einem halben Dutzend kleiner Geschütze. Ken streckte den Arm aus, als sie weiterhin darauf zuhielten. Der Flugwind ließ sein Haar und seinen Umhang flattern. „Gegenschlag!“, rief er. Die Pteramon flogen von den Flanken zur Spitze des Geschwaders. Fauchend schickten sie ihre Raketen vor sich her. Schnee und Eis spritzten in weißen Wolken auf, wo sie aufschlugen, aber je näher das Geschwader der Insel kam, desto deutlicher sah Ken, dass die schwarzen Umrisse der Türme dem Beschuss trotzen. Dann kamen die Megadramon zum Einsatz. Sie überholten die Pteramon und stürzten sich fauchend auf die feindlichen Digimon. Ken sah, wie kleine PawnChessmon durch den Schnee flohen, als die gewaltigen Raketen der Drachendigimon den ersten Turm zerfetzten. Der zweite holte mit seinem Dauerfeuer einige Pteramon aus dem Himmel, ehe auch er von den Megadramon vernichtet wurde. Die Kuwagamon setzten sich an die Spitze und durchflogen das Eisfeld auf der Jagd nach den kleinen PawnChessmon. Ken sah dann und wann Datenwolken aufstieben. Der Rest des Geschwaders landete unweit der Küste, aber nicht so nah an den Wellen, dass überraschend auftauchende Meeresdigimon ihnen gefährlich werden konnten. Sofort wurden Container mit Granulat abgeladen und in den Schnee geschüttet. Die Commandramon, die er für Pionierarbeiten mitgenommen hatte, machten sich daran, Türme zu bauen, und Ken half mit seinem Schwarzen DigiVice mit, so gut es ging. Tatsächlich schienen nirgendwo mehr die Türme von früher zu stehen. Sie hatten vermutlich nicht viel Zeit. Ken ließ Türme in die Höhe schnellen und von Arukenimon in schwer gepanzerte Digimon wie Rockmon verwandeln, außerdem in Guardromon, Mekanorimon und die mit Gewehren bewaffneten, in ABC-Anzüge gehüllten Troopmon. Er hätte auch gerne ein paar Ultra-Digimon gebaut, aber in derselben Zeit bekam er zehn Champions, und für seinen Plan war die Quantität wichtiger als Qualität. „Arukenimon, du bleibst hier und überwachst den Bau der weiteren Türme“, sagte er, als er mit seiner zweiten Invasionstruppe zufrieden war. „Und denk an den Notfallplan.“ Ein Seufzen reichte ihm als Antwort. Ken stieg wieder auf Ookuwamon. Den Pavillon hatte er wegreißen lassen und stattdessen einige Digimon zu sich nach oben geholt. Ein leichter Schneesturm war aufgekommen und erschwerte die Sicht. Verdammt. Der Berg der Unendlichkeit war dennoch auszumachen. Dort würde es sich entscheiden – der Feind hatte ihm deutlich gemacht, dass er Devimons Hauptquartier gestürmt hatte. Ken gab das Zeichen zum Angriff, und seine Schwarzturmdigimon führten seinen Schlachtplan genau aus. Die erste Welle bildeten wieder die Pteramon. Sie flogen auf Bodenhöhe über die Schneefelder in die Wälder, die den Berg säumten. Ken folgte ihnen etwas weiter hinten mit Ookuwamon und den anderen Flugdigimon. Die Megadramon hielten sich hoch am Himmel bereit. Die neu gebauten Digimon, vor allem Rockmon, schlurften durch die Schneise, die sie hoffentlich in die feindlichen Digimon reißen würden. Tatsächlich wurde ihnen aufgelauert. Weiße PawnChessmon versteckten sich im Wald, und vielleicht noch andere Digimon. Die Pteramon teilten sich wie geplant auf und flogen nebeneinander an den Baumstämmen vorbei. Sobald sie ein Digimon erspähten, machten sie kurzem Prozess mit ihm, ohne indes langsamer zu werden. So säuberten sie großflächig das Gebiet und räumten einen Pfad für die schweren Digimon frei. „Ken, da!“, sagte Minomon in sein Ohr. Ken wandte sich nach links. Aus dem Schneegestöber, das seine Digimon aufwirbelten, tauchten Feinde auf: Zentauren-Digimon, weiß gepanzert und mit gewaltigen Lanzen bewaffnet. KnightChessmon. Sie ritten auf gleicher Höhe mit Kens Ookuwamon mit und richteten die Lanzen aus. „Feuer!“, befahl Ken. Er hatte aus seinem Ookuwamon eine fliegende Festung gemacht. Auf seinen weggeklappten Flügelplatten und den Beinen hockten Gargomon, hasenähnliche Digimon mit Hosen und Gatling-Geschützen an den Armen. Surrend drehten die Waffen sich und pulverten einen Kugelhagel in den Schnee. Ein KnightChessmon kam ins Stolpern und floh, die anderen blieben hartnäckig. Die Schüsse trafen sie und rissen Löcher in ihre Panzerungen, aber es reichte nicht aus, um sie zu töten. Dann eröffneten die Guardromon, die neben Ken auf Ookuwamons Kopf standen, ebenfalls das Feuer. Eine Granate flog pfeifend geradewegs in den Brustkorb des vorderen KnightChessmons. Die Explosion riss es von den Füßen, aber es löste sich erst auf, nachdem ein nachrückendes über seinen Leib gestolpert war. Auch auf der anderen Seite vernichteten Guardromon-Granaten berittene Schachfiguren, die ihnen zu nahe kamen. Etliche hielte sich außer Reichweite, aber schon lösten sich Snimon aus Kens Formation und eröffneten Jagd auf sie. Der Wald kam. Schnee wehte aus den Ästen und Ken war froh, seine DigimonKaiser-Brille zu tragen. Wie Kältesterne prickelten die Eiskristalle auf seiner Wange. Rings um ihn herum barst und krachte es, aber er bekam gar keinen Gegner zu Gesicht. Weiter vorne hatten die Pteramon den Berg erreicht und flogen in einem steilen Halblooping die Felswände hoch. Ken sah Kerosinwolken hinter ihnen her wehen. Von mehreren Stellen des Berges hagelte es Schüsse, eines der Pteramon wurde getroffen, schlenkerte gegen die Felsen und verging in einem Feuerball. Wie Fliegen erhoben sich MetallMamemon und Thunderboltmon aus dem Wald und schossen auf die feindliche Gegenwehr. Ken konnte bald nicht mehr sagen, welcher Blitz, welche Feuerkugel und welche Datensplitter zu seinen Digimon gehörten und welche zu den Feinden. Mit einem in den Zähnen schmerzenden Knirschen bohrten sich weitere Türme aus den Felsen. Ken erkannte die Digimon nun als RookChessmon; sie waren tatsächlich den Türmen im Schach nachempfunden und auf dem Ultra-Level. Die Pteramon kamen gegen sie nicht an, selbst die MetallMamemon hatten Schwierigkeiten. Das ratternde Dauerfeuer aus den Kanonenrohren an ihren Armen holte ein Schwarzturm-Digimon nach dem anderen vom Himmel. Wieder stießen Kens Megadramon herab, doch diesmal erwischte es sie ebenfalls: Ein weiteres, größeres RookChessmon tauchte aus einer Höhle im Fels auf und erwischte das vorderste Megadramon tödlich. Mit einem fürchterlichen Kreischen löste der Drache sich in Daten auf, die regelrecht zu Boden prasselten, als sie seiner Flugrichtung folgten. Dann krachten Raketen gegen die Felswände. Das erste RookChessmon fiel in einem Hagel aus Steinsplittern. Ein tödlicher, grollender Steinschlag rollte auf Ken zu, gerade als er den Berg ebenfalls erreichte. „Nach rechts!“, brüllte er. Ookuwamon vollführte ein so gewagtes Ausweichmanöver, dass zwei Gargomon sich nicht mehr halten konnten und in die Tiefe stürzten. Das Poltern der Felsen übertönte das stete Surren von Ookuwamons Flügeln und Ken kniff wider Willen die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, waren sie beinahe wieder auf Kurs. Die Pteramon, die an den RookChessmon vorbeigekommen waren, hatten die Bergspitze erreicht und vollendeten den Looping, um wieder ans Ende der Schlachtformation zu gelangen, wo die Rockmon mit stoischer Geduld marschieren mussten. Der Plan sah vor, die Feinde im Berg einzuschließen, bis Kens Streitmacht vollends vor ihren Verstecken versammelt war. Ein weiteres RookChessmon fiel den Megadramon zum Opfer. Die fünf Türme, die noch übrig waren, schienen die einzige Verteidigung zu sein, die den Berg noch schützte. Ookuwamon flog senkrecht in die Höhe und war dabei wegen des zusätzlichen Gewichts langsamer als die Snimon und Kuwagamon. Die kleineren Käferdigimon würden ausschwärmen, sobald sie die Bergspitze erreicht hatten, und nach Zugängen suchen. Da tat sich etwas knapp unter der Spitze. Hinter einem Felsen richtete sich ein neues Digimon auf, weiß mit einem violetten Umhang, einem Helm und einem Zepter. Im Repertoire der Schachfiguren musste es der Läufer sein. Sofort schleuderten die Snimon ihm ihre Klingen entgegen. Doch das BishopChessmon war nicht allein. Ein halbes Dutzend kleiner PawnChessmon sprangen in die Höhe und formten einen lebenden Wall. Die glühenden Halbmonde prallten gegen ihre Schilde – und der Schildwall hielt. Die PawnChessmon standen übereinander. Ken biss sich auf die Lippen. Gut organisiert, diese Digimon … Die Pyramide der PawnChessmon fiel auseinander, als sie zur Seite sprangen. BishopChessmon war wieder zu sehen – mit hell glühendem Stab. Das ist nicht gut … Schweigend wie der Tod richtete es sein Zepter auf Kens Geschwader. Ein weit gestreuter, weißblauer Energiestrahl fauchte ihnen entgegen. Ken sah, wie sich die Haut von seinen Insektendigimon schälte, bis nur noch die schwarzen Kerne übrig waren, die an den Felswänden zerschellten. „Auseinander!“, brüllte er. Seine Guardromon drehten sich herum und schossen auf die große Schachfigur, doch sie war noch zu weit entfernt. Eine Megadramon-Rakete schlug knapp über BishopChessmon ein und bedeckte es kurz mit einer Decke aus Felsen und Steinbrocken, doch das Digimon schien kaum einen Kratzer davongetragen zu haben. Oben auf der Bergspitze flammte ein ähnliches Licht auf und erwischte ein Megadramon im Flug. Sein rechter Flügel löste sich auf, und mit peitschendem Schwanz ging es irgendwo in den Wäldern südlich des Berges nieder. Ken war nahe dran, auf seinen Nägeln zu kauen. Da ist noch eines … Ookuwamon stieg immer noch auf. Sollte er sich lieber zurückziehen und seine Streitkräfte neu formieren? Er hatte in diesem Krieg schon so viel Zeit vergeudet! Blitze zuckten aus den Hörnern der blauen MegaKabuterimon unter ihm. Die Fußsoldaten würden bald da sein. „Weiter!“, brüllte er. „Nicht nachlassen!“ Die übrigen Guardromon auf seiner fliegenden Kampfmaschine nahmen ebenfalls das untere BishopChessmon ins Visier, aber sie lenkten es mit ihren Schüssen nicht einmal ab. Einzig die Blitze der MegaKabuterimon schienen es ein wenig in die Defensive zu drängen. „MegaKabuterimon, Frontalangriff mit euren Hörnern!“ Die blauen, kugelförmigen Käfer brummten mit der Lautstärke eines LKWs an ihm vorbei. Zu siebt stürzten sie sich auf das BishopChessmon und stießen ihre Hörner in seinen weißen, stählernen Leib, wo sie stecken blieben. Endlich gab das Digimon einen unwilligen Schmerzlaut von sich und schwankte. Mit letzter Kraft hob es sein Zepter und begann, auf die Käfer, die fast ein Viertel seiner Körpergröße erreichten, einzuprügeln. Als es merkte, dass es damit keinen Erfolg hatte, ließ es ihn wieder aufglühen. Dann stürzte es sich urplötzlich, gespickt mit MegaKabuterimon, von der Felsplattform – und entlud den gleißenden Stab genau in Kens Richtung. Er kam nicht einmal dazu, einen Schrei auszustoßen. Der Lichtblitz fuhr direkt neben seinem Fuß in den Kopf des Ookuwamons. Aus geweiteten Augen sah Ken die Guardromon sich auflösen. Ookuwamons ohnehin beschädigter Chitinpanzer zerbröselte – und mit einem Mal war das Digimon unter ihm in einer Datenwolke verschwunden. Mit einem Aufschrei stürzte Ken in die Tiefe – neben sich die überlebenden Gargomon. Die Welt drehte sich. „Ken!“ Licht neben seinem Kopf. Minomon, das auf seiner Schulter gesessen war, digitierte. „Halt dich fest!“, fiepte Wormmon. Ken warf sich in der Luft herum und umschlang den grünen Körper seines Partners so fest es ging. Wormmon spie einen dicken, klebrigen Faden auf die nahe Felswand, an der sie vorbeirasten. Länger und länger wurde das weiße Band, dehnte sich wie Gummi, und ihr Fall wurde langsamer – bis der Faden riss und Wormmon einen neuen spuckte. Diesmal packte ihn auch Ken. In einem Bogen schwangen sie sich auf einen Felspfad, der unter ihnen erschien. Die Landung sandte einen Schmerblitz durch Kens Schulter, als sie sich mehrmals überschlugen. Er schürfte sich Kleidung und Haut auf dem rauen Gestein auf und prallte schließlich mit dem Rücken gegen eine Wand, was ihm die Luft aus der Lunge trieb. Dann blieb er liegen, ächzend und schnaufend, mit nichts als dem Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren. „Ken! Ken! Ist alles in Ordnung?“ Wormmons Stimme. „Alles gut.“ Lächelnd hob er es hoch. Es schien unversehrt – Gottseidank. „Danke, Wormmon.“ „Keine Ursache.“ Sie befanden sich unter einem natürlichen Überhang, und der Pfad wand sich steil den Berg hinauf. Schwere Schritte verkündeten, dass auf ebendiesem Wege nun Kens Fußsoldaten anrückten. Von dem Überhang rieselten Steinmehl und Daten, ab und zu fielen auch Digimon und Felsbrocken an ihnen vorbei. Die Schlacht dort oben war noch nicht vorbei – allerdings hatte er den Überblick verloren. Blitzschnell überlegte er seine weiteren Schritte. Er würde eben persönlich das Kommando über die Fußsoldaten übernehmen! Schon kamen die ersten Commandramon und Troopmon um die Felswand marschiert. „Bleib dicht bei mir, Wormmon.“ Ken nahm dem vordersten Commandramon die Maschinenpistole ab und setzte sich selbst an die Spitze der Prozession. Das war vielleicht keine so gute Idee, aber auf allzu viel Gegenwehr stießen sie hoffentlich nicht mehr. „Willst du etwa selbst kämpfen, Ken?“, fragte Wormmon unbehaglich. „Nein“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Aber ich bin ein Soldat mehr.“   We, we will resist and bite Fight hard, ‘cause we are all in sight We, we take up arms and fight Fight hard, resist and do what’s right (Sabaton – Resist And Bite) Kapitel 57: Helden sterben früh ------------------------------- Tag 145   „Seuche? Was für eine Seuche?“, fragte Mummymon. Die Sache wurde zunehmend lästig. Irgendein Fluch schien den DigiRitter befallen zu haben. Zuerst wurden Arukenimon und er beschossen, woraufhin es ihn in die Voxel-Stadt gebracht hatte. Nun war Mummymon in Kens Namen mit einem Dutzend Airdramon hergeflogen, um ihn wieder aufzulesen und endlich in die ehemals mobile Festung zu bringen – und dieses Kabuterimon, angeblich Oberbefehlshaber hier, erzählte ihm, Tai leide an irgendeiner Krankheit. „Sie ist an unserer Front ausgebrochen, als wir gegen den Einhornkönig gekämpft haben“, grollte Kabuterimon, während sie nebeneinander die verwaisten, grauen Straßenwüsten in Richtung Stadtzentrum stapften. Mummymon hatte seine menschliche Form gewählt. Die war zwar weniger furchteinflößend, aber eleganter, passend für einen wichtigen Botschafter, wie es fand. Kabuterimon hingegen war so groß und grobschlächtig, wie Kabuterimon eben waren. Dazu kam, dass Mummymon seine Stimme irgendwie bekannt vorkam … aber selbst da konnte man sich bei den riesigen Käferdigimon schnell täuschen. „Und wie genau kommt eine Krankheit aus der Wüste hierher?“, erkundigte sich Mummymon bemüht sachlich. Ein weiterer Grund, warum es den blauen Anzug und Gehstock statt den Bandagen und dem Gewehr gewählt hatte, war, dass es damit eher die Kontenance wahren konnte. „Über die Nachschublinien. Technisches Material wurde von hier nach Westen geschafft, und die Transporteure kamen mit kampfuntauglichen Digimon zurück. Einige von ihnen waren bereits infiziert. Wir mussten die ganze Innenstadt zur Quarantänezone erklären.“ „Das ist die größte Schlamperei, von der ich in diesem Krieg gehört habe“, sagte Mummymon trocken. „Verzeiht. Ich bitte Euch, bringt es dem Kaiser schonend bei, Sir.“ „Also weiß der DigimonKaiser noch gar nichts davon?“ „Die Krankheit hat sich erst in den letzten Tagen unter unserer Besatzung breitgemacht.“ Mummymon schnaubte. Was machte es eigentlich hier? Es war doch eher für die offene Schlacht und weniger für einen Botengang gemacht. Noch dazu, wenn es ihn alleine gehen musste. „Wenn der Drachenritter stirbt, haben wir alle ein Riesenproblem“, sagte es gefährlich leise. „Ich weiß“, dröhnte Kabuterimon. „Aber einige Mitglieder des Zuverlässigen Ordens sind in der Stadt. Sie haben bereits ein Gegenmittel entdeckt und kümmern sich um Sir Taichi.“ „Brav, diese Zuverlässigen.“ Sie waren bei dem großen, klobigen Gebäude angekommen, das weniger Krankenhaus und viel mehr ein Bunker war. Aber gut, dann war Tai hoffentlich so gut geschützt wie in der Festung. Dieser Mensch hatte aber auch ein Pech. „Hier entlang.“ Kabuterimon führte Mummymon durch ein breites Tor, das eindeutig für schwere Maschinen gedacht war. Durch eine Halle, in der es nach Gummi und Schmieröl stank, ging es weiter bis zu einem Betonwürfel innerhalb dieses Betonwürfels. Gelbe Lampen erhellten ihn, über den Türen zu den einzelnen Räumen warnten rote Lichter vor dem Eintritt. „Überzeugt Euch selbst.“ Kabuterimons vielgliedriger Finger zeigte auf eines der dicken Sichtfenster. Mummymon strengte sein Auge an und erkannte in dem hellen Krankenzimmer den bezeichnenden braunen Haarschopf. Einige Orcamon stapften in dem Raum herum, bereiteten Infusionen vor und mischten Lösungen. Der zweite Mensch dort drin überraschte Mummymon. Das war doch eindeutig einer der DigiRitter-Clique, der blauhaarige junge Mann, der Ken zufolge Joe hieß. Dass er bei den Zuverlässigen war, wusste Mummymon, aber ihn hier zu finden, hatte es nicht erwartet. „Wie kommt denn der Mensch hier her?“ „Gemeinsam mit den anderen Zuverlässigen, auch über unsere Nachschubwege. Sie wollten medizinische Vorräte von uns, aber wir haben sie dazu abkommandiert, die Seuche zu bekämpfen.“ „Sehr gut. Und wann kann ich Tai … Sir Taichi mitnehmen?“ „Das könnte noch eine Weile dauern“, sagte Kabuterimon. „Warum? Ich nehme den anderen auch gleich mit. Der DigimonKaiser freut sich sicher darüber. Und er kann den Drachenritter genauso gut in der Festung behandeln.“ „Verzeiht, aber es ist besser, wenn sie beide hierbleiben. Hier in der Quarantäne beginnen die Digimon bereits Abwehrkräfte gegen die Krankheit zu entwickeln. In der Festung des Kaisers könnten weitere Digimon angesteckt werden, vielleicht sogar der Kaiser selbst. Wir können von Glück reden, wenn das Digimon, das ihn hergebracht hat, sich nicht ebenfalls angesteckt hat.“ Das klang einleuchtend – und furchtbar. „Oh nein“, murmelte Mummymon. „Liebstes Arukenimon, was mache ich nur, wenn du ebenfalls infiziert wurdest? Nicht auszudenken …“ Arukenimon war momentan weit, weit weg, auf der File-Insel, wo hart gekämpft wurde … „Habt Ihr etwas gesagt?“, fragte Kabuterimon. „Ich sagte, dass ich am Stadtrand mit meinen Digimon warte“, sagte Mummymon entschlossen. „Bis dahin reicht eure Quarantänezone ja wohl nicht, oder? Und ich rate euch, beeilt euch, Taichi wieder hinzukriegen.“     „Ist es weg?“, hörte Joe Tai durch die Decke murmeln. „Warte, ich sehe nach“, flüsterte er, obwohl die Wände schalldicht waren. Er ging zu einem der Labortische, die unter den Fenstern standen und tat, als würde er ein Serum zusammenmixen. Dabei warf er unauffällig Blicke in die große Halle. Kabuterimon begleitete das seltsame Digimon eben wieder durch das Tor hinaus – Joe sah ihre Silhouetten gegen die höher steigende Sonne. Er hatte schon vorhin einen Blick riskiert – ein unheimliches Wesen. So eines hatte er noch nie gesehen, es sah mehr aus wie ein Mensch denn wie ein Digimon. Der DigimonKaiser zählte wirklich die beängstigendsten Geschöpfe zu seinen engsten Vertrauten … Joe konnte sich eines Fröstelns nicht erwehren. „Die Luft ist rein“, sagte er. Tai arbeitete sich seufzend unter der Decke hervor. Er trug noch die einfache Kleidung, die er von Izzy erhalten hatte. „Ich hoffe, das Versteckspiel ist bald vorbei“, sagte er grimmig. Joe teilte mittlerweile seine Meinung. Erst war er sogar ein wenig froh gewesen, keinen Zugang mehr zu den vielen Schlachtfeldern zu haben, trotz der Digimon, die dort verletzt wurden und starben. Vermutlich machte es wenig Unterschied, ob sie hier Digimon behandelten oder anderswo, aber immerhin war die Voxel-Stadt kein Kriegsgebiet. Noch nicht. Wenn Izzys Maskerade aufflog, würde hier sicher die Hölle los sein … In letzter Zeit wünschte sich Joe allerdings eine Veränderung. Es musste kein großer Knall sein, aber eine kleine Bewegung im Gleichgewicht der Kräfte würde reichen und ihn wieder aus dieser Stadt bringen. Sie hatten es tatsächlich vor einigen Tagen geschafft, ein Heilmittel für die Seuche zu finden. Die wenigen Patienten, die noch daran litten, würden in kurzer Zeit gesunden. Dann mussten sie als Zuverlässige wieder hinaus in die Welt ziehen, dorthin, wo ihre Dienste gebraucht wurden. Die Tür öffnete sich und Izzy persönlich kam herein. Er nickte ihnen zu. „Das habt Ihr gut gemacht. Ich glaube, wir haben es getäuscht.“ „Ihr wisst ja jetzt, dass meine Nordarmee nicht so feige ist, wie Ihr befürchtet habt“, sagte Tai mit einem leicht anklagenden Tonfall. „Aber trotzdem wird diese Scharade nicht auf ewig gut gehen. Irgendwann geben sie keine Ruhe mehr und bringen mich zum DigimonKaiser, Seuche hin oder her.“ Izzy nickte. „Das stimmt. Und wir können von Glück reden, dass dieser Ritter nicht mit Schwarzring-Digimon hergeflogen ist. Es wäre aufgefallen, wenn sie plötzlich kein Signal mehr von unserem Turm bekommen hätten. Wir müssen uns in Geduld üben. Wir müssen sie nur mehr hinhalten, bis die Zeit reif ist.“ Tai nickte bedeutungsschwer. Bis die Zeit reif ist. Ja. Wenn Joe die Zeichen richtig deutete – und den Plan, den Tai und Izzy schmiedeten –, dann wurden die Dienste der Zuverlässigen garantiert bald wieder gebraucht. Dann würde es nämlich einen großen Knall geben.     Feuer regnete auf ihn herab, wo eigentlich nur Steine sein dürften. Der Höhleneingang hatte scharfkantige Auswüchse wie Zähne, und überall flogen glühende Kugeln, Strahlen, Projektile. Ein Schlachtfeld war furchtbar, das hatte er gewusst. Wie erschreckend es sein konnte, selbst an vorderster Front zu stehen und sich stückchenweise vorzutasten, während jede Sekunde etwas seinen Körper durchbohren konnte … Er hatte ja keine Ahnung gehabt. War das, was da vor seinen Augen vorbeiflog, Schnee oder Datenreste? Ken schoss und schoss und schoss. Er hatte keine Erfahrung mit Commandramon-Waffen, auch nicht mit Waffen im Allgemeinen, aber zumindest vom Aussehen her erinnerten sie an menschliche Maschinenpistolen, und ihre Funktionsweise war einfach zu erkennen gewesen. Allerdings wusste er nicht, wie die Soldatentierchen es mit ihrer Munition hielten. Wormmon war hin- und hergerissen. Ken wollte nicht, dass es mitkämpfte, aber immer wieder spuckte es seine Klebenetze auf nahe PawnChessmon. Glücklicherweise war der Strom aus Feinden vor allem das: ein Heer aus zumeist schwachen PawnChessmon. Ken hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hatten vermutlich vier Stunden gebraucht, um auf dem schmalen Grat bis hierher zu kommen. Die Sonne hatte den Zenit längst überquert. Dies hier war der unterste Höhleneingang, der zu Devimons Hallen führte. Natürlich war er gut verteidigt – PawnChessmon und KnightChessmon in rauen Mengen. Der feindliche Heerführer musste sich dort drin verstecken. Die Schilde der kleinen Schachfiguren waren erstaunlich stabil. Sie hielten mehreren Angriffen von Troopmon und Mekanorimon stand, Commandramon sowieso. Ken war erschrocken, wie leicht es ihm in dem Getümmel fiel, auf die kleinen, behelmten Köpfe seiner Feinde zu zielen. Wenn seine eigenen Soldaten starben, waren es nur Schwarze Türme, die niemand vermisste. Die Schachfigurenarmee jedoch lebte. Sie werden auch sterben, wenn ich versage. Ihr Schicksal ist besiegelt. Noch war niemand in Sicht, dem er einen Waffenstillstand anbieten könnte. Ken wich einer geschleuderten Lanze aus und ging hinter einem der Felsen in Deckung, die den Höhleneingang säumten. Freund und Feind versteckten sich hinter Erhebungen und Vertiefungen im Felsen. Es war ein zermürbender Stellungskrieg; wenn Kens Digimon zu nah an die Höhle herankamen, warfen sich die PawnChessmon wie glühende Feuerbälle auf sie, Schild und Lanze von sich gestreckt. Diejenigen, die eben erst aus der Höhle liefen, waren einfach zu erwischen, aber sie bildeten oft einen Schildwall, der eigentlich eher ein Schildhaufen und nicht zu durchdringen war, bis sie Deckung gefunden hatten. Momentan verloren Kens Soldaten sogar an Boden. Er hoffte inständig, dass die Rockmon bald hier wären. Die schwerfälligen Digimon waren weiter zurückgefallen als geplant … Sobald Mekanorimon oder Guardromon erschienen, machten die KnightChessmon einen Ausfall, schwarze und weiße Zentauren im Ganzkörperpanzer, die alles niedertrampelten, was sich der Höhle näherte. Eines davon hätte Ken beinahe auf seine Lanze gespießt, hätte Wormmon ihn nicht zur Seite gestoßen. Eine brennende Wunde an seinem linken Oberarm erinnerte ihn daran, wie scharf die Zähne des Todes an der Front waren. Endlich ertönte das Getrampel der Rockmon auf dem Grat. Die Digimon waren so groß, dass sie nur nacheinander marschieren konnten. „Zurück!“, brüllte Ken über das Dauerfeuer, mit dem seine Soldaten die Schachfiguren auf Abstand zu halten versuchten. „Zurück!“ Commandramon wuselten zwischen den Beinen des vordersten Rockmon hindurch, Troopmon ebenfalls. Viel mehr als zehn Digimon waren von der ersten Welle der Fußsoldaten nicht übrig geblieben. Ken kletterte auf den stacheligen Rücken des Rockmons, um von dort weitere Befehle geben zu können. Er winkte den anderen, es ihm gleichzutun. PawnChessmon prallten wuchtig gegen das erste Rockmon, brachten es aber nicht mal zum Wanken. Mit einer einzigen Armbewegung fegte es die kleinen Störenfriede von der Plattform. Ken legte den Kopf in den Nacken und suchte den Himmel ab. Er hatte keine Ahnung, wo die Reste seines Geschwaders abgeblieben waren. Zumindest die Pteramon müssten sich bald wieder zeigen … oder kämpften sie wieder auf der Bergspitze? Über den Lärm hier konnte er sie nicht hören. Die Rockmon, von hinten durch Mekanorimon-Laserstrahlen gedeckt, schlugen eine Bresche in den Schildwall. Dann erreichten sie den Höhleneingang, und drei, vier tote KnightChessmon später war der Durchbruch geschafft. Ken kauerte sich auf dem Rücken des Rockmons zusammen, als die spitzen Tropfsteine über dessen Haut schabten und sie in die Dunkelheit der Höhle eintauchten. Es gab nun erstaunlich wenig Widerstand. Die Schützen stiegen wieder ab und nahmen sich Seitengänge und Stollen vor. Es war lästig, ihnen allen immer wieder Befehle geben zu müssen, aber Ken konnte sich wohl glücklich schätzen, dass Arukenimons Kunstwerke ihm überhaupt gehorchten. Spiralenförmig führte die Höhle nach oben, zu Devimons Hauptquartier hin, und natürlich war sie kurz davor eingestürzt. Ken hatte mit so etwas schon gerechnet: Seine Feinde waren alles andere als dumm. Er ließ die Rockmon den Schutt aus dem Weg räumen, was wieder eine gute halbe Stunde dauerte. Während dieser Zeit hörte er von der anderen Seite Kampfgeräusche und drängte seine Digimon zur Eile an. Kurz bevor sie fertig waren, zählte er sie durch. Sieben Troopmon, vier Commandramon, sechs Rockmon, zwei Mekanorimon. Wormmon und er selbst. Nicht die Streitmacht, mit der er das feindliche Hauptquartier ursprünglich hatte einnehmen wollen … Der Weg war wieder frei, und als Kens Digimon weitertrabten, gerieten sie mitten in den nächsten Kampf. Kens Thunderboltmon und MetallMamemon hatten einen anderen Weg in den Berg gefunden; offenbar war der Kampf auf der Spitze gewonnen. Die Fußsoldaten fielen den feindlichen KnightChessmon in die Flanke. Ihre Pferdekörper konnten in der engen Höhle ihre Wendigkeit nicht ausspielen; vermutlich hatten sie es nicht geschafft, den Berg rechtzeitig zu Beginn der Schlacht zu verlassen. Binnen Sekunden war der Trupp aufgerieben. Fünf Thunderboltmon und drei MetallMamemon mehr. Gut. Die Insekten würden den Berg der Unendlichkeit von außen absichern. Alles, gegen das sie jetzt noch kämpfen mussten, konnte nur aus dem Berg selbst stammen. „Ihr beide fliegt zu unserem Lager zurück und gebt Arukenimon das Zeichen“, befahl er den Thunderboltmon und zeigte den Weg entlang, den er selbst gerade gekommen war. Er tat es nicht gern, aber ohne seinen Notfallplan würde sein Heer vielleicht nicht einmal ein weiteres BishopChessmon verkraften. Es würde eine verdammt knappe Angelegenheit werden. Vor ihm, am anderen Ende der Höhle, erhob sich Devimons Pantheon, inmitten einer höheren Grotte. Weißer Stein, kaum beschädigt, an der Außenseite von Statuen und Gargoylen verziert, die in der DigiWelt gar kein Pendant hatten, von dem er wusste. Bei dem Gedanken, als Nächstes dort hineinzugehen, kribbelte es ihm unter der Haut. Er wollte auf Verstärkung warten, verbot es sich aber. Hier führten mehrere mögliche Ausgänge zusammen. Falls der Feind einen Ausfall wagte, musste Ken ihn direkt am Eingang des Pantheons abfangen. Langsam ließ er sein klägliches Heer vorrücken. Hoffentlich beeilten sich die Thunderboltmon – und hoffentlich hielt sich Arukenimon an seinen Befehl. Das war eigentlich seine größte Sorge. Er holte tief Luft und trat zwischen den riesigen, gerillten Säulen hindurch, die den steinernen Torbogen flankierten. Düster war es hier, und es roch muffig. Eine weite, kahle Halle tat sich vor ihnen auf. Die Schritte zahlloser Digimon-Füße, schwere wie leichte, erzeugten lauten Widerhall. Die Decke war so hoch oben, dass sie von Schatten verschluckt wurde, obwohl hier dämmriges, ambientes Licht herrschte. Weit, weit vorne standen auf einer Empore weitere Statuen. Schmale Stufen führten dort hinauf, vollgestellt mit PawnChessmon, die wie die Bauern in der Ausgangsstellung beim Schach wirkten, nur dass sie abwechselnd weiß und schwarz waren. Sie hatten nicht etwa einen weiteren Wall gebildet, sondern standen einfach nur da, die Speere stolz präsentiert, die Schilde locker am Körper. Kens eigene Truppe bildete eine behelfsmäßige Schlachtreihe, da ihm vor Nervosität die Kehle zugeschnürt war und er keine Befehle mehr erteilen konnte. Wer stand dort oben, jenseits der Bauernlinie? Er meinte, zwei Gestalten in der Dunkelheit zu erspähen. „Seid gegrüßt, Eure Majestät“, ertönte eine klare Frauenstimme, kühl wie ein Gebirgsbach. Keiko? Nein, es war die Stimme einer erwachsenen Frau. Andererseits – er hatte sie noch nicht wiedergesehen; wie erwachsen war Keiko jetzt? „Ihr wollt Euch also tatsächlich für den Tod Eures fürchterlichen Dieners rächen?“ Eine zweite Stimme. Männlich, alt. Waren das Digimon? Sie beide? Eine Gestalt trat mit scheppernden Schritten aus der Dunkelheit. Ken hielt sie zunächst für ein weiteres, weißes PawnChessmon, ehe er die gewaltige Krone und den Umhang sah. „Ich bin KingChessmon, König der Schachfiguren.“ Natürlich bist du das. „Dann ist das dort, vermute ich …?“ „Korrekt.“ Die Stimme nahm einen kessen Unterton an. Die Königin in Schwarz kam aus den Schatten. Ein rosa Umhang steckte ihre Umrisse ab. „QueenChessmon, die Königin.“ Ken deutete eine Verbeugung an. „Majestät.“ Wenn sie sich für König und Königin hielten und ein ganzes Volk aus Chessmon aller Art regierten, sollte er ihnen wohl auf Augenhöhe begegnen. Umso schneller würde diese sinnlose Kämpferei vorbei sein. Einen Turm, wenn du mir bestätigst, dass das zwei Megalevel-Digimon sind. „Das ist es mir wert. Ja, du hast recht, Ken“, sagte Deemon. QueenChessmon stützte sich auf seinen Stab. Es war größer als der König, sogar größer als Ken. „Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, mein Kaiser. Seid Ihr hier wegen Vergeltung?“ Nein. Im Moment will ich nur Zeit gewinnen, dann diese Schlacht. „Ihr habt mir geraubt, was mir gehört.“ „Was Ihr Euch selbst ungefragt genommen habt, scheint mir“, entgegnete QueenChessmon kühn. „Wie kamt Ihr auf diese Insel? Hat Euch ein Digimon hergebracht? Ein Whamon vielleicht?“ „Ihr scheint sehr schlau zu sein“, meinte die Königin verschmitzt. KingChessmon hüstelte vornehm. „Wenn Ihr Euch wohl unser Angebot anhören wollt, DigimonKaiser.“ „Sprecht.“ „Wir lassen Eure Digimon friedlich ziehen, wenn Ihr freiwillig in Gefangenschaft geht“, erklärte QueenChessmon süffisant und fuhr mit dem Finger den Stab entlang. Ken schnaubte. „Ist das Euer Ernst?“ „Bedeutet Euch das Leben Eurer Diener so wenig? Wegen eines Bösewichts wie Devimon tretet Ihr einen ganzen Feldzug an!“ „Diese Digimon hier werden für mich sterben, wenn es sein muss.“ Denn es sind Schwarzturm-Digimon. Ken beschoss, Härte vor diesem arroganten Paar zu zeigen. Ein Röhren wie aus den Tiefen des Berges drang zu ihnen empor. „Das sollte besser nicht geschehen“, erwiderte KingChessmon. „Seid Ihr nicht auch der Meinung, dass schon zu viele ihr Leben auf dieser Insel gelassen haben, auf der eigentlich neue Leben geboren werden sollten?“ „Allerdings. Ergebt Euch, und niemand wird mehr sterben.“ Das Röhren wurde lauter. Etwas kam. „Wir kommen hier nicht weiter“, seufzte QueenChessmon. „Eure Majestät sind sturer und kompromissloser, als wir erwartet haben.“ Ein schleppendes Geräusch und das Schaben von Krallen. Ken straffte die Schultern. „Und was habt Ihr erwartet? Dass ich hierher komme, nur um nicht gefangen nehmen zu lassen?“ Ein Digimon stürzte durch den Torbogen, landete schwer auf einem dicken Schlangenschwanz und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Die PawnChessmon wichen mit scheppernden Rüstungen angsterfüllt zurück. Ken spürte die Wärme, nein, die Hitze tiefer Atemzügen in seinem Nacken. Etwas beugte sich über ihn, groß und warm, mit einem Knurren nicht von dieser Welt. Ein Schweißtropfen lief ihm über die Wange. Er hatte selbst Angst davor, sich umzudrehen. Etwas tropfte zu Boden und zischte, dann erwischte ein Tropfen seinen Schulterschoner, ein weiterer seinen Arm. Er zuckte zusammen, als der Speichel sich wie Säure in seine Haut fraß. Endlich wagte er es, zur Seite zu treten und den Kopf zu heben, mit möglichst unbeeindruckter Miene. Das Digimon schien aus der Hölle selbst zu stammen. Haut und Rüstung waren von einem brachialen Rotton. Ein stachelübersäter Drachenkopf entwuchs einer Art Knochenpanzerung, drei scharfe Klauen zuckten an jedem klingenbewehrten Arm. Der Rumpf des Digimons endete in einem vielgliedrigen Schlangenschwanz. Rötliche, ausgefranste Hautflügel rundeten das Ganze ab. Aus dem Maul troff ätzender Geifer. „Gefällt dir Megidramon?“, erklang Arukenimons Stimme aus dem Torbogen. Offenbar hatte es sich von einem neuen Pteramon herbeifliegen lassen. „Es ist, wie du es wolltest.“ Er konnte den Blick nicht von Megidramon abwenden. Schnell und stark. Wie ich es wollte. Kens Mund war trocken. In Kürze würde sich herausstellen, ob er eben seinen größten Fehler in diesem Spiel der Königreiche begangen hatte. Er hatte es geahnt. Hatte geahnt, dass die Schachfiguren ein Megalevel-Digimon zum Anführer hatten. Nun waren es sogar zwei. Kein Wunder, dass Deemon so ein Geheimnis um die beiden gemacht hatte. Sein Spiel war in vollem Gange. Und Kens einzig möglicher Gegenzug war es gewesen, ein Tabu zu brechen. Er hatte Arukenimon ebenfalls ein Megalevel-Digimon erschaffen lassen, um mit seinen Feinden fertig zu werden. Ein Digimon aus hundert Schwarzen Türmen. Ein Digimon, das lebte und fühlte. Ein Digimon mit einer Seele, und dennoch nur zum Kampf geboren. Aus glühenden roten Augen starrte Megidramon das Chessmon-Königspaar an. Dass es hierher geflogen war, war schon mal ein guter Anfang, jedoch … Ken hatte sich tausend wohlklingende Phrasen überlegt, jetzt wusste er dennoch nicht, wie er es ansprechen sollte. „Pfui, wie hässlich“, spottete QueenChessmon. „Ist das dein Digimon-Partner?“ Megidramon schnaubte Hitze durch seine Nüstern. Es hatte noch kein Wort gesprochen – konnte es sprechen? „Megidramon ist nicht mein Partner“, sagte er mit fester Stimme. „Es ist ein freies Digimon, das seine Seite selbst wählen kann. Was hat dir Dame Arukenimon gesagt, Megidramon?“ Der Schlangenkopf ruckte herum, als Ken es direkt ansprach. Lange musterte es ihn nur. Die Tatsache, dass es ihm nicht gleich hinterrücks den Kopf abgebissen hatte, konnte ebenfalls nur Gutes bedeuten. Als es sprach, klang es, als würde seine Stimme brodeln. „Dass ich das stärkste Digimon bin, das es je gesehen hat“, grollte es. „Und dass hier andere starke Digimon sind, die das anzweifeln. Und dass du mir alle Fragen beantworten kannst, die ich habe.“ „Das kann ich. Ich bin der DigimonKaiser, der mächtigste Mensch in der DigiWelt. Das stärkste Digimon könnte ich gut an meiner Seite gebrauchen.“ Megidramon stieß ein gurgelndes Geräusch aus. Es dauerte eine Weile, ehe Ken begriff, dass es lachte. „Der mächtigste Mensch? Der mächtigste Mensch?“ Es stieß ein Röhren aus, dass die Decke wackelte. „Du bist der erste Mensch, den ich sehe, Kleiner. Das erste Wesen, das kein Digimon ist.“ Stimmt, das hatte er vergessen. „Ich weiß alles über diese Welt“, sagte Ken. „Wenn du Fragen hast, kannst du sie mir stellen. Ich kann dir sagen, wer du bist. Wo du herkommst, was deine Bestimmung ist.“ Megidramon knurrte. „Dieses Arukenimon hatte die Dreistigkeit zu behaupten, dass es mich auf dein Geheiß hin geschaffen hat. Was willst du von mir, dass du mir Leben gegeben hast?“ Ken warf Arukenimon einen wütenden Blick zu, den es mit einem Schulterzucken abtat. „Es ist ein Zeichen meiner Macht, dass du geboren wurdest. Und es ist ein Zeichen meiner Großmut, dass ich nichts von dir will.“ „Lüg nicht!“, fauchte es ihm stinkend und heiß entgegen. „Ich spüre die Feindseligkeit zwischen dir und diesen Kümmerlingen. Ich soll sie für dich bekämpfen, darum hast du mich gerufen!“ „Nein“, behauptete er. „Ich befehle dir nichts. Ich werde dir niemals etwas befehlen. Du magst ein Digimon sein, das Arukenimon geschaffen hat, aber du bist ebenso wertvoll wie jedes andere, wenn nicht wertvoller. Auf jeden Fall wertvoller als diese Tonsoldaten.“ Er versetzte dem nächstbesten Schwarzturm-Troopmon einen Tritt, der es umfallen ließ. Megidramon knurrte nachdenklich. Es schien eitel. „Ich biete dir nur einen Handel an. Steh uns im Kampf gegen diese Digimon bei. Im Gegenzug teile ich all mein Wissen mit dir. Und du kannst dir sicher sein, dass ich eine ganze Menge weiß. Ich kam hierher in die DigiWelt, um tausend Jahre zu herrschen!“ „Wie hinterlistig von dir, Ken“, stellte Deemon am Rand seines Blickfelds amüsiert fest. Megidramon war vielleicht ein klein wenig beeindruckt. Es war jung, eben geboren, vielleicht ließ es sich auch genauso leicht beeinflussen. Sobald es Druck spüren würde, würde es zuschnappen, das wusste er. Den Druck lieferte QueenChessmon sogar freiwillig. „Genug jetzt mit dem Palavern. Der Kaiser hat ein neues Haustier? Verschwinde, Megidramon. Man hat nie etwas von dir gehört, und man wird auch nie etwas von dir hören. Das stärkste Digimon? Dass ich nicht lache.“ „Halt dein Maul!“ Megidramon brüllte zornig. „Ich zerquetsche dich, du schmaler Wurm!“ „Mäßigt Euch, Megidramon“, versuchte es KingChessmon etwas höflicher. „Ihr steht hier vor dem edlen Königspaar der Schachfiguren, in unseren königlichen Hallen.“ „Diese Hallen gehörten bis vor kurzem noch mir“, warf Ken wie beiläufig ein. „Sie haben sie mir gestohlen. Diebe sind sie, kleine Diebe, nichts weiter. Aber verdammt dreist.“ „Verdammt dreist“, knurrte Megidramon. Es fühlte sich tatsächlich so an, als könnte er es beeinflussen … Ken wusste nicht, ob er das gut finden sollte. „Ihr wagt es?“, empörte sich KingChessmon. „So mit uns zu sprechen, also das ist … eines Kaisers ganz und gar unwürdig!“ Ken gestattete sich ein schmales Lächeln. „Wie Ihr selbst sagtet, nur andersherum. Man wird nie wieder etwas von Euch hören, noch von unserer Unterhaltung. Es sei denn, Ihr streckt nun endlich gütigerweise die Waffen.“ „Träumer“, zischte QueenChessmon. „Sag mir, Mensch.“ Megidramon schien ihn nicht Kaiser nennen zu wollen. „Du hast diese beiden herausgefordert, nur mit diesen Schwächlingen hinter dir?“ „Ja.“ „Und du dachtest trotzdem, dass du gewinnen kannst? Ich spüre, dass sie weit stärker sind als deine Digimon.“ „Ich weiß. Ja, ich kann gewinnen. Und ich werde. Ich muss die ganze DigiWelt erobern, und mir gehört erst die Hälfte. Mit Kleinvieh wie dem hier will ich mich nicht allzu lange abgeben.“ Wieder lachte Megidramon. Falls es ihn für verrückt hielt, imponierte es ihm ja vielleicht. „Du bist interessant, Mensch. Was denkst du, bin ich auch nur Kleinvieh für dich?“ „Ich würde dir nicht erlauben, mit mir zu sprechen, wärst du Kleinvieh. Ich würde dich knechten und in meine Dienste zwingen.“ „Aber das tust du nicht?“ „Nein.“ Nein, mein eitles Digimon. „Du bist jemand, der es wert ist, frei zu sein.“ Gleichwertig mit jemandem, der sich für den Herrscher über die ganze DigiWelt hält. Was sagst du? Megidramon fauchte und brüllte. Als es die Flügel spannte und die Chessmon in Verteidigungshaltung gingen, wusste Ken, dass er es doch geknechtet hatte. Sein Flügelschlag dröhnte wie ein Knall durch diese kalten Hallen. Megidramon stürzte sich mit Fängen und Klauen auf das Königspaar. Ken war sich nicht sicher, ob er es jetzt noch aufhalten konnte. Jemand würde sterben. Seinetwegen. Die PawnChessmon bildeten eine zitternde Barriere, die sogleich davongeweht wurde. Brüllend krachte Megidramon genau gegen QueenChessmon, das, ganz nach Schachfigurenart, als Dame den König schützte. Die Krallen des Drachenwesens schabten funkensprühend über den Stab, dann schleuderte ein gewaltiger Prankenhieb das Schachdigimon mit wehendem Umhang davon. Nach einem Salto landete es anmutig knapp unter der Empore auf den Stufen. „Schützt den König!“, rief es. Vielstimmige, hohe Kampfschreie ertönten, als die PawnChessmon sich ins Getümmel warfen, mit glühenden Schilden und Speeren voran. Megidramons peitschender Schwanz fegte die Hälfte von ihnen von den Füßen, während es sich KingChessmon widmete. Der König sammelte Energie in seinem Stab, ein Windhauch wehte durch die Halle und ließ seinen königlichen Umhang flattern. Megidramon schlug zu, die Krallen blitzten scharf in dem Licht auf – und sein ganzer rechter Arm wurde in einer gleißenden Lichtexplosion in Stücke gerissen. Datenfragmente wirbelten davon, keine Spur von den üblichen Hülsen, die Schwarze Türme erzeugten. Schmerzerfüllt brüllend packte Megidramon mit der linken Hand KingChessmons Hals, grub die Krallen tief in seine glänzende Panzerung. Die PawnChessmon schlugen und stachen hinterrücks auf es ein. Ken gab seinen Schwarzturmdigimon den Befehl, Megidramon zu helfen, doch es war gar nicht notwendig. Megidramon metzelte sich allein durch die Horde von Feinden. Sein Schwanz pflügte peitschend durch die Reihen der Plagegeister, und der Speichel, den es bei seinen unmenschlichen Schreien versprühte, reichte, um die Rookie-Digimon sich hinter ihren Schilden verstecken zu lassen. Nacheinander wurden die PawnChessmon gegen die Wände geschleudert, so heftig, dass der Aufprall allein sie in Daten auflöste. Ken sah dem Wüten seines Mega-Digimons mit wachsender Übelkeit zu. Es war die brachiale Gewalt, die ihn erschreckte, das gnadenlose Töten … Und er hatte dieses Monster erschaffen. Megidramon schlug mit den Flügeln, peitschte mit seinem Schwanz auf das heranstürmende QueenChessmon, das den Schlag mit seinem Stab abwehrte, dann rauschte der Drache zu einer der Saalwände und stieß das in seinem Griff zappelnde KingChessmon im Flug mit voller Wucht dagegen. Ken spürte die Erschütterung, die die beiden Megalevel-Digimon verursachten, bis hierher. Falls KingChessmon etwas wie ein Genick hatte, musste es in diesem Augenblick brechen. Datensplitter glitzerten kurz in der Dunkelheit, dann überdeckte das Steinmehl sie, das von der Decke rieselte. Wo KingChessmon gegen die Wand geschlagen war, tat sich ein Krater von einem guten halben Meter Tiefe auf. Risse wanderten knirschend und berstend die Steinwand hoch – und dann krachten Tonnen von Gestein auf den König der Schachfiguren, als Megidramon ihn losließ und zurückschnellte. Ken glaubte nicht, dass der Steinschlag KingChessmon getötet hatte, also mussten es doch Megidramons Krallen gewesen sein: Von dem Schutthaufen stiegen eindeutig Datenreste auf. „Kapituliert, QueenChessmon!“, rief Ken, doch so laut er auch war, Megidramons Brüllen und QueenChessmons Schrei übertönten ihn. Die Königin stürmte auf Megidramon zu, das sich ihr erst zuwenden musste. Ein Sprung – und die goldene Spitze ihres Stabes bohrte sich knirschend in die Brustplatte des Drachendigimons und trat an seinem Rücken wieder aus. Digimonblut spritzte auf den hellen Steinboden, und ebenso ätzend wie Megidramons Speichel fraß es dort dampfend Löcher. Megidramon röhrte auf, lauter als je zuvor. Der Drache war durchbohrt. Aber noch fiel er nicht. Knurrend riss Megidramon das Maul auf, wie eine Giftschlange zuckte sein Kopf nach unten, packte QueenChessmons Oberkörper, und ehe das Schachfigurendigimon den Stab loslassen oder auch nur schreien konnte, wurde es von den gewaltigen Drachenkiefern zermalmt. Ken hielt den Atem an. Megidramon wankte, als der Stab in seiner Brust sich mitsamt einer Besitzerin in Daten auflöste. Mit einem schweren Klatschen landete es auf dem Saalboden. Bis auf seine tiefen, röchelnden Atemzüge kehrte Stille in der Halle ein. Es war vorbei. Ken trat mit Schritten, die unnatürlich laut widerhallten, wie es ihm vorkam, zu Megidramon. Er war es ihm schuldig. Vielleicht war es sogar am besten, wenn das Schwarzturmdigimon mit der Seele jetzt starb, aber er fühlte dennoch einen Kloß im Hals. Was habe ich nur wieder getan … In der Halle lebte bis auf ihn, Wormmon und Arukenimon niemand mehr. Seine Schwarzturmdigimon zählten nicht. Megidramon grollte, als es Ken sah, doch er wich nicht zurück. Schweigend stellte er sich neben seinen Kopf. Ausgehend von seiner Brust löste es sich in Daten auf, langsam, aber unaufhaltsam. „Ich war wohl … doch nicht das Stärkste …“, entfloh Megidramons Kehle ein schwaches Zischen. „Oh doch, das warst du. Die größten Helden sterben früh. Und du hast womöglich die ganze DigiWelt gerettet.“ Megidramon versuchte wieder sein unheimliches Lachen, doch es ertönte nur als Krächzen. „Sag mir nur eins, Mensch … eine Antwort.“ Ken schwieg wartend. Megidramon hob den Kopf und sah ihn aus glühenden Augen an. „Warum?“ Er wusste, dass es den Grund seiner Geburt, nicht seines Todes wissen wollte. Er beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. „Es hätte viel gegeben, was ich dir hätte erklären wollen. Diese Welt wird im Moment von einem großen Übel heimgesucht. Etwas, das alle Welten, die es gibt, zerstören kann. Es ist meine Aufgabe, es aufzuhalten, und deswegen muss ich der mächtigste Herrscher der DigiWelt werden. Du wurdest geboren, um ein abscheuliches Wesen von seinen Plänen abzubringen, Megidramon.“ Es schnaubte. Ken vermochte nicht zu sagen, ob es ihm glaubte. „Dann sieh zu, dass du kein Held wirst, Mensch“, grollte es dann. „Helden sterben früh, hast du gesagt.“ Und damit zerbarst der Rest seines Körpers. Ehe er es gemerkt hatte, waren Tränen in Kens Augen gestiegen. Es war geradezu lächerlich, jetzt zu weinen, nach all den Opfern, die dieser Krieg bereits gefordert hatte. Er hatte recht gehabt – Megidramon hatte eine Seele besessen, genau wie BlackWarGreymon. „Nie wieder“, murmelte er und hoffte, dass Arukenimon ihn hörte. Das Spinnendigimon war an seine Seite getreten. „Du wolltest es so.“ Er nickte und drehte sich mit einem Ruck um. Zärtlich hob er Wormmon auf und streichelte ihm über den Kopf. „Gehen wir, Wormmon.“ Einen letzten Blick warf er auf die Stelle zurück, an der Megidramon gestorben war. Damals waren sie alle über BlackWarGreymons Tod bestürzt gewesen. Was würde Kari sagen, wüsste sie, was er getan hatte? Sie hatte von ihnen allen immer am meisten Mitleid, mit Freunden wie Feinden. Er war froh, dass nie jemand davon erfahren würde. Wenigstens war es nun vorbei. „Du hast es also wirklich geschafft, meine beiden Königsdigimon zu besiegen?“ Ken fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. Plötzlich klopfte sein Herz bis zum Hals. Diese Stimme … Jemand trat aus einer Nische, im linken Bereich der Halle, eine kleine Gestalt … Hatte sie den ganzen Kampf beobachtet? Als sie aus den Schatten trat und Ken ihr ins Gesicht sehen konnte, erstarrte er zur Salzsäule. Unmöglich, das kann nicht sein … Sein DigimonKaiser-Mantel schien plötzlich Tonnen zu wiegen, die Brille brannte auf seiner Nase. Wormmon entglitt seinen Händen und landete geschickt am Boden. Der Junge maß ihn mit nachdenklichem Blick. „Du warst ziemlich kalt. Ich habe dich anders in Erinnerung gehabt, kleiner Bruder.“ Kens Gedanken schlugen Purzelbäume. Sammy …   You’ve reached the top, you sit on your throne You’re going down and you’re going alone I gave you love – I give you hate And when your darkness fades away I gave you hope – I give you pain You better run (Primal Fear – King For A Day) Kapitel 58: Alle Zeichen auf Angriff ------------------------------------ Tag 145   „Ich habe mir gedacht, dass du überrascht bist.“ Sammy trat näher. „Ich bin es auch.“ Die Zeit schien still zu stehen, gefroren in einem Eiskristall, so kalt war Ken plötzlich. Sammy und er, er und Sammy … Plötzlich stand er wieder neben ihm auf dem Balkon und pustete Seifenblasen. Denn genau so sah Sammy aus: wie in seiner Kindheit, um keinen Tag gealtert, der große Bruder, der nie älter werden sollte … „Wie kann das sein?“, hauchte er. Sammy lächelte nur. Stattdessen schaltete sich jemand ein, den Ken in diesem Schockmoment fast vergessen hatte und den er einfach nicht dabei haben wollte, nicht in dieser Szene, in diesem Wiedersehen der Brüder. „Wie findest du meine Überraschung, Ken? Ist dein Tatendrang verschwunden?“ Deemon hatte noch nie so amüsiert geklungen … Du hast das alles eingefädelt?, fragte er überflüssigerweise. Er betrachtete Sammys graue Silhouette und schüttelte langsam den Kopf. Es ist unmöglich … „Natürlich“, sagte Deemon hämisch. „Ich kann dich verstehen, kleiner Bruder“, sagte Sammy leise. Er klang auch noch genauso wie damals, und trotzdem seltsam fremd in dieser kalten, weiten Halle. „Ich verstehe dich sehr gut. Ich weiß, warum du das alles tust.“ Er sah sich um. „Die DigiWelt ist schon ein seltsamer Ort, nicht wahr? Man trifft hier die seltsamsten Wesen.“ „… und verloren geglaubte Brüder“, fügte Deemon hinzu. Dieses Fortführen von Sammys Satz, das es wirken ließ, als spräche sein Bruder, was Deemon ihm einflüsterte, zerstörte etwas in Ken. Sei ruhig!, befahl er. All die vereisten Gefühle brachen nun an die Oberfläche. Das Eis schmolz nicht, es zersplitterte, scharf und schmerzhaft. „Sammy! Wie kannst du noch leben? Wir haben dich begraben! Du bist tot! Es ist über neun Jahre her! Was geht hier vor? Du kannst es nicht sein!“ „Musst du darauf herumreiten?“ Sammy schien plötzlich schlecht gelaunt, gar traurig. „Sehe ich tot aus für dich?“ „Aber du … Der Unfall …“ „Ich weiß, was damals passiert ist!“, fiel er Ken gereizt ins Wort. „Ich bin gestorben, ja! Freust du dich kein bisschen, dass du mich wiedersiehst?“ Ken war sprachlos. Ihm war nach Heulen zumute – und gleichzeitig nach Lachen. Hysterischem Lachen. Er tat einen Schritt auf seinen Bruder zu, nur um unschlüssig wieder stehen zu bleiben. „Warte, Ken“, wisperte Wormmon neben ihm. „Da stimmt doch was nicht, er ist sicher nicht auf unserer Seite.“ Er ist mein Bruder, hätte er fast gesagt. Doch er schwieg. Sammy blickte auf Wormmon hinab. „Dein Digimon?“, fragte er. „Da fällt mir ein, du hast etwas, das mir gehört.“ Er hielt die Hand auf. „Was?“ Ken war immer noch zu schockiert, um einen klaren Gedanken zu fassen. „Mein DigiVice“, sagte Sammy mit Nachdruck. „Ich hab gehört, dass du es irgendwie verdorben hast, aber es gehört mir.“ Ken schluckte. „Tut mir leid“, sagte er traurig. Das DigiVice hing schwer von Erinnerungen an seinem Gürtel. „Es war schon immer meins.“ „Lüg nicht!“ Sammy klang zornig. „Du musst dir ja sehr gewünscht haben, dass ich sterbe. Und du hast es voll ausgenutzt.“ „Was redest du da überhaupt?“ Ken wollte seine Worte mit einem Lachen untermalen, doch es klang nervös und unecht. Schließlich hatte Sammy in der Tat recht. Ken hatte sich seinen Tod gewünscht, in seinen dunkelsten Stunden als kleiner Junge. „Du hast dir alles unter den Nagel gerissen, oder? Mein DigiVice, unsere Eltern. Die DigiWelt, die ich hätte bekommen sollen! Sogar mein Aussehen hast du dir von mir gekrallt – was hast du eigentlich je von alleine getan?“ „Nein“, murmelte Ken weinerlich, aber vor diesem Gespenst der Vergangenheit konnte er nicht stark sein, keine Anschuldigungen zurückweisen. Er war wieder der kleine Junge, der er gewesen war, als Sammy noch lebte. „Sammy, du …“ „Jetzt hör mal zu“, sagte plötzlich Wormmon und stellte sich zwischen sie. Ken war nicht minder überrascht als Sammy. „Ken ist mein Partner und deswegen gehört ihm auch das DigiVice! Er ist der Einzige, ihm war es immer vorherbestimmt, weil ich nämlich immer auf ihn gewartet habe! Außerdem lasse ich nicht zu, dass du ihm das alles unterstellst, Ken ist nämlich der freundlichste Mensch, den ich kenne!“ Sammys Blicke wurde seltsamerweise weich, dann aber trübselig. „Der freundliche Mensch, der eben meine Digimon-Partner getötet hat?“ „Das waren deine ...?“ Ken hielt es nicht länger aus. Deemon! Sag mir sofort, was hier gespielt wird! „Ist das nicht offensichtlich? Sammy ist der Anführer der Schachfiguren. KingChessmon und QueenChessmon haben seinen Befehlen gehorcht.“ Das meine ich nicht! Wie kann er noch leben? Wie kann er hier sein? Dass Deemon keine Türme verlangte, war wohl nur bezeichnend dafür, dass es Ken in seiner Falle glaube. Und da Schlimme war: Da hatte es recht. Er fühlte sich so schlaff und müde wie noch nie. „Du hast doch selbst bemerkt, dass in diesem Spiel auch Tote wieder mitspielen, Ken.“ Digimon! Du hast Zeit und Raum verändert, um Digimon zurückzuholen! Aber Sammy war nie in der DigiWelt! Deemon lachte leise. „Bist du da sicher, Ken?“ Ken starrte seinen Bruder an. „Ist da wahr?“, flüsterte er. „Du warst schon mal hier?“ „Natürlich“, sagte Sammy ernst. „Du hast mich schließlich hergebracht, kleiner Bruder.“ In Kens Gehirn drehte sich alles. Wurde er verrückt? Er war zu Sammys Lebzeiten doch nur einmal in der DigiWelt gewesen! Er und Wormmon hatten ihr erstes gemeinsames Abenteuer erlebt, danach hatte Sammy ihn ausgeschimpft und das DigiVice weggesperrt! „Du weißt immer noch zu wenig über die DigiWelt, Ken“, spottete Deemon, „und über die Saat der Finsternis.“ Was soll das heißen? Was hat die Saat mit Sammy zu tun? „Warum fragst du das nicht einfach das Digimon hinter dir?“ Arukenimon? Ken wandte sich zu der Spinnenfrau um. Sie stand seltsam teilnahmslos da, aber hinter ihrer Sonnenbrille konnte sich durchaus Überraschung oder Unbehagen verstecken. Ich will es von dir wissen. Du bist mein Gegner, du kennst die Regeln. „Wie du willst.“ Deemons Umrisse erschienen so nahe neben Sammy, dass Ken ganz unwohl zumute war. Der Schatten flackerte triumphierend. „Warum, glaubst du, erhöht die Saat der Finsternis die geistigen und körperlichen Fähigkeiten? Warum konntest du deinen Bruder in der DigiWelt nachahmen, seine Talente, sogar sein Aussehen?“ Weil ich es mir unbewusst gewünscht habe. „Aber damit es funktionierte, brauchte die Saat einen Prototypen, etwas, aufgrund dessen sie ihre Eigenschaften manifestieren konnte. Kommt es dir nicht seltsam vor, Ken? Die Saat fliegt frei in der DigiWelt, wirkt aber nur auf Menschen? Wie sollte sie zu euch kompatibel sein, wenn sie nie zuvor auf einen Menschen getroffen hat?“ Aber Sammy war doch nie … „Als dich die Saat infizierte, hat sie in dein Inneres geschaut. Sie analysierte deine Wünsche, deine Ziele, deine Ängste, deine Vergangenheit, deine Erinnerungen. Was sie darin fand, war Sammy. Du selbst hast ihn mit dir gebracht, Ken. Die Saat entwickelte ihre Wirkung aufgrund des Echos, das er stets in deinen Gedanken hinterlässt. Und die Saat analysierte sehr gründlich, dieselbe Saat, die dein Freund Oikawa später den anderen Kindern einpflanzte. Hattest du als DigimonKaiser nicht völlig vergessen, dass du je einen Bruder hattest? Das war keine Verdrängung. Die Saat in dir hat Sammys Erinnerungen analysiert, um sich weiterzuentwickeln. Über die Jahre entwickelte sie ein immer genaueres Abbild von ihm, auf Basis realer Datenmengen. In der DigiWelt ist es nicht schwierig, aus Information Materie zu erschaffen. Es war mir ein Leichtes, Sammy aus dem Speicher der Saat der anderen Kinder zu rekonstruieren.“ Dann ist er nur ein … Abbild? „Er ist so real, wie er sein kann. Genau so, wie du ihn in Erinnerung hast, nicht wahr? Realer geht es nicht. Frohlocke, Ken! Ich habe deinen Bruder wiederauferstehen lassen!“ Deemon lachte, noch nie hatte es so triumphierend gelacht. Ken betrachtete Sammy ungläubig. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, wusste nicht mal, was er eigentlich tun wollte. Ihn umarmen? Ihm erzählen, wie es seiner Familie bisher ergangen war? Ihn ausfragen, über Dinge von damals, über das, was er über die DigiWelt wusste? Ihm von Deemons Spiel erzählen, von seinem Ziel? Etwas hielt ihn davon ab, eine böse Vorahnung. Wenn Deemon ihn wiederbelebt hatte … dann war er kein Freund. „Und jetzt?“, fragte er unsicher. „Jetzt“, erklärte Sammy, „wirst du dieses hirnrissige Spiel aufgeben und mir zurückgeben, was eigentlich mir gehört.“ Ken überlief es eiskalt. Er wusste davon! Natürlich wusste er davon, Deemon hatte ihn sicher über alle Einzelheiten seines Spiels unterrichtet. „Das kann ich nicht“, sagte er mit belegter Stimme. „Wenn ich aufgebe, wird die DigiWelt untergehen.“ „Ich weiß. Deemon hat mir die Regeln erklärt. Darum sollst du auch das Feld räumen“, sagte Sammy mit Nachdruck. „Wir wissen beide, wer der Fähigere von uns ist. Ich kann die DigiWelt eher retten als du. Gib mir mein DigiVice, ich brauche es, um Schwarze Türme zu bauen.“ Ken biss die Zähne zusammen. Was hast du ihm erzählt? „Dasselbe wie dir. Die Wahrheit.“ Deemon amüsierte sich köstlich. „Wolltest du nicht immer einen Mitstreiter mit denselben Zielen?“ „Ich warte“, sagte Sammy. „Du hast anscheinend nicht lange gebraucht, um dir mein DigiVice zu schnappen, als ich nicht mehr da war. Aber jetzt fordere ich mein Eigentum zurück!“ „Vergiss es!“, rief Wormmon, das Kens Unterhaltung mit Deemon natürlich nicht gehört hatte. „Ken wird es dir niemals geben, nicht wahr?“ „Ich … ich weiß nicht.“ Er wusste gar nichts mehr. Als er Wormmon ansah, fiel sein Blick wieder auf die Zerstörung im Thronsaal. Sammy wäre intelligent genug, um auch Teufelsspiralen zu erfinden … Er war der bessere Kandidat für dieses Spiel. „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Wormmon war tatsächlich wütend auf ihn. „Wofür hast du denn die ganze Zeit so hart gekämpft, wenn du jetzt einfach aufgibst? Er ist ein Spielstein von Deemon, vergiss das nicht!“ „Nein …“, murmelte Ken. „Er ist ein Spieler, wie ich.“ Sammy nickte. „Die Türme müssten weiterhin funktionieren, wenn du mir das DigiVice gibst“, sagte er. „Ich hab bereits alles durchgerechnet. Wenn ich dein Reich bekomme, habe ich Deemon in spätestens drei Wochen besiegt. Und das, ohne Digimon mit einer Seele nur für den Kampf zu erschaffen und sterben zu lassen.“ Er klang gar nicht hämisch oder verächtlich. Es war, als bedauerte er Ken vor allem. „Ken!“, rief Wormmon. Ken fuhr zusammen. Er hatte bereits nach seinem DigiVice getastet. Das kleine Digimon wandte sich um zu Arukenimon. „Tu etwas! Wir müssen Ken von ihm fortbringen!“ Die Spinnenfrau zuckte zusammen. „Natürlich.“ Sammy verzog das Gesicht, als sie sich verwandelte und Ken mit kräftigen Armen packte und hochhob. „Lass mich“, schrie er. „Er ist mein Bruder, wieso …“ „Bist du so blöd oder tust du nur so?“, fragte Arukenimon. „Er ist ein Feind. Ob Spieler oder nicht, du hast geschworen, Deemon eigenhändig zu vernichten, oder?“ „Aber er ist dafür besser geeignet!“ Ken versuchte sich zu befreien, doch Arukenimon zerrte ihn auf Spinnenbeinen fort. „Jetzt hör mir mal zu!“ Wormmon sprang auf seine Brust, mit entschlossenem Blick. „Glaubst du das wirklich? Glaubst du immer noch, dass du Sammy so sehr unterlegen bist? Du hast so lange, so tapfer und so erfolgreich gekämpft! Gib das nicht auf! Du kannst auch alleine gewinnen, wer weiß, was Deemon ihm noch alles eingeflüstert hat!“ „Sammy würde keine Digimon mit Seelen erschaffen“, war Ken überzeugt. „Er könnte den Krieg mit wesentlich weniger Opfern gewinnen!“ Arukenimon schnalzte verärgert mit der Zunge. „Du lässt mir keine Wahl. Schnappt ihn euch!“ Der Befehl galt Kens Schwarzturmdigimon, deren Anwesenheit, schweigsam wie sie waren, er beinahe vergessen hatte. MetallMamemon, Troopmon, Commandramon, Mekanorimon – sie alle eröffneten plötzlich das Feuer auf Sammy. „Nein!“, brüllte Ken und streckte die Hand nach seinem Bruder aus, doch sein Ruf kam zu spät. Ein weißer Schatten flog aus der Nische, in der sich Sammy versteckt hatte, und riss ihn mit sich. Die Kugeln und Laserstrahlen perforierten die Wandsäule, schlugen Risse und Staub heraus, nachdem sie es eigentlich auf Sammys Blut abgesehen hatten … Ken sah gerade noch, wie das KnightChessmon mit Sammy in den Armen durch den großen Torbogen aus dem Saal ritt. Arukenimon gab ein abfälliges Geräusch von sich, und Ken gelang es plötzlich, sich zu befreien. „Bist du verrückt? Seid ihr alle verrück?“, schrie er und musste sich beherrschen, nicht auf das Digimon einzuprügeln. Arukenimon packte ihn grob an den Schultern. „Hör mal zu, du!“, spie es ihm entgegen. „Wir tun hier die ganze Zeit nichts anderes, als dir zu helfen, dein dämliches Spiel zu gewinnen, und du wirfst so mir nichts, dir nichts dein Handtuch für einen Geist?“ „Aber … Aber ich …“ Ken fühlte sich immer noch wie ein kleines Kind, jünger als Sammy. Seine Glieder verließ alle Kraft und er sank zu Boden. Tränen füllten seine Augen. „Ich kann doch nicht … Ich kann doch nicht gegen Sammy kämpfen!“ „Ich weiß“, flüsterte Deemon selbstzufrieden in seinem Kopf. „Habe ich nicht gesagt, mein nächster Zug würde dich zermalmen?“ Ken weinte stumm auf dem Hallenboden, und nicht einmal Wormmon konnte ihn trösten.     Tag 146   Joe wachte an jenem Morgen früh auf – wobei, konnte man es überhaupt Aufwachen nennen, wenn der Schlaf so unruhig gewesen war, dass die Gedanken zwischen Traum und Wachen hin und her geflimmert waren? Es war nicht mehr so dunkel vor dem Fenster seiner Kammer wie beim letzten Mal, als er hinausgesehen hatte. Er fürchtete diesen Morgen und gleichzeitig sehnte er ihn sich herbei. Seufzend setzte er sich in seinem Bett auf und atmete tief durch. Er unterdrückte den Drang, Tai und Izzy aufzusuchen. Die beiden waren sicher auch schon auf den Beinen, aber sie hatten ihm zu verstehen gegeben, dass sie heute unter sich bleiben wollten. Niemand sollte sie an diesem Tag stören, schon gar kein besorgter Zuverlässiger. Joe schauderte. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie diese beiden Jungen, der Drachenritter und der Generaloperator der Wissens-Armee, sich vor dem Rechnerraum trafen und einander entschlossen zunickten. Die Frist, die sie dem Norden gesetzt hatten, war abgelaufen. Die fünf Tage waren vorbei.     Mummymon streckte seine Beine auf der Metallbank aus. Es hasste Kasernen. Vor allem verwaiste Kasernen, in denen es kaum Digimon gab. Ein paar extrem schweigsame Schwarzring-Gekomon, die ihnen Essen brachten, ansonsten warteten sie nur auf Neuigkeiten aus der Quarantäne. Es war früher Morgen, leichter Dunst hing über den Ausläufern der Stadt, der Himmel war noch mehr grau als blau. Mummymon hatte die graue Szenerie satt. Romantische Zweisamkeit mit Arukenimon inmitten schönerer Landschaften, das war, was es jetzt brauchte! Gerade malte es sich die schönsten Bilder aus, als es die Signaltöne hörte. Überall in der Nähe blinkte und tutete es, als sich einige der Truppentransporttunnel öffneten. Digimon stiegen über der Stadt auf, Mummymon sah sie wie kleine Insekten im Dunstschleier summen. Es sprang auf und rief nach den Airdramon. War etwas geschehen? Die geflügelten Schlangen landeten neben ihm, kurz bevor Gekomon, RedVeggiemon und einige andere Digimon, die Mummymon als die Stadtbesatzung erkannte, durch die Truppentunnel kamen. Die Insekten – Mothmon, wie es erkannte – hielten ebenfalls auf den Stadtrand zu. Ehe Mummymon eine Frage stellen konnte, sah es Kabuterimon hinter den anderen Digimon – und es digitierte. Als ein riesiges, rotes MegaKabuterimon sich vor ihm aufbaute, wusste Mummymon Bescheid. „Angriff!“, brüllte es und verwandelte sich selbst, packte sein Gewehr mit beiden Armen. Obwohl die meisten Schwarze Ringe trugen und die Umrisse des Schwarzen Turms im Stadtzentrum noch zu sehen waren, griffen die Digimon seine Airdramon an. „Aha!“, rief Mummymon aus, dem sich MegaKabuterimon zuwandte. „Ich wusste doch, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst!“ Eine blitzende Lichtschlange verließ den Lauf seiner Waffe und zog eine ausgefranste Spur über den Panzer des riesigen Käferdigimons, das jedoch zu riesig war, um es wirklich zu verletzen. MegaKabuterimon bückte sich, und ein zackiger Energiestrahl züngelte aus seinem streitaxtförmigen Horn. Mummymon stieß eine Mischung aus Schrei und Fluch aus, als der Hornschlag in den Asphalt zu seinen Füßen einschlug und die Druckwelle es Dutzende Meter weit in die Luft katapultierte. Die Asphaltstraßen rasten unter ihm vorbei, verschwammen mit den nahen Bäumen, und ehe Mummymon landete, hatte es das Bewusstsein verloren.     Auf Großadmiral MegaSeadramon wirkte es so, als hätte die feindliche Flotte sie gejagt, was doch wohl ein Himmelfahrtskommando war. Wer wollte es bitte mit seiner Seadramon-Flotte aufnehmen? Den Angriff konnte es mehr oder weniger verstehen. Viel Hass hatte sich in allen möglichen Teilen der DigiWelt gegen das Kaiserreich angesammelt. Was ihm weniger einleuchtete, war die Wahl des Schlachtfelds: Sie waren etliche Seemeilen vom Festland entfernt, in der Nähe des Dunklen Strudels, bei dem MegaSeadramon den alten Großadmiral MarineDevimon getötet und seine traumhafte Beförderung erhalten hatte. Hier war weit und breit nichts, worum man kämpfen müsste. Aber wenn die anderen es so wollten, sollte es so sein. MegaSeadramon durchstieß die Wasseroberfläche und bäumte sich mit einem majestätischen Brüllen auf. Hinter ihm schossen seine Untergebenen durch die aufgepeitschten Wellen und röhrten ebenfalls. Einschüchternd groß musste es auf die feindlichen Digimon wirken, die eher wie verirrte, graue Eisschollen aussahen. „Wer wagt es, mich herauszufordern?“, verlangte es dröhnend zu wissen. Keine Attacken waren bisher ausgetauscht worden, doch die fremden Digimon waren ihnen gefolgt und hatten versucht, sie einzukreisen. Das schrie nach Rache! An Deck des vordersten und größten rochenartigen Mantaraymon stand eine einzelne Gestalt, die stark nach Anführer roch. MegaSeadramon beugte sich grimmig und drohend über sie. Das Digimon war fast winzig. Blaues Haar stach über einem Stirnband hervor, das seine Augen verdeckte, darunter war ein Vogelschnabel zu sehen. Ansonsten sah es fast menschlich aus und war in elegante, weiße Kleidung und einen edlen roten Umhang gekleidet. „Wer bist du, dass du dich gegen Großadmiral MegaSeadramon stellst?“, brüllte es dem Digimon entgegen. „Admiral Shaujinmon von der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt“, sagte der Wicht formell. „Ich habe Befugnis, euch vom Meer zu tilgen.“ MegaSeadramon lachte noch, als die Mantaraymon ihren Angriff begannen – und nicht nur sie. Aus der Tiefe schnellten Tylomon und verbissen sich in die tapferen Seadramon. Diese wiederum stürzten sich kampfeswütig ins Getümmel, spien Eis auf ihre Feinde und froren ganze Wellen ein, die sich daraufhin in tödliche Stacheln verwandelten. Shaujinmon und sein Rochen tauchten, wie um MegaSeadramon zu entkommen. „Nicht so hastig“, grollte es, sammelte Energie in seinem gekrümmten Horn und schleuderte dem dreisten Digimon einen Lichtstrahl hinterher, der Wasser und Eis zerschnitt. Dann tauchte es und folgte dem Mantaraymon blitzschnell. Unter Wasser offenbarte sich ihm erst das wahre Ausmaß der Seeschlacht. Tylomon und Seadramon machten beide Gebrauch von ihren Zähnen, umkreisten sich und verkeilten sich ineinander, wanden sich, als wären sie alle miteinander ein einziger, zuckender Körper. Die Mantaraymon vergrößerten das Chaos noch durch überraschende Stromschläge, aber für MegaSeadramon gab es keinen Zweifel am Ausgang dieses Kampfes. Für Shaujinmon auch nicht, wie es aussah. Als sie durch schäumendes Wasser wieder die Oberfläche erreichte, kniete es auf seinem Mantaraymon und sprach in ein Gerät auf seinem Handgelenk, das entfernt an das erinnerte, das MegaSeadramon schon mal beim DigimonKaiser gesehen hatte. „Feindliche Flotte abgefangen“, sagte es gegen das Tosen der Wellen und den brüllenden Kampf. „Kräfteverhältnis unausgeglichen. Erbitte sofortige Verstärkung.“ „Bettel um Hilfe, soviel du willst!“, fauchte MegaSeadramon triumphierend und schoss einen weiteren Lichtstrahl ab. Shaujinmon wehrte ihn blitzschnell mit seinem Kampfstab ab. Es war gut, dieses Digimon, und verflixt schnell: Plötzlich stieß es sich ab, schnellte über MegaSeadramons Kopf. Die Sichel an seiner Stabwaffe pflügte durch die schuppige Haut an seinem Hals, nicht tief, aber es schmerzte. Während sich MegaSeadramon noch herumwarf, um Shaujinmon wieder ins Visier zu nehmen, war es schon auf einem anderen Mantaraymon gelandet, stieß den Stab in die Wellen und peitschte allein damit eine regelrechte Wasserwand auf, die MegaSeadramon die Sicht nahm. Als das Wasser wieder ins Meer zurückgekehrt war, sah der Großadmiral bereits die feindliche Verstärkung herannahmen: Zwei Gigadramon flogen nah am Himmel, öffneten ihren Kanonenrohre und ließen Raketensalven auf die Seadramon niedergehen, deren Feinde sofort von ihnen abließen. Fauchend lösten sich mehrere von ihnen auf. Zornig tauchte MegaSeadramon wieder. Verflucht nochmal, es hasste arrogante, fliegende Digimon!     Die Tankmon auf der Klippe taten das, was sie seit Wochen taten. Wind und Regen, großen Brechern und Gischt trotzend, sicherten sie das Reich des DigimonKaisers gegen Angriffe vom Meer her ab. Eine halbe Meile weiter nördlich erhob sich wie ein mahnender Finger der große Ölbohrturm, der in den frühen Phasen des Krieges heiß umkämpft gewesen war. Die neue Besatzung war vergleichsweise mickrig, aber es gab für feindliche Truppen nur mehr den Seeweg, um an ihn heranzukommen. Dachten die Digimon dort zumindest. Der Angriff kam plötzlich und mit brachialer Härte. Jemand war nicht von der See her geschickt worden, sondern zu der See, um am Rand des großen Wassers alles in Flammen aufgehen zu lassen. Von hinten trafen Attacken die Tankmon, die erst wenden mussten, um sich ihren neuen Feinden zu stellen – und so gut koordiniert, wie der Angriff war, hatten sie kaum eine Gelegenheit dazu. Dabei waren ihre Feinde keine ausgemachten Krieger: Die meisten waren Insektendigimon, vor allem Searchmon, die auf die Maschinendigimon kletterten und sich durch ihren Panzer fraßen. Flinke Mothmon mit ihren Gatling-Kanonen konnten nicht viel gegen die Tankmon ausrichten, lenkten sie aber lange genug ab, bis es weiteren Champion-Digimon aus der Voxel-Stadt gelang, sie zu zerstören oder ins Meer zu stoßen. Der gewaltige Blitz aus dem Horn eines MegaKabuterimons fällte schließlich den Bohrturm und ließ die Soldaten darin schreiend ins Freie laufen. Die Angreifer machten sogar Gefangene: Es dauerte nicht lange, da waren die freiwilligen Streiter des DigimonKaisers von Gatlingrohren umzingelt, und seine Sklaven wurden von ihren Ringen befreit. Dann entdeckten die Kriegsgefangenen den dunklen Schwarm, der den Himmel über dem Ozean bedeckte. Zwei schlangenartige Gigadramon erreichten das Festland als Erstes, aber nach kurzem Wortwechsel mit MegaKabuterimon flogen sie wieder auf die offene See hinaus. Danach kam ein ganzes Bataillon aus Mekanorimon und Guardromon, die eine weite Strecke geflogen sein mussten. Als sie Zeuge dieser Invasion wurden, wussten die Digimon des Kaisers, dass die Wissens-Armee endlich ihren Zug gemacht hatte.     „Die Küste ist direkt über uns“, meldete die sanfte Stimme des Whamons. „Das wird auch endlich Zeit!“, rief Yolei und stieß ihren Finger in die Höhe. „Fertigmachen zum Auftauchen!“ „Wartet, Yolei, wir liegen etwas vor der Zeit …“, meinte Michael zaghaft. Er saß vor seinem Laptop und war irgendwie mit Whamons Innereien verkabelt. „Ach was, das macht doch nichts. Whamon, los!“ Yolei verstand nicht, warum er sich so genau an einen Zeitplan halten wollte. Sie waren ein paar Meilen entfernt von anderen Kampfherden, und sie konnte es nicht erwarte, die Gesichter der Gekomon zu sehen, wenn sie sie befreien kamen. Und keine Frage: Natürlich hatte sie das nach Fisch stinkende Innere des Whamons satt. Mimi hatte sich längst an die Unannehmlichkeiten der Reise gewöhnt, aber gewiss hatte auch sie nichts gegen etwas Frischluft einzuwenden. Palmon war zu Lillymon digitiert und Hawkmon zu Aquilamon. Sie würden jedoch beide in Mimis Nähe bleiben, zumindest solange die Türme des DigimonKaisers standen. Hätte Yolei nur ihre ArmorEier noch … So würde Yasyamon mit ihr den Angriff anführen. Whamon hörte auf sie und nicht auf Michael, wie sie zufrieden feststellte. Der Ritter schnalzte ärgerlich mit der Zunge, als das Digimon auftauchte. Das gewaltige Maul öffnete sich und die Rebellen, die sich auf der dicken, warzigen Zunge versammelt hatten, schlossen geblendet die Augen. „Angriff!“, rief Yolei, obwohl sie noch nichts sah. Sie hatten auch keine Zeit zu verlieren. Das Maul war nur einen Spalt geöffnet gewesen, als die erste Erschütterung zu spüren gewesen war. Nun sausten längst Geschosse in Whamons Rachen und ließen das Digimon erbeben. Die Ninjamon waren als Erstes kampfbereit. Ihre Wurfsterne sausten zwischen den Zahnreihen ihres Transportdigimons hindurch. Draußen wurden Schreie laut. Mushroomon schleuderten Pilze, die draußen im Licht zu verpuffen schienen. Ihren Degen in der Hand, stürmte Yolei mit einem Kampfschrei nach draußen, dicht neben Yasyamon. „Yolei, mach keine Dummheiten!“, warnte Aquilamon. „Du kennst mich doch!“, rief sie gut gelaunt zurück und wusste, dass es tadelnd den Kopf schüttelte. Sie wusste nicht, woher ihre plötzliche Energie kam. Sie fühlte sich, als müsste sie bald bersten. Nur die Ninjamon waren vor ihr, als sie über den Felsenstrand auf die feindlichen Stellungen zuliefen. Wo das Geröll in eine sanfte Graslandschaft überging, standen Aussichtsposten aus Bambus, aus denen sie erschrockene Kotemon anglotzten. Aber auch stärkere Geschütze des DigimonKaisers gab es hier. Die nächsten Klippen waren weit entfernt und nur als Schemen im leichten Nebel dieses Vormittags zu sehen; dennoch gab es einige Felsvorsprünge und natürliche Erhebungen hier, und auf jeder einzelnen hatte man Tankmon platziert. Die Kriegsmaschinerie des DigimonKaisers, wie geschaffen für das Abwehren einer Invasion. Yolei kniff die Augen zusammen, als die Rebellen unter Beschuss gerieten und überall um sie herum Steine und Staub aufspritzten. „Jetzt!“, rief sie. Die Ninjamon reagierten wie ein einziges Digimon. Ein Dutzend Rauchgranaten vernebelten den gesamten Küstenabschnitt. Die Tankmon stellten das Feuer nicht ein, aber die Rebellen, die die Reihen lockerten, erlitten kaum Verluste, bevor die Tankmon in ihre Reichweite kamen. Nur die Guardromon der Wissens-Armee hatte den Panzern wirklich etwas entgegenzusetzen, aber mit etwas Geschick würden sie sie schon bezwingen. Einige der Tankmon trugen Schwarze Ringe. Die nahmen sie als Erstes aufs Korn. Die Ninjamon waren flink wie der Wind, und auch Yasyamon ließ seine Bokutō tanzen. Ring um Ring wurde zerschmettert, die befreiten Tankmon erstarrten irritiert. „Schießt auf die anderen Tankmon!“, schrie Yolei über das Getöse hinweg und duckte sich an einen der Bambustürme. Ein Schuss zerfetzte dessen obere Hälfte, und sie konnte nicht sagen, ob er so gezielt gewesen war. Sie umrundete ihn, um Deckung bedacht, und lief zum nächsten. Ein Kotemon schrie ihr aus dem Fenster des Turms etwas zu und stocherte mit seinem Bokutō nach ihr. Yolei reagierte instinktiv und hieb die Spitze des Holzschwerts mit ihrem Degen ab. Das Kotemon zeterte, aber sie verstand seine Worte nicht. Als das Digimon sich vor einem Wurfstern duckte, der durch das Fenster segelte und in den Bambusrohren hinter ihm stecken blieb, langte Yolei nach oben und bekam sogar den Stumpf seines Schwerts zu packen. „Mach Platz!“, rief sie und riss das Fliegengewicht von seinem Wachposten, das den Hügel hinab Richtung Strand kullerte. Ehe es auf die Beine kam, hatte sich Yolei schon in den Turm gezogen. Er hatte einen Querschnitt von etwa einem Meter. Es gab vier Sichtfenster, wo man einfach Löcher in die Bambuswände geschnitten hatte. Das Kotemon schien allein auf seinem Posten gewesen zu sein, einige Pilze und Beeren lagen in einer Ecke, abgenagte Apfelbutzen in einer anderen. Von hier aus versuchte Yolei, sich einen Überblick zu verschaffen. Der Überraschungsangriff ging gut vonstatten. Die Tankmon hatten erkannt, dass sie auf ihre früheren Genossen schießen mussten. Ein Ninjamon zwängte sich zu ihr in den Turm und schleuderte von hier aus seine Wurfsterne auf die Kotemon und Kougamon, die vom Landesinneren heranstürmten. Dort sah Yolei auch die Reisfelder und das Dorf, das ihr Ziel war, und den gewaltigen Schwarzen Turm, der diesen Küstenabschnitt kontrollierte. Sie vergewisserte sich, dass die Verteidigungsanlagen erobert waren und die Tankmon keine Gefahr mehr darstellten, dann, dass den anderen in Whamons nach wie vor geöffnetem Maul keine Gefahr drohte, und schließlich sprang sie wieder ins noch feuchte Gras, hob ihren Degen und rief die Rebellen zusammen, um zum Angriff auf den Turm zu blasen.     Sie überrannten die Ebene, ohne auf Widerstand zu stoßen, aber das war zu erwarten gewesen. Die riesige Grasfläche war nutzloses Land, auf dem man nicht jeden Zoll verteidigen konnte. Wie eine Sturmflut brach die Nordarmee aus dem Trugwald. Als die ersten Türme fielen, wirkte es, als bliebe gar keines der Digimon stehen. Die schwarzen Kolosse wurden einfach von ihnen mitgerissen. Die schnellere Vorhut begleiteten Davis mit Raidramon, Kari mit Nefertimon und T.K. mit Pegasusmon. Soras mächtigeres Garudamon schonte seine Kräfte noch. Sämtliche Landtruppen aus dem Nördlichen Königreich, Tuskmon, Monochromon, Triceramon, Tyrannomon, Allomon, viele Tier- und Pflanzendigimon, Woodmon und Blossomon aus der Blütenstadt, sie alle hatten sich hier am untersten Rand ihres Einflussbereichs versammelt, um den letzten vernichtenden Schlag gegen ihren verhassten Feind zu führen. Frigimon, der Fürst der Eisregion, war mit einer Horde Moyamon und Gizamon dabei. Über ihnen flogen Tais Megadramon. Sogar Agumon war wieder auf den Beinen und klammerte sich an Davis‘ Hüfte. Es konnte es kaum erwarten, Tai wiederzusehen, und hatte darauf bestanden, mitkommen zu dürfen. Das Düsterschloss hatten sie völlig unbewacht zurückgelassen. Die Zeit hatte gedrängt, und keines des überlebenden Geistdigimon war derzeit eine Bedrohung. Fürst Ebidramon hatte seine Wasserdigimon das Band hinaufgeschickt, um die Grenze minimal abzusichern. Die übrigen Adligen hatten all ihre Truppen zusammengezogen. All dessen war sich Davis bewusst, als er auf Raidramons Rücken über die freien Hügel der Großen Ebene ritt, wild wie der Sturm und rasend wie eine Feuersbrunst. Nichts anderes loderte hinter ihm am Horizont: Wo sich Stoßtruppen und Patrouillen des DigimonKaisers ihrem gewaltigen Heer entgegenwarfen, kochte und brodelte die Luft, denn zumeist waren die Feuerdigimon die Ersten im Gefecht. Davis gab sich keinen Illusionen hin. Je weiter sie in feindliches Gebiet vordrangen, desto seltener wurden die gegnerischen Kleintrupps. Der DigimonKaiser zog seine Soldaten zusammen, um sie ihnen mit geballter Wucht entgegen zu schleudern. Sollten sie kommen! Er würde Tai auf jeden Fall befreien! „Davis, pass auf!“, rief ihm T.K. von schräg oben zu. Davis hob den Kopf – und erstarrte. Von irgendwoher ging ein Hagel aus Lichtnadeln auf ihn nieder. Vor Schreck schrie er auf. „Halt dich fest!“ Raidramon hatte noch nicht ausgesprochen, als es einen gewagten Sprung nach rechts vollführte. Es schlitterte regelrecht einen Hang hinab und musste achtgeben, nicht umzukippen. Da sah Davis auch die feindlichen Digimon: SkullScorpiomon des DigimonKaisers, hässliche, knöcherne Insektendinger, die in einer Reihe auf einer Hügelkuppe warteten. Über ihnen schwebten kleinere Digimon, Thunderboltmon und Mamemon wahrscheinlich. Es war so weit. Der Feind wollte ihren Vorstoß also hier abfangen.     „Wie läuft es?“, fragte Tai. Er klang angespannt, aber nichts konnte im Moment das Blankliegen von Izzys Nerven toppen. Innerhalb von wenigen Minuten kitzelte ihn nun schon der dritte Schweißtropfen an der Schläfe. „Gut“, meinte er abwesend und mit einiger Verspätung. Er brauchte all seine geistigen Kapazitäten, um die Datenströme auf den vier Rechnerbildschirmen zu verfolgen. In der Rechnerhalle in dem großen Gebäude der Voxel-Stadt war es bis auf die Monitore und Izzys selbstleuchtende Tastatur völlig finster – und es war gespenstisch still, seit die Pioniere abgezogen waren. „Geht’s auch genauer?“, fragte Tai genervt. Izzys Augen bewegten sich von links nach rechts und hin zum oberen Bildschirm. „Unsere Invasionsarmee ist planmäßig über die Hitzestraße übergesetzt. Andromon selbst leitet den Angriff. Sie hatten zunächst heftige Gegenwehr, aber nun ist es ruhig.“ Er zeichnete ein leuchtendes Rechteck über eine Karte der DigiWelt. „Sie sind auf dem Weg nach Norden.“ Blitzschnell schob er ein anderes Fenster auf den Monitor. „Das Ablenkungsmanöver im Ozean war ein voller Erfolg. Wir haben die Flotte des DigimonKaisers sogar in alle Winde zerstreut. Unsere Pioniere hier konnten die Küste, an der die Ölbohrinsel liegt, von den feindlichen Geschützen säubern, und unser Geschwader ist sicher angekommen. Sie müssten in zwei Minuten hier sein.“ Das war vielleicht der riskanteste Teil des Plans gewesen. Die Guardromon und Mekanorimon hatten nicht genug Treibstoff für lange Flüge. Sie hatten sie auf den Digimon der Flotte transportieren müssen, ehe Shaujinmon damit den Ablenkungsangriff gestartet hatte. Für eine Weile waren sie wehrlos in der Luft geschwebt, darauf wartend, dass Izzys Digimon die Seeverteidigung des DigimonKaisers ausschalteten. „Admiral Shaujinmon hat Verstärkung angefordert, also hat Kabuterimon ihm die Gigadramon geschickt. Von Michael habe ich auch schon Meldung erhalten. Sie haben sich nicht an den Plan gehalten und einige Minuten zu früh losgeschlagen.“ „Die sollen das gefälligst ernst nehmen“, murrte Tai, der sichtlich schon einem Wiedersehen mit Agumon entgegenfieberte. „Wir können froh sein, dass sie uns überhaupt helfen“, meinte Izzy. „Die meisten von ihnen sind schließlich Rebellen, die einen eigenen Kopf haben. Aber es hat unseren Plan bisher nicht durcheinander gebracht. Die Nordarmee müsste in diesem Moment auch losschlagen.“ Hinter ihnen glitten die Schiebetüren auf, die Izzy mit dicken Filzvorhängen hatte bestücken lassen. Hydraulisch stampfend trat ein Mekanorimon ein. Seine Klappe öffnete sich und ein Digimon, das aussah wie ein aus Bausteinen zusammengesetzter Dinosaurier, kletterte heraus. „Boden-Luft-Geschwader A ist eingetroffen, Einsatzkommandeur Koshiro“, meldete es und salutierte zackig. „Das ist der Anführer eures Geschwaders?“, fragte Tai ungläubig. „Lasst Euch nicht von seinem Aussehen täuschen. ToyAgumon ist ein guter Stratege und ein kühler Kopf. Genau, was wir brauchen.“ Izzy winkte das Digimon näher und zeigte ihm seine Bildschirme. „Die kaiserlichen Truppen haben bereits mobil gemacht. Wir haben zu wenige Soldaten, um die Voxel-Stadt ordentlich verteidigen zu können. Wir müssen sie im Schneisental aufhalten, ehe sie uns zu nahe kommen. Ein paar Digimon sollten für den Notfall in der Stadt bleiben.“ ToyAgumon nickte wiederholt. „Was immer Ihr erübrigen könnt, soll sich meinen Pionieren und den Befreiten anschließen und in den Bambuswald ziehen. Südlich des Edo-Gebirges treffen wir die Rebellen aus dem Shogunat.“ „Sofern sie auf Euch warten“, fügte Tai mürrisch hinzu. „Mir macht eher Andromons Heer Sorgen“, murmelte Izzy düster. „Es liegt ein weiter Weg vor ihnen, und die Felsenklaue ist felsig, uneben und zerfurcht. Schlecht für schnelle Truppenbewegung und schlecht für Maschinen, aber die schnellste Möglichkeit, die wir haben. Nur dürfen wir nicht vergessen, dass sich das Gros des kaiserlichen Heeres noch immer im Westen befindet, in der Goldenen Zone und in der Kaktuswüste. Nicht zu vergessen die Verteidiger der Felsenklaue selbst. Andromon wird einiges an Glück brauchen, wenn es sich mit uns in Fort Netwave treffen will, bevor die Vasallen des DigimonKaisers ihm in die Flanke fallen.“ „Könnt Ihr nicht irgendwie seine Kommunikation lahmlegen?“ „Ich werde es versuchen, sobald wir seine Truppenbewegungen präzise genug voraussagen können. Wenn ich seine Kommunikationswege stumm schalte, hören wir schließlich auch nichts mehr von ihm.“ „Ich werde mich fürs Erste um das Schneisental kümmern“, sagte ToyAgumon. Izzy nickte. „Haltet sie so lange hin, wie nur irgend möglich.“ „Warum Fort Netwave?“, fragte Tai, als der Kommandeur von Geschwader A zur Tür hinaus war. „Weil es quasi das Tor zum Stiefel ist. Die Rebellen befreien im Moment die Gekomon-Reisfelder. Wenn wir uns südlich des Edo-Gebirges mit Euren Landsleuten aus dem Norden treffen wollen, bietet es sich an, auch gleich den feindlichen Nachschub vom Stiefel zu stoppen. Schaffen wir es, diese Bresche zu schlagen und sämtliche Stellungen zu halten, haben wir das Reich des DigimonKaisers dreigeteilt.“ Tai überlegte einen Moment. „Es ist trotzdem noch immer wahnsinnig groß“, murmelte er, ohne Furcht oder Ehrfurcht. Es war eine bloße Feststellung. „Und ein dreigeteiltes Reich bedeutet auch drei Fronten für uns.“ Izzy konnte nur nicken. „Darum hoffen wir, dass die Zeit auf unserer Seite ist. Es dauert lange, einen Kontinent zu überqueren.“   High spirits and emotions are coming back to us The oppression takes too long, we’ve lost everything The eyes are turning black The fighting spirit’s back We raise our hands in faith – the day of reckoning (Primal Fear – All For One) Kapitel 59: Vierfrontenkrieg ---------------------------- Tag 146   Oikawa kam gar nicht mit seinen Befehlen hinterher. Überall auf der Karte blinkten die roten Punkte, wo feindliche Digimon Kens Stellungen angriffen. Es war, als wäre ein Damm gebrochen und das aufgestaute Wasser würde nun von allen Seiten das Reich überschwemmen. Die ständigen Meldungen und die Hektik ließen ihn unwillkürlich an die Strategie-Computerspiele denken, die die Kinder heutzutage spielten. Zu seiner Zeit hatten er und Hiroki einfache Arkade-Spiele mit einer Grafikqualität jenseits von Gut und Böse gespielt, verglich man sie mit der heutigen. Diese Art von Spiel, bei dem es zudem um das Schicksal der DigiWelt und Tausende Digimonleben ging, war viel zu chaotisch für ihn. Vielleicht wurde er auch alt. „Feindkontakt auf der Großen Ebene bestätigt“, meldete ein Hagurumon eben. „Sektor R. Noch keine Verluste.“ Das war eindeutig die Armee aus dem Nördlichen Königreich. Sonst konnte kaum etwas aus dieser Richtung kommen … aber warum kamen sie von Westen her über die Ebene? Hatten sie sich irgendwie mit den anderen Reichen abgesprochen? „Seht zu, dass sie die Linie halten“, sagte Oikawa und wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. „Und zieht die Besatzung aus der Kaktuswüste und der Goldenen Zone zusammen, sie sollen der Armee entgegen marschieren, die auf der Felsenklaue gelandet ist.“ Zum Glück hatten sie erst vor zwei Tagen Chinatown eingenommen. Keiko war immer noch auf der Flucht, aber nun endlich ohne Anhänger. Oikawa verlor fast schon den Überblick, wen er wohin geschickt hatte. All diese Truppen ständig zu koordinieren … wie schaffte Ken das nur? Wenn die Nordarmee die Ebene überquerte, würde es Musyamons Aufgabe sein, sie aufzuhalten. Oikawa würde es nicht anfunken; unter ihren Gegnern war eindeutig auch die Wissens-Armee, und Ken wollte keine unnötigen Funksprüche, die abgehört werden konnten. Der Fürst von Little Edo war fähig genug, allein mit der Sache fertigzuwerden. Etwas anderes beschäftigte Oikawa mehr. Unter den ersten Zielen waren die Geschütze an der Küste, wo sich die Ölbohrinsel befand, gewesen. Das bedeutete, die Feinde hatten sich schon auf dem Festland befunden – und damit ganz in der Nähe der Voxel-Stadt. Oikawa betätigte seinen Connector, den Ken ihm gebaut hatte, und versuchte Mummymon zu erreichen. „Mummymon, kannst du mich hören? Hier ist Yukio.“ Keine Antwort. Er konnte nicht einmal sagen, ob das Signal durchkam. Während die Punkte auf der Karte weiterflackerten und die feindlichen Truppenbewegungen rote Streifen in ihr Gebiet malten, kaute Oikawa nervös auf seiner Unterlippe. Er hätte nicht gedacht, dass er noch einmal so beunruhigt werden könnte. Damals, als er unter Myotismons Einfluss gestanden war, hatte er sich bedeutend sicherer gefühlt. Das Letzte, was er von Mummymon gehört hatte, war, dass Tai krank war und in Quarantäne behandelt wurde. Wenn das Digimon jetzt nicht mehr antwortete, war es vielleicht schon zu spät, oder die Voxel-Stadt stand kurz davor, angegriffen zu werden. Aber dann hätte man doch ein Signal geschickt, oder? „Ich will, dass ihr einen Soldatentrupp von hier zur Voxel-Stadt schickt“, entschied er kurzerhand, und die Hagurumon leiteten den Befehl weiter. „Und es sollen weder Schwarzturm-, noch Schwarzringdigimon sein. Ogremon soll sie anführen. Holt Tai dort heraus, unbeschadet, Krankheit hin oder her!“ „Wird erledigt“, sagte ein Hagurumon und Oikawa sank erschöpft in seinen Sessel zurück. Ja, er hatte sich lange nicht mehr so alt gefühlt. Und immer noch wurde überall gekämpft. „Habt ihr den DigimonKaiser immer noch nicht erreicht?“, fragte er. „Er war nicht in der Basis. Versuche neue Kontaktaufnahme“, berichtete Hagurumon. Diesmal schien sich etwas zu tun. Auf dem Bildschirm wurde Arukenimons Gesicht erkennbar. Endlich. „Ich muss sofort mit Ken sprechen“, sagte Oikawa. „Tja …“, meinte Arukenimon und sofort ahnte er Schlimmes. „Es gibt da nur ein klitzekleines Problem.“     Yolei schrie genervt auf, als sie vor der wütenden Horde floh. „Ich will nicht gegen euch kämpfen! Ich bin hier, um euch zu befreien!“ Die Floramon, die sie auf ihren Pflanzenbeinen erstaunlich schnell verfolgten, hörten nicht auf sie. Natürlich nicht – sie alle trugen Schwarze Ringe und sprühten Pollen in ihre Richtung. Niemand hatte gewusst, dass dieses Dorf so gut verteidigt wurde! Endlich flogen die ersten Schüsse der Guardromon und ihrer neuen Tankmon-Kameraden aus der Ferne heran. Einer davon traf den Schwarzen Turm im Dorfzentrum, der daraufhin elektrisch zu blitzen begann, doch noch war er nicht genug beschädigt. Michael hatte ihr erzählt, dass die Macht der Türme vermutlich von ihrer Form abhing. Frühestens wenn sie keine annähernd perfekten Obelisken mehr waren, endete ihr Einfluss. Ein weiterer Schuss sprengte schließlich die Spitze des Turms fort. Fast im gleichen Moment blieben die Floramon stehen, einige stolperten auch. Sie ließen ihre Arme sinken wie ausgeschaltete Maschinen und sahen sich verwirrt um. „Ist der Spuk vorbei?“, fragte eines von ihnen, das die Fassung zurückerlangt hatte. Yolei, der fast der Atem ausgegangen war, stieß einen tiefen Seufzer aus. „Yolei, ist alles in Ordnung?“, fragte Aquilamon, das nun herbeiflog und einige Laserringe auf die Kougamon verschoss, die aus den Bambuswäldern auf das Dorf zurannten. „Jaja“, sagte sie schnell. Michael, Mimi und Betamon kamen ebenfalls angelaufen, doch sie selbst machte sich auf den Weg zu den Reisfeldern, die an das Dorf grenzten. Die Gekomon dort sahen sehr mutlos aus. Während in einiger Entfernung immer noch gekämpft wurde, hockten sie im Wasser und starrten trübselig vor sich hin. „Hallo, ihr!“, begrüßte sie Yolei. Sie sahen nicht einmal auf. „Hört bitte auf“, sagte einer der Frösche. „Mit eurem Widerstand erreicht ihr nichts.“ „Was?“ Die Gekomon trugen keine Ringe, aber hatten sie sich etwa mit dem Gedanken angefreundet, Musyamon zu dienen? „Ihr seid nicht die Ersten, die einen Befreiungsschlag versuchen“, meinte ein anderes Gekomon bitter. „Es nützt nie etwas. Der Fürst schickt einfach noch mehr Truppen und die Arbeit wird noch härter.“ Yolei verdrehte die Augen. War das zu fassen? Dabei hatte sie gehofft, hier als Heldin gefeiert zu werden! Sie ging vor einem der Gekomon in die Hocke und zog es an der Hand hoch. „Diesmal seid ihr wirklich befreit“, sagte sie mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte. „Wisst ihr, wer wir sind? Wir sind die Rebellen, die eurer wahren Königin dienen!“ Nun sah das Gekomon sie aus weinerlichen Augen an, aber darin schwamm auch ein wenig Hoffnung. „Unserer Königin?“, fragte es zaghaft. Yolei nickte heftig. „Sie ist in eurem Dorf und sieht sich den Schaden an. Wir werden euch ein für alle Mal befreien!“ „Habt ihr das gehört?“, rief das Gekomon erfreut. „Die Königin ist da! Mimi ist da!“ Die anderen stimmten in ein Jubelgeschrei mit ein, und Yolei fühlte sich sehr zufrieden.     Die Gekomon kamen von den Reisfeldern gerannt und fielen Mimi in die Arme, die sie herzlich drückte. Ständig riefen sie ihren Namen, obwohl sie noch nie in diesem Dorf am Rande des Shogunats gewesen war. „Ihr Armen“, murmelte sie, von den Tränen der Gekomon gerührt. „Was habt ihr alles durchmachen müssen?“ „Wir sind so froh, dass Ihr lebt“, rief eines der Froschdigimon und die anderen nickten bekräftigend. „Wir sollten uns nicht zu lange hier aufhalten“, drängte Michael, der schon wieder seinen Laptop im Arm hielt. Mimi konnte es gar nicht erwarten, bis ihm endlich der Strom ausging, falls das überhaupt je passieren sollte. „Wir müssen weiter, sonst gefährden wir den Plan.“ „Moment!“, rief Yolei, die eben zurückkam. „Und was ist mit diesem Dorf?“ „Wir können es kaum mitnehmen“, meinte Michael. „Aber wenn wir es ohne Schutz lassen, wird Musyamon es wieder zurückerobern, und die Gekomon und Floramon müssen umso mehr leiden!“ Mimi warf dem Ritter einen Blick zu, der gleichzeitig flehend und drohend wirken sollte. Er seufzte. „Wir können keine Digimon entbehren. Allerdings könnten wir natürlich die Gekomon und Floramon als Kämpfer aufnehmen …“ „Auf keinen Fall“, sagte Mimi sofort. „Sie sind einfache Reisbauern. Ich will nicht, dass sie wegen mir so viel Leid ertragen müssen!“ Jemand hüstelte in den Reihen der Gekomon. Die Digimon machten respektvoll Platz für einen ihrer Artgenossen, der sich auf einen Stock stützte. „Daimyo!“, rief Mimi überrascht. Das Alte Gekomon neigte den Kopf. „Nicht mehr. Nachdem ich es abgelehnt hatte, Handelsmeister des DigimonKaisers zu werden, hat Musyamon mich hierher abgeschoben. Mir bleibt nichts außer meiner Würde. Und meiner unendlichen Freude darüber, dass Ihr noch am Leben seid, Königin Mimi.“ Es verneigte sich, soweit seine betagten Beine es zuließen. „Königin Mimi, wir sind bereit, mit Euch in den Kampf zu ziehen“, sagte plötzlich ein anderes Gekomon. „Auch wenn wir keine Krieger sind, wir sind Euer Volk, und wir wollen nicht länger für Musyamon und den DigimonKaiser Reis anbauen!“ Weitere stimmten ihm zu. „Aber … Seid ihr sicher?“, fragte Mimi und wurde sich plötzlich wieder der Verantwortung bewusst, die auf ihr lastete. Sie war nicht bei dem Kampf dabeigewesen, dennoch sollte sie nun entscheiden, ob sie diese Digimon mit in den Krieg nahm. „Es ist, wie sie sagen“, erklärte das Alte Gekomon. „Wir sind Eure treuen Untertanen, und wir werden Euch in Eurem Tun jederzeit unterstützen. Dieses Dorf können wir jederzeit wieder aufbauen, solange wir am Leben sind und Hoffnung in uns tragen. Hoffnung, die Ihr nährt. Bitte erweist uns die Ehre, an Eurer Seite kämpfen zu dürfen.“ „Mimi, wir müssen weiter“, sagte Michael ungehalten. Schließlich nickte sie. „Dann kommt mit.“     Es war eng im Inneren eines Mekanorimons, und Tai hasste die Hitze und die stickige, nach Ozon riechende Luft. Außerdem sah man kaum, wo man sich gerade befand; eine Art Wärmebildkamera zeichnete bunte Flecken auf einen Bildschirm, untermalt von einigen Informationsfenstern. Zum Glück war das hier nur der Bambuswald, dessen Halme leicht umknickten. Zwischen echten Bäumen wäre Tai verloren gewesen. Izzy hatte versprochen, ihn zu seinen Landsleuten zu schicken, und Tai hatte auch erwartet, mit dem Geschwader zu ziehen, das an der Küste gelandet war und den Weg nun zu Fuß fortsetzte. Allerdings kam es ihm ein wenig feige vor, in einem solchen Blechkasten zu sitzen wie dieses ToyAgumon, das jetzt versuchte, das Schneisental zu verteidigen. Als Tai sich von Izzy verabschiedet hatte, hatte der kaum zugehört, weil er eben Feinde auf seinem Radar entdeckt hatte, die genau durch jenes Tal marschierten. Das hier war zweifellos die komplizierteste und weitläufigste Schlacht, die Tai je erlebt hatte. Nun war er eines der etwa vierzig Mekanorimon und Guardromon der Wissensarmee, die durch den Wald trampelten und den Bambus dabei einfach niedermähten, wenn er ihnen in den Weg kam. Es begann bereits zu dämmern, als sie endlich wieder Graslandschaft erreichten. Tai hätte sich gerne an der salzigen Luft des Stiefels die Beine vertreten, aber die Maschinen kannten keine Pause. Sein einziger Trost war, dass er bald Agumon wiedersehen würde.     Davis war es wie eine Ewigkeit erschienen, doch vermutlich hatten die Kämpfe nur zehn Minuten gedauert. In einer breiten Linie hatten sie sich den SkullScorpiomon und ihren kleineren Konsorten entgegengeworfen, sie eingekreist und in die Zange genommen. Dann waren sie weiter nach Südosten gezogen, hatten Schwarze Türme und Wachtposten zerstört, wann immer sie daran vorbeigekommen waren. Die Armee des Nordens schlug eine breite Schneise in die wie Pilze die Ebene überwuchernden Türme. In einem Punimon-Dorf hatte die Armee erst mal Halt gemacht. Nicht wenige namhafte Digimon des Nordens wollten die Siedlungen in der Nähe plündern, um die Armee zu versorgen. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“, hatte Sir Agunimon gesagt. Sowohl Davis als auch Kari und T.K. hatten mit ihm darüber gestritten. Dass sie sich durchgesetzt hatten, war wohl Centarumons letzten Worten geschuldet. Davis hatte schließlich sogar fast ordnungsgemäß Lebensmittel gekauft, auch wenn nur wenige Digimon in den Siedlungen waren. Der Rest hatte sich vor dem nahenden Heer versteckt. Letzten Endes hatte die Sache doch etwas von Plünderung, da es offensichtlich niemand wagte, Davis die Bitte nach Proviant abzuschlagen. Einzig das Versprechen, später entschädigt zu werden, blieb. „Krieg habe ich mir immer schrecklich und unfair vorgestellt“, sagte Kari, als sie weiterzogen, rhetorisch. „Wie ich es hasse, recht zu haben.“ „Man sagt doch, dass Kriege auf den Rücken der Bauern ausgetragen werden“, murmelte T.K. „Wenn ich diesen neuen DigimonKaiser in die Finger bekomme, der uns dazu zwingt, diese unschuldigen Digimon zu bestehlen …“ Der Proviant war nicht das einzige Problem. Viele Digimon des Nordens schienen auch die Einwohner hier zu hassen. Sie jagten sogar Digimon über die Steppe, die gar nicht gegen sie kämpften. Nur mit Mühe konnten die vier Menschen sie im Zaum halten. Davis nahm sich vor, Tai später alles zu erzählen. Es wurde Nacht, aber trotzdem ging die Reise weiter. Sie entzündeten Fackeln oder leuchteten den Weg mit ihren Attacken aus. Schließlich erreichten sie Fort Netwave als Erstes und schlugen ihr Lager hinter den Hügeln auf, an die sich die Festung schmiegte. Ein ganzer Tag, der nur aus Reiten und Kämpfen bestanden hatte, steckte Davis in den Knochen, und so war er dankbar, dass sie ihr Ziel erreicht hatten – auch wenn der schwierige Teil erst begann: die Belagerung.     Er lebt. Sammy lebt. Sammy lebt und ist mein Feind. „Ken …“ Wormmons Stimme erreichte kaum seine Ohren. Er wusste nicht, wie lange er hier schon zusammengekauert saß. Er war sich nicht einmal sicher, wo genau sie sich befanden. Die File-Insel gehörte wieder ihm, auch wenn das nur ein schwacher Trost war, und Arukenimon hatte das Lager irgendwo aufgeschlagen, wo es keinen Schnee mehr gab, dafür viele schützende Bäume. Schwarzturmdigimon durchstreiften die Wälder und ein kleines Lagerfeuer war ganz in der Nähe entzündet worden. Ken spürte die Wärme nicht. Es war, als wäre sein Körper taub. Und immer wieder drehte er dieselben Gedanken hin und her, her und hin. Sammy lebt. Mein Bruder lebt und ist mein Feind. Er will das Spiel statt mir zu Ende spielen. Er ist mein Feind. Sogar Deemon ließ ihn in Ruhe. Sicherlich weidete es sich an seiner Verzweiflung. Sammy lebt. Wie sollte er gegen seinen eigenen Bruder kämpfen? Seinen großen Bruder, der vor so langer Zeit gestorben war, dessen Tod ihn überhaupt zu dem gemacht hatte, der er nun war? Wenn er es so betrachtete, war Sammy tatsächlich der Auslöser für alles gewesen: Oikawas Mail, sein Aufstieg und Fall als DigimonKaiser, die Saat der Finsternis, Deemon. Nichts davon war noch von Bedeutung. Ich wünschte, ich wäre tot. „Ken, du hockst seit gestern hier herum. Willst du nicht wenigstens etwas essen?“, fragte Wormmon besorgt. Arukenimon trat von irgendwoher auf ihn zu. „Steh auf“, forderte es barsch. „Wir haben ein Problem.“ „Das Problem ist Sammy“, murmelte Ken. „Nein, unser Problem ist nicht ein kleiner Junge, der ein Datenecho von Eigenschaften ist, von denen du glaubst, dass dein Bruder sie hatte“, sagte Arukenimon ärgerlich. „Unser Problem ist ein Vierfrontenangriff auf dein Reich, und zwar weit weg von hier!“ Ken hörte kaum zu. Ein Vierfrontenangriff? Ob Sammy einem Vierfrontenangriff standhalten könnte? „Er lebt“, murmelte er. „Sammy lebt.“ „Hörst du mir eigentlich zu?“ Arukenimon packte ihn am Kragen und zog ihn in die Höhe. Ken sah weiterhin ins Leere. „Yukio versucht seit Stunden, uns zu erreichen. Dein verdammtes Reich geht vor die Hunde! Dein Reich, dass du dir monatelang aufgebaut hast!“ Ken schwieg eine Weile. „Soll es“, stieß er dann hervor. Arukenimon biss die Zähne zusammen. Nicht einmal den wütenden Faustschlag, den es ihm verpasste, spürte er. „Ken“, murmelte Wormmon, „denkst du noch über das nach, was er dir gesagt hat? Dass du ihm alles überlassen sollst?“ Er ist mein Bruder. Er kann es besser. Er ist nicht tot. Ich sollte ihm alles übergeben. Ken nickte apathisch. „Sammy ist besser dafür geeignet. Er kann die DigiWelt retten. Er hätte der DigiRitter werden sollen, nicht ich.“ „Das ist ja nicht zum Aushalten. Ich glaube, ich drehe bald durch“, stöhnte Arukenimon und wandte sich demonstrativ ab. „Ken, bitte denk nicht so viel darüber nach“, bat Wormmon und berührte sein Knie. Er saß wieder auf dem Boden. Träge schüttelte er den Kopf. „Sammy ist der bessere Denker von uns. Und ich kann nicht gegen ihn kämpfen. Er muss statt mir weitermachen.“ Arukenimon seufzte. „Hör zu, ich bin wirklich nicht dafür geeignet, dir seelische Streicheleinheiten zu verpassen. Hör endlich auf zu jammern und tu, was du tun musst! Deemon hat dich als seinen Gegner ausgesucht, oder? Sammy hat es selbst zurückgeholt. Er hatte von Anfang an nichts mit der Sache zu tun; denkst du nicht, es gibt einen Grund, warum Deemon das getan hat?“ „Ken“, redete Wormmon wieder auf ihn ein. Seine piepsige Stimme klang fest, und seine Augen funkelten entschlossen. „Ich glaube, du hast längst entschieden, dass du nicht vor Sammy klein bei gibst.“ Ken blinzelte. „Wie meinst du das?“ „Wenn es wirklich das wäre, was du willst, wenn du Sammy wirklich deine ganze Verantwortung abtreten wolltest, dann hättest du es längst getan. Aber du sitzt hier und zerbrichst dir den Kopf, weil du in Wahrheit nicht dazu bereit bist, alles hinzuschmeißen, auch nicht für deinen Bruder.“ Ken fuhr sich durchs Haar. „Denkst du wirklich? Ich weiß nicht.“ „Schau ganz tief in dir nach, Ken“, sagte Wormmon. „Und hör nicht nur auf deinen Verstand, sondern auf dein Herz.“ Arukenimon sah sie abfällig an. „Ihr seid wirklich albern. Holt mich, wenn ihr zu einem Entschluss gekommen seid. Sonst fliege ich morgen früh allein zurück.“ Damit stapfte es in die Dunkelheit davon. „Aber was sagt mir mein Herz?“, fragte Ken hilflos. „Ich weiß es nicht, Wormmon. Ich weiß gar nichts mehr.“ Er betrachtete seine zitternden Hände. „Ich habe Angst, dass ich bereits ein seelisches Wrack bin.“ „Das bist du nicht, sonst würdest du nicht so lange mit dir hadern“, sagte sein Digimon entschieden. Es versuchte immer noch, ihm Mut zu machen. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist“, flüsterte Ken. „Sammy … Ich sollte mich auch über ihn freuen. Stattdessen …“ Er stieß einen Wutschrei aus und raufte sich die Haare. „Deemon, warum tust du mir das an?“ Keine Antwort kam aus den Tiefen seines Verstandes. Er schwieg ebenso wie sein Herz. „Vertrau mir, Ken“, sagte Wormmon. „Ich kenne dich schon so lange. Vielleicht kenne ich dich besser, als du dich im Moment selbst kennst. Du hast noch nicht aufgegeben. Du bist viel selbstbewusster geworden, und du hast schon so viel geschafft. Der Sammy, den du kanntest, würde sicher verstehen, dass du nicht einfach alles wegwerfen kannst.“ „Aber ich …“ „Sag nicht dauernd aber. Dir fallen doch sowieso keine Argumente ein“, sagte es aggressiv. Da schluckte Ken, und für den Rest der Nacht schwiegen sie beide. Arukenimon kam nicht mehr zurück. Ken hörte nur, dass seine Digimon um ihn herum streiften. Seine Digimon. Hüllen ohne eine Seele. Eine Seele hatte er erst gestern getötet, und Hunderte davor. Würde Megidramon wiedergeboren werden? Wenn überhaupt, dann nur, wenn er das Spiel gewann. Wenn jemand das Spiel gewann. Es konnte auch Sammy sein … War es in Ordnung, all die Verantwortung in die Hände seines großen Bruders zu legen? Seines Bruders, der nie so alt geworden war, wie er mittlerweile war? Wormmon hatte seine starren Gedankenräder immerhin etwas gelockert. Nach einer Weile, als die Nacht empfindlich kalt wurde und das Feuer immer weiter herunterbrannte, rollte es sich vor ihm zusammen und schmiegte sich an seine Beine. Irgendwann döste Ken ein und nahm seinen Kummer mit in den Schlaf. Als er erwachte, kroch der Morgendunst zwischen den Baumstämmen, und Ken hatte eine Entscheidung gefällt.   I see that boy, he scares me He has the power to see I feel the wings inside his soul (Celesty – Final Pray) Kapitel 60: Der Schachkaiser ---------------------------- Tag 146   Sie saßen etwas abseits von den anderen, weil Kari vermutete, dass T.K. etwas mit ihr besprechen wollte. Die Nordarmee hatte nur wenige Zelte mitgebracht; die meisten Digimon schliefen unter freiem Himmel und wirkten dabei wie lebende Hügel, die sich im Takt ihres Atems hoben und senkten. Davis saß mit den Fürsten und Rittern am Feuer und wärmte sich an einer hitzigen Diskussion darüber, wie man weiter zu verfahren hätte. Sie hatten ein riesiges Heerlager rings um die Festung aufgebaut, deren Rundtürme und Zinnen aus bronzefarbenem Stein hoch in den Himmel ragten. Wie eine schwarze Hand reckte sich Fort Netwave den Sternen entgegen und wäre groß und furchteinflößend erschienen, wäre die Armee, der Kari nun angehörte, nicht die beeindruckendste und größte Menge an Digimon gewesen, die sie je an einem Fleck gesehen hatte. Klecks und die Divermon hatten sich in ihrer Nähe auf dem Boden niedergelassen und schienen unglücklich. Kari konnte es ihnen nicht verdenken. Die Erfüllung des Versprechens, das sie ihnen gegeben hatte, lag noch in weiter Ferne; stattdessen mussten sie ihr Leben in einem Krieg riskieren, der nicht der ihre war. Da T.K. schwieg und auch Patamon und Gatomon eher bedrückt wirkten, ergriff Kari selbst irgendwann das Wort. „Die Digimon sind nicht … richtig gestorben.“ „Du hast es also auch bemerkt“, stellte er fest. Kari nickte. Einige ihrer Feinde waren aus Fleisch und Blut gewesen. Sie waren in den Datenfluss der DigiWelt zurückgekehrt. Kari war darüber erschrocken gewesen, wie bereitwillig Davis und Raidramon vernichtende Schläge ausgeteilt hatten. Es erinnerte sie an ihr erstes Abenteuer in der DigiWelt, als sie ohne Gnade gegen die Mächte der Finsternis gekämpft hatte. Nur dass es dieses Mal keine bösen Digimon gewesen waren, die sie angegriffen hatten, sondern nur solche, die auf der falschen Seite standen – oder einfach nur ihre Heimat verteidigen wollten. Selbst Schwarzringdigimon waren heute gestorben, hingemetzelt vom Zorn der Nordfürsten. Viele Digimon jedoch waren nicht so gestorben, wie gewöhnliche Digimon starben. Ihre Haut war abgeblättert, und ein schwarzblauer Kern war sichtbar geworden. „Es waren Schwarzturmdigimon“, sagte sie düster. „Der neue DigimonKaiser hat eine Möglichkeit, Schwarze Türme in Digimon zu verwandeln. So wie Arukenimon es damals getan hat.“ „Dann können wir mit voller Kraft kämpfen. Das ist doch gut.“ „Ja, aber er kann Schwarze Türme bauen“, sagte Kari. „Das heißt, er hat einen unendlichen Vorrat an Digimon. Wir müssen es ihnen sagen.“ T.K. überlegte, dann nickte er. Er war schon aufgestanden, als er innehielt. „Sag du es ihnen. Du bist eine Königin. Ich bin nur so etwas wie dein Hofnarr.“ Sie sah in seine Augen und erkannte den gequälten Ausdruck darin. Er schien sich nicht darüber zu freuen, dass sie in ihren Kämpfen vorankamen, auch wenn es nur kleine Stücke waren. Ob er schon an die Zeit danach dachte?     Karis Neuigkeiten wurden von den Fürsten und Rittern mit Unbehagen aufgenommen. Nur KaiserLeomon bezweifelte, dass sie die Wahrheit sagte, den anderen schien es möglich, dass der DigimonKaiser Soldaten aus Türmen formen konnte. Sir Agunimon pochte sogar darauf, sofort gegen das Fort loszuschlagen, um ihnen jede Gelegenheit zu nehmen, Türme zu bauen. Ohne es zu wollen, hatte Kari dem Krieg mehr Tempo aufgezwungen. Davis war ebenfalls beunruhigt. Centarumon hatte ihm zwar den Oberbefehl gegeben, aber er brauchte dennoch für jede Entscheidung Rückendeckung von einigen Würdenträgern, sonst würde sich das Heer bald spalten. Er beriet sich gerade im Stillen mit Veemon, wie sie weiter vorgehen sollten, als das zweite Heer den Treffpunkt erreichte. Die Candlemon-Wachen schlugen Alarm, als die Maschinen aus Nordosten heranstapften. Die Anspannung des Lagers wich Erleichterung, als sie die violetten Banner der Wissens-Armee sahen, die an einigen der Mekanorimon und Guardromon befestigt waren. Vierzig waren es insgesamt. Davis hatte auf mehr gehofft. Die Maschinendigimon erreichten das Lager und überraschte Rufe wurden laut, als der Deckel des vordersten wegklappte und eine müde Gestalt in fremder Kleidung sich an die frische Luft arbeitete. Davis hielt die Luft an. Das krause, braune Haar und die Augenklappe ließen keinen Raum für Zweifel, selbst im spärlichen Licht, das die Lagerfeuer hergaben. Tai war zu ihnen zurückgekehrt.     Kari drängte sich an den schaulustigen Digimon vorbei und konnte sich gerade noch zusammenreißen, um nicht seinen Namen zu rufen. Sie war unendlich erleichtert, trotzdem sein rechtes Auge tatsächlich verloren schien. T.K. trat neben sie, mit einer Miene aus Stein. Und dann trampelte Agumon unter glücklichen Rufen heran. „Tai! Oh, Tai!“ Es hatte Tränen in den Augen. Digimon und Mensch fielen einander in die Arme. „Tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe, mein Freund“, sagte Tai. „Tai.“ Auch Davis stand nun vor ihm. „Willkommen zurück. Wir haben auf dich gewartet.“ „Ja. Gut gemacht, Davis“, lächelte er und schlug seinem Freund kräftig auf die Schulter. Offenbar hatte er nicht ganz begriffen, was Davis ihm sagen wollte. Die anderen machten es dafür offensichtlicher. Agunimon, KaiserLeomon und Angemon gingen vor ihm auf die Knie. „Willkommen zurück, Majestät.“ Tai hob die Augenbrauen. „Majestät?“ „Du bist zum König ernannt worden“, erklärte Davis mit einem schiefen Grinsen. „Tut mir leid, dass wir dich nicht gefragt haben.“ „Hüte dich, den König so respektlos anzusprechen“, ermahnte ihn KaiserLeomon knurrend. „Ist schon gut“, sagte Tai sofort und blickte auf Agumon herab. „Ich glaube, wir haben uns einiges zu erzählen. Allein das, was ich alles erlebt habe, reicht für die halbe Nacht.“ „Du kannst dir auch die ganze Nacht Zeit lassen“, erklärte Agumon zufrieden. „Ich bin so froh, dass wir wieder beieinander sind.“ „Ich auch“, meinte Tai lächelnd, während sie zum Kommandantenzelt gingen. Über ihnen kreisten die Megadramon und kreischten erfreut. Tai winkte ihnen grinsend zu. Dann kreuzte sein Weg Kari und T.K, und ihr wurde ganz flau zumute, als er sie ansah. „Wer ist das?“, fragte er. Kari hatte es geahnt, dennoch war sie so enttäuscht, dass sogar ihre Wiedersehensfreude einen Dämpfer erlitt. Wie konnte es ein Wiedersehen sein, wenn er sie nicht erkannte? Sie ermahnte sich, einfach eine Maske zu tragen. Entweder hatte dieser Spuk mit den verlorenen Erinnerungen irgendwann ein Ende, oder sie würde in Verzweiflung versinken. Dazwischen gab es nichts, also sagte sie sich, dass sie sich nicht darum sorgen sollte. „Majestät“, sagte sie förmlich und versuchte sogar einen Knicks. „Ich bin Kari, die Königin der Divermon. Das ist T.K, mein treuester Freund. Wir sind hier, um Euch zu helfen.“ Tai nickte. Er schien ihren Kummer nicht zu bemerken, aber das war kein Wunder. Trotz allem war er der Bruder, den sie kannte. „Gut. Wir können auch jede Hilfe gebrauchen, glaube ich. Kommt am besten mit ins Zelt.“ Dann erstarrte er plötzlich. „Moment. Wenn ich jetzt König sein soll … was ist mit König Leomon passiert?“ Kari und Davis wechselten betretene Blicke. „König Leomon ist von uns gegangen“, erklärte schließlich Sir Angemon. Tais Miene erstarrte. „Wie ist das passiert?“ „Gehen wir ins Zelt“, schlug das Digimon vor. „Es ist wahrlich viel geschehen, seit Ihr in die Gewalt des DigimonKaisers geraten seid.“     Es fiel Tai nicht leicht, von seiner Odyssee als Spielball verschiedener Mächte zu sprechen. Und nun sollte er also selbst König sein? Immer her mit der Verantwortung! Er hatte einiges aufzuholen. Immerhin, die DigiWelt stand nicht Kopf, wie er erwartet hatte. Das Einzige, was sich verändert hatte, war, dass der Kaiser seinen Einfluss im Westen ausgebaut hatte und dass seine Freunde es geschafft hatten, endlich MetallPhantomon zu besiegen. Dass sich ein Hochstapler für ihn ausgegeben hatte und sogar gekrönt worden war, war ungeheuerlich, und dass Davis wiederholt mit dem DigimonKaiser gemeinsame Sache gemacht hatte, noch viel bestürzender. Tai war zunächst äußerst erbost darüber, aber sein Freund hatte es offensichtlich nur gut gemeint. Seltsamerweise fühlte er umso mehr, dass er dem jungen ehemaligen Banditen vorbehaltslos vertrauen konnte. Erfreut stellte er fest, dass auch Sora Anschluss im Nordreich gefunden hatte. Sie wurde zwar von den meisten Digimon gemieden, aber immerhin zeigte ihr niemand offen Feindseligkeit. Dass auch Matt an den Kämpfen beteiligt gewesen war, verblüffte ihn hingegen; er hätte nicht gedacht, dass dieser dem DigimonKaiser entkommen könnte. So gesehen hatte er Tai schon wieder etwas voraus. Das nagte jedoch nur so lange an ihm, bis er erfuhr, dass Matt schwer verletzt war und nicht an dem Feldzug teilnehmen konnte. Nun hoffte er wiederum auf die baldige Genesung seines Rivalen … Tais unfreiwilliges Exil schien wohl ein gewisses Harmoniebedürfnis in ihm geweckt zu haben. Er selbst bemühte sich, sich kurz zu fassen, aber Davis und Königin Kari forderten immer wieder Einzelheiten, wobei ihn letztere zu bemitleiden schien. Also erzählte er genau, wie er ins Düsterschloss geflogen war, um Sora gefangen zu nehmen, wie man ihm das Auge genommen hatte – die Folter ließ er aus – und wie der DigimonKaiser ihn plötzlich befreit und mit seinem Leibwächter nach Süden geschickt hatte. Die Geschichte, wie sie von Datamon abgefangen und zu König Takashi gebracht worden waren, hatten die anderen anscheinend bereits aus dem Mund seines Klons gehört. Dann erzählte er von seiner Gefangenschaft in der winzigen Kammer in der Pyramide, davon, wie ihn wieder ausgerechnet der DigimonKaiser befreit hatte und ihn in seine Festung hatte bringen wollen. Schließlich lobte er Izzys taktisches Geschick, der Dame Arukenimon ausgetrickst und ihn in die Voxel-Stadt gelotst hatte, wo er bisher Unterschlupf gefunden hatte. Als er geendet hatte, blickten T.K. und Kari merkwürdig drein. „Ein Arukenimon?“, fragte der blonde Junge, der Matt etwas ähnlich sah, wie er fand. Waren die beiden vielleicht verwandt? „Konnte es Schwarze Türme in Digimon verwandeln?“ Tai runzelte die Stirn. „Keine Ahnung. Ich habe es zumindest nicht bei so etwas gesehen. Es war ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse.“ „Hatte es auch eine menschenähnliche Form? Konnte es sich verwandeln?“, fragte Kari. Die Fragen verwirrten ihn. „Ich habe eigentlich nur eine menschenähnliche Form gesehen … hätte es anders aussehen sollen?“ Kari und T.K. wechselten bezeichnende Blicke. Was heckten sie aus? Das Gespräch wurde unterbrochen, als erneut ein Alarm ertönte. Sofort sprangen alle auf und liefen nach draußen, doch wieder war es eine Armee ihrer Verbündeten. Noch schien Fort Netwave keine Verstärkung zu erhalten, aber die Nordarmee war auch erst seit vier Stunden hier. Es war zweifellos der bestgelaunte Tross, der das Umland von Fort Netwave heute erreichte. Schrille Trompetenmusik und schräger Gesang begleiteten die Kolonne, die laut Izzys Plan eigentlich schon viel früher hätte eintreffen sollen. Irgendjemand schien wohl der Ansicht zu sein, der Krieg wäre bereits gewonnen. „Da vorn! Da sind ja auch ganz viele Menschen dabei!“, rief das Mädchen, das in der ersten der ungeordneten Reihen marschierte. Sie hatte fliederfarbenes Haar und trug eine Brille und eine schmutzstarrende Uniform; an ihrer Seite baumelte ein Schwert. Hinter ihr ging jemand, den Tai beinahe nicht erkannt hätte. Mimi erinnerte sich dafür umso schneller an ihn, denn sie blieb abrupt stehen. „Das ist ja Sir Taichi!“, hörte er sie, obwohl sie sich Mühe gab, nicht zu laut zu sein. Sie wandte sich an den blonden Jungen hinter ihr. „Wieso hast du mir nicht erzählt, dass er hier ist?“, zischte sie. Der junge Mann blieb ruhig, und Tai verstand seine Antwort nicht, auch weil die Gekomon in dem Trupp eine neue Strophe eines fröhlichen Lieds anstimmten, das keinen Text zu haben schien, sondern nur aus verschiedenen Variationen des Wortes geko bestand. Tai erinnerte es an den alten Shogun von Little Edo. Aber er war sogar froh, sie gesund und munter wiederzusehen. Mimi hatte ihn zwar verschmäht, aber keiner von ihnen beiden hatte schließlich wirklich die Absicht gehabt, zu heiraten. Ehe sie in eine peinliche Situation geraten konnten, hielt er es für angebracht, sie persönlich zu begrüßen. Er ging auf die Gruppe zu, und als er näher kam, wurden die Augen von Mimis Begleiterin größer. „Ist er das, Mimi? Ist das der Drachenritter?“ Tai verbeugte sich ein wenig. Er scherte sich nicht darum, ob es angemessen tief war. Und schließlich waren sie im Krieg. „Prinzessin Mimi“, sagte er. „Ich hätte nicht erwartet, Euch hier anzutreffen, aber ich bin erfreut.“ Mimi wich seinem Blick erst überheblich aus, dann schien sie zu erkennen, dass es keinen Grund für ihre Ablehnung gab. „Die Freude ist meinerseits“, sagte sie schließlich steif. „Ihr kommandiert also diese … Horde?“ Darüber hatten sie noch nicht gesprochen, aber wenn er tatsächlich der König sein sollte, stand das wohl außer Frage. „So kann man es sagen. Wie kommt Ihr hier her?“ „Gestatten.“ Der blonde junge Mann trat vor. „Sir Michael von der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt. Wir sollen Euch helfen, das Fort einzunehmen.“ „Ah, Ihr seid der Ritter, von dem Izzy gesprochen hat.“ Der Rotschopf hatte allerdings mit keinem Wort erwähnt, dass Mimi bei ihm war. Es war immer nur die Rede gewesen von Rebellen. „Wir sollten gleich zur weiteren Angriffsplanung übergehen“, sagte Sir Michael. „Immerhin sind wir hier die Einzigen in der DigiWelt, die dem DigimonKaiser noch etwas entgegenzusetzen haben. Unsere Operation muss Erfolg haben.“     Es wurde eine lange Nacht, obwohl sie sich dringend von den Anstrengungen des Tages hätten erholen müssen. T.K. fand es geradezu abartig, so viele seiner Freunde an einem Fleck versammelt zu wissen, während sie sich höflich und einfach … fremd begegneten. Tai bewies wieder einmal Anführerqualitäten, ließ sich in strategischen Belangen jedoch von Michael beraten, der angeblich auch für Izzy sprach. Mimi versuchte ständig, ihren eigenen Kopf durchzusetzen und das Heer dazu zu bewegen, diesen klobigen Klotz von einer Festung in Ruhe zu lassen und stattdessen Little Edo zu befreien. Sora bemühte sich als Streitschlichterin, doch viele hochrangige Norddigimon übergingen sie einfach. Kari gab ihr Möglichstes, zur allgemeinen Vernunft beizutragen. Yolei schien erschöpft, wie ausgebrannt, was sie immerhin vor unüberlegten Handlungen schützte. Und T.K. hasste es, ohnmächtig zusehen zu müssen, wie seine Freunde all die Streiteren durchmachten, die sie doch schon vor langer Zeit zu einem eingeschweißten Team gemacht hatten. Konnten sie einander nicht einfach freudevoll in die Arme fallen? Warum hatten sie nur das Gedächtnis verloren? War das Deemons Schuld? Aber wo war Deemon? In der DigiWelt hatte niemand je von ihm gehört. Er versuchte, etwas über weitere Menschen herauszufinden. Wenn Michael hier war, gab es sicher noch andere internationale DigiRitter in der DigiWelt. Tatsächlich hatten seine Freunde einige von ihnen gesehen. Yolei kannte sogar Joe von irgendeinem Fest in Little Edo, und anscheinend war er auch hier so etwas wie ein Arzt. Von Cody hatte keiner von ihnen je gehört, und auch Ken blieb wie vom Erdboden verschluckt, auch wenn Yolei meinte, dass sie diesen Namen schon einmal gehört hätte. „Ken …“, murmelte sie und kratzte sich am Kopf. „Irgendwas bringt dieser Name bei mir zum Klingeln. Ich komm nur nicht drauf …“ Sie lachte verlegen. „Der Tag war lang, tut mir leid. Vielleicht auch Little Edo, da kamen verschiedene Menschen hin …“ T.K. hatte Nachsicht mit ihr. Vielleicht erinnerte sie sich auch nur aus ihrem früheren Leben an ihn, wer wusste das schon? „Wenn es dir wieder einfällt, sag es mir bitte sofort. Es ist sehr wichtig.“ „Klar, kein Problem.“ Sie zog die Stirn kraus. „Wie war nochmal dein Name?“ T.K. seufzte. Nachdem sie ein paar Stunden Schlaf gefunden hatten, begab sich das Heer noch vor Sonnenaufgang in Angriffsposition. Wie ein Halbmond umzingelten sie die feindliche Festung, die genauso gut hätte verlassen sein können: Kein einziges Digimon hatte sich bisher blicken lassen. Tai kniete ganz vorne neben Agumon und fragte es: „Ich weiß, du warst lange krank. Fühlst du dich imstande, zu digitieren?“ Agumon nickte heftig. „Ich bin bereit, wenn du es bist.“ „Gut. Ich zähle auf dich.“ Der erste Sonnenstrahl linste über den Horizont, und Tai erhob sich. „Drachenstaffel!“, rief er. T.K. sah sich um. Jeder hatte einen Platz in der Formation: Mimis Gekomon und Floramon, Yoleis Ninjamon, Tankmon und Mushroomon, die anderen befreiten Digimon, die Mekanorimon und Guardromon, die Tai hergebracht hatten, Michael und sein Betamon, das in der Bucht darauf wartete, dass die beiden Schwarzen Türme, die an zwei Enden aus der Festungsmauer hervorragten, zerschlagen wurden, Karis Truppe von Divermon, die bereits in die nahe Bucht getaucht waren und die Festung vom Meer her angreifen würden, und das Gros des Heeres, die beeindruckenden Digimon aus dem Nördlichen Königreich. Als die Megadramon, die Tai aufs Wort gehorchten, über sie hinwegfegten, spürte T.K, wie der Wind an seinen Kleidern zerrte. Als sie in Schussweite waren, flogen Feuerbälle und andere Attacken aus den Schießscharten des Forts, doch kaum eine traf. Dafür trafen die Megadramon umso besser: Fast gleichzeitig explodierten die Mauerteile, die die Türme beschützten, und bei einer zweiten Angriffswelle barsten die Türme selbst. Das Heer setzte sich in Bewegung, scheinbar träge, weil es einfach so viele Digimon waren, deren Getrampel die Erde beben ließ. Tai hob sein DigiVice hoch über seinen Kopf. Auch Patamon, Gatomon, Palmon, Hawkmon und Betamon digitierten auf ihr jeweils höchstes Level. Und als WarGreymon, MagnaAngemon, Angewomon, Lillymon und Aquilamon auf die Festung zuflogen, gab es für T.K. keinen Zweifel mehr am Ausgang dieses Kampfes.     Tag 147   Sammys Insel war neben der File-Insel aufgetaucht. Es musste seine sein. Sie war so nah, als wollte sie Ken einladen, über die schmale Kluft zu springen. Ken hatte keine Ahnung, warum diese Insel hier auftauchen konnte, aber Arukenimon wusste die Antwort. „Das ist dann wohl ein KingWhamon“, sagte es. „Zumindest ist das meine Vermutung. Ein riesiges Whamon, auf dessen Rücken eine ganze Insel Platz hat. Deemon hat keine Mühen gescheut, deinen Bruder auszustatten.“ Die Insel besaß vielleicht ein Viertel der Größe der File-Insel und war zumeist bewaldet. Einige PawnChessmon standen noch an der Küste und starrten zu ihnen herüber. Sie griffen nicht an. „Bist du sicher, dass du allein gehen willst?“, fragte Arukenimon, als er auf Stingmons Arm kletterte. „Ja“, sagte er entschlossen. „Nur ich allein. Stingmon wird zu euch zurückkehren, sobald ich drüben bin.“ „Ich werde nie verstehen, was in deinem Kopf vorgeht“, meinte Arukenimon missmutig. „Das ist auch besser so. Wir können los, Stingmon.“ Sie flogen über die schmale Schlucht zwischen den Inseln. Eine eigenartige Ruhe hatte ihn erfüllt. Er hatte so ausgiebig über Sammy nachgegrübelt, dass er sich nun innerlich völlig leer fühlte. Das hatte aber zweifellos zur Folge, dass alles, was in der nächsten Stunde passieren würde, ihn zur Gänze ausfüllte und ihn nie mehr verließ. „Soll ich nicht doch in der Nähe bleiben?“, fragte Stingmon, als es ihn auf KingWhamons Rücken absetzte. „Immerhin sind noch Digimon hier.“ „Nicht nötig“, sagte Ken. „Wartet einfach auf mich.“ Stingmon brummte davon, und Ken betrat unter den Augen zweier regloser PawnChessmon den Wald, der ins Herz der Insel führte. Ein kleines Gebirge erhob sich dort. Erst wurde das Gelände hügelig, dann zerklüftet. Ken begegnete kein einziges Digimon mehr. Alles war ruhig und friedlich. Die Sonne stach golden zwischen den Baumstämmen hervor und blendete ihn. Sattes Grün wich irgendwann bleichem Gestein, und Ken fand einen behauenen Berghang. Vor einer Felsenfigur blieb er stehen. Sie zeigte das Schachfigurenpaar, KingChessmon und QueenChessmon, und hinter ihnen, größer, Sammy. Ken betrachtete das steinerne Ebenbild seines Bruders ausgiebig. Dann erst erklomm er die Steinstufen, die links und rechts davon den Hang hinaufführten. Auf dem kleinen Plateau, das er erreichte, wuchsen keine Bäume mehr. Der Boden war glatt, aber felsig, und man konnte die ganze Insel überblicken. Die einzige Behausung war ein prächtiger Kuppelbau aus schwarzweißem Stein, zwischen dessen Säulen das hohe Tor offenstand. Es lag etwas Feierliches in der Luft. Die Stille, der Geruch nach Frühling, der kalte Stein und das hohle Echo seiner Schritte, als ein Saal mit marmornem Schachbrettmuster als Boden ihn aufnahm … Sammy erwartete ihn bereits. Er stand im Zentrum des Saals, dort, wo ein heller Lichtkegel durch ein Loch in der Decke fiel. „Ken“, sagte er lächelnd und hielt ihm die Hand hin, als wollte er ihn zu sich ziehen. „Sammy“, sagte er mit belegter Stimme. Allein sein Anblick ließ Ken schwer zumute werden. „Da du alleine kommst, hast du dich entschieden? Wirst du mir dein Reich und deinen Thron überlassen? Ich habe jedenfalls gründlich darüber nachgedacht. Ich werde dir die Aufsicht über die File-Insel geben. Sie ist abgelegen, aber wichtig, und einer von uns muss darauf achtgeben.“ Ken blieb in einiger Entfernung stehen und schwieg. Er betrachtete Sammy, wie er da im Licht stand, das Haar kraus, die Brille auf der Nase. „Was ist nun?“, fragte sein Bruder. „Ich habe lange für die DigiWelt gekämpft“, sagte Ken. „Seit mich Davis und die anderen wieder auf den Boden der Tatsachen geholt haben. Wir haben gemeinsam so viel erlebt, so viel für die DigiWelt getan … Bist du sicher, dass du die Bindung, die wir zur DigiWelt haben, nachempfinden kannst?“ „War deine Bindung am Anfang nicht auch so fest, dass du alles für das Wohl dieser Welt gegeben hättest?“, fragte Sammy zurück. „Ich setze mich nämlich auch für das Wohl dieser Welt ein. Du hast wirklich lange gekämpft, Ken. Man sieht dir an, dass du müde bist. Lass mich dir helfen. Du hast genug getan, genug gelitten.“ „Ja“, murmelte Ken. „Ich habe wirklich gelitten. So sehr, dass es auch für zwei reichen würde.“ „Darum gib mir die Zügel in die Hand, kleiner Bruder. Ich sage ja nicht, dass ich dich aus dem Spiel werfe. Ich weiß, dass Deemon uns gegeneinander aufbringen will. Im Prinzip hat es das so lange geschafft, wie unsere Digimon einander bekämpft haben. Aber jetzt sind nur wir beide hier. Die Ichijouji-Brüder, die zusammenarbeiten und die DigiWelt wieder in Ordnung bringen werden.“ Abermals hielt er ihm die Hand hin, um um Kens DigiVice zu bitten. Wie sehr hatte sich Ken zu Lebzeiten danach gesehnt, ein so warmes Lächeln auf Sammys Gesicht zu sehen, das ihm gewidmet war. Wie sehr nach einer Aufforderung, gemeinsam an etwas zu arbeiten. Wie sehr danach, ihm, Sammy, seinem großen, talentierten Bruder, eine Hilfe zu sein … Langsam ging er auf ihn zu und blieb knapp vor ihm stehen. Seine Hand löste das schwarze DigiVice von seinem Gürtel. Sammy nickte ihm auffordernd zu. Ken machte Anstalten, das kleine Gerät in Sammys Hand fallen zu lassen. „Auf dem Weg hierher habe ich eine Statue von dir gesehen“, sagte er. Sammys Augenbraue zuckte ärgerlich. „Ach, das Felsenmonument. Die Chessmon bestanden darauf.“ „Der Steinmetz hat dich gut getroffen. Es sieht dir wirklich ähnlich.“ „Danke. Wir können noch eines machen lassen. Wir können uns zu zweit in der DigiWelt verewigen lassen, wenn du willst.“ „Ich habe es lange betrachtete“, murmelte Ken. „Es sieht aus wie du, aber es ist nur den Gedanken des Steinmetzes entsprungen. Es ist nicht wirklich wie du.“ „Natürlich nicht, es ist ja nur eine Statue“, meinte Sammy ärgerlich. „Was willst du mir sagen, Ken?“ „Dass dein jetziges Ich genauso ist.“ Damit ließ er das DigiVice fallen und sprang mit seinem ganzen Gewicht gegen Sammy. Der kindliche Körper seines Bruders war nur ein Fliegengewicht. Ken warf ihn auf den Hallenboden und nagelte ihn mit den Knien fest. Als seine Hände seinen Hals fanden, spürte er bereits die Tränen, die ihm über die Wangen liefen. „Der wahre Sammy ist vor Jahren gestorben“, schluchzte Ken. „Und wenn ich dich zehnmal zum Leben erwecken könnte, ich dürfte es nicht! Wir haben dich immer geliebt, wir alle, wir haben dich in bester Erinnerung behalten, für uns bist du nie wirklich gestorben! Deemon hat dich zurückgeholt, um dein Andenken zu schänden! Du kannst nicht einfach wieder aus deinem Grab klettern, als wäre nichts gewesen, als wäre alles eine Lüge, was wir über dich dachten und über dich redeten!“ Sammys Finger krallten sich um Kens Hände und versuchten, sie von seinem Hals zu lösen, doch Ken war stärker. Die Augen seines Bruders, die ihn verzweifelt, voller Verachtung und blutunterlaufen anstarrten, würde er nie vergessen. Ebenso wenig das Pumpen der Schlagader unter seinen Fingern und den zerbrechlichen Körper, den er gegen den kalten Boden drückte. Ken sog alles tief in sich auf. Seine Tränen fielen auf Sammys Gesicht hinab. „Ich kann dir nicht trauen. In dieser Welt ist alles verkehrt. Vielleicht bin ich noch kein seelisches Wrack“, brachte er weinend hervor, „aber ich werde eines sein. Ich werde ein wahres Scheusal sein, und ich werde die DigiWelt retten. Du bist nicht mein Bruder, mein Bruder ist tot, und ich wünschte, ich wäre es auch!“ Kens Schultern bebten unter seinen Schluchzern, während Sammys Gegenwehr langsam schwächer wurde und Kens Hände seine Kehle fester umklammerten, seine Hände, die gestern noch so gezittert hatten.     Als er aus der Kuppelbaut wieder ins Freie trat, fühlte er sich abermals leer und hohl. Er drehte sich nicht um. Er wollte an gar nichts denken. Seine Schritte wurden mit jeder Empfindung, die er abschüttelte, leichter. Er hatte den von zahllosen Ozeanwellen glattgeschliffenen Platz zur Hälfte überquert, da erklang das Geräusch von Hufen hinter ihm. Das weiße KnightChessmon, das Sammy von der File-Insel gebracht hatte, überholte Ken und stellte sich ihm in den Weg. Prachtvoll glänzte es im Morgenlicht. „Wo ist der Kaiser?“, schnarrte es. „Ich bin der Kaiser“, sagte Ken. „Der einzige.“ „Sprich.“ Eine dicke, weiße Lanze richtete sich auf ihn. „Ich war dagegen, dass er sich allein mit dir trifft. Was hast du mit ihm gemacht?“ „Es gibt nur einen einzigen Kaiser“, wiederholte Ken spröde. KnightChessmon nickte. Es war wohl das letzte wirklich schlagkräftige Digimon, das Sammy übrig gehabt hatte. „Dann soll es keinen geben.“ Und auch Ken nickte. Das weiße Digimon holte aus – und wurde von einem violetten Stachel zerschmettert, als Stingmon wie ein Raubvogel auf es herabstieß. Seine prächtige Rüstung fiel auseinander, klirrte zu Boden und löste sich in Daten auf. „Alles in Ordnung, Ken?“ Stingmon landete neben ihm. Ken schnaubte. „Ich habe geahnt, dass du mich nicht allein lässt. Wenn ich mich schon selbst nicht mehr um mein Leben kümmere, ist es gut, dass wenigstens du es tust.“ Er ließ sich von Stingmon hochheben, dann flogen sie zur File-Insel zurück. Ken war froh, dass sein Partner Sammy mit keinem Wort erwähnte. Er schämte sich, auch nur daran zu denken, aber womöglich ging auch das vorüber und machte der erlösenden Leere Platz. Wenn dich eine leere Hülle, ein seelisches Wrack, eine Puppe besiegt, Deemon, dann spricht das nicht gerade für dich, dachte er. Deemon schwieg weiterhin.   Hold back the night, my darkest dreams I’m standing right beside you – enemy I’ll take your fate into this world And I will follow you into the dawn (Primal Fear – All for One) Kapitel 61: Rückkehr in eine falsche Heimat ------------------------------------------- Tag 147   „Ken! Meine Güte, wo hast du gesteckt?“ Oikawa verstummte, als er Kens Gesichtsausdruck sah. Wie er wohl aussehen musste? Im Dunkel der Brücke konnte es nicht halb so schlimm sein wie bei Tageslicht. „Wie ist die Lage?“, fragte er kühl. Sein Umhang wehte hinter ihm her, als er zu den Konsolen ging. Oikawa verzog besorgt das Gesicht. „Eben haben wir die Nachricht erhalten, dass Fort Netwave an unsere Feinde gefallen ist. Der Stiefel ist vom übrigen Reich abgeschnitten.“ „… und der Fürst des Stiefels sitzt hier, statt vor Ort die Dinge zu übernehmen.“ Ken wollte nicht anklagend klingen, er wollte überhaupt nicht nach irgendetwas klingen, aber seinem Gesichtsausdruck nach schien Oikawa es so aufzufassen. „Gebt mir eine Zusammenfassung alle Angriffsziele und Truppenbewegungen. Ich will Berichte über sämtliche Kämpfe, Verluste und verlorene Gebiete. Und eine Analyse der feindlichen Truppen. Ich will wissen, wer dahintersteckt“, sagte Ken, mechanisch wie ein Roboter. „Und schafft mir Datamon und Cody her.“ Oikawa nickte, leitete die Befehle weiter und sah kurz so aus, als wollte er vor dem erkalteten Kaiser von der Brücke fliehen. Dann aber schien er zu dem Entschluss zu kommen, dass er ihn besser nicht allein lassen sollte.     Es gefiel Kari gar nicht, dass sie sich schon bald wieder trennen würden. Alles war so schnell gegangen, das Wiedersehen, der Fall von Fort Netwave – sie hatten kaum eine Stunde gebraucht, um sämtlichen Widerstand zu brechen –, dann das anschließende Verteidigen der Festung gegen die Verstärkung vom Stiefel. Und nun rief schon wieder das Schlachtfeld. Gleich nach der Eroberung der Festung hatten sie Tais Krönungszeremonie nachgeholt. Es war nur ein schwacher Abklatsch des aufgeregten Spektakels, dem Kari in Santa Caria beigewohnt hatte, dennoch war es äußerst würdevoll: Sir Angemon hatte die symbolische Krone und das Schwert mitgebracht und ernannte Tai auf dem obersten Wehrgang zum Drachenkönig des Nordens, während im Burghof und vor den Mauern seine Anhänger jubelten. Kari fühlte sich ein wenig wie eine Königmacherin. Sie und Sora flankierten den jungen König diesmal als Zeuginnen. Selbst Mimi applaudierte. Es gab sogar ein kleines Fest. Davis und Yolei hätten sich garantiert betrunken, hätten ihre Freunde sie nicht daran erinnert, dass es noch viel zu tun gab. Mimi fand es unangebracht, mitten im Krieg die Weinvorräte einer eroberten Festung zu plündern, aber Michael hatte gemeint, dass das Feiern nach einem Sieg ebenso wichtig wäre wie der Sieg selbst. Die müden Digimon hatten dann bis zum späten Nachmittag etwas Schlaf nachgeholt. Das galt aber nicht für ihre Anführer: Sie hatten sich in einem ehrwürdigen, steinernen Raum im Zentrum der Festung versammelt und beugten sich über eine Karte, die so groß war, dass sie über die Ecken des hölzernen Rundtisches ragte. Wieder gab es Wichtiges zu besprechen. Mimi und Yolei wollten sofort weiterziehen und Little Edo aus den Klauen des DigimonKaisers reißen. Michael sprach sich dafür aus. Er hatte mit Izzy Kontakt aufgenommen. Anscheinend hielten die Maschinen der Wissens-Armee noch immer den Schneisenpass, aber niemand wusste, wie lange das so bleiben würde. Der Pass war strategisch nicht besonders wichtig, allerdings lagen davor sämtliche von den Rebellen befreite Gebiete. Wenn sie die Reihen dort verstärkten, konnten sie vielleicht durch die Front brechen und nach Little Edo marschieren. Die Nordarmee könnte südlich des Edo-Gebirges nach Westen ziehen und von der anderen Seite in das Shogunat einfallen. Nur wollte der Norden das nicht. Nun, da sie ihren König wiederhatten, schlugen die meisten Fürsten und Ritter Izzys Vorschläge in den Wind. Selbst Tai, vor dem sie Respekt hatten, war sich nicht sicher, was sie tun sollten. Sie mussten das Fort und sein Hinterland halten, um das Reich des DigimonKaisers zweizuteilen. Noch kamen laut Izzy keine feindlichen Truppen aus der Kaktuswüste, da sich diese nach Süden hin konzentrierten, um sich Andromons Heer entgegenzuwerfen. Das war aber nicht unbedingt eine gute Nachricht. Vieles schien dafür zu sprechen, der Armee eine Pause zu gönnen und einfach nur die eroberten Gebiete zu halten, bis Andromon sicher zu ihnen gestoßen war. „Ich habe aber genug gewartet!“, sagte Mimi resolut. „Wenn Musyamon durch das Schneisental kommt, wird es wieder Türme bauen lassen und die Reisfelder und Dörfer zerstören, da bin ich sicher! Das werde ich nicht zulassen!“ Kari konnte immer noch nicht fassen, dass ihre Freundin in dieser Welt Matt geheiratet hatte. Dass er am Leben, aber verletzt war, schien ihr jedoch weniger nahe zu gehen, als es bei einer jungen Ehefrau sein sollte. Sie zeigte sich bestürzt, aber da war keine Liebe in ihren Augen, wenn sie an ihn dachte. Bei diesem Gedanken, musste Kari schließlich innerlich lachen. Und wie war es bei ihr? Sie hatte ein Schattenwesen geheiratet. Sie konnte niemanden leiden sehen, auch Klecks nicht, aber deswegen liebte sie ihn noch lange nicht. „Also schön“, stöhnte Tai auf. „Wir werden uns aufteilen. Ihr aus dem Shogunat geht westlich am Gebirge vorbei, das ist der einfachere Weg für euch. Ein Teil von unserem Heer wird Izzy im Schneisental unterstützen. Die Drachenstaffel, die Divermon und die anderen Menschen mit Digimon-Partnern blieben aber hier. In Little Edo gibt es immer noch überall Türme, so wird das mit dem Digitieren zu kompliziert. Sir Agunimon, Ihr stellt eine schlagkräftige Truppe für einen raschen Kampf zusammen.“ „Wie Ihr befehlt“, sagte der Ritter wenig begeistert. „Was ist mit mir?“, fragte Davis. „Veemon und ich können die Armor-Digitation benutzen.“ „Stimmt. Wir können sicher ordentlich heizen. Diesem Musy… Mumsymon. Ein“, ergänzte Veemon, das weitergetrunken hatte, nachdem Tai Davis jeden weiteren Schluck verboten hatte. Sein Wanken hätte die ernste Runde sicher erheitert, wären sie nicht alle hoffnungslos übermüdet gewesen. „Euch will ich in meiner Nähe wissen“, sagte Tai. „Wir wissen nicht, wie viele Digimon auf dem Stiefel dem DigimonKaiser ergeben sind und auf die Idee kommen könnten, die Festung anzugreifen. Aus dem Westen können auch noch Feinde kommen, unsere Versorgungslinien in den Dornenwald gehören freigehalten und außerdem müssen wir auch unsere Gefangenen bewachen.“ Die Gefangenen. Die Besatzung von Fort Netwave waren zumeist freiwillige Soldaten gewesen. Sie hatten treu für den DigimonKaiser gekämpft, aber nur bis zu dem Punkt, wo sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage begriffen hatten. Tai war so gnädig gewesen, diejenigen, die sich ergeben hatten, nur in die Kerker unter der Festung zu werfen. „Du siehst. War doch keine schlechte Idee, betrinken. Wir, uns“, lallte Veemon. „Weil wir doch noch Zeit warten. Einige, müssen.“ Wie Agunimon schien auch Davis nicht gerade von der Idee angetan, denn er vergrub brummend die Hände in den Hosentaschen. Wahrscheinlich wäre er lieber wieder auf Angriffskurs gegangen. Oder er vermisste die Befehlsgewalt, die Tai wie selbstverständlich an sich gerissen hatte. Dass man es als Vertrauensbeweis auffassen konnte, dass der Ältere ihn an seiner Seite haben wollte, schien er zu übersehen oder zu ignorieren. Kari versuchte, Tai dazu zu überreden, ihre Gruppe nicht zu teilen. Sie wollte all ihre Freunde an einem Fleck versammelt wissen, doch sie stieß auf taube Ohren. „Ich weiß schon, was die bessere Strategie ist“, sagte ihr Bruder nur. Und damit war es beschlossene Sache. Vorbereitungen für den Aufbruch wurden getroffen. Sogar Mimi würde wieder in den Kampf ziehen. Kari beschloss, T.K. um einen Gefallen zu bitten. Sie fing ihn in einem der kalten Steinflure der Festung ab. „Kannst du nicht mit ihnen gehen?“ „Warum? Bin ich dir lästig?“, fragte er ruppig. Sie seufzte. „T.K, bitte. Du weißt, warum.“ „Schon klar.“ Er schnaubte. „Ich soll auf Yolei und Mimi und Hawkmon und Palmon und Michael und all die unglücklichen Digimon aufpassen, die eine Heimat zurückerobern wollen, die gar nicht ihre Heimat ist.“ „Ich könnte mir nur nicht verzeihen, wenn ihnen etwas zustößt“, murmelte Kari und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie würde bei den Divermon bleiben, die in der Bucht am ehesten ihre Kräfte entfalten konnten, sollte das Fort angegriffen werden. „Schon gut. Ich auch nicht.“ T.K. nickte Patamon zu. „Aber noch weniger, wenn dir etwas passiert.“ „T.K“, seufzte sie wieder. „Mir wird nichts geschehen. Gatomon und Klecks …“ „Dein Ehemann, ja“, unterbrach er sie naserümpfend. „Was hat er je für dich getan, außer dir brav hinterherzulaufen? Man sieht deutlich, wer von euch beiden die Hosen an hat. Wenn er einen Finger rührt, um dich zu retten, dann nur, um seinen Nachwuchs zu sichern.“ „T.K, wir haben das jetzt oft genug durchgekaut“, sagte sie ärgerlich. „Stimmt. Und trotzdem hat sich leider nichts daran geändert.“ „Wir können die Divermon nicht einfach wegschicken. Ich habe ihnen mein Wort gegeben.“ „Mir hast du damals auch etwas versprochen“, knurrte T.K. Es war wieder einer seiner schwarzen Tage, deren Anzahl in letzter Zeit stark zugenommen hatte. „Und sieh dich doch um! Glaubst du, es kommt auf deine Divermon an? Tais Heer ist riesig! Und wir hätten die Divermon nicht mal gebraucht, um in die DigiWelt zu kommen! Oder gefällt es dir, Königin zu sein? Überzeuge Tai doch davon, dass du seine Schwester bist, dann macht er dich sicher zur Prinzessin oder so.“ „Was willst du denn von mir hören?“, schnappte sie erregt. Seine ewigen Vorwürfe hingen ihr zum Hals raus. „Keine Ahnung! Irgendwas Positives. Irgendwas, was dich nicht zur Mutter von schleimigen Schattenkreaturen macht. Dass es dir nicht gefällt, dass die Divermon dich anhimmeln. Dass du es bereust, ihnen dein Wort gegeben zu haben. Ein einfaches Ich vermisse dich würde schon reichen, verdammt!“ Nach diesem Ausbruch stapfte er mit zusammengebissenen Zähnen an ihr vorbei und bog bei der erstbesten Wegkreuzung ab. Sie stand da wie mit kaltem Wasser übergossen, dabei schockierten sie seine Worte, von denen sie genau wusste, wie sie gemeint waren, nicht einmal sonderlich. Plötzlich wünschte sie sich, dass sie und T.K. auch das Gedächtnis verloren hätten und mit einer blanken Tafel beginnen könnten.     „Ist es möglich?“, hatte er gefragt. „Dann beeil dich. Und wenn du ein krummes Ding drehst, bist du tot.“ Der DigimonKaiser war genauso ein Tyrann, wie alle immer erzählt hatten. Datamon arbeitete eifrig, wie immer. Dennoch schien es einfach nicht schnell genug zu gehen. Es kürzte schon die Berechnungen, wo es ging. Der Kaiser hatte keine perfekten Bewegungsabläufe gewollt, nur realistische Posen. Grimmig arbeitete es weiter in seinem dunklen Computerlabor. Immerhin waren Maschinen hier in der Festung des DigimonKaisers noch besser als die von König Takashi. Einhornkönig oder DigimonKaiser, Datamon war es gleich. Wenn es auf der Siegerseite stand, würde sich schon ein Vorteil ergeben.     Tag 148   „Welch seltene Geste“, spöttelte Nadine überheblich. „Nicht nur, dass ich meine Zelle verlassen darf, ich bekomme sogar die Ehre einer Audienz.“ Sie hatte offenbar nur Zeit gehabt, ihr Haar zu ordnen, als Arukenimon sie geholt hatte. Ihr Kleid, das sich bei jedem Schritt ausladend bauschte, hatte eindeutig bessere Tage gesehen. Nadine betrachtete misstrauisch die Apparatur neben Ken. „Was ist das? Bist du doch unter die Folterer gegangen?“ „Halt den Mund“, sagte Ken. „Du bist hier, weil du mir einen Dienst erweisen kannst.“ „Ach?“ Sie hob deine Augenbraue. „Zieh dein Kleid aus.“ Nadine riss empört den Mund auf. „Was … Ich soll …“ „Dein Kleid“, sagte Ken ruhig. „Sofort, oder du wirst es bereuen.“ Sie verstummte, ihr Gesicht verlor an Farbe. Sie schien zu begreifen, dass Ken sich verändert hatte. „Das … Du machst doch Witze“, murmelte sie beklommen. „Ich sage es nicht noch einmal. Gehorche, oder ich lasse dich windelweich prügeln.“ Nadines Kinn begann zu zittern. Da waren sie hin, ihre spöttische Würde, ihr Hohn, weil er das Spiel zu ernst nahm, ihr Glaube, ihn bereits zu kennen. „Ken, bitte …“ Er trat so nah auf sie zu, dass sie zurückzuckte, und sah ihr tief in die Augen, um ihr die Leere in seinen eigenen zu zeigen. Seine Hand ergriff ihren Oberarm und drückte zu. „Hast du mich nicht verstanden?“, fragte er gefährlich leise. „Raus aus deinem Kleid, oder ich reiße es dir eigenhändig herunter.“ Er schaffte es nicht, Wut in seine Stimme zu legen. Er klang so gleichgültig, wie er sich fühlte. Dennoch wusste er, was er wollte. Nadine schluckte, als er sie losließ. Sie trat einen Schritt zurück, wandte sich hilfesuchend zu Arukenimon um, doch das verzog keine Miene. Schließlich begann sie ihr Mieder aufzuschnüren. Raschelnd glitt der Stoff von ihren Schultern.     Die Verstärkung, von der Michael gesprochen hatte, ließ auf sich warten und wäre fast zu spät gekommen. Vielleicht hatte der Stress Izzy auch einfach für jede Sekunde empfindlich gemacht: Die feindlichen Digimon drängten förmlich durch das Schneisental und wollten offenbar um jeden Preis den Pass überqueren. Sie waren geradezu selbstmörderisch davon besessen, bis zur Voxel-Stadt vorzudringen … Warum nur? War es wegen ihrem wichtigen Kriegsgefangenen, den sie dort untergebracht glaubten? Oder empfand es der DigimonKaiser als so großen Frevel, dass jemand in sein Hoheitsgebiet eingedrungen war? Bemerkenswert war auch die Zusammenstellung der Truppen. Izzy hatte erwartet, dass Fürst Musyamon seine Kotemon schicken würde. Schließlich gehörte die Voxel-Stadt seit jeher ihm. Stattdessen marschierten die bunt gemischten Soldaten des DigimonKaisers durch die Schlucht, wo sie von den gut versteckten Guardromon und Mekanorimon aufs Korn genommen wurden. Izzy hatte alles genau auf dem Bildschirm; noch immer hockte er vor seinen Computern in der Voxel-Stadt. Mehr und mehr Maschinen wurden einfach von wütenden Troopmon und Commandramon überrannt. Keines von ihnen trug einen Schwarzen Ring, so klug war der Kaiser gewesen. Das Kommando schienen ein hartnäckiges Ogremon und seine wilden Kameraden zu haben. Sie waren den Maschinen mehrmals vors Visier gelaufen, hatten sich aber immer wieder zurückgezogen, sobald es für sie brenzlig wurde. Als endlich Agunimon mit der Verstärkung zu ihnen stieß, hatten die Feinde den Pass fast überquert.     ToyAgumon von der Wissens-Armee bestätigte das Eintreffen der Verbündeten. Agunimons Dinosaurier- und Feuerdigimon warfen sich mit furchtbarer Wucht ins Getümmel. Insekten flogen aus den Bergen herunter und metzelten sich durch die auseinanderstiebenden feindlichen Reihen. „Seid standhaft!“, brüllte Agunimon und ließ seine Handschuhe entflammen. „Haltet diesen Pass, und wenn es das Letzte ist, was ihr tut! Zeigt diesen Schwächlingen, was die Nordarmee alles zu tun vermag!“ Ein feuriger Tritt von ihm fegte gleich drei Commandramon von den Füßen, dann schoss es die Feuerbälle aus seinen Handschützern ab. Gazimon und Dobermon wurden pulverisiert. Hinter ihm quollen Monochromon und Tyrannomon den Pass herunter. Eine wahre Stampede riss alles mit, was sich in dem Tal befand; eine Lawine hätte nicht gründlicher sein können. „Vorwärts, vorwärts!“, kommandierte Agunimon, als sich die Feinde immer mehr zurückzogen. „Drängt sie zurück!“ Auch ToyAgumon ließ seine Maschinen weitertraben. Ein grüner Schatten schob sich vor die Sonne. Agunimon blockierte den Keulenschlag mit seinem Armschoner und machte einen Satz zurück. In Kampfposition musterte er die hässliche Fratze des Ogremons. „Verdammt, du störst“, spie ihm das Digimon entgegen. „An Sir Agunimon dem Brennenden kommt niemand vorbei!“, rief der Ritter temperamentvoll. „Noch ein Sir“, schnaubte Ogremon. Sie standen etwas erhöht auf einem Geröllhaufen, während rings um sie herum der Kampf tobte. „Gegen Leomon bist du nichts als ein faules Ei.“ „Wage es nicht, den Namen unseres geliebten Königs in deinen dreckigen Mund zu nehmen!“ „Pah!“ Ogremon prügelte wieder auf Agunimon ein, das sich das Digimon mühelos vom Hals hielt. „Wenn du Leomon so geliebt hast, warum hast du verdammt nochmal zugelassen, dass es stirbt?“ Der nächste furiose Schlag kam unerwartet. Agunimon wurde in die Defensive gedrängt. „Sag bloß, du bedauerst, dass es von uns gegangen ist“, höhnte es und deckte Ogremon mit Feuerbällen ein, vor denen es nur zurückweichen konnte. „Ja, zur Hölle!“, brüllte Ogremon und überraschte Agunimon damit. Das grüne Digimon holte aus und schleuderte ihm einen violetten Energieschwall entgegen, der es gegen die Felswand prallen ließ. „Niemand außer mir darf Leomon töten! Ihr werdet das noch bereuen!“ „Vorwärts, vorwärts!“, ertönte es von ringsumher. „Sir Agunimon ist in Schwierigkeiten.“ „Nehmt es aufs Korn!“ Ogremon sah sich hektisch um und erkannte, dass es fast alleine dastand. Die Guardromon begannen bereits, es zu umzingeln; die Dinosaurierdigimon waren einfach an ihm vorbeigerannt. Es stieß einen wüsten Fluch aus. „Es ist noch nicht vorbei!“, versprach es, sprang von dem Geröllhaufen, ließ seine Knochenkeule gegen ein Guardromon krachen und stieß ein zweites mit der Schulter aus dem Weg. Viel zu schnell, als dass es würdevoll ausgesehen hätte, ergriff es die Flucht, rannte einher mit den Monochromon und schützte sich damit vor Guardromon-Beschuss. „Seid Ihr verletzt, Sir?“, fragte ToyAgumon, das aus seinem Mekanorimon lugte. Agunimon betastete seinen Kiefer. „Von wegen!“, rief es. „Hinterher!“ Die Jagd endete an der Talmündung. Sämtliche Digimon, die der DigimonKaiser geschickt hatte, hatten sich dort in einem breiten Halbkreis aufgestellt und warteten nur darauf, dass die Verteidiger aus dem Tal kamen. Sicht dort hinauszuwagen, hätte eine große Zahl an Verlusten bedeutet. Obwohl hinter den feindlichen Reihen nur noch Flachland zu sehen war und sich irgendwo in dieser Richtung die Hauptstadt von Little Edo befand, war sie unerreichbar. Agunimon dachte nicht daran, seine Soldaten in Gefahr zu bringen. ToyAgumon schien es ähnlich zu sehen. Sie schafften Felsblöcke herbei und rüsteten sich für einen Stellungskrieg. Es reichte, wenn sie das Tal verteidigten. Immerhin gab es noch eine zweite Gruppe, die Little Edo unbedingt erobern wollte. Sollten die Froschkönigin und ihr Gefolge das erledigen.     Die Gekomon hatten mit ihrem Gesang aufgehört, was die Stimmung nur noch weiter drückte. Mimi hatte ein mulmiges Gefühl im Magen, das stärker wurde, je näher sie der Hauptstadt kamen, ihrer Heimat, ihrem Zuhause. Tat sie das Richtige? Wäre es nicht besser gewesen, einfach zu fliehen und anderswo ein neues Leben aufzubauen, fern von Verpflichtungen und Kriegen, so wie es Kabukimon gewollt hatte? Vielleicht gehört das zum Königin-sein dazu, dachte sie. Nie zu wissen, ob das, was man tut, richtig ist. Sie fing Yoleis Blick auf, die ihr aufmunternd zulächelte. T.K. war auf Pegasusmon vorausgeflogen, um die Umgebung auszukundschaften. Sie hielten sich nahe an den Berghängen des Edo-Gebirges, weil es dort bessere Deckungsmöglichkeiten gab als auf der Großen Ebene – die in dieser Gegend noch nicht von Türmen gesäubert war. Einige der schwarzen Giganten hatten sie auch hier einreißen müssen. Zweifellos wusste der DigimonKaiser bereits von ihrer Truppe, und damit auch Musyamon. Es komme einfach auf Schnelligkeit an, hatte Michael gesagt. Sie war froh, dass der Ritter dabei war. Hätte sie jemand gefragt, was sie von ihm hielte oder was sie für ihn empfände, hätte sie keine Antwort geben können. So war es gut, dass sich niemand eine entsprechende Frage zu stellen traute. Yolei würde sicher die Erste sein, irgendwann. Aber sie würde hoffentlich bis nach der alles entscheidenden Schlacht warten. Die Reisfelder, die Little Edo säumten, kamen in Sicht, und Mimi schnürte es die Kehle zu. Es sah gar nicht übel aus, nicht verwüstet oder von Elend gezeichnet. Das Land war von Schwarzen Türmen beherrscht, das war alles. Niemand arbeitete auf den Feldern. In der Ferne schälten sich die Umrisse der Stadt aus dem Dunst. Aber gerade weil das Bild so vertraut und friedlich wirkte, störte sich Mimi daran. Es war, als führte sie eine Armee gegen ihre ruhig daliegende Heimat. Als wäre sie die Böse in diesem Spiel der Macht. Erneut suchte sie Yoleis Blick. Ihre Freundin war nach Musyamons Machtergreifung schon einmal hier gewesen. Nun sah sie jedoch auch starr geradeaus. T.K. kam zurück. „Die Reisfelder sind wirklich verlassen“, sagte er. „Ich glaube nicht, dass das der Regelfall ist. Sie erwarten uns.“ Mimi fröstelte. „Wir ziehen trotzdem weiter“, bestimmte sie. „Sollen wir nochmal durch die Abwasserkanäle gehen?“, fragte Yolei. „Das ist keine gute Idee“, sagte Michael sofort. „Wir sind zu viele, und Musyamon weiß sicher, wie ihr das letzte Mal in die Stadt gekommen seid. Ich fürchte, ohne zu kämpfen, kommen wir nicht weiter.“ Die Stadt kam immer näher. Sie hielten sich auf den Wegen zwischen den Reisfeldern, in denen sattgrüne Halme sanft im Wasser schwankten. Immer drei Digimon gingen nebeneinander. „Waren die Wege hier immer schon so eng?“, fragte Yolei genervt. „Beeilen wir uns besser. Im Gänsemarsch auf eine feindliche Stadt zuzumarschieren, ist nicht die beste Idee“, sagte Michael. „Der Meinung bin ich auch. Wir fliegen wieder“, verkündete T.K. und Pegasusmon stieg mit seinen prächtigen Schwingen auf. Der Junge war ein seltsamer Zeitgenosse, fand Mimi. Er schien so etwas wie Karis Berater zu sein, die ja auch eine Königin war, wenn auch eine etwas zweifelhafte. Die beiden waren seltsam distanziert von diesem Krieg, als interessierte er sie nur am Rande. Oder als würden sie mehr darüber wissen als diejenigen, die schon viel länger darin kämpften … Neben Mimi blubberte etwas im Reisfeld. Sie versuchte immer noch, T.K. einzuschätzen, der in weiten Kreisen die Umgebung absuchte. Little Edo war bereits so nahe, dass man die Umrisse der Pagode über die Dächer ragen sah. Kari und T.K. behandelten außerdem alle seltsam. Nicht mit dem gebotenen Respekt, nicht wirklich. Kari bemühte sich noch eher die Form zu wahren, aber T.K. sprach mit den anderen, als kannte er sie schon seit Ewigkeiten. Ein seltsamer junger Mann … Das Blubbern wiederholte sich. Mimi sah irritiert in das Reisfeld. Da war etwas seltsam mit einem der grünen Halme … Er bewegte sich nicht wie die anderen im Wind, sondern … anders … Mit einem Ruck wurde er fortgerissen. Etwas Rundes tauchte an seiner Stelle auf, das Wasser schwappte. Zwei große Augen glotzten Mimi unter einer violetten Kappe an. Weiter hinten im Feld tauchten noch andere Körper auf. Mimi stieß einen lauten Schrei aus, der ihre Kameraden alarmierte. Fast gleichzeitig sprangen die Kougamon aus den Löchern, die sie in die Reisfelder gegraben hatten. Rings um die Rebellen herum standen nun die violetten Verwandten der Ninjamon und dazu eine Horde Monitormon in bunter Ninjakleidung knietief im Wasser. „Verdammt, sie haben uns umzingelt“, stieß Michael aus. „Schützt die Prinzessin!“ Er, Betamon, Yolei, Hawkmon und Yasyamon wichen näher zu Mimi und Palmon. Die Gekomon und Floramon sahen sich nur unsicher um, während die Ninjamon-Rebellen ihre Wurfsterne zückten. Immer noch standen sie alle wie aufgefädelt auf einem der Wege. „Mimi! Yolei!“, schrie T.K, der irgendwo über ihnen kreiste. „Das ist eine Falle!“ Das kommt zu spät, dachte Mimi mit zusammengebissenen Zähnen, doch anscheinend hatte T.K. noch etwas anderes gesehen. Auf den Wegen, die weiter entfernt lagen, tummelten sich dunkle Punkte, die aus der Stadt strömten. Kotemon, die sie noch weiter einzukreisen versuchten. Die Kougamon glotzten höhnisch. Sie trugen keine Ringe, im Gegensatz zu den Monitormon, aber das machte im Moment wohl keinen Unterschied. „Palmon, kannst du digitieren?“, fragte Mimi. Palmon setzte ein angestrengtes Gesicht auf, seufzte dann aber tief. „Es geht nicht.“ „Wir sind zu nah an der Stadt“, sagte Michael. „Der Schwarze Turm reicht bis hierher.“ Als hätten sie nur auf diese Feststellung gewartet, griffen die Ninjas an.     T.K. musste hilflos mit ansehen, wie Musyamons Truppen von allen Seiten auf seine Freunde einstürmten. „Wir müssen etwas tun, Pegasusmon!“, rief er. Sein Digimon war bereits tiefer gegangen und deckte die bunte Horde, die sich in den Reisfeldern versteckt hatte, mit einem Nadelregen aus seiner Mähne ein. Da brachte den Ansturm nur unwesentlich zum Stocken: Es waren einfach zu viele. Es mussten über hundert Digimon sein, die sich den Rebellen entgegenwarfen. Damit waren es mindestens so viele wie die Rebellen selbst, und die standen immer noch viel zu dicht beieinander. Er biss die Zähne zusammen. Kougamon und Ninjamon schleuderten sich bereits ihre Wurfsterne entgegen oder sprangen einander mit gezückten Schwertern an – Mimis Ninjamon schienen die besseren Kämpfer zu sein, aber sie waren weit in der Unterzahl. Überall in den Reisfeldern explodierten nun die Pilze der Mushroomon, wirbelten Rauch, Wasserspritzer und –dampf und abgerissene Halme auf und bekamen als Antwort Rauchgranaten entgegengeworfen, sodass T.K. bald nicht mehr sehen konnte, was unter ihm vorging. Nur wütende oder schmerzerfüllte Schreie und das Klirren von Eisen betonen die Heftigkeit des Kampfes. „Verdammt, Pegasusmon, was sollen wir machen? Sie haben sie in der Zange“, rief er seinem Digimon zu. „Wir könnten versuchen, den Turm zu zerstören“, schlug Pegasusmon vor. „Dann können sie digitieren.“ „Das ist viel zu riskant. Wir können unmöglich alleine in die Stadt fliegen!“ „Aber etwas anderes wird uns nicht übrig bleiben“, warf Pegasusmon ein. In dem Moment sah er einen Blitz unter sich zucken, der garantiert von keinem ihrer Verbündeten stammte. Es hatte recht, sie hatten keine Wahl. „Dann auf zum Turm“, knurrte T.K.     Die Rebellen kämpften tapfer. Die Kougamon und Monitormon waren nicht sonderlich stark. Selbst die Kotemon, die nun über die angrenzenden Felder stürmten, waren vergleichsweise kleine Digimon. Es war ihre schiere Menge, die sie zu erdrücken drohte – und die schwarzgekleideten Monitormon, von denen es einige gab und die wesentlich mächtiger waren als ihre bunten Artgenossen. Wasser drang in Yoleis Stiefel. Sie hatten ihre unvorteilhafte Formation gelockert und kämpften nun direkt auf den Feldern. Die Angriffe der feindlichen Ninjas bestanden aus Tricks und Täuschung und schienen sie vor allem ermüden zu sollen. Die Monitormon versprühten Wasser und Feuer, erzeugten Wind, der die Wurfsterne der Ninjamon umlenkte, und die schwarzen hatten schon mehrere Gekomon mit vernichtenden Blitzen getötet. Es schien ein reines Glücksspiel zu sein, ob sie überlebten oder nicht … Bei den ständigen Rauchbomben hatte Yolei Mimi und Michael aus den Augen verloren. Gerade Hawkmon schaffte es, in ihrer Nähe zu bleiben, aber es konnte wenig mit seiner Feder ausrichten. Und die Handlanger des DigimonKaisers hatten ihr ihre beiden ArmorEier abgenommen! „Dieser verdammte Turm!“, stöhnte sie auf. Ein Kougamon tauchte vor ihr auf und fasste sie ins Auge, sein Katana in der Hand. Yolei atmete bereits schwer. Ihr Degenarm wurde müde. Sie war sich nicht sicher, ob sie mit ihrer Waffe einem erfahrenen Schwertkämpfer standhalten konnte. Kougamon sprang sie regelrecht an. Chromstahl krachte gegen Eisen, Funken sprühten, die Wucht des Angriffs drängte Yolei zurück. Hektisch versuchte sie zu parieren. Das Wasser bei ihren Zehen war eisig … Nach einem kurzen Schlagabtausch schmetterte Kougamon ihr den Degen aus der Hand. Yolei taumelte und stürzte mit einem Aufschrei platschend ins Wasser. „Yolei!“ Hawkmon flatterte sofort zu ihr und wollte sie vor dem Kougamon beschützen, aber es wurde seinerseits von einem Monitormon angesprungen und fortgerissen. Kougamon mustere sie abschätzig. „Na komm schon!“, rief sie wütend und rappelte sich auf. „Ich kann dir immer noch die Augen auskratzen!“ Doch Kougamon starrte nur, verzog das Gesicht und stürzte sich dann ins Getümmel. Yolei blieb verdutzt liegen. Warum hatte es ihr nichts getan? Sie wollte nicht bemuttert werden, nur weil sie ein Mensch war! Als sie aufstand und ihre Brille zurechtrückte, hatte sie etwas wie ein Déjà-vu. Natürlich, es war wie damals. Die Digimon des DigimonKaisers hatten Befehl, Menschen zu verschonen. In der Pyramide, in der sie das Ei gefunden hatten, war es dasselbe gewesen. Er wollte sie lebend, als Geiseln, hatte er gesagt. Passte doch zu ihm. Es hat keinen Sinn, Ken. Was war das für eine Erinnerung? Der Name, den T.K. hatte erfragen wollen … er hatte irgendetwas mit der Pyramide zu tun … aber was? Wo hatte sie ihn nur schon mal gehört? Sie hatte keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen. Ein Windstoß riss die Rauchfetzen weg, die vor ihr schwebten, und schon wieder war sie von Feinden umzingelt.     T.K. erinnerte sich an Little Edo, die prächtige Pagodenstadt. Als Ken der DigimonKaiser gewesen war, hatten sie sich hier eine wahre Jagd mit seinen Digimon geliefert. Die Gekomon hatten sie aufgenommen, aber ein Ninjamon hatte ShogunGekomon eine Teufelsspirale verpasst. Das alles schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Natürlich wurde er entdeckt. Kaum flog Pegasusmon in die Nähe des Bambuswalls, den jemand hochgezogen hatte, wurden überall in der Stadt die Glocken geschlagen, und sobald er über dem Wall hinweg war, flogen von überallher Feuerbälle heran. Pegasusmon war zu einem halsbrecherischen Ausweichmanöver gezwungen, und T.K. hätte fast den Halt verloren und wäre von seinem Rücken gestürzt. „Vorwärts! Schneller!“, feuerte er sein Digimon dennoch an. Der Pegasus flog tiefer. Zwischen den Häuserschluchten gab er kein so gutes Ziel ab – allerdings war es auch nicht so einfach, auszuweichen. Die Monitormon waren vor allem auf den Dächern und warfen ihm alle vier Elemente entgegen. Zum ersten Mal seit langem wünschte sich T.K. wieder, er hätte noch ein zweites ArmorEi, mit dem Patamon zu einem flinken, kleinen Nahkämpfer werden könnte. Sie hatten den Turm auf dem großen Platz vor der Pagode gesehen. Seine Feinde schienen zu wissen, dass er dorthin unterwegs war. Immer mehr Digimon waren auf den Dächern, immer lauter wurde das Glockendröhnen, je näher er dem Stadtzentrum kam. T.K. hatten schon mehrere Feuerbälle gestreift und sein Haar war angesengt, als Pegasusmon um eine letzte Häuserecke bog und abermals der Turm vor ihnen auftauchte. Das Digimon schlug kräftig mit den Flügeln, um wieder an Höhe zu gewinnen und das Ding mit einer einzigen, gezielten Attacke einzureißen. „Schnell!“, brüllte T.K, als wieder Feuerbälle von den umliegenden Dächern auf sie zurasten. Das Dreieckssymbol auf Pegasusmons Helm glühte auf, und ein grüner Energiestrahl raste auf den Turm zu – und traf ihn genau auf halber Höhe. Doch der Turm fiel nicht. Er schien überhaupt nicht beschädigt, obwohl funkende Datenreste aufstoben. T.K. hielt den Atem an. „Was zum …“ Die Außenhaut des Turms schien in Bewegung zu geraten. Digimon lösten sich von dem schwarzen Material – schwarze Monitormon, die sich mit schwarzen Tüchern perfekt getarnt hatten. T.K. stieß einen Fluch aus. Sie hatten den Schwarzen Turm mit ihren eigenen Körpern geschützt! Gleich drei Feuerbälle trafen Pegasusmons Flanke und entlockten ihm einen Aufschrei. „Pegasusmon!“, brüllte T.K, wurde dann aber selbst von einem Feuerball in den Rücken getroffen. Es war, als hätte man ihm ein glühendes Stück Eisen auf die Haut gepresst. Stöhnend krümmte er sich auf Pegasusmons Rücken zusammen. Mit Tränen in den Augen sah er, wie ihnen eines der schwarzen Monitormon, die sich allein mit Händen und Füßen am Turm festzuhalten schienen, eine Waffe entgegenstreckte, die aussah wie eine Fernsehantenne. In der Luft vor ihm erschien ein weiterer Feuerball, viel größer als alle anderen, die sie bisher getroffen hatten. Bitte nicht … Fauchend fraß sich die flammende Kugel durch die Luft und traf Pegasusmon genau in die Brust. Die Wucht des Aufpralls schleuderte T.K. von einem Rücken und ließ ihn hart anderthalb Meter tiefer auf den Schindeln eines Hausdaches aufschlagen. Sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und sein Körper schien erneut in Flammen zu stehen, als er genau auf seiner Brandwunde landete. Die Welt drehte sich, er schlitterte das Dach entlang, geriet über die Kante und sah das Kopfsteinpflaster drei Stockwerke tiefer auf seinen Sturz warten. Kari … Seine Hände fuhren fahrig über das Dach, um Halt zu finden. Vergebens. T.K. spürte zwei seiner Fingernägel splittern, dann stürzte er in die Tiefe.   While lost in deep shadows, we strove for the goal Your wiles won’t protect you, resistance made null Heroes of yesterday will rise from the dark! (Celesty – New Sin) Kapitel 62: Die Schlacht um Little Edo -------------------------------------- Tag 148   Yasyamon teilte geradezu stoisch Hiebe mit seinen Holzschwertern aus. Auch Palmon ließ seine Ranken peitschen, um die Digimon von Mimi fernzuhalten. Michael, ganz der Ritter, versuchte mit bloßen Händen ebenfalls zu kämpfen, wobei Betamon sich Mühe gab, seine Feinde schon vorher mit Elektroschocks zu paralysieren. Für Mimi war es ein Albtraum. Sie sah rings um sich herum Digimon sterben, Digimon, die zu beschützen sie sich geschworen hatte. Stattdessen wurden sie ihretwegen getötet. Sie hatten lange über das Risiko diskutiert, immer wieder, und dennoch konnte Mimi dieses sinnlose Morden nicht mehr mit ansehen. Warum taten sie das? Warum konnten sich die Gekomon nur nicht mit einem Leben im Schatten von Schwarzen Türmen anfreunden? Warum wollten die Rebellen nicht einfach anderswo eine neue Existenz aufbauen? Und warum versuchte überhaupt jemand, die ganze DigiWelt zu erobern? Es war ihr völlig unbegreiflich. Anscheinend genügte vielen ein einfaches Leben nicht. Yolei hatte mal impulsiv gemeint, ein Leben in Ketten wäre kein Leben. Aber konnte sie das so verallgemeinern? Während alle anderen gegen Musyamons Getreue kämpften, focht Mimi einen inneren Kampf aus. Sie war versucht, einfach einen Rückzug zu befehlen. Die anderen würden gehorchen müssen. Vielleicht hätte sie es auch getan, wären nicht immer neue Kotemon von allen Seiten aufs Schlachtfeld gelaufen. Sie zuckte zusammen, als ein Mushroomon gegen sie prallte und sie in das kalte Wasser der Reisfelder geriet. Eisig umspielte es ihre Knöchel und riss sie aus ihren Gedanken. Genauso eisig war die plötzliche Gewissheit, dass es wohl ohnehin kein Zurück mehr gab. Sie konnte nur den Weg bis zu seinem Ende gehen und auf den bestmöglichen Ausgang hoffen.     T.K. hatte wohl für einige Sekunden das Bewusstsein verloren. Als er erwachte, bewegten sich die verhängnisvollen Pflastersteine unter ihm. Er hatte erwartet, sie mit seinem Blut vollgespritzt zu sehen, aber sie waren sauber. Dann erst erkannte er, dass man ihn trug. Sechs Kotemon in Kendorüstungen hatten ihn auf ihre Schultern geladen. Hatten sie ihn etwa aufgefangen? Warum? Sie brachten ihn auf den Pagodenvorplatz, direkt neben den Turm, der immer noch drohend seine unsichtbare Dunkelheit verbreitete. Dort ließen sie ihn einfach fallen. T.K. stieß sich den Kopf, doch das war nichts im Vergleich zu dem brennenden Schmerz in seinem Rücken. Als er danach tastete, fand er seine Kleidung verkohlt vor. Seine Haut tat weh, wenn er sie berührte. „Patamon!“, stieß er heiser aus, als er seinen Freund zwei Meter neben sich liegen sah. Träge hob es ein Augenlid. Gottseidank, es lebt. „Ihr Menschen seid wirklich leichtsinnig“, schallte eine laute Stimme über den Platz. T.K. hob den Kopf und sah ein Digimon auf einem der Balkone der Pagode stehen. Das musste Fürst Musyamon sein. Vier Kotemon flankierten es. „Wie oft bringt ihr mich wohl noch in Versuchung, euch aus dem Handgelenk heraus zu töten?“ T.K. beachtete es gar nicht. Dieses Digimon war sicher ebenso verwirrt wie seine Freunde. Niemand hier schien die alte DigiWelt zu kennen. Sein Blick glitt zu dem Turm, der neben ihm aufragte. Wenn er ihn doch nur zerstören könnte … Eines der Kotemon, die sich um ihn versammelt hatten, schlug T.K. mit seinem Kendo-Schwert. „Der Fürst spricht mit dir, Mensch.“ Widerwillig sah er Musyamon an, das die Arme verschränkt hatte. „Nehmt ihm sein DigiVice ab“, befahl der Handlanger des DigimonKaisers. T.K. biss die Zähne zusammen. Plötzlich krachte etwas neben ihn in den Vorplatz. Kopfsteine und Steinsplitter regneten auf ihn herab, Digimon lösten sich schreiend in Daten auf. Ehe T.K. die Augen zusammenkniff und sich duckte, sah er ein zweites Geschoss in die Pagode rasen, direkt über Musyamons Balkon. Das Digimon machte einen Satz zurück ins Innere, seine Kotemon wurden von Trümmerstücken in die Tiefe gerissen. T.K. versuchte, seinen Kopf mit den Händen zu schützen, und kroch zu Patamon, um es an seine Brust zu drücken. Die Digimon auf dem Platz schienen ihn völlig vergessen zu haben. Staubwolken hüllten sie alle ein. Als ein noch lauteres Bersten fast sein Trommelfell zerriss, danach ein hohles Krachen ertönte und der Boden bebte, wusste T.K, dass der Schwarze Turm gefallen war. Eine Windbö vertrieb den Vorhang aus Steinstaub und Datenfragmenten. Der Turm lag tatsächlich entzweigebrochen auf dem Platz, die Kotemon schienen geflohen oder gestorben zu sein. Sie Sonne spiegelte sich gleißend auf dem goldenen Panzer eines Rapidmons, das davor stand. Den jungen Mann, der von seiner Schulter sprang, kannte T.K. „Ein edler Ritter hat nun mal einen Hang zu Rettungen in letzter Sekunde“, meinte Willis lächelnd und hielt T.K. die Hand hin, die dieser dankbar ergriff. „Alles in Ordnung?“ Mir tun nur die Finger und der Kopf weh und mein Rücken scheint noch in Flammen zu stehen. „Alles bestens, danke.“ Willis legte den Kopf schief. „Du gehörst doch sicher zu Prinzessin Mimi und ihrer Rebellenhorde, oder?“ T.K. nickte. Er hatte von Yolei gehört, dass Willis nun ein Ritter in Andromons Diensten war, dennoch war er von dieser Rettungsaktion überrascht. „Perfekt. Dann tust du mir doch jetzt sicher den Gefallen, für deinen Retter ein gutes Wort einzulegen?“ Auf T.K.s fragende Miene hin fügte er grinsend hinzu: „Ich mag es nicht, wenn schöne Frauen böse auf mich sind.“     „Wie sieht es im Tal aus?“, fragte Izzy in sein Kommunikationsgerät. „Guter Kampfverlauf“, berichtete ToyAgumons verzerrte Stimme. Sein Mekanorimon war womöglich beschädigt. „Wenig Gegenwehr. Sir Agunimon will ausharren.“ „Die anderen werden in Little Edo Hilfe brauchen. Wenn Agunimon das Tal halten kann, könntet Ihr an den feindlichen Linien vorbeikommen und weiterziehen? Die Gigadramon stehen ebenfalls auf Standby.“ „Positiv.“ Die beiden Gigadramon waren eigentlich als Bewacher zur Voxel-Stadt zurückgekehrt, aber hier war es ruhig geblieben. Keine Digimon kamen direkt durch die Berge. MegaKabuterimon würde mit der Bewachung alleine zurande kommen. Izzy hatte ein Notrufsignal von Michael aufgefangen, jedoch noch keine Erklärung erhalten. Hoffentlich war nichts allzu Schlimmes passiert, aber zur Sicherheit würde er Unterstützung schicken.     Sie hielten sich gut. Der Feind trug eindeutig mehr Verluste davon als die Rebellen, aber Mimi konnte sich darüber nicht freuen. Jedes Leben, das ausgelöscht wurde, war vergeudet. Sie spürte, dass ihr Hass auf Musyamon und seinen Kaiser mit jedem Digimon, das sich in Daten auflöste, größer wurde. Plötzlich sauste ein goldener Schatten über den Himmel. „Mimi! Yolei!“, hörte sie T.K.s Stimme und blinzelte verwirrt empor. „Der Turm ist zerstört!“ „Hast du gehört?“, rief Mimi atemlos Michael zu. Der Ritter keuchte noch mehr als sie selbst. Über sein Gesicht lief Blut aus einer Schnittwunde über dem Auge. Zum Glück schienen die feindlichen Digimon absichtlich lieber gegen andere Digimon kämpfen zu wollen. Vielleicht nahmen sie menschliche Gegner auch einfach nicht ernst. Jetzt stellte sich das hoffentlich als Fehler heraus! Michael warf einen Blick auf sein DigiVice und nickte Betamon zu. Das helle Licht, das es zu Seadramon werden ließ, ließ die feindlichen Ninjas zurückweichen. Yolei hob ihr DigiVice in die Höhe. Sie war klatschnass, ihr Haar zerfleddert und ihre Kleidung angesengt. „Hawkmon!“ „Mimi, ich darf doch auch, oder?“, fragte Palmon. Mimi nickte. Das Blatt wendete sich deutlich, als Seadramon, Aquilamon und vor allem Lillymon ihren Freunden beistanden. Vom Himmel fiel noch ein kleines Digimon herab, das im Fallen zu Willis‘ Endigomon wurde. Wasser spritzte auf, als es donnernd landete und ein Grollen vernehmen ließ. Also hatten Mimis Augen sie nicht betrogen. Willis war zurück. Rapidmon landete auf dem Grat zwischen den Feldern und setzte Willis, T.K. und Patamon ab. Letztere sahen furchtbar aus. Mimi lief auf sie zu, während die Digimon ihre Feinde zurücktrieben. „Was ist geschehen?“ „Noch eine Falle“, erklärte T.K. knapp. „Willis hat uns gerettet.“ „Willis hat …“ Mimis Augen wurden schmal, dann wandte sie sich ruckartig Willis zu, der sie gewinnend anlächelte. „Wenn Ihr glaubt, Euch damit bei mir einschmeicheln zu können, habt Ihr Euch geschnitten!“, zischte sie. Sie hatte nicht vergessen, dass er den DigimonKaiser hatte töten wollen, obwohl sie andere Pläne mit ihm gehabt hatte. Sie hasste den Tyrannen, ja, aber sie wollte kein Blut mehr vergießen. Es gab schon zu viele Opfer. Darüber hinaus war der DigimonKaiser entkommen. „Ihr scheint Euch gar nicht über meine Rückkehr zu freuen“, meinte er säuerlich. „Wenn Ihr Euch nicht wie ein Feigling aus dem Staub gemacht hättet, hätte es gar keine Rückkehr geben müssen“, sagte sie bissig. T.K. seufzte. „Ihr beiden, was immer zwischen euch vorgefallen ist, verschiebt eure Diskussion auf nachher. Musyamon versteckt sich in der Pagode. Dieses Digimon wollt ihr in die Finger kriegen, oder?“     Der Kampf war auch ohne ihre direkte Mithilfe schnell entschieden. Als die Rebellen seufzend die Waffen senken konnten, war ihre Truppe auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Vielleicht waren sie noch vierzig, viel mehr nicht. Michael begrüßte Willis erleichtert, der sich aber offenbar eine andere Reaktion erwartet hatte. T.K. hatte noch nicht erfahren, was sein Zerwürfnis mit Mimi ausgelöst hatte, aber er zügelte seine Neugier. Little Edo lag direkt vor ihnen. Wie sehr würden sie es wohl verwüsten müssen? Mimi und Yolei würden jede Zerstörung vermeiden wollen. „Izzy hat mir eine Nachricht geschickt“, sagte Michael plötzlich und sah auf sein Kommunikations-Terminal. „Kommandeur ToyAgumon ist mit einigen Maschinen auf dem Weg hierher. Zwei Gigadramon sollen schon in ein paar Minuten hier sein.“ „Wunderbar“, sagte Willis. „Dann können wir ja gleich mit dem Angriff weitermachen.“ „Wo habt ihr drei überhaupt gesteckt?“, fragte Michael. „Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Willis zuckte mit den Schultern. „Wir haben uns hier in der Nähe aufgehalten, zwischen der Ebene und Little Edo. Haben versucht, die Versorgungslinien des DigimonKaisers zu stören, solche Sachen.“ „Mit anderen Worten, Ihr habt Euch feige versteckt und wehrlose Digimon angegriffen“, meinte Mimi abfällig. „Sie waren nicht wehrlos“, sagte Willis ungehalten. „Und ich bin nicht feige.“ „Seid Ihr doch.“ Willis verdrehte die Augen, und so behielt sie das letzte Wort. „Wie kommt es eigentlich, dass Ihr Rapidmon wiederhabt?“, fragte Yolei verwundert. „Diese Handlanger des DigimonKaisers haben Euch Euer ArmorEi doch abgenommen?“ „Das ist eine lange Geschichte“, meinte er. „Sagen wir’s mal so: Die Tage, da er mir etwas wegnehmen kann, sind lange vorbei.“ Yolei blieb argwöhnisch und hakte nach, bis er ihr versichert hatte, dass er nicht auch ihre ArmorEier auf wundersame Weise wiedererlangen konnte. Sie marschierten weiter. Mimi verlangte von allen, ihr Musyamon auf jeden Fall lebend zu bringen. „Das gilt vor allem für Sir Willis“, fügte sie säuerlich hinzu. Er lächelte, aber es sah gekünstelt aus. T.K. hatte nichts dagegen, auf unnötige Gewalt zu verzichten, auch wenn es sicher keinen Unterschied mehr machte. Er überlegte sich, dass er auch noch eine Rechnung mit Musyamon offen hatte. Es hatte Matt verraten und in große Gefahr gebracht. Sie folgten dem Pfad nicht mehr, sondern bewegten sich im Laufschritt durch die Felder auf die Stadt zu. Rapidmon und Lillymon flogen voraus. Der Bambuswall knickte unter ihren Attacken ein wie zusammengebundene Strohhalme. Yolei hatte sich auf Aquilamons Rücken geschwungen und griff trotz T.K.s ausdrücklicher Warnung von oben an. Immerhin hielten sie sich von den Dächern fern, sondern verscheuchten nur mit Laserringen die Digimon, die sich in den äußersten Straßen sehen ließen. Die Gigadramon zogen nur Sekunden später über den Himmel. Raketen flogen auf die Stadt herab und schlugen mit vernichtender Wucht und Getöse ein. „Die zerstören ja alles!“, kreischte Mimi entsetzt. „Sie werden die Monitormon gesehen haben. Die verstecken sich auf den Dächern“, murmelte T.K. Er und Patamon waren nicht mehr in der Lage zu kämpfen, das wusste er. Patamon war zu erschöpft und außerdem verletzt. Rapidmon und Lillymon sausten nun in die Stadt hinein und erwiderten das Feuer, das von den Dächern kam und zu schwach war, um ihnen wirklich zu schaden. Die übrigen Rebellen marschierten eine breite Straße hinein. Schon nach wenigen Schritten wurden sie von einer Horde grobschlächtiger Digimon angegriffen: Fugamon, die aussahen wie rote Ogremon, und Hyougamon, die aussahen wie weiße Fugamon und wesentlich stärker waren. Außerdem waren da Dokugumon, Goblinmon, Gorillamon, Minotarumon und Grizzlymon. Sie mussten Musyamons wahre Kämpfer sein; gegen sie waren die Kotemon und Monitormon nur etwas wie aggressive Spielgefährten. Während dem Kampf wurde T.K. klar, dass die meisten von ihnen aus Schwarzen Türmen bestanden. Sogar Knightmon mit ihren leuchtenden, prächtigen Rüstungen marschierten langsam die Straßen entlang, und das Wappen der Hoffnung auf ihren Rückenschilden schien T.K. zu verhöhnen.     Der Kampf in den Straßen zog sich bis zum Abend hin. Für Yolei und ihre Gefährten hieß es vor allem: standhalten und durchbeißen. Sie waren noch mehr in der Unterzahl als zuvor, und ihre Feinde waren stärker geworden. Nur mit viel Geschick konnten sie sich in den Gassen verstecken. Sie waren die Angreifer, und doch mussten sie sich verteidigen. Immer wieder führten die Gigadramon wahre Raubvogelangriffe durch. Sie stießen auf die Stadt herab, flogen durch die Straßen und zerstörten alles, was sich wehrte. Das waren die einzigen Momente, die ihnen Atempausen erlaubten. Als Michael von ToyAgumon die Nachricht erhielt, dass sie die Stadt erreicht hatten und von Osten her eindringen würden, war das eine unglaubliche Erleichterung. Yolei fror mittlerweile. Das Wasser auf ihrer Kleidung war getrocknet, aber sie war völlig durchgeschwitzt. Ihre Arme zitterten allerdings vor Anstrengung. Sie hatte sich mit ihrem Degen ebenfalls wieder in den Kampf geworfen, denn jüngst war Aquilamon gelandet und völlig erschöpft zurückdigitiert. Auch die anderen Digimon hatten ihre Digitationen nicht mehr halten können. Dafür hatten sich viele Stadtbewohner ihrer Schwarzen Ringe entledigt, als der Turm zerstört worden war, und stifteten hinter den Linien Unruhe. Das war vielleicht ihr größter Vorteil. Dennoch hing nun alles von der Verstärkung ab. Das Wunder geschah tatsächlich. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie schon vor zwei Tagen große Wunden in Musyamons Fürstentum geschlagen hatten. Zwanzig Digimon der Wissens-Armee, zwei schlagkräftigen Gigadramon, den befreiten Stadtbewohnern und den Resten der der Rebellen gelang es tatsächlich, die feindliche Besatzung aufzureiben und bis zur Pagode vorzustoßen. Die Trümmer des Schwarzen Turms schienen schon jetzt vom Fall des intriganten Daimyos zu zeugen. Mimi wappnete sich sichtlich innerlich, als sie sich daran machten, die Pagode zu betreten. Sie war beschädigt worden, aber nicht schwer. Unheimliche Stille und Dunkelheit erwarteten sie. Yolei hielt den Atem an, und als sie die Luft wieder ausstieß, erwartete sie halb, sie als Dampfwolke vor ihrem Mund tanzen zu sehen. „Was glaubst du, wo sich Musyamon versteckt?“, flüsterte sie. „Es gibt nur einen Ort, den ich mir vorstellen kann“, meinte Mimi und ging unter Yasyamons wachsamen Blicke voraus.     Mimi behielt Recht. Musyamon erwartete sie in der zentralen Halle im Erdgeschoss der Pagode, wo sie es vor unendlicher langer Zeit verschmäht hatte. Es aß auf einem Kissen dort, wo der Shogun für gewöhnlich saß, und genoss ein Schälchen Sake, unbeeindruckt von den Digimon, die in den Raum strömten. An den Wänden der Halle knieten noch mehr Kotemon. Einige Dobermon waren ebenfalls im Raum. Sie alle waren abartig ruhig. Hatten sie sich mit ihrer Niederlage abgefunden? „Prinzessin Mimi“, sagte Musyamon freundlich und schwenkte seine Schale. „Willkommen in Eurer Heimat. Nun sind wir beide doch wieder in diesen geschichtsträchtigen Hallen vereint. Wie oft habe ich mir gewünscht, hier an Eurer Seite zu sitzen. Doch kann man Liebe leider nicht erzwingen.“ „Ihr gebt mir die Schuld, oder?“, platzte es aus ihr heraus. „Sagt ruhig, dass Ihr das alles nicht getan hättet, wenn ich Euren Antrag angenommen hätte.“ „Wer weiß“, sagte Musyamon, doch es klang nicht hämisch, eher nachdenklich … sogar betrübt? Das Digimon betrachtete den Sake in seiner Schale. „Ihr vermute, Ihr wollt nun Eure Rache, Prinzessin.“ Mimi kniff die Lippen zusammen. In dem Moment trat Yasyamon vor und sprach mit samtiger Stimme: „Meine Königin, ich habe nie um etwas gebeten. Nun aber flehe ich Euch an, lasst mich gegen diesen Verräter kämpfen.“ „Yasyamon“, murmelte Mimi. Ihr Leibwächter war ein Streiter, der so treu war wie Yolei. Konnte sie es riskieren, dass es in diesem Kampf starb? „Ich habe genug von solchen Dingen wie Rache“, sagte sie leise. „Wegen mir musst du gar nicht mehr kämpfen.“ „Es ist für die Ehre von ShogunGekomon“, sagte Yasyamon und zog seine Schwerter. „Lasst uns kämpfen, Musyamon.“ „Noch bin ich der Fürst, Wachdigimon“, meinte Musyamon abfällig und stand langsam auf. „Aber ich nehme die Herausforderung an.“ Die Kotemon und Dobermon gaben keinen Mucks von sich, als die beiden Digimon sich in der Mitte des Saales trafen und voreinander verbeugten. Musyamons Schwert war blitzend scharf, erkannte Mimi voller Angst. Es würde Yasyamons Holz-Bokutō in Stück hacken … Noch ehe sie den ersten Schlag tauschen konnten, flammte in der Halle helles Licht auf, und ein gleißender Strahl fuhr zwischen die beiden Digimon, schlug in Musyamons Brustpanzer ein und schleuderte es nach hinten. Wie ein einziges Digimon sprangen die Kotemon auf, die Hände an den Waffen. Die Dobermon knurrten. Musyamon rappelte sich bereits wieder auf. Es schien nicht verletzt. Das Licht verebbte erst, als T.K. in die Mitte des Saales stapfte, begleitet von MagnaAngemon. Sein Digimon hatte sich während des Kampfes ausgeruht und war wieder zu Kräften gekommen. „Ich habe genug von dieser Farce“, erklärte der Junge. „Euer Gerede von Ehre, Verrat, von Heirat und Verschmähungen und überhaupt das Gerede von Fürsten und Daimyos … Das sind alles nur Lügen! Nichts davon ist real!“ Er drehte sich mit funkelnden Augen zu Mimi um. „Mimi! Pfeif deinen Leibwächter zurück! Habt ihr diese ewigen Kämpfe nicht auch satt? Wir haben gewonnen – Little Edo ist wieder frei.“ Sie war zu verdattert, um viel zu erwidern. „Yasyamon, hör auf“, sagte sie matt. Ihr Leibwächter zögerte kurz, dann steckte er die Waffen weg und senkte demütig den Kopf. „Und ihr werdet auch damit aufhören, einem wahnsinnigen Menschen zu gehorchen“, sagte T.K. barsch zu Musyamon und den seinen. Als die Kotemon Anstalten machten, auf ihn zuzutreten, zeichnete MagnaAngemon mit seinem Schwert einen Kreis in die Luft. Ein runder Schild aus Gold oder Messing tauchte auf. „Ergebt euch endlich!“, forderte T.K. „Sonst öffnet sich das Himmelstor und saugt euch alle ein! Ich habe mir das lange genug mit angesehen! Vielleicht müssen wir kämpfen und einen Krieg gewinnen, aber dieses ganze Spiel mit Ehre und Verpflichtungen ist lächerlich!“ Mimi wusste nicht, was genau er zu sagen versuchte. Aber was auch immer er meinte, er meinte es ernst. Musyamon begegnete seinem entschlossenen Blick. Schließlich nickte es. „Ein weiser Feldherr muss auch wissen, wann er verloren hat“, erklärte es heiser und rammte seinen Krummsäbel in den Boden der Halle. Ohne weiteres Blutvergießen wurde Little Edo befreit.     Tag 149   „Fertig, DigimonKaiser“, sagte Datamon. „Das wird auch Zeit. Du hast viel zu lange gebraucht.“ „Jaja, ich weiß. Schneller ging es nicht. Ich habe noch nie so viele –“ „Das interessiert mich nicht. Führe sofort meinen Plan aus.“ „Wie Ihr befehlt.“ Datamon verbeugte sich und verschwand von der Brücke. Ken war in Gedanken versunken. Gestern war Little Edo gefallen. So schlimm war es um sein Reich noch nie gestanden. Das Absurde war, dass er gar keine Angst hatte. Im Gegenteil: Je mehr seine Freunde kämpften, desto mehr Digimon starben. Sie wurden wiedergeboren – aber auf der File-Insel, und die gehörte wieder ihm. Und je mehr Digimon starben, desto weniger blieben, um die übrigen Gebiete vor ihm zu schützen. Dagegen konnte er eine unendliche Anzahl von Schwarzturmdigimon produzieren. Auch wenn sein Reich schrumpfte – wie konnte er überhaupt verlieren?     Die Nachricht war wie ein Schlag in Izzys Magengrube gewesen. Er hatte alles so genau durchgeplant, mit Andromon gemeinsam alle Möglichkeiten berechnet … Anscheinend war der Zufall doch ein zu großer Faktor in der Gleichung gewesen. Tai hatte sich in sein Mekanorimon gesetzt, um mit ihm per Videoübertragung zu sprechen. Auch er wirkte ernst, als könnte er sich schon denken, worum es ging. „Andromons Heer wurde geschlagen“, rückte Izzy mit den Neuigkeiten heraus. „Verdammt!“ Tai hieb gegen die Innenwand des Maschinendigimons. „Die Soldaten des DigimonKaisers waren zu zahlreich. Königin Kari muss die Wahrheit gesagt haben: Er kann aus seinen Türmen Digimon bauen. Anders bliebe es unerklärlich, wo er eine so große Streitmacht her haben soll.“ „Die Einsicht kommt etwas spät.“ „Vielleicht wäre Andromon noch irgendwie mit ihnen fertiggeworden“, berichtete Izzy weiter. „Aber andere Truppen des DigimonKaisers sind ihnen bei dem Kampf in die Flanke gefallen. Bunt zusammengewürfelte Digimon unter dem Kommando eines Zephyrmons – ein General des Kaiserreichs, der lange als vermisst galt. Und es war so schlau, die ganze Zeit über nicht einmal seinen Kaiser zu kontaktieren. So konnten wir es nicht abhören und hatten auch keine Ahnung, was es vorhatte.“ „Also ist es wieder aufgetaucht und hat gleich noch ein Heer mitgebracht.“ Tai massierte seine Nasenwurzel. „Was machen wir jetzt?“ „Little Edo gehört uns. Wenn wir es halten können und dazu die Voxel-Stadt, haben wir immer noch einen Vorteil. Fort Netwave werden wir aufgeben müssen, oder was meint Ihr?“ Tai schnaubte. „Die Digimon vom Stiefel rennen uns bald die Türen ein. Wenn jetzt von der Felsenklaue die Truppen kommen, die Andromon bezwungen haben …“ „Also stimmt Ihr mir zu?“ „Nein“, sagte Tai fest. „Das Fort ist abgelegen, aber es ist in der Nähe der Gekomon-Reisfelder. Mit WarGreymon kann ich es sicher verteidigen. So beschützen wir die Voxel-Stadt und das Schneisental. Wenn wir Little Edo vor einem Ansturm aus der Kaiserwüste schützen, haben wir unser Ziel doch erreicht, oder? Das Kaiserreich ist zweigeteilt.“ „Fragt sich nur, für wie lange. Taichi, ich halte es für unvernünftig, dort länger auszuharren.“ „Das ist mir egal. Wir waren nie so weit wie jetzt. Wir geben gefälligst nicht auf!“ Izzy seufzte. Er wusste, dass er an eine Wand aus Stein stieß. „Dann habe ich einen anderen Vorschlag.“ „Und zwar?“ „Einen Blitzangriff auf die Kaiserwüste. Schickt alles, was Ihr entbehren könnt, gen Norden. Am besten wieder Digimon, die die Armor-Digitation beherrschen. Wir fallen von Süden her in die Wüste ein, ehe der Kaiser neue Digimon bauen kann, und besiegen ihn mit einem raschen Streich. Dann löst sich hoffentlich auch die Bedrohung aus dem Westen auf, und es könnte tatsächlich von Vorteil sein, unsere Gebiete zu halten.“ „Das gefällt mir schon eher. Ich werde alles veranlassen.“ „Taichi“, hielt ihn Izzy davor zurück, die Übertragung zu beenden. Sie waren übereingekommen, dass Izzy dem Drachenkönig gegenüber nicht übermäßig höflich sein musste. „Ihr dürft nicht vergessen, dass die Wissens-Armee erheblich geschwächt ist. Wir haben fast all unsere offensiven Truppen verloren. Das Nördliche Königreich ist nun die einzige Partei in diesem Krieg, die es noch mit dem DigimonKaiser aufnehmen kann. Verspielt diese Chance nicht“, beschwor er ihn. „Das ist mir klar.“   Feels like endless journey Has started in this night We know you have the power Which can erase all worlds away (Celesty – Unreality) Kapitel 63: Roter Sand ---------------------- Tag 149   Die alles entscheidende Schlacht schien immer näher zu rücken. Erst eine Nacht war vergangen, seit sie Musyamon in den Kerker gesperrt hatten, in dem Yolei einst Karatenmon vermutet hatte. Sie war nun wieder frei von ihren Verpflichtungen als Rebellenführerin, doch irgendwie konnte sie sich darüber nicht freuen. Mimi saß auf einem Thron, der ihr nicht gefiel, aber sie würde sich von Michael beraten lassen. Santa Caria war verständigt worden, und Matt würde bald hier eintreffen. Vermutlich, um abzudanken. Yolei glaubte nicht, dass er noch Lust hatte, Shogun zu sein. Die gute Laune der Gekomon, wieder ihrer rechtmäßigen Königin zu dienen und von Schwarzen Türmen befreit zu sein – großteils zumindest, denn einige befleckten immer noch das Shogunat – hielt sich in Grenzen. Zu viele ihrer Mitbürger waren in den Kämpfen gefallen. Zu viele sogar, um sie zu zählen. Immerhin waren sie eifrig dabei, die Stadt zu reparieren. Dann war Izzys Nachricht eingetroffen und hatte neue Beklemmungen ausgelöst. Andromon hätte es nicht geschafft, zu ihnen zu stoßen. Es war noch auf der Felsenklaue von einem gewaltigen Heer aus Schwarzturmdigimon aufgehalten und besiegt worden, das nun garantiert auf dem Weg hierher war. Ob Andromon noch lebte, wusste niemand. Aber es gab einen neuen Plan, um den DigimonKaiser endgültig zu bezwingen: Von der Ölbohrinsel nordwärts sollte eine mächtige Truppe wie ein Keil durch die Kaiserwüste marschieren, die Festung dort erreichen und den Tyrannen stürzen. Yolei konnte die deprimierte Stimmung in Little Edo nicht mehr ertragen, und obwohl sie sich geschworen hatte, nie wieder in einem Krieg mitzumischen, hatte sie sich dann doch dazu entschlossen, ein letztes Mal ihre Freunde zu unterstützen. Mimi verabschiedete sie unter Tränen, aber sie verstand ihre Freundin. Willis erklärte, er werde mit Yolei ziehen. Er habe immer noch eine Rechnung mit dem Kaiser offen. Mimis bösen Blick, der dieser Ankündigung folgte, ignorierte er. Auch T.K. war mit von der Partie. Er ließ Michael Tai anfunken und bat ihn, auf Kari aufzupassen. Nach Izzys Berechnungen brauchte das Schwarzturmheer noch mindestens zweieinhalb Tage, ehe es Fort Netwave erreichte. Bis dahin musste die Sache über die Bühne gegangen ein. Viele Digimon aus den befreiten Gebieten schlossen sich ihnen an, auch einige Gekomon. Sogar ein Spadamon war dabei, das Yolei mit seiner Vorliebe für Süßigkeiten im Gedächtnis blieb.     Am Sammelpunkt bei der Ölbohrinsel sah Joe zu seiner Freude Yolei wieder. Sie erkannte ihn als Erstes, als sie eben mit den Digimon aus Little Edo ankam. „Heyho!“, rief sie ihm zu und winkte. „Yolei! Du bist auch hier?“ „Natürlich! Ich bin ja sowas wie eine Sturmtruppe“, erklärte sie grinsend. „Was machst du hier? Wie kommst du hierher?“ Er erzählte ihr, was er seit ihrer letzten Begegnung alles erlebt hatte. Dass er mit den Zuverlässigen zur Felsenklaue gezogen war, als der Krieg dort besonders schlimm getobt hatte, und dass er dann in der Voxel-Stadt Izzy kennengelernt hatte. Nun würden er, Gomamon und einige Orcamon die Verletzten der folgenden Schlacht versorgen. Wo der Rest seines Ordens war, wusste er nicht. Außerdem verschwieg er ihr, dass er den DigimonKaiser getroffen hatte. Das behielt er doch lieber für sich. Dann war Yolei dran, von ihren Abenteuern zu berichten, und sie tat es so ausführlich, dass Joe ihr irgendwann nicht mehr folgen konnte. Es dämmerte außerdem während ihrer Erzählung. Das Lager war immer größer geworden, immer mehr Digimon waren zu ihnen gestoßen und quetschten sich nun auf die freie Fläche zwischen den Bergen, die die Wüste begrenzten, und dem Meer. Der große Angriff würde erst morgen losgehen. „Wo schläfst du eigentlich?“, fragte Joe, als Yolei einmal Luft holte. „Oh …darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht. Hawkmon und ich haben nur eine Decke zu zweit. Hier wird es doch wohl nicht so kalt sein.“ „Nachts könnte es schon ziemlich frisch vom Meer her wehen“, gab Joe zu bedenken. „Das halten wir aus. Stimmt’s, Hawkmon?“ Sie grinste. „Sie wollte nur nicht auf mich hören, als ich ihr geraten habe, ein Zelt zu besorgen“, vertraute Hawkmon Joe leise an. „Das hab ich gehört, Hawkmon!“, tadelte sie ihr Digimon. „Aber es ist die Wahrheit.“ „Trotzdem, man spricht nicht schlecht über andere hinter ihrem Rücken!“ „Aber ein Zelt wäre wirklich besser gewesen. Außerdem war das nicht hinter deinem Rücken!“ Joe schmunzelte über die beiden, als ein Ruf über das Feld schallte, das langsam von der Nacht bedeckt wurde. „Hey, Yolei!“ Die junge Frau blickte in die Dämmerung, dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Davis!“ „Du bist also auch dabei.“ Ein junger Mann, etwa in Yoleis Alter, und ein Veemon stießen zu ihnen. „Wer ist das denn?“ „Darf ich vorstellen: Joe. Einer von den Zuverlässigen.“ Joe räusperte sich. „Ähm, ja, ich bin Joe vom Zuverlässigen Orden, und das ist Gomamon. Wir …“ „Freut mich, dich kennenzulernen“, grinste Davis. Er schien ähnlich impulsiv zu sein wie Yolei. „Was meint ihr, morgen schlagen wir den DigimonKaiser ein für alle Mal, oder?“ Er hielt ihr die Hand hin. „Auf jeden Fall!“ Yolei schlug ein. „Keine Digimon-Folter mehr, keine Verschwörungen, keine Unterjochung. Wir befreien die DigiWelt für immer!“ Joe empfand ihre Begeisterung fast als Vorwurf. Hätte er den DigimonKaiser damals nicht behandelt, wäre der DigiWelt vielleicht viel Ärger erspart geblieben … „Mach dir keinen Kopf, Joe“, sagte Gomamon, das mal wieder seine Gedanken erraten hatte. „Du hast getan, was du für richtig gehalten hast. Und jemandem zu helfen, ist immer richtig. Dafür kann dich keiner verurteilen.“ „Du hast recht“, meinte Joe, war aber nicht überzeugt. Gomamons Optimismus konnte er leider nur selten teilen.     Mensch und Mensch gesellte sich wohl gern. Zu dem Mädchen Yolei und ihren Freunden Joe und Davis kamen auch noch der Junge T.K. und dieser Willis. Letzteren schien kaum jemand zu kennen. Das schienen alle Menschen zu sein, die in den Angriffsplan involviert waren. Spadamon hatte in Erfahrung gebracht, dass eine gewisse Kari sich in Fort Netwave aufhielt. Der Kaiser würde sicher zufrieden sein. All die Menschen, die Spadamon hatte finden sollen, waren aufgetaucht, und es kannte ihre Position. Schade, dass es ihn nicht direkt anfunken konnte, das war immer noch zu gefährlich. So aktivierte es in einem unbeobachteten Moment nur kurz seinen Connector, während es am Feuer bei anderen Digimon saß. Das kurze Signal würde für die Wissens-Armee aussehen wie das eines defekten Schwarzen Turmes, aber der DigimonKaiser würde wissen, wo sich seine Feinde versammelten.     Es war dunkel in der Pagode. Dunkel, und still. Tagsüber war das Gehämmer und Gesäge unerträglich gewesen, aber es hatte den voranschreitenden Wiederaufbau bezeugt. Nun fand Mimi die Ruhe beklemmend. Sie lag in ihrem weichen Bett, in ihrem eigenen Zimmer, das Musyamon unangetastet lassen hatte. Alles war noch so gewesen, wie sie es am Morgen ihrer Hochzeit verlassen hatte. Wie lange war sie fortgewesen? Es kam ihr vor wie Jahre, dabei waren es keine vier Monate gewesen. Seufzend wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie konnte einfach nicht einschlafen. Vielleicht lag es an den wunderbar weichen Laken und dem sanften Parfümduft, den sie in dem lange leer gestandenen Zimmer verteilte hatte. Das alles war Luxus, den sie lange vermisst hatte – doch sie konnte sich nicht mehr daran gewöhnen. Seufzend richtete sie sich auf. Es hatte keinen Sinn. Eigentlich hätte sie jetzt das Recht gehabt, in ShogunGekomons Gemach zu übersiedeln, doch das war einfach nur kahl und kalt. Vielleicht sollte sie dort trotzdem auf dem harten Boden schlafen … Little Edo war gerettet. Wenn man den jetzigen Zustand des Shogunats als gerettet bezeichnen konnte. Es hatte so viele Tode gegeben, die Rebellion hatte einfach viel zu viele Opfer gefordert. Die Stadt war vielerorts schwer beschädigt worden, viele Reisfelder waren ohne Arbeiter. Die Einwohner bejubelten ihre rechtmäßige Herrscherin und beklagten im nächsten Moment ihre gefallenen Freunde. Und niemand wusste, wann es wieder Kämpfe geben würde. Musyamon lag in Ketten in seinem eigenen Kerker, aber der DigimonKaiser würde sicher nicht nachgeben. Little Edo war nun ein Stück Land, das sie aus seinem riesigen Reich herausgerissen hatten, und von allen Seiten verwundbar. Michael kam Mimi in den Sinn. Seine Konföderation hatte ein Heer zur Unterstützung geschickt, und dass es an der Felsenklaue gegen das des DigimonKaisers gekämpft hatte, hatte ihnen ungemein geholfen. Nun gab es dieses Heer nicht mehr. Der ganze Süden war praktisch wehrlos. In wenigen Tagen waren die Digimon wahrscheinlich hier, und dann würde der Krieg Little Edo wieder heimsuchen. Und diesmal würden sie vielleicht endgültig verlieren. Ohne ein bestimmtes Ziel wandelte Mimi durch die Pagode, einen Kerzenleuchter in der Hand. Ihr Nachthemd machte ein Gespenst aus ihr, vor allem, wenn es im Luftzug der offenen Fenster wehte. Yasyamon hatte sie überzeugen können, sie nicht zu begleiten. In der Küche sah sie Kerzenschein. Michael hockte vor einem kleinen Tisch, auf dem eine Flasche Sake und eine Trinkschale stand. Er schien sie nicht zu bemerken, als sie eintrat. Schweigend setzte sie sich neben ihn und wartete, bis er ihr ihre Aufmerksamkeit schenkte. Eine ganze Weile starrte er nur in die Kerzenflamme. Er trug noch dieselbe, praktische Kleidung wie am Abend. Langsam goss er sich Sake in seine Schale. „Auch etwas?“, fragte er leise. Mimi zögerte, dann nickte sie. Vielleicht half ihr der Schnaps beim Einschlafen. Michael griff sich eine Schale von der Anrichte und füllte sie für Mimi. Der Sake brannte scharf auf ihrer Zunge und ihren Hals hinunter und fühlte sich eher belebend an. Ohne dass sie ihn dazu aufforderte, schenkte Michael ihr nach. Die zweite Schale schmeckte besser als sie erste. „Wie geht es dir?“, fragte sie ihn, nur um irgendwas zu sagen. Michael schwieg noch eine Weile neben ihr. „Ich habe Andromon immer für unfehlbar gehalten. Und Izzy. Die beiden hatten von Anfang an Pläne, und wir haben uns sogar in das System des DigimonKaisers eingehackt. Vielleicht waren wir zu vorsichtig. Vielleicht hätten wir schneller zuschlagen sollen, wie Willis es immer vorhatte.“ Mimi schwieg betreten. Sie hatte ihre Heimat zurückerobert, auch wenn es vielleicht nur für kurze Zeit war und die heutige Nacht sie sich bedrückt und wie zwischen zwei Welten fühlen ließ. Michael dagegen hatte Freunde verloren, und seinen Anführer, dem er vertraut hatte. „Wünschst du dir, bei ihnen gewesen zu sein?“ Nun sah er auf. In seinem Blick tanzten die Kerzenflammen. „Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass es etwas geändert hätte.“ Sie griff nach seiner Hand. „Ich bin froh, dass du hier bist. Dir wäre vielleicht nur dasselbe zugestoßen“, sagte sie schnell, als er sie fragend ansah. Hoffentlich sah er in der Düsternis nicht die Röte, die auf ihre Wangen kroch. Schweigend goss er sich noch eine Schale ein und stürzte sie hinunter. Vielleicht war das wirklich der beste Weg, um einzuschlafen: sich zu betrinken. „Danke“, sagte er. „Wofür?“ „Keine Ahnung. Einfach – danke. Dass du hier bist. Dass du mich gebrauchen kannst. Dass du meine Hand hältst.“ Sie schwieg, aber ihre Hand ließ seine nicht los. „Vielleicht wird alles gut“, meinte er dann. „Andromon und Izzy haben sich vielleicht einmal verrechnet. Aber wenn der Sturmangriff funktioniert – dann können wir hier in Frieden auf das Ende des Krieges warten.“ Er seufzte schwer. „Bald werden wir es wissen.“ „Frieden“, murmelte Mimi. „Das wäre schön.“ Während sie beide weiter die Flammen der Kerzen betrachteten, lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter.     „Du bist Sir Willis von der Wissens-Armee?“, fragte Davis irgendwann, während sie um das Lagerfeuer herumsaßen. „Tut mir leid, das mit eurem Heer.“ Willis zuckte nur mit den Schultern. „Sie waren schlecht vorbereitet, wie es aussieht. Michael und ich haben die Fabrikstadt vor einer Ewigkeit verlassen und halten uns ganz gut. Es ist fast traurig, dass unser ganzes übriges Heer keine drei Tage durchsteht.“ „Und euer Anführer wird auch vermisst“, murmelte Davis. „Ich hab von Meramon gehört, dass Andromon mit König Leomon gut befreundet war.“ „Tja, mit mir ist es nicht gut befreundet. Aber es wäre besser, wenn es noch leben würde, ja.“ „Du wirkst recht bitter“, stellte T.K. nach einer schweigenden Weile fest. „Findest du?“, fragte Willis. „Ja.“ „Das liegt vielleicht daran, dass ich einen Erzfeind habe. Und niemand scheint es zu schaffen, ihn zu besiegen. Selbst Andromon nicht. Wenn ich meine Digimon gerächt habe, wird’s mir besser gehen.“ „Du also auch“, seufzte T.K. und betrachtete die Sterne. „Noch einer, der nicht begreift, dass sein Hass ein Phantom ist.“ „Ich brauche keinen Rat von dir. Du hörst dich schon an wie der Kaiser persönlich.“ T.K. sah ihn fragend an, doch er machte keine Anstalten, seine Worte zu erklären.     Tag 150   Sie wurden geweckt, als das Heer Alarm schlug. Joe wusste erst nicht einmal, wo er war. Er lag neben dem erloschenen Lagerfeuer am Berghang, um das sich gestern die wenigen Menschen des Heeres versammelt hatten. Neben ihm wurde grummelnd Yolei wach, während Willis und T.K. bereits aufsprangen. Es dämmerte erst. Über dem Meer stieg ein erster heller Reifen aus Sonnenlicht auf, der noch halb in Dunst erstickte. Dennoch hasteten Digimon überall in dem riesigen Heerlager herum, weckten ihre Kameraden und versuchten Aufstellung zu nehmen. „Was … was ist los?“, murmelte Veemon verschlafen. Davis wischte sich ebenfalls den Schlaf aus den Augen. „Ein Angriff, ein Angriff!“, rief ein Gizamon von Fürst Frigimons Truppen, ehe es weiterhüpfte. Joe war mit einem Schlag hellwach. Es ging bereits los? Sie wollten doch erst in ein oder zwei Stunden losziehen und auf die Festung des DigimonKaisers zumarschieren! Hektisch sah er sich nach den anderen Zuverlässigen um. Nur Gomamon war bei ihm, aber die Orcamon sah er inmitten der umherlaufenden Digimon stehen. Sie wirkten ebenso verloren, wie er sich fühlte. Würden sie mitten in die Kampfhandlungen geraten? Eine kalte Hand griff nach seinem Herz. „Zeit, zu digitieren, Patamon“, rief T.K. Sein Digimon flatterte in die Luft – und nichts passierte. „Es … es geht nicht, T.K.“, sagte es bedauernd. „Verdammt“, murmelte er alarmiert. „Hat er etwa … hier in die Nähe einen Turm gebaut?“ „Hawkmon, versuch du es!“ Doch auch Yoleis Digimon veränderte sich nicht. „Versucht die Armor-Digitation“, rief Willis. Er hielt sein Ei bereits in der Hand. „Erstrahle!“ Das funktionierte. Flamedramon, Rapidmon und Pegasusmon standen sofort bereit, um die Reihen zu verstärken, die nun auf die Wüste zumarschierten. Joe hatte immer noch keine Ahnung, was los war – sie wurden angegriffen? Warum flogen dann nicht längst die Attacken? „Hey! Sir Agunimon!“, rief Davis einem feuerroten Digimon zu, das in ihrer Nähe vorbeikam. „Was ist denn los?“ „Kommt mit, wenn ihr es sehen wollt“, knurrte Agunimon. „Ich vermute, ihr werdet ganz besonders erwartet.“ Obwohl Joe keine Lust hatte, mitzukämpfen, folgte er Agunimon mit den anderen. Die Digimon waren in die Wüste hineingestapft und hatten dort ihre Kampfformation eingenommen: schwer gepanzerte, starke Digimon zuvorderst, Fernkämpfer in der Mitte, Boten und Spezialeinheiten hinten. Joe schluckte. Diese Formation würden sie nicht wählen, wenn sie keinen unmittelbaren Kampf vermuteten … Es war, als würden sie ihren Feind tatsächlich hier erwarten, ganz in der Nähe ihres Lagers, zwischen dem Meer und den Bergen, die die Wüste hier auf der anderen Seite begrenzten. Agunimon führte sie einen Gebirgspfad entlang, bis sie auf einem Plateau ankamen, von dem aus sie die Schlachtreihen überblicken konnten. ToyAgumon in seinem Mekanorimon, Frigimon, Angemon und zwei KaiserLeomon standen bereits ebenfalls hier. Der Anblick verschlug Joe den Atem. Ein zweites, gewaltiges Heer hatte sich in der Wüste versammelt. In einem breiten Halbkreis füllten Digimon des DigimonKaisers die freie, sandige Fläche. Sie mussten sich über Nacht hier formiert haben – warum hatten sie nicht längst angegriffen? Vermutlich hatten die Wachen des Lagers sie im Morgengrauen entdeckt und dann Alarm geschlagen. Knurrend und drohend standen die beiden Heere einander gegenüber. Das des Nordreiches war größer, aber Joe wollte sich gar nicht vorstellen, was geschah, wenn diese beiden Mengen aus purer Zerstörung sich ineinander verbissen. „Das müssen alles Schwarzturmdigimon sein“, sagte T.K. „Sie haben über Nacht wahnsinnig schnell produziert.“ „Aber woher wussten sie, von wo aus wir zuschlagen werden? Wir hatten geplant, einen Großteil der Wüste zu überrennen, ehe wir auf Gegenwehr stoßen“, sagte ein KaiserLeomon. „Der DigimonKaiser wird wohl Mittel und Wege haben“, brummte das zweite. „Mich wundert nur, dass sie nicht sofort auf uns losgegangen sind.“ „Seht mal!“, rief T.K. und deutete auf einige kleine, graue Gestalten, die sich aus dem Heer des DigimonKaisers lösten und langsam auf ihre Feinde zumarschierten. Joe erkannte es im gleichen Moment, in dem Yolei schrie: „Das sind Menschen!“ Die acht Gestalten hatten eindeutig menschliche Proportionen. Sie waren in engen grauen Stoff gekleidet, wenig mehr als Fetzen, die ihnen zerfleddert im Wind hinterher wehten. Drei der Menschen hatten weibliche Kurven, die anderen fünf waren Jungen oder Männer. Die meisten trugen schwarze Schleier vor dem Gesicht; von einer der Frauen sah man einen traurigen Mund, da nur ihre Augen und Nase bedeckt waren. Der große Mann, der als Letzter ging, war ebenfalls unverschleiert, allerdings hielt er den Kopf gesenkt, sodass sein langes, schwarzes Haar sein Gesicht verdeckte. Und das Gesicht des vordersten Jungen war vollständig entblößt. „Cody!“, rief T.K. entsetzt. „Du kennst ihn?“, fragte Davis. „Ja, das ist Cody! Ihr dürft auf keinen Fall angreifen!“, sagte er aufgeregt. Die Fürsten tauschten einen Blick. Schließlich nickte Angemon. „Wir warten.“ Der Wind drehte und blies Staub aus der Wüste aufs Meer hinaus. Joe wusste nicht, warum, aber die Anwesenheit der Menschen irritierte, ja, ängstigte ihn zutiefst. Als wäre hier etwas Verbotenes im Gange, mit dem er besser nichts zu tun haben wollte … Reglos standen sie zwischen den beiden Heeren, die nur darauf warteten, sich in den Kampf zu stürzen. „Kehrt sofort um!“, rief plötzlich eine Stimme. Sie gehörte Cody, dem Jungen, den T.K. erkannt hatte, und klang fordernd und bittend zugleich. Sein Blick fixierte die Anführer auf ihrem Felsplateau. „Wenn ihr das nicht tut, sind wir alle dem Untergang geweiht!“ Agunimon übernahm das Antworten. „Es sind all jene dem Untergang geweiht, die auf Seiten des DigimonKaisers stehen. Auf wessen Seite steht ihr?“ Eine der Gestalten, eine Frau, brach in schallendes Gelächter aus. Cody rief: „Auf der Seite der Lebenden. Aber nicht mehr lange, wenn wir uns unserem Herrn wiedersetzen.“ „Also gehört ihr doch zum DigimonKaiser“, stellte Willis laut fest. „Dann seid ihr unsere Feinde.“ „Wir sind nicht eure Feinde. Wir sind niemandes Feinde – wir wollen einfach nur leben!“, rief Cody schrill und fiel auf die Knie. „Wir acht sind die neuesten Sklaven des Kaisers. Er hat nun einen Weg gefunden, nicht nur Digimon, sondern auch Menschen zu kontrollieren. Wenn wir ihm nicht gehorchen, sterben wir. Wenn wir euch nicht zum Rückzug bewegen können, haben wir ebenfalls Befehl, zu sterben. Und wir müssen unsere Befehle ausführen“, sagte er bitter. Joes Herz klopfte schneller. Er hatte Angst davor, wie die Heerführer sich entscheiden würden. „Was soll das heißen?“, fragte T.K, dem ein Schweißtropfen über die Wange lief. „Wir acht wurden geschickt, um euch diese Botschaft zu überbringen. Kämpft gegen unser Heer, und ihr werdet verlieren – oder große Verluste erleiden. Doch wir sind die Ersten, die sterben.“ „Wer sagt, dass uns das kümmert?“, fragte Agunimon hochmütig. „Du wirst es nicht wagen, sie anzugreifen!“, rief Davis außer sich. „Das sind Menschen wie wir!“ „Der König hat uns befohlen …“ „Tai wäre nie damit einverstanden!“ „Wir könnten versuchen, sie zu befreien“, schlug Joe vorsichtig vor. „Vielleicht, wenn wir schnell genug sind … Bevor die anderen angreifen können …“ „Ihr solltet euch schnell entscheiden“, rief Cody ihnen zu. Er schien Joes Gedanken gelesen zu haben. „Ihr könnt uns nicht retten, versucht es erst gar nicht. Der DigimonKaiser kontrolliert unsere Körper.“ „Das sind Menschen. Sie werden nicht wiedergeboren wie wir Digimon“, gab Frigimon zu bedenken. „Na und? Sollen wir sie deshalb besonders behandeln? Wiedergeborene Digimon kommen auf der File-Insel zur Welt, und die gehört diesem Bastard auch“, knurrte Agunimon. „Ihr müsst dagegen ankämpfen!“, schrie T.K. plötzlich in das Dünenmeer hinunter. „Erinnert euch, wer ihr seid! Ihr könnt ihm entkommen!“ Cody senkte den Blick. „Unser Geist und Körper gehört ihm. Wir dürfen nicht versuchen, ihn zu verraten.“ „Wir dürfen nicht versuchen, ihn zu verraten“, antworteten die anderen in einem dumpfen Chor, in einem Einklang, der Joes Nackenhaare sträubte. Die Frau, die zuvor gelacht hatte, trat neben Cody. Es war diejenige, von der man wenigstens den Mund sah. „Ich habe auch einst den Frevel besessen, den DigimonKaiser zu verraten“, sagte sie, und man hörte sie kaum. Dann riss sie sich den übrigen Schleier samt Kapuze vom Gesicht, und Joe blickte in ein trauriges, doch schönes Gesicht mit dunklen Augen, umrahmt von dunkelbraunem Haar. „Das ist sie“, murmelte Willis. „Ich kenne sie aus seinen Propagandafilmen.“ „Ja“, sagte Angemon. „In der Tat.“ „Was?“, fragte T.K. „Wer?“ „Nadine die Schwarze Rose, die einstige Königin der Felsenklaue. Früher die Verbündete des DigimonKaisers, ehe sie eines Tages plötzlich von der Bildfläche verschwand. Es geht das Gerücht, sie habe sich gegen ihn aufgelehnt.“ „Nadine?“, stieß T.K. aus. Auch dieser Name schien ihm etwas zu sagen. „Das Gerücht stimmt“, bestätigte Willis. „Sie wollte ihn töten lassen.“ „Nun muss ich büßen“, rief die ehemalige Königin zu ihnen empor. „Für meinen Verrat soll ich als Beweis dienen, dass wir die Wahrheit sagen.“ Einer der vermummten Männer holte etwas aus der Falte seiner Kleidung hervor und reichte es ihr. Joe hielt den Atem an. Es war ein in einem Stück gegossener Speer, schwarz wie das Material der Türme, die mitten im Heer des DigimonKaisers aufragten. Nadine drehte den Speer, bis die Spitze auf ihr Herz zeigte. „Unser Leben gehört ihm“, sagte sie. Yolei stieß einen Schrei aus, T.K. schwang sich auf den Rücken von Pegasusmon, Davis wirkte, als wollte er von der Plattform klettern. Joe selbst war einfach starr vor Schreck. Nadine stieß sich beidhändig den Speer ins Herz. Ein Seufzer entkam ihren Lippen, aber hier oben konnten sie ihn nicht hören. Sie sank in die Knie, ihr Körper kippte hintenüber. Zwei der verschleierten Gestalten fingen sie auf. Cody stand daneben, traurig, aber reglos. Frisches Blut tropfte zu Boden, rote Flecken zierten den Sand. Die Menschen auf der Plattform schrien. Joe hatte fassungslos die Hand vor den Mund geschlagen. Selbst ihre Digimon unten am Wüstenrand wurden unruhig, bäumten sich auf und stießen wilde Flüche aus. Sogar Agunimon keuchte entsetzt auf. Die beiden Männer zerrten Nadine an den Armen fort. Der Speer blieb in ihrer Brust stecken, über die immer noch frisches Blut lief. Cody trat wieder einen Schritt vor und warf sich vor den Heerführern in den Sand. „Ihr habt es gesehen. Wir sind gezwungen, seinem Willen zu gehorchen. Es gibt kein Entkommen. Bitte!“ Er schrie, und seine Tränen fielen in roten Sand. „Bitte helft uns!“ Mit einem Ruck richtete er sich auf, wie ein Puppenspieler seine Marionette wieder in Position brachte. Gleichzeitig drehten sich die Gestalten herum und stapften auf ihr Heer zu, verschwanden zwischen den massigen, finsteren Digimon, die tote Nadine immer noch mit sich schleppend. Die Menschen auf dem Plateau waren unfähig, sich zu bewegen, auch nur ein Wort zu sagen. Selbst dem abgebrühten Willis hatte es die Sprache verschlagen. Yoleis Kinn zitterte, T.K.s Augen waren geweitet. Er ballte die Fäuste. „Wie kann er es nur wagen …“, stieß er hervor. „Dieser … dieser elende …“ „Was, was tun wir?“, fragte Davis hilflos. „Sie hat sich eben … Sie hat sich eben selbst … Sie …“ „Wir können jetzt nicht umkehren“, platzte Willis heraus. „Genau das will er! Wir hatten nie so gute Chancen wie jetzt!“ „Wir können diese Menschen doch nicht ihrem Schicksal überlassen!“, entgegnete T.K. aufgebracht. „Sie sind DigiRitter, wie wir!“ „Was willst du denn tun? Das Heer auflösen? Wir haben noch drei Tage, dann erobert sich der DigimonKaiser seine Gebiete von Westen hier zurück!“ „Es muss einfach einen anderen Weg geben!“ „Mach die Augen auf! Es gibt keinen! Wenn wir hier aufgeben, haben wir verloren! Was sind die paar Leben im Vergleich zu einer totalen Niederlage? Denkst du, ein Menschenleben ist mehr wert als das eines Digimons? Rapidmon, komm! Wenn wir losschlagen, werden uns die anderen folgen!“ „Nein!“, brüllte T.K. und stürzte sich auf den Ritter. Hart schlugen die beiden auf dem Boden auf und rollten ineinander verkeilt weiter, schlagend und kratzend. „Hört sofort auf damit, das bringt doch nichts!“, rief Yolei und versuchte, sie auseinanderzureißen. „Der Zwillingsritter hat schon recht“, meinte Agunimon. „Wir bekommen so eine Chance vielleicht nie wieder, aber …“ „Der König wird es nicht wollen“, murmelte Frigimon. „Aber der König ist nicht hier!“, brüllte Agunimon. „Sagt bloß, Ihr seid mit der Lage überfordert“, schaltete sich KaiserLeomon ein. „Schlagen wir los, sage ich.“ „Euch geht es also nur um Vorteile oder darum, keinen eurer selbsternannten Könige zu verärgern, ja?“ T.K. stand wieder auf. Das Blut, das aus seiner Nase lief, ließ ihn noch zorniger wirken. „Wenn ihr zulasst, dass diesen Menschen etwas geschieht, wird euch Königin Kari jede Hilfe entsagen! Und Sora auch!“ „Mimi auch!“, rief Yolei sofort. „Sie hasst das Töten.“ „Und wie sollen wir deiner Meinung nach einen Krieg ohne Töten gewinnen?“ Agunimon verdrehte die Augen. „Es muss einfach einen anderen Ausweg geben“, wiederholte T.K. „Es muss.“ Sein Blick fixierte die Blutspuren im Sand, dann die beiden Heere, die sich anstarrten. Die Nordarmee spie ihren Feinden Provokationen entgegen. Yolei schüttelte langsam den Kopf, als sie ebenfalls in die Wüste hinaussah, dorthin, wo die Menschen zwischen all den Digimon verschwunden waren. Sie wirkte irgendwie abwesend, als hätte sie der Schock erst jetzt erwischt. „… keinen Sinn“, murmelte sie. „Es ergibt keinen Sinn …“ „Es ist sowieso fraglich, ob wir dieses Heer bezwingen“, warf Angemon ein. „Selbst wenn, in der Zeit hat der Kaiser bestimmt neue Digimon gebaut. Ohne ein Überraschungsmoment sind wir machtlos.“ „Das Nördliche Königreich beugt sich keinem Feigling, nur weil er Geiseln hat!“, sagte Agunimon impulsiv. „Jeden, der angreift, wird MagnaAngemon persönlich ins Himmelstor befördern“, drohte T.K. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, fragte Willis herausfordernd. In einem Gesicht leuchtete eine Schnittwunde, die er sich bei dem Gerangel auf blankem Felsboden zugezogen hatte. „Du kamst mir gleich verdächtig vor. Kommst aus dem Nichts und sagst, du wärst …“ „Ich lasse nicht zu, dass irgendein Mensch in diesem verrückten Spiel geopfert wird! Sie sind alle DigiRitter, genau wie wir!“ „Wovon redest du eigentlich, du Spinner?“, blaffte Willis. „Haltet sofort alle die Klappe!“, brüllte plötzlich Davis, der eine Weile fassungslos geschwiegen hatte. „Dort unten ist gerade jemand gestorben! Sie hat sich selbst umgebracht! Hört auf, hier zu streiten! Ihm gehört das Handwerk gelegt, sofort!“ Auf diesen Ausbruch hin war es erst einmal still auf dem Plateau – still genug, um das Piepen in ToyAgumons Mekanorimon zu hören. „Eine Nachricht von König Taichi“, meldete es. „Ich habe Izzy den Sachverhalt mitgeteilt und eine Videoaufzeichnung der Hinrichtung geschickt.“ Alle scharten sich um die Maschine. Tais Gesicht war in der Videoübertragung zu sehen. Er sah müde aus, und sein Gesicht war blass. Die Augenklappe bildete einen starken Kontrast dazu. „Blast sofort zum Rückzug“, befahl er heiser. „A-Aber …“, machte Agunimon. „Das ist ein königlicher Befehl.“ Damit endete die Übertragung.     Ken sah auf seinem Bildschirm zu, wie das Heer des Nördlichen Königreichs den Bereich um die Bohrinsel räumte und sich wieder in südlichere Gefilde verkroch. Ihr Kampfgeist war tatsächlich gebrochen. Der Vormarsch seiner Feinde war gestoppt. Ookuwamon landete, um Kens graugewandete Boten zurück zur Festung zu holen. Siehst du das, Deemon?, fragte er in die Leere seiner Gedanken hinein. Ich habe es ihnen gezeigt. Ich habe ihnen gezeigt, wer ich wirklich bin. Ich habe ihnen gezeigt, dass ich das Mädchen töten kann, das ich geliebt habe. Je unmenschlicher ich werde, je mehr du mich in eine Ecke drängen willst, desto stärker, härter, desto kompromissloser werde ich. Deemon antwortete auch diesmal nicht. Vielleicht, weil die Tränen in Kens Augenwinkeln Antwort genug waren.   Whisper, whisper, whisper words of domination I am life, I am death, Your souls left to waste I am everything you need And all the things you fear (Ex Deo – I, Caligvla) Kapitel 64: Fast vollzählig --------------------------- Tag 150   Er weinte immer noch stumm, als Cody auf die Brücke kam. „Majestät … kann ich Euch noch irgendwie helfen? Armadillomon und ich könnten …“ „Nicht nötig. Du hast genug getan“, sagte Ken mit gebrochener Stimme. In Gedanken war er ganz woanders. Er hatte es tatsächlich befohlen. Er hatte sich als grausamer Tyrann aufgespielt und Nadine sich selbst hinrichten lassen. Fast spürte er wieder, wie Sammys Lebensfunken unter seinen Fingern erlosch. Es war tatsächlich so, als hätte er Nadine getötet. Die echte Nadine, mit eigenen Händen. Ich weiß, dass ich nun bereit bin. Bereit, sogar meine Freunde zu töten, wenn sie mir im Weg stehen. Und seine Freunde wussten es nun auch. Wussten, dass er skrupellos war, dass sie gut daran taten, ihn als wahnsinnigen Imperator zu fürchten. Er hatte ihnen gezeigt, dass ein Menschenleben ihm nichts bedeutete. Er würde sie niemals mehr davon überzeugen können, dass er all das zu ihrem Wohle tat. In ihren Augen hatte er einen Mord begangen – und er hatte gewollt, dass sie ihn so sahen. „Cody“, sagte er. „Fürchtest du mich?“ „Ich …“ Der Junge zögerte. „Ihr habt mich befreit.“ „Ich habe dich gefragt, ob du mich fürchtest.“ „Naja … Nein. Ihr habt mir selbst gesagt, dass das nicht nötig ist. Und es immer wieder bewiesen“, sagte er hastig. Ken seufzte. „Vielleicht war das genau mein Fehler.“ Mit einer Handbewegung entließ er ihn.     Armadillomon hatte auf dem dunklen Flur auf ihn gewartet. „Und?“, fragte es. Cody schüttelte den Kopf. „Wir sollen hierbleiben.“ „Von der ganzen Warterei roste ich aber ganz ein“, beklagte sich Armadillomon. Cody wusste, was es meinte. Er war unendlich froh darüber, seinen Freund zurückzuhaben. Obwohl er ihm eine Heidenangst eingejagt hatte mit seinem Revolver, hatte er das Gefühl, dass er dem Kaiser etwas schuldete. Aber wie sollte er je diese Schuld begleichen? Fürs Erste hatte er die Dinge in der Festung regeln dürfen, und zwar, als der Kaiser mit Fürst Yukio im Westen unterwegs gewesen war. Aber sonst … „Wie geht es ihm?“ Cody zuckte zusammen. Yukio Oikawa persönlich stand in einer der Türen, die von dem Flur abzweigten. Er sah besorgt aus, aber wie immer, wenn er mit Cody sprach, stahl sich eine herzliche Wärme auf sein Gesicht, die sich dieser nicht erklären konnte. „Ich … Der Kaiser wirkt sehr beschäftigt.“ „Das ist er immer. Was denkst du über seine Art, beschäftigt zu wirken?“ „Naja, er …“ Cody druckste herum. „Ich will nicht behaupten, dass … Ich meine …“ „Ich meine es ernst. Keine Sorge, du kannst frei mit mir sprechen.“ Er holte tief Luft. „Ich habe das Gefühl, dass er sich verändert hat. Seit er von der File-Insel zurück ist. Er träumt öfter vor sich hin, und sogar die schlechtesten Nachrichten lassen ihn kalt. Wisst Ihr, was dort auf der Insel vorgefallen ist?“ Yukio wusste es sicher. Arukenimon hatte es ihm garantiert erzählt. „Ich kann es dir auch nicht sagen“, meinte er nur. „Aber wir müssen den DigimonKaiser jetzt besonders unterstützen. Vor allem diese letzte Aktion wird ihn schwer mitnehmen, fürchte ich.“ Wenn er sich nur unterstützen ließe, dachte Cody. Die Sache mit Datamons Maschine war kaum der Rede wert.     Ken wartete vor seine Festung, während Ookuwamon die grauen Gestalten zurückbrachte. Das Täuschungsmanöver war ein voller Erfolg gewesen. Es fühlte sich an, als hätte er seine Hände beschmutzt, aber sein Reich war soweit sicher. Obwohl sie ihre Erinnerungen verloren hatten, waren seine Freunde doch nicht bereit gewesen, andere Menschen zu verletzen. Er hatte sie richtig eingeschätzt. Schweigend trabten die grauen Figuren vom Rücken des Insektendigimons. „Schaff sie mir weg“, befahl Ken und wusste, dass Datamon ihn hörte. „Ich will sie nicht mehr sehen. Aber löse sie nicht auf, vielleicht brauchen wir sie noch. „Wie Ihr wollt“, sagte das Digimon durch Codys Mund. Zum Glück hatte er Datamons Potenzial erkannt. Vor allem das seiner Klone. Es brauchte eine echte, menschliche Vorlage, dann konnte es davon genügend Kopien erstellen. Um die Bewegungen so vieler Klone auf einmal koordinieren zu können, hatte es einer enormen Rechenleistung und vor allem Trainingszeit bedurft, doch es hatte schließlich funktioniert. Seine Freunde hatten keinen Verdacht geschöpft. Damit der menschliche Aufmarsch realistisch wirkte, hatte er Klone verschiedener Größe und verschiedenen Geschlechts gebraucht. Soras Kopie hatte Datamon bei sich gehabt; sie erneut zu klonen war nicht möglich gewesen. Eine Vorlage hatte Oikawa gebildet; sein Klon war der größte gewesen. Ken hatte sein Gesicht unverschleiert gelassen, um seine Menschlichkeit zu betonen. Yukio war unter seinen Feinden nicht sehr bekannt. Zwei vermummte Klone waren Kopien von Ken selbst gewesen. Er hatte einen eher durchschnittlichen Körperbau, weswegen das nicht weiter aufgefallen war. Ebenso hatte er dem falschen Cody, der sein Gesicht gezeigt hatte, noch einen Zwilling gegeben. Schließlich waren noch zwei Nadines dabei gewesen; eine von ihnen hatte Datamon sich mit dramatischer Inszenierung opfern lassen. Die schwarze Lanze, die sie sich ins Herz gestoßen hatte, hatte aus denselben Datenteilen bestanden wie die Klone, weswegen Nadines Kopie nicht gestorben war wie Tais in Santa Caria. Ken hatte Datamon genau angewiesen, wie es das Blut tropfen lassen musste, um es realistisch zu machen. Immer noch zerrten die anderen Replikate ihren leblosen Körper mit sich. Es war Datamon offenbar viel angenehmer, nur sieben statt acht Menschen zu steuern. Da Datamons Maschine die Kleidung der Menschen mitkopierte, hatten sich Ken und Nadine in Unterwäsche scannen lassen müssen, damit ihre Klone dann die enge, graue Kluft anziehen hatten können. Soras Kopie war mit ihrem Königinnenkleid ungelenk genug gewesen. Ken sah zu, wie die Gestalten in die Festung traten. Fast kamen sie ihm vor wie Zombies, die er geschaffen hatte. Viele seiner Freunde hatten sich dem feindlichen Heer angeschlossen, wie er von Datamon wusste. Um jeden Preis mussten sie am Leben bleiben. Um jeden Preis musste ein weiterer Kampf verhindert werden. Das würde noch kompliziert werden; es würde sicher noch eine Schlacht ungeheuren Ausmaßes geben, in der alles passieren konnte. Außerdem wurde die Zeit für das Spiel knapp. Sei’s drum. Ich werde einfach immer gut aufpassen müssen. Und sie auch – ich kann sie nicht ständig bemuttern. Bald ist es vorbei. Etwas anderes zählt nicht mehr.     Die Stimmung im Lager war angespannt und mutlos. T.K. erwartete, dass jeden Augenblick irgendwelche Digimongruppierungen davonlaufen und sich wider ihren Befehl auf die Schwarzturmarmee in der Wüste stürzen würde. Zum Glück geschah das nicht. Entweder waren sie Tai so treu ergeben, oder sie waren klug genug zu wissen, dass sie nicht die geringste Chance gegen all diese seelenlosen Digimon hatten. Der Lagerplatz der Menschen brauchte lange, um abgebaut zu werden, da jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Davis war voller Wut, Willis voll stummer Resignation. Joe schien erleichtert, dass es zu keinem Kampf gekommen war, aber auch besorgt. Yolei zerbrach sich über etwas den Kopf, da sie jenen immer wieder verständnislos schüttelte. T.K. selbst kam beinahe um vor Zorn. Wie konnte der neue DigimonKaiser es nur wagen? War die Macht der Dunkelheit nun schon so stark, dass er Menschen wie mit Schwarzen Ringen knechten konnte? Hatte es etwas mit der Saat der Finsternis zu tun? Musste er bei seiner Grausamkeit unbedingt noch eins draufsetzen? Nun war ein Mensch gestorben. Nadine … Das war sicher das Mädchen gewesen, dem Oikawa damals die Saat eingepflanzt hatte. „Ich werde ihm niemals vergeben“, nahm er sich vor. Er hatte es laut gesagt, obwohl er das nicht vorgehabt hatte. „Wir alle werden es ihm nicht vergeben“, sagte Davis und ballte die Fäuste. „Wir machen ihn fertig! Und so jemand will die DigiWelt beherrschen!“ „Ich verstehe das einfach nicht“, meinte Yolei hilflos. „Worüber denkst du nach?“, fragte Hawkmon. „Ich kann mir nicht erklären, warum er plötzlich Menschen umbringt.“ „Warum sollte er nicht? Würde doch zu ihm passen“, meinte Davis bitter, und Willis nickte grimmig. „Es passt eben nicht!“, beharrte Yolei. „Ich habe schon einmal gegen ihn gekämpft, in der Pyramide, wo wir das DigiArmorEi gefunden haben. Er hat seinen Digimon ausdrücklich den Befehl gegeben, mich und Matt zu verschonen. Er hat Matt sogar vor einem Sturz in die Tiefe gerettet! Und später, als seine Handlanger ihn aus Willis‘ Gewalt befreit hatten, haben sie auch nur unsere ArmorEier gefordert. Sie hätten uns dann ohne Probleme töten oder uns zumindest auch die DigiVices abnehmen können. Es war fast, als wollten sie, dass wir uns im Ernstfall noch verteidigen können. Nur eben nicht gegen ihn.“ „Jetzt, wo du es sagst …“, meinte Davis nachdenklich. „Mich hat er auch schon ein paar Mal kontaktiert. Einmal, um Sora und Tai zu helfen. Aber das kann auch nur eine Masche gewesen sein, damit er sie gefangennehmen kann!“ „Gefangennehmen, ja. Aber er nie jemanden getötet. Selbst Matt hat er nur eingesperrt, als er ihm in die Hände gefallen ist“, sagte Yolei. „Das beweist doch gar nichts“, meinte Willis hochmütig. „Wahrscheinlich foltert er nur gerne.“ „Matt hat nie erzählt, dass er gefoltert wurde“, gab Davis zu bedenken. „Aber dass das nichts heißen muss, der Meinung bin ich auch. Vielleicht hat er es sich einfach anders überlegt.“ „Ah!“, machte Yolei plötzlich und hob den Zeigefinger. „Dafür ist mir der Name jetzt wieder eingefallen, T.K.“ „Welcher Name?“, fragte er. „Ken. Du hast mich doch danach gefragt. Ich weiß wieder, wo ich ihn gehört habe. Ich glaube, dieses Wormmon hat den DigimonKaiser so genannt, damals in der Pyramide.“ Irgendetwas in T.K. zerbrach in tausend Scherben. „Was … hast du da gerade gesagt?“, brachte er mühsam über die Lippen. Sein ganzer Körper war erstarrt, wie schockgefrostet, und genauso kalt. „Ein Wormmon?“ Yolei nickte heftig. „Der DigimonKaiser hat versucht mich zu überreden, für ihn zu arbeiten. Dann hat ihn Wormmon mit Ken angesprochen … Ich glaube, es war sein Digimon-Partner.“ Verdammt, das ist doch nicht möglich! Das muss ein schlechter Scherz sein! T.K. konnte nicht mehr an sich halten, er packte Yolei an den Schultern und schüttelte sie. „Konnte das Wormmon digitieren? Wie klang seine Stimme? Hoch und brüchig?“ „He, nur die Ruhe“, beschwerte sie sich. „Was hast du denn auf einmal?“ „Sag schon!“ „Ich … ich kann mich nicht mehr erinnern! Warum ist das denn so wichtig?“ T.K.s Gedanken rasten. Der neue DigimonKaiser trug die Kleidung und das Cape des alten, das hatte er mittlerweile herausgefunden; allerdings hatte er keine krause Perücke auf, sondern glattes, langes Haar. Die vergoldete, getönte Brille verdeckte seine Augen. Das hatten die anderen erzählt, und es war T.K. nur logisch vorgekommen, dass jemand, der sich DigimonKaiser nannte, auch Kens Kleidung von damals nachahmte. Er hatte den neuen Kaiser noch nicht persönlich gesehen, aber es war doch wohl ausgeschossen, dass Ken in seine alte Rolle zurückgefallen war! Oder? Wenn er es sich recht überlegte, durfte ihn in dieser Welt gar nichts mehr wundern. Wenn es wirklich Ken war … T.K. überlief es heiß und kalt. „Als es gestorben ist, klang es schon piepsig“, meinte Willis gelangweilt. „Digitieren konnte es zu einem Stingmon. Was ist so wichtig daran?“ Das konnte alles kein Zufall sein. T.K. verfluchte sich dafür, entsprechende Fragen nicht früher gestellt zu haben. Zu sehr war er mit Karis Leid und seiner eigenen Verzweiflung beschäftigt gewesen. „Gibt es irgendwelche Bilder, wie er ohne Brille aussieht? Oder Stimmaufzeichnungen? Irgendetwas!“ „Yolei und ich haben ihn sogar schon mal in Unterwäsche gesehen. Leider haben wir ihn nicht geknipst, das wäre sicher lustig gewesen“, erklärte Willis grinsend. Er holte einen kleinen Laptop aus seinem Rucksack hervor. „Was seine Stimme angeht, ich glaube, in einem alten Propaganda-Video von ihm spricht er etwas.“ Er durchsuchte seinen Speicher, bis er das entsprechende Video fand. T.K. konnte kaum stillstehen, während sich das entmutigte Heer langsam in Bewegung setzte. Als der DigimonKaiser auf dem Bildschirm zu sehen war, war sein Haar eigentlich schon Beweis genug: Genau so hatte Ken bei ihrer letzten Begegnung in der Realen Welt ausgesehen. Als er zu seinen Untertanen sprach, löschte es T.K.s letzte Zweifel aus. Das war seine Stimme. Er war es. Ken war der neue DigimonKaiser, der die DigiWelt in Angst und Schrecken trieb, und er war rücksichtsloser, grausamer und erfolgreicher als je zuvor! „Verdammt!“, schrie er auf. „Verdammt, verdammt!“ Das darf nicht wahr sein! „Den greif ich mir!“ Er riss sein D-Terminal hervor. „DigiArmorEi der Hoffnung, erstrahle!“ „Was hast du vor?“, fragte Yolei blass, als Patamon zu Pegasusmon digitierte. „Ich werde ihn mir vorknöpfen“, knurrte T.K. „Dieser … dieser Verräter, den kauf ich mir!“ Wofür hatten sie all die Zeit gemeinsam gekämpft? Warum hatte Ken einfach wieder die Seiten gewechselt? Für so schwach hatte er ihn nicht gehalten! „T.K, bis du sicher?“, fragte Pegasusmons mit majestätischer Stimme, als er bereits auf seinen Rücken kletterte. „Allerdings. Ich lasse das nicht auf mir sitzen!“, sagte er entschlossen. „T.K, mach keine Dummheiten!“, rief Davis. „Sagt Kari nichts davon“, bat er, ohne auf seinen Freund zu hören. „Sagt ihr nur, ich muss etwas nachprüfen! Ich melde mich bei ihr!“ Er würde Kari nicht noch mehr Kummer bereiten. Er würde aus Ken herausprügeln, was er wissen wollte, ihm seine Erinnerungen von früher stattdessen wieder hineinprügeln und ihn an den Haaren in den Kreis der DigiRitter schleifen! Er erinnerte sich, dass Kari von Ken geträumt hatte – warum hatte sie nicht gesehen, dass er die DigiWelt zerstören wollte? Pegasusmon erhob sich in die Lüfte. Die Rufe seiner alten Freunde konnten T.K.s kochende Wut nicht besänftigen. Mit rauschenden Schwingen flogen sie auf die Wüste zu.     „Digimon hinter unseren Linien gesichtet“, meldete Hagurumon. „Ein Mensch ist auf seinem Rücken.“ „Bild“, verlangte Ken nur. Auf einem der Monitore tauchte Pegasusmon auf, mit T.K. auf dem Rücken. „So ist das also“, murmelte er. „Er kommt alleine? Die Sache mit den Klonen scheint ihm auf den Magen geschlagen zu haben.“ Aber das war nicht weiter überraschend. T.K. ertrug ziemlich viel, aber wenn ein Tropfen das Fass zum Überlaufen brachte, brach eine wahre Sturzflut daraus hervor. „Wirst du ihn gefangen nehmen?“, fragte Wormmon, das auf seinem Schoß saß. „Natürlich. Ein weniger, um den ich mir Sorgen machen muss.“ Er wollte schon einen entsprechenden Befehl geben, als er erkannte, dass T.K. stur an allen Schwarzen Türmen vorbeiflog. Er hatte es wohl eilig, die Festung zu finden. „Auch gut. In der Festung kann ich ihn besser einfangen. Benachrichtigt Arukenimon und bereitete ein Empfangskomitee vor.“     „Ist es dir auch aufgefallen, T.K?“, fragte Pegasusmon, als sie in Sichtweite des Festlands über das Meer flogen. Sie waren nicht Hals über Kopf aufgebrochen, um direkt die feindliche Armee herauszufordern. „Ja“, sagte er. „Wenn ich mir die Landschaft hier ansehe … Die Festung scheint genau dort zu liegen, wo sie damals abgestürzt ist.“ Vielleicht ein weiterer Beweis, dass der DigimonKaiser noch derselbe war … „Wie konnte ich nur so blind sein!“, stöhnte er. „Ich hätte es mir auch nicht träumen lassen“, meinte Pegasusmon. „Niemand von uns könnte sich wohl vorstellen, dass Ken wieder so etwas tun würde.“ Da ihnen die Gegend vage bekannt vorkam, konnten sie immerhin in etwa abschätzen, wo sie nach der Festung suchen mussten, selbst ohne Karte. Auch, wenn bisher so viele Jahre ins Land gezogen waren – es waren Erinnerungen wie die an die aufgehende Morgensonne, die Magnamons Panzer erstrahlen ließ, die sich einem auf ewig in die Erinnerung brannte. T.K. sah einige Digimon in der Wüste, doch sie reagierten nicht auf die Eindringlinge. Aufmerksam blickte er sich um. Vor ihnen tauchte die Festung auf wie ein riesiger Felsen inmitten des Dünenmeers. „Sie scheinen uns in der Festung zu erwarten“, stellte Pegasusmon fest. T.K. schnaubte. „Das sieht ihm ähnlich. Als er damals DigimonKaiser war, war er auch arrogant.“ Obwohl es hier angeblich überall verborgene Fernkampf-Digimon gab, gelangten sie unbehelligt zur Festung. Eine große Öffnung klaffte einladend auf einer Seite auf. Ein Hangar. Langsam wurde es wirklich lächerlich. T.K. wappnete sich für das Schlimmste. Der Hangar schluckte sie, und ölige Finsternis und der Gestank von Maschinen umgab sie. T.K. saß ab und ging an Pegasusmons Seite tiefer hinein. Dieser Raum war höher und breiter als jener, in dem sie einst gegen Kimeramon gekämpft hatten. Das Licht war ausgeschaltet, und einige der Kisten an den Wänden schienen geradezu Dunkelheit abzusondern: Sie waren kaum zu sehen; außerdem ließen sie T.K. frösteln. Aber vielleicht bildete er sich das Ganze auch nur ein. Dass es eine Falle war, war ihm klar. Dennoch zuckte er zusammen, als das große Tor sich lautstark schloss. Die gezahnten Flügel glitten langsam genug zu, dass er noch hätte fliehen können, aber deswegen war er schließlich nicht hier. Als sämtliches Licht aus der Wüste ausgesperrt war, flammten endlich die Deckenlampen auf. Ein gutes Dutzend Digimon trat aus der Deckung hinter Maschinen und Containern. Vor der Sichtluke, die den rötlichen Maschinenraum zeigte, stand jemand, den T.K. nur zu gut kannte. „Arukenimon“, sagte er düster. „Ich hätte mir gleich denken können, dass du die Türme in Digimon verwandelst.“ „Wie überaus scharfsinnig“, bemerkte die Spinnenfrau abfällig. „Ein kluges Bürschchen wie du weiß dann ja wohl auch sicher, wann es besser die Waffen strecken sollte.“ Diese Worte ließen ihn etwas hoffen. Sie hatten sein Eindringen nicht gleich als Kriegserklärung aufgefasst. „Ich händige euch mein DigiVice aus“, verkündete er. „Ich bin nicht zum Kämpfen hier.“ Jedenfalls nicht gegen euch. „Es gibt keinen Grund, euren Geiseln etwas anzutun.“ „Was? Ach so, die Geiseln. Dann wirf dein Spielzeug mal rüber.“ T.K. nahm das kleine Gerät, das ihm schon so oft das Leben gerettet hatte, in die Hand. „Unter einer Bedingung. Ich will den DigimonKaiser sprechen.“ „Keine Sorge. Dein Freund unterhält sich gern mit seinen Gefangenen. Also gib her.“ Er warf ihr das DigiVice zu, das sie gekonnt auffing. Pegasusmon digitierte zu Patamon zurück. „Sehr schön. Wenn ihr alle so brav wärt, wäre das alles viel einfacher. Sperrt ihn irgendwo ein, wo er niemanden stört und keine Dummheiten machen kann.“ Der Befehl galt den Digimon, die T.K. und Patamon umzingelt hatten. „Du hast gesagt, du bringst mich zum DigimonKaiser“, knurrte T.K. „Ach ja?“ Arukenimon schnaubte. „Keine Sorge, er weiß, dass wir dich festnehmen. Ich kann nur nicht versprechen, dass er in der Stimmung ist, mit dir zu reden. Jetzt schafft sie mir aus den Augen.“ Zwei Starmon traten heran und packten ihn an den Armen, ein weiteres hob Patamon hoch. Die beiden wussten, dass Gegenwehr sinnlos war. T.K. starrte Arukenimon nur hasserfüllt an.     Die Attacken rauschten durch das Blätterdach, und Keiko presste sich fester gegen den Boden. Der Geruch nach feuchter Erde und Wald drang ihr in die Nase. Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Stille. Die Partisane in den Baumwipfeln musste es erwischt haben. Dämliche Garbagemon! Es raschelte, dann trampelten Digimonfüße durch den Wald. Verdammt, die hatten sicher auch gute Nasen! Keiko sprang auf und rannte los. Die Schritte, die sie verfolgten, wurden schneller, traten härter auf … Dann sprang sie etwas an und ein Fußtritt warf sie zu Boden. Ächzend wälzte sie sich herum. Die Vogelvisage eines Kiwimons glotzte sie an. Weiter hinten kamen andere schnelle Digimon aus dem Dickicht, Peckmon und Kokatorimon. „Das Versteckspiel hat ein Ende“, sagte ein BlackAgumon, das der Anführer zu sein schien, wie Keiko verwundert feststellte. „Hast du geglaubt, du könntest dem DigimonKaiser auf Dauer entkommen? Hast du geglaubt, du könntest mir entkommen? Eine Schande, dass ich dich jagen musste.“ „Du musst ja ein sehr wichtiges Rookie-Digimon sein“, spottete Keiko, als die Kokatorimon sie mit ihren Schnäbeln auf die Beine zogen. „Allerdings. Ich führte unsere Truppen im Kampf um die Pyramide auf dem Stiefel in die Schlacht.“ „Du meinst die Schlacht, die ihr verloren habt“, gab Keiko spitz zurück. „Dennoch wurde ich dafür zum Ritter geschlagen. Und nun gewinnen wir den Krieg. Seht zu, dass sie keinen Unsinn anstellt. Wir brechen auf.“     „Ich möchte mich von ganzem Herzen für meine Rettung bedanken, Majestät“, sagte Katherine vornehm und machte einen Knicks. „Nicht der Rede wert. Erzähl mir lieber, wer du bist und woher du kommst.“ Es war eine schiere Ewigkeit her, seit er das Mädchen aus Soras Gewalt befreit hatte, dennoch hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen. Nach seiner Rückkehr sollte sie erst auf dem Rosenstein behandelt werden. Dann hatte Nadine ihn schon verraten und er war fortan immer beschäftigt gewesen: seine Flucht und Rückkehr mit Oikawa, die Wiederherstellung der Ordnung in seinem Reich, der schnelle Feldzug gegen Takashi, die Sache mit Tai und dann Sammys Auftauchen. Nun stand sie vor ihm wie das blühende Leben: Gnadenlos schön, lange, blonde Locken, helle, wache Augen und ein edles, rotes Kleid. Verlegen hatte sie die Hände gefaltet. „Dürfte ich … zuvor die Frage stellen, ob ihr zufällig wisst, wo sich mein Floramon aufhält, Herr?“ Sie sagt tatsächlich Herr zu mir. „Nein.“ Er sagte nicht, ob sie die Fragen nicht stellen durfte oder ob er es nicht wusste. Letzteres traf zu. Und er versprach auch nicht länger, alles daran zu setzen, es wiederzufinden. Chichos‘ Gotsumon hatte er auch noch nicht aufgetrieben. Armadillomon schien eine echte Ausnahme gewesen zu sein. Fast wehmütig dachte er an jenen Tag zurück, als er Cody und Chichos sein Versprechen gegeben hatte. Damals hatte er sich wirklich als Kaiser gefühlt, als einigermaßen guter Kaiser – auch wenn die Dinge nicht so gut gelaufen waren, wie sie jetzt liefen. Aber die DigiWelt war in den letzten Tagen um vieles dunkler geworden. Das Ende des Spiels nahte. „Wir sprechen über dich“, sagte er, um sich abzulenken, und schlug die Beine übereinander. Er saß auf seinem Halbthron im Gesuchsraum, Katherine musste stehen. „Dein Auftreten lässt mich vermuten, dass du adelig bist.“ Oder einfach nur eine reiche Französin. „Das stimmt nur zur Hälfte, Herr“, sagte sie. Entweder war es die Situation, die ihr unangenehm erschien, oder seine Präsenz. Allein die Dankbarkeit schien sie in diesem Raum zu halten. „Ich lebte lange Zeit bei einem Monzaemon, nördlich des Nebelwaldes. Es war ein Edelfreier, könnte man sagen. Es nannte sich Fürst seiner Ländereien und beschäftigte einige Digimon, doch selbst unterstand es keinem Lehnsherrn.“ Also hätte sich Ken früher oder später einfach zu seinem Lehnsherrn erhoben. Er bedeutete ihr, fortzufahren. „Eines Tages tauchten Geistdigimon auf unserem Gutshof auf. Monzaemon hatte befürchtet, dass das einst geschehen und uns die Schwarze Königin nicht länger in Ruhe lassen würde. Monzaemon nahm mich mit, um einen guten Eindruck zu machen, und bat um eine Audienz, damit die Sache beigelegt werden konnte.“ Katherine schauderte bei der Erinnerung. „Doch uns erwartete nur Grauen. Dieses schreckliche MetallPhantomon flüsterte der Königin ein, Monzaemon wäre ein Aufständischer. Sie ließ es hinrichten, und mich … Nun, ich …“ „Du durftest dir ihre Folterkammer von innen ansehen“, sagte Ken kühl. Die Geschichte langweilte ihn bereits. Es war genau die Art von Zwist, die Deemon mochte, und Ken hatte bereits zu viel davon gehört. Er hatte Mitleid mit Katherine gehabt, großes Mitleid, damals in der Höllenkammer, als sie fast gestorben war. Unter Einsatz seines Lebens und seiner Glaubwürdigkeit hatte er sie wiederbelebt und alles daran gesetzt, sie gesundzupflegen. Nun war sein Mitleid erschöpft. Sie lebte, und all die traurigen Erinnerungen würden entweder bald verschwinden, oder es ließ sich ohnehin nichts mehr daran rütteln. Katherine hatte demütig den Kopf gesenkt. „Was hast du nun vor?“, fragte er. „Ich …“ Warum nur zögerte sie ständig? „Ich hörte, die Schwarze Königin habe ihr Reich dem Nördlichen Königreich angeschlossen. Ich weiß nicht, ob ich in meine Heimat zurückkehren sollte, immerhin ist es Feindesland für Euch, Majestät …“ Gut mitgedacht. Außerdem ist es nicht deine Heimat. „Ich werde dich für eine Weile hier behalten“, sagte er. Als er ihren erschrockenen Blick sah, zwang er sich hinzuzufügen: „Ich werde dich weder als Geisel noch auf andere politische Art benutzen. Du bleibst hier, weil es der sicherste Ort für dich ist. Glaube mir. Sobald ich einige Dinge geregelt habe, kannst du frei deiner Wege gehen.“ Sie verneigte sich steif. Es war ihr anzusehen, dass ihr diese Aussicht nicht gefiel. Und Ken war vermutlich anzusehen, dass ihm das egal war. „Würdet Ihr wohl die Güte besitzen, nach Floramon Ausschau zu halten? Nur, falls Ihr ihm zufällig begegnen solltet …“ Ken seufzte. Wahrscheinlich war es das Beste, sie zu beruhigen, dann hatte er im Zweifelsfall weniger Ärger mit ihr. „Von mir aus. Ich werde die Floramon in meinem Heer nach dir befragen und auch ansonsten die Augen offenhalten.“ „Ich danke Euch. Darf ich mich empfehlen?“ „Du darfst.“     Langsam wurde es wieder Abend. Der Sonnenuntergang war blutig rot, wunderschön, als wollte er sie ermahnen, sich ihn genau anzusehen. Vielleicht würden sie nicht mehr viele Sonnenuntergänge erleben … Kari zwang sich, den Gedanken abzuschütteln. So schlimm würde es nicht werden. Wahrscheinlich würden sie sich nur zurückziehen müssen, weil die eroberten Gebiete bald nicht mehr sicher waren. Nur … was stand dann noch im Weg des DigimonKaisers? Es gab nur noch das vereinte Heer, das aus der Wüste zurückgekehrt war. Vielleicht war die Armee des DigimonKaisers auch geschwächter, als sie angenommen hatten, schließlich war Andromons Schlagkraft sicher nicht zu verachten gewesen. Fürsten wie Ebidramon und Wizardmon rekrutierten im Moment schon wieder neue Soldaten aus ihren Städten und Dörfern. Es gab noch genug Digimon, die kämpfen konnten – allerdings fand jeder Datensplitter, der in diesem Krieg gen Himmel flog, seinen Weg in die Stadt des Ewigen Anfangs, die der DigimonKaiser beherrschte. Und dass er selbst genügend Türme für Schwarzturmdigimon bauen konnte, hatte er bereits bewiesen. Wenn Kari nur daran dachte, schien sich die Welt um sie herum zu trüben. Yolei und Davis hatten von den Ereignissen an der Front erzählt. Dass der DigimonKaiser nun auch Menschen kontrollieren konnte und sie als Geiseln einsetzte. Dass er ein Mädchen namens Nadine getötet hatte … Kari war über sich selbst erstaunt, dass die Geschichte keine Tränen in ihr hatte aufsteigen lassen. Nadine war von der Saat der Finsternis besessen gewesen, aber nachdem Oikawa ihr die daraus entsprungene Blume genommen hatte, war sie wieder ein gewöhnliches Mädchen gewesen. Sie hatte geholfen, MaloMyotismon zu besiegen, und sie war ein DigiRitter geworden … Kari war dankbar, dass Tai den Rückzug angeordnet hatte, auch wenn sie wusste, dass er sich seither mit der Frage quälte, ob er das Richtige getan hatte. Ihr Bruder hatte auch keine Menschenleben gefährden wollen. Vielleicht waren sie tatsächlich Heuchler, die ein Digimonleben geringer schätzten. Vielleicht hatten sie die letzte Chance auf einen Sieg vertan, denn je länger sie warteten, desto aussichtsloser wurde die Lage. Kari wusste es nicht. Sie war den halben Tag durch die kalten Gänge von Fort Netwave gestromert und hatte gegrübelt. Sie hatte geglaubt, wenn sie nur in die DigiWelt kommen und Tai unterstützen könnte, würde alles gut werden. Wie naiv sie doch gewesen war. Nichts wurde gut: Die Kämpfe wurden nur noch heftiger, und die Dunkelheit wurde immer stärker. Kari spürte es. Sie meinte sogar die Kälte zu fühlen, die mit jedem Turm, den der Kaiser baute, zunahm. Am frühen Nachmittag hatte Tai dann verkündet, dass sie eine Krisensitzung in Little Edo abhalten würden. Sora, Kari und Klecks sollten auch dabei sein. Dass T.K. in der Wüste geblieben war, erfuhr sie erst, als die Megadramon sie vor Mimis Pagode absetzten, wo sie sich mit den anderen DigiRittern und den Heerführern trafen. Sie vertraute ihm, aber sie war nicht sicher, ob er selbst noch wusste, was er tat. Der Träger des Wappens der Hoffnung war ihr in letzter Zeit immer düsterer erschienen. Vielleicht stürzte er sich kopfüber ins Unglück – und wenn er es tat, dann für sie. Kari hatte ihren Streit nicht vergessen. Konnte es sein, dass T.K. sie immer noch liebte? Über ihre Trennung hinweg? Oder wurden diese Gefühle in der Schwärze des Meeres der Dunkelheit einfach stärker, wuchsen mit ihrer und seiner Verzweiflung? Sie selbst wusste nicht, was sie denken sollte. Sie machte sich große Sorgen um ihn, das wusste sie, aber sonst? Die Leere in ihr wuchs. Am Meer hatte sie wenigstens Visionen gehabt und in etwa erkennen können, wie es um die DigiWelt stand. Nun sah sie in ihren Träumen einfach nur schwarz. Der einzige Lichtblick an diesem Tag war, dass sie Joe wiedersah. Der Älteste ihrer Clique begrüßte sie höflich, schien sich aber nicht damit abfinden zu wollen, nun auf einer Seite in diesem Krieg zu stehen. Tai erklärte grob, dass Schwarzturmdigimon wohl kaum medizinische Hilfe bräuchten und Joe somit keine Wahl hätte. Auch von Cody hörte sie endlich etwas. Er war in der Gewalt der DigimonKaisers. Das war eine üble Nachricht. „Seltsam“, meinte Tai dazu. „Als sie mich in die Voxel-Stadt brachten, erhielten wir eine Videonachricht. Da sah es so aus, als würde dieser Cody für den DigimonKaiser arbeiten.“ „Sicher nicht freiwillig“, sagte Kari. „Wir müssen ihn befreien!“ „Und wie?“, schnaubte ihr Bruder. „In die Wüste laufen und ihn mit uns zerren?“ Darauf wusste sie keine Antwort. Sie glaubte nur fest daran, dass es eine Möglichkeit gab. Auch Matt kam pünktlich zur Besprechung. Unter seiner Kleidung lugten immer noch Unmengen an Mullbinden hervor, mit denen seine Wunden verbunden waren. Er kam auf Garurumon und saß auf dem Pagodenvorplatz ab, wo sich die anderen Menschen versammelt hatten. „Matt“, seufzte Mimi erleichtert, als sie ihn sah. Dann erstarb ihr Lächeln, und sie wich verlegen seinem Blick aus. Yolei nahm es gelassener. „Der Shogun ist also auch wieder im Land“, meinte sie grinsend. „Shogun für zwei Tage, wenn wir keine Lösung finden“, brummte Tai ungehalten. Kari wusste nicht, ob er damit zur Sitzung drängte oder ob irgendwie böses Blut zwischen den beiden stand. Matt trat auf Mimi zu und räusperte sich. Es wirkte, als hätte er sich lange auf diesen Moment vorbereitet. „Weißt du … Ich glaube, für den Shogun bin ich nicht gemacht. Wir wissen beide, dass wir nur politische Gründe hatten. Alles hat sich inzwischen geändert. Wenn wir uns nie begegnet wären, wäre der DigiWelt sicher viel Leid erspart geblieben.“ Sein Blick glitt zu Michael, der Mimi bisher nicht von der Seite gewichen war. „Von mir aus können wir unsere Ehe annullieren.“ Kari hatte erwartet, dass Mimi in Freudenstürme ausbrechen würde, aber sie zog eine Schnute. „Du willst dich also einfach so aus der Affäre ziehen und mir Little Edo ganz allein überlassen? Du wolltest unbedingt die Truppen meines Vormunds, jetzt trag auch die Verantwortung dafür!“ „Verantwortung? Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug gegen den DigimonKaiser kämpfen“, meinte Matt mit zusammengebissenen Zähnen. „Aber ein Land regieren kann und will ich nicht.“ „Es gibt da jemand anderen, der das Land gern wieder regieren würde“, erklärte Tai ungehalten. „Den DigimonKaiser. Könnten wir dann zur Sache kommen, um zu diskutieren, wie wir ihn davon abhalten, hier gleich wieder einzufallen?“ Die Stimmung war bedrückt wie nach der Sache mit Andromons Heer. Die Freude über ihren raschen Vorstoß war verpufft wie Rauch. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der DigimonKaiser derart unbesiegbar war. Yolei zeigte ebenfalls ihren Unmut. Sie erzählte Kari, dass sie den Gekomon versprochen hätte, Musyamon würde sich nicht an ihnen rächen. Dabei war Musyamon nur ein kleiner Fisch gewesen im Vergleich zu ihrem wahren Feind … Sie versammelten sich alle in der großen Halle, Mimi auf dem Kissen des Shoguns, Michael zu ihrer Rechten, Matt links. Die anderen nahmen im Schneidersitz in einem breiten Halbkreis auf dem Boden Platz: Kari und Klecks als Repräsentanten der Schattenwesen-Divermon, Sora als eine Königin, deren Volk vielleicht nie zu ihr zurückkehren würde, Yolei und Joe. Vom Nördlichen Königreich Tai, den sie nun Drachenkönig nannten, Davis, Frigimon, Agunimon, Angemon und ein KaiserLeomon – das zweite sammelte ebenfalls neue Kämpfer. Auch Izzy bekam Kari nun wieder persönlich zu Gesicht. Er hatte seine Computeranlagen aufgegeben und war mit Tentomon hergekommen. Neben ihm saß ToyAgumon. Kari spürte einen Stich im Herzen, als sie daran dachte, dass sie nun alle bis auf Cody, T.K. und Ken versammelt waren. Dann war da noch Willis, der sich in eine Ecke zurückgezogen hatte und aussah, als interessierte ihn das alles nicht. Kari hatte ihn als fröhlichen Jungen in Erinnerung – dieser Willis hier war bestenfalls herablassend. Er wirkte, als würde er sowieso nicht mit einem Sieg rechnen und stattdessen lieber allein umherziehen, um die Gebiete des DigimonKaisers zu terrorisieren. Vielleicht war das auch der einzige Weg, noch Widerstand zu leisten … „Dann fangen wir an“, sagte Tai und verschränkte die Arme. „Zuerst will ich Königin Mimi danken, dass wir die Besprechung hier abhalten können. Hat irgendjemand Vorschläge, was wir weiter tun sollen? Wir haben noch ungefähr einen, bestenfalls zwei Tage, bevor uns das Heer aus dem Westen erreicht. In der Kaiserwüste wartet ein zweites Heer, und wenn sie gleichzeitig angreifen, können wir uns schlecht verteidigen. Außerdem hat der DigimonKaiser Geiseln und kann Menschen kontrollieren. Irgendwelche Ideen?“ Er wandte sich erwartungsvoll Izzy zu. „Schwierig“, meinte der Rotschopf. Für Kari hörte es sich an, als wollte er aussichtslos sagen. „Ich habe etliche Nachrichten des DigimonKaisers aufgezeichnet. Er benützt wieder seine herkömmlichen Kommunikationswege, obwohl er weiß, dass wir sie abhören. Das bedeutet, dass er sich seiner Sache sehr sicher ist.“ Als er die mutlosen Blicke bemerkte, fügte er schnell hinzu: „Allerdings gewinnen wir so auch ein bisschen Einblick in seine Pläne. Wir wissen nicht, wie groß sein Heer im Westen ist, aber er scheint es für nicht schlagkräftig genug zu halten. Ich bin sicher, er vereint seine Streitkräfte, um uns mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Er rekrutiert nämlich in all den eroberten Gebieten wieder Digimon, von der Felsenklaue bis nach Chinatown. Sie haben Befehl, sich zwischen der Stiefelbucht und der Kaktuswüste zu versammeln. Wir haben etwas Zeit gewonnen, nur leider können wir nicht sagen, wann er losschlagen will. Sicherheitshalber sollten wir unsere Schätzung von zwei sicheren Tagen nicht revidieren.“ Tai nickte. „Danke. Wir könnten also versuchen, zur Felsenklaue zu marschieren und die Armee zu zerschlagen, noch während sie sich neu formiert?“ „Wenn wir das tun, wird er mit den Schwarzturmdigimon aus Nordosten kommen“, warf Michael ein. „Dann liegt das ganze Shogunat auf einem Silberteller.“ Tai zog finster die Augenbrauen zusammen. Willis seufzte nur. Kari spürte wieder, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Ihr wurde um eine Winzigkeit schwerer ums Herz, als unterdrückte etwas die Kraft, die ihr das Wappen des Lichtes verleihen sollte. In den letzten Tagen hatte sie dieses Gefühl regelmäßig verspürt, und mittlerweile war sie sich sicher, woher es kam: Ein neuer Schwarzer Turm war gebaut worden, irgendwo in der DigiWelt, und verbreitete die Macht der Dunkelheit. Und in dem Moment geschah es. Willis sprang erschrocken auf, als es in seiner Jackentasche zu leuchten begann. Auch die anderen stießen überraschte Rufe aus, als reihum ihre DigiVices reagierten. Die meisten sprangen ebenfalls auf die Füße. „W-wisst ihr, was das zu bedeuten hat?“, fragte Davis. Selbst Kari verneinte. Aber sie hoffte auf etwas Gutes. Der Schauder saß ihr noch im Genick. Willis hatte mittlerweile sein ArmorEi hervorgeholt. Es glühte ebenfalls, nicht weiß wie ihre DigiVices, sondern golden. Als er die Hand öffnete, schwebte es von alleine davon und in die Mitte des Raumes. Mit angehaltenem Atem verfolgten sie, wie es dort langsam zu Boden sank. Etwas wie in allen Regenbogenfarben schillernde Schneeflocken stob auf, dann sandte jedes der DigiVices einen Lichtstrahl auf das Ei. Es wurde so hell, dass sie sich geblendet abwenden mussten. Als die Lichtflut verebbt war, wagte Kari einen Blick. Über dem goldenen Ei war eine Gestalt aufgetaucht. Sie riss die Augen auf. Waren ihre Gebete erhört worden? „Es freut mich, so viele von euch hier versammelt zu wissen, DigiRitter“, sagte Gennai. Die anderen starrten den Mann in der weißen Kutte an. Davis fand als Erster die Sprache wieder. „Wer … wer seid Ihr? Und wen meint Ihr mit DigiRitter?“ Gennai sah ihn ernst an. „Die DigiRitter seid ihr. Menschen, dazu auserwählt, unsere Welt vor der Finsternis zu retten.“ Sein Blick glitt weiter zu Kari. „Ich bin Gennai, und ich bin hier, um euch zu helfen, den DigimonKaiser zu besiegen.“   Your wicked manners start to remind us of the man we used to know All the rain and fire starts before the show With thunder and lightning you fill your heart that wasn’t whole To the surface(Celesty – Lord of Mortals) Kapitel 65: Ein unerwarteter Verbündeter ---------------------------------------- Tag 150   „Sir Mummymon hat sich zurückgemeldet, Majestät“, meldeten die Hagurumon, als er auf der Brücke die jüngsten Berichte abrief. Das wurde auch Zeit. Immerhin, es hatte die Revolte überlebt. „Es soll Fürst Yukio Bericht erstatten. Ich will über die Vorkommnisse und seine künftige Einsatzfähigkeit Bescheid wissen.“ „Zu Befehl.“ „Ken, wann wirst du zu T.K. gehen?“, fragte Wormmon. „Vielleicht gar nicht.“ Er hatte keine Lust, mit ihm zu sprechen. Ken konnte nur stark sein, wenn er nicht daran dachte, was alles auf dem Spiel stand. Wenn alles vorbei war, konnte er es T.K. ja erzählen. Dann konnte der ihn nach Herzenslust hassen, ihn aber nicht mehr ins Wanken bringen. Andererseits hatte er vielleicht nützliche Informationen. Arukenimon hatte erzählt, dass T.K. ihm die Sache mit den Geiseln abgekauft hatte. Vielleicht konnte er ihn unter Druck setzen. Seufzend stand er auf. Wenn es schon sein musste, konnte er es auch gleich hinter sich bringen. Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, dass es vielleicht günstig wäre, alle anderen gesicherten Menschen auch in seine Nähe zu bringen. Vielleicht brauchte er bald neue Klone, und mit Arukenimon war die Festung der sicherste Ort für sie. „Benachrichtigt den Rosenstein. Alle Menschen sollen unverzüglich hierher in die Festung eskortiert werden. Nehmt den Seeweg, aber benutzt fliegende Digimon. Hiroshi und Takashi lasst dort.“ Es war zu gefährlich, sie auch zu transportieren. So, wie sie waren, waren sie vermutlich am sichersten. „Dasselbe gilt für Keiko – ich habe gehört, dass Sir BlackAgumon sie endlich geschnappt hat.“ Ken wartete die Befehlsbestätigung nicht ab, sondern verließ die Brücke, Wormmon im Schlepptau. Auf dem Weg zu T.K.s Zimmergefängnis lauerte ihm Oikawa auf. „Ich bin nicht in der Stimmung für Vorwürfe“, sagte Ken. Er wusste, dass die Atmosphäre in der Festung ziemlich abgekühlt war. Darauf gab er nichts mehr. „Wir müssen über die Saatkinder reden“, sagte Oikawa trotzdem und begleitete ihn. „Ich finde es nicht richtig, was du mit ihnen anstellst.“ „Du hast sie selbst einmal entführt und in einem Laster durch ein Gebiet voller bösartiger Digimon kutschiert“, sagte Ken. „Aber ich habe sie nicht in ihren Betten gefesselt und geknebelt! Was du tust, ist menschenverachtend, Ken.“ „Ich erhalte sie am Leben. Sie können mich zur Verantwortung ziehen, wenn der Spuk vorbei ist.“ Die Idee war ihm gekommen, als er Nadines Hinrichtung simuliert hatte. Was hielt Deemon davon ab, seinen Schützlingen zu erzählen, sie sollten Selbstmord begehen? Für sie war das nichts als ein Spiel, in dem sie nur noch Gefangene ihres Rivalen waren. Warum also nicht früher aussteigen und neu beginnen? Ken musste das um jeden Preis verhindern. Er hatte sichergestellt, dass Nadine, Hiroshi und Takashi in ihren jeweiligen Gefängnissen so fixiert wurden, dass sie sich nirgends den Kopf stoßen, sich Adern aufschneiden, sich die Zunge abbeißen oder sonst eine Dummheit tun konnten. Dass sie nun verschnürt waren wie Pakete, war unumgänglich. Selbst eine Gummizelle war ihm zu riskant gewesen. Er hatte Deemon mit diesen Gedanken konfrontiert, doch das Digimon schwieg. Ken legte es als Resignation aus. „Trotzdem. Sei doch …“ „Ich bin vernünftig.“ „Menschlich“, beendete Oikawa seinen Satz. „Menschlichkeit rettet sie nicht. Und ich bin der Kaiser, du nur ein Fürst. Ich übernehme die volle Verantwortung. Wer auch sonst?“, schnaubte er. „Ich will nichts mehr davon hören. Willst du dir T.K. auch ansehen?“ „Du redest, als wäre er ein seltenes Tier“, merkte Oikawa an, das Gesicht eine Maske. „In gewisser Weise hat Deemon ihn zu genau dem gemacht.“ „Dann geh alleine.“ Oikawa blieb abrupt stehen. „Du behandelst schon Menschen wie gestörte Schwerverbrecher. Ich will gar nicht wissen, wie du mit Tieren umgehst.“     „Wo kommt Ihr überhaupt so plötzlich her?“, wollte Matt wissen. „Was soll das bedeuten, wir sind auserwählt?“ Die Stimmung im Raum war angespannt, und er hatte keine Ahnung, was er von dem Fremden halten sollte, der urplötzlich mitten in ihrer Sitzung erschienen war. „Wir haben nur wenig Zeit, aber ich werde versuchen, euch Antworten zu geben“, sagte Gennai. „Ich bin hier, weil der Wille, der auf Harmonie in der DigiWelt hofft, das verlangt hat. Die Macht des DigimonKaisers wächst mit jeder Minute, mit jedem Turm, den er baut. Diese Türme bringen das Gleichgewicht der Welten durcheinander und drohen, die DigiWelt ins Dunkel zu ziehen.“ „Dann ist gar nicht der Kaiser selbst unser Feind?“, fragte Sora. „Sondern seine Türme?“ „So könnte man es sagen. Allerdings wird der DigimonKaiser nicht damit aufhören, Schwarze Türme zu bauen. Es ist eure Aufgabe, ihn ein für allemal daran zu hindern, und meine, euch dabei zu helfen.“ „Aber wie?“, fragte Tai, und es klang anklagend. „Sollen wir zulassen, dass er andere Menschen tötet?“ „Wir können ihn ja doch nicht besiegen“, meinte Mimi mutlos. „Es ist zwecklos.“ „Ich weiß, dass er Digimon versklaven und euch an der Digitation hindern kann“, sagte Gennai ruhig, „aber es gibt einen Weg, seine Macht zu brechen und bis ins Herz seines Reiches vorzustoßen.“ Die anderen sahen einander hoffnungsvoll an. Matt blieb skeptisch. Wille zur Harmonie? DigiRitter? Davon hatte er noch nie gehört. „Bevor Sie uns den Weg verraten, Gennai“, sagte Kari, die ebenfalls etwas zu beschäftigen schien, „erinnern Sie sich an uns?“ Der rätselhafte Mann sah sie aus unergründlichen Augen an. „Ich kenne euch“, sagte er. „Wir haben euch lange beobachtet.“ „Aber erinnern Sie sich daran, was vor sechs Jahren geschah? An die Türme in der Realen Welt?“ Gennai schwieg eine Weile, dann sagte er: „Es tut mir leid, wenn ich dir keine Auskunft geben kann. Das Gleichgewicht der DigiWelt ist bereits stark beeinträchtigt. Es ist gut möglich, dass infolgedessen einige Daten Schäden davongetragen haben.“ „Sie erinnern sich nicht“, meinte Kari mutlos. „Ihr solltet euch nicht auf das konzentrieren, was einmal war“, sagte Gennai. „Vor euch liegt ein harter Kampf, und ihr dürft keine Zeit verlieren. Ihr alle wurdet auserwählt, diese Welt zu beschützen – unter anderen. Von allen Menschen, die in der DigiWelt sind, ruht auf euren Schultern die größte Last. Ihr könntet von anderen DigiRittern Hilfe holen, doch dafür wird die Zeit nicht ausreichen. Die Dunkelheit wächst, und bald wird sie kein Lichtstrahl mehr durchdringen.“ „Auserwählt oder nicht“, murmelte Davis, „wenn er uns sagen kann, wie wir den DigimonKaiser besiegen können, bin ich meinetwegen auch ein Digimon.“ Nach und nach stimmten die anderen ihm zu. Nur Willis zweifelte noch, obwohl Gennai aus seinem Ei gekommen war. „Ich weiß nicht. Es könnte auch eine Falle sein. Mein DigiArmorEi war für kurze Zeit in der Gewalt des DigimonKaisers. Wenn er Digimon und Menschen verändern kann, warum dann nicht auch ArmorEier?“ Gennais Blick war nach wie vor ernst. „Ich kann euch keinen Beweis liefern, nur mein Wort. Ich hoffe, dass das ausreicht. Wir haben, wie gesagt, nur wenig Zeit. Laut einer alten Prophezeiung bringt der DigimonKaiser Dunkelheit und Tod über die DigiWelt. Es gibt nur einen Weg, seine Macht zu brechen.“ „Dann spannt uns nicht länger auf die Folter“, forderte Tai ihn auf. „Wie ihr wollt. Es gibt noch eine andere Inschrift, die euch den Weg zu jener Macht weisen wird, die ihr benötigt, um die DigiWelt zu retten. Sie befindet sich in dem Tempellabyrinth auf der File-Insel.“ „Und die ist in der Hand des DigimonKaisers.“ Willis rollte die Augen. „Was für ein Zufall.“ „Das mag stimmen, doch ich kenne den Inhalt der Inschrift“, sagte Gennai. „Moment.“ Izzy tippte auf seinem Laptop herum und war dann bereit, mitzuschreiben. Er nickte Gennai zu. Der rätselhafte Mann sammelte sich für einen Moment, dann sagte er: „Großer Künstler, der du Eisen zu Gold machst, wie sehr bist du zu bedauern. Nie schließt deine Liebsten du in die Arme, nie möge sich dir etwas entziehen. Wo andere ihre Freunde überdauern, lachst du nur bitter über ihr Leid, Leid, das du ersehnst. Die beiden Sieger zanken sich seit Jahrhunderten. Keiner noch errang den Preis. Vergraben, bis das Schicksal erwacht. Zu sehen in goldener Morgenstund ist der Anbeginn. Goldenes Licht die Dunkelheit verdrängt. Zwei der Schätze, drei der Suchenden. Mit Füßen treten, um zu befreien, ist es Magie? Magisch ist der Besiegten Mühe. Nicht umsonst ihr Opfer sei. Magisch ist des Feindes Macht. An allen Ecken regiert das Böse. Magisch sind stets Ende und Anfang.“ „Und was soll das heißen?“, platzte Tai in die nachfolgende Stille. „Das müsst ihr selbst herausfinden, fürchte ich“, meinte Gennai bedauernd. „Selbst ich kenne die Lösung nicht.“ Bedrücktes Schweigen machte sich breit. Und wie sollten sie das anstellen, wo doch die Zeit so sehr drängte wie noch nie? „Und der DigimonKaiser hat diese Inschrift auf seiner Insel?“, wiederholte Yolei. „Heißt das, er hat das Rätsel schon gelöst?“ „Das ist durchaus möglich“, sagte Gennai. „Allerdings weiß er nicht, dass die erste Zeile der Inschrift belanglos ist.“ „Die erste Zeile?“ „Deinen Blick sollst du zum Anfang des Himmels richten. Ich habe sie euch nicht genannt, doch sie wurde nur aufgeschrieben, um den zu verwirren, der dies nicht weiß. Das wird in der ersten Prophezeiung, jener über den DigimonKaiser, angedeutet.“ „Ein schwacher Trost“, murmelte Mimi. „Wir lösen dieses Rätsel!“, sagte Davis impulsiv. „Wir lösen es auf jeden Fall! Überlegt doch mal, wir haben so oder so keine Chance gegen den DigimonKaiser! Das Rätsel ist die beste Spur, die wir haben!“ „Und wir müssen nicht kämpfen“, sagte Sora. Die anderen ließen sich das durch den Kopf gehen. „Eine Frage noch, Gennai“, sagte Kari. „Der DigimonKaiser – wissen Sie, wer er ist?“ Wieder schwieg Gennai eine Weile. „Einst war er ein DigiRitter wie ihr. Doch er wurde von der Macht der Dunkelheit verführt.“ „Ist es denn derselbe wie beim letzten Mal? Was auch immer das in dieser Welt bedeuten mag“, fügte sie bitter hinzu. „Das ist er.“     „Ich wusste es!“, sagte Willis, aber Kari hörte es kaum. Sie hatte die ganze Zeit einen Verdacht gehegt. Von all ihren Freunden war nur Ken unauffindbar. Und wenn jeder der DigiRitter irgendeine Rolle in dieser falschen DigiWelt zu spielen hatte, als Könige und Anführer, warum dann nicht auch er? Und in welcher Rolle hatte er bereits brilliert, wenn nicht in der des wahnsinnigen Kaisers? Der letzte DigimonKaiser in dieser falschen Welt war vielleicht derselbe gewesen wie der in der richtigen. Immerhin sprach die Legende von einem goldenen Digimon, das ein Kimeramon besiegt hatte. Aber warum sollte Ken das alles tun? Das sprach gegen die Theorie. Ihre Freunde waren schließlich noch dieselben, auch wenn sie einander nicht kannten. War etwas passiert, das Ken auf seinen alten Pfad zurückgebracht hatte? Und war T.K. deswegen in der Wüste geblieben? Ihre Sorge um ihn wuchs. „Gut. Wir versuchen es“, beschloss in dem Moment Tai. „Izzy, ich zähle auf Euch.“ Der Computerfreak schien sich schon damit abgefunden zu haben, dass er den Hauptteil der Arbeit erledigen musste, denn er nickte nur abwesend, bereits in das Rätsel vertieft. „Ich wünsche euch alles Gute. Denkt daran, das Schicksal dieser Welt hängt von euch ab“, sagte Gennai. Seine Gestalt flackerte und löste sich auf. Zurück blieb nur Willis‘ ArmorEi. Nun mussten sie also auf Izzy hoffen. Kari erinnerte sich daran, dass er auch den Code geknackt hatte, der Agumon und Gabumon im Kampf gegen VenomMyotismon die Warp-Digitation ermöglicht hatte. Hoffentlich geschah etwas ähnlich Unglaubliches wie damals.     T.K. sprang von seinem Bett auf, als die Tür zu seinem Zimmer aufglitt. Endlich. Er hatte sich nicht geirrt. Er gehofft, dass er sich irrte, aber der junge Mann vor ihm war eindeutig Ken. Er erkannte ihn trotz seiner Brille. Selbst Wormmon war bei ihm. „Ken“, sagte er und hielt mühsam seinen Zorn im Zaum. „Sieh an“, meinte der wiedergeborene DigimonKaiser trocken. „Du kennst meinen Namen.“ „Ich wünschte, ich täte es nicht“, knurrte er. „Es macht keinen wirklichen Unterschied. Was ist deine Rolle in diesem Spiel?“ „Spiel?“, zischte T.K. und weitete ungläubig die Augen. „Darum geht es? Du denkst wieder, du kannst Digimon zum Spaß abschlachten?“ „Ich bin nicht wie die Saatkinder. Sag mir, woher du kommst, wo du geboren und aufgewachsen bist, wer deine Freunde sind und was sie vorhaben.“ Ken leierte es regelrecht herunter, als empfände er das Gespräch nur als lästig. Für T.K. war es dringend notwendig – und zum Kochen aufreibend. „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?“ Patamon landete auf seiner Schulter, wie als Warnung, Ken nicht gleich anzuspringen. „Spielst dich hier wieder als DigimonKaiser auf und tötest wahllos Menschen! Verdammt, selbst wenn du deine Erinnerungen verloren hast, der Ken, den ich kannte, hätte das nie getan! Oder haben wir nur geglaubt, dich zu kennen?“, fragte er und legte den Kopf schief. „War unsere Freundschaft nur gespielt?“ „Beantworte meine Fragen“, sagte Ken ruhig. „Den Teufel werd ich tun! Hast du vergessen, was die Macht der Dunkelheit alles angerichtet hat?“ Ken schmunzelte leicht. Am liebsten hätte T.K. ihm die Augen ausgekratzt und ihm Vernunft in den Schädel geprügelt. „Freundschaft“, murmelte er. „Angst, Hass, Vernichtung, Dunkelheit. Wie kannst du es wagen, die Welt mithilfe der Macht der Dunkelheit verändern zu wollen? Er klingt fast wie der T.K, den ich kenne. Gute Arbeit, Deemon, wirklich gute Arbeit.“ „Was faselst du da?“, rief T.K. fassungslos. „Deemon? Was soll das heißen?“ „Das heißt, dass es deine Figur sehr fein geformt hat“, sagte Ken. „Aber das war auch zu erwarten gewesen.“ „Figur? Hast du den Verstand verloren?“, platzte es aus ihm heraus. „Schön wär’s“, murmelte Ken. „Das würde einiges leichter machen.“ „Ken meint das Spiel, dass er gegen Deemon spielt“, sagte Wormmon. T.K. sah auf das grüne Digimon hinab. Es schien so sanft wie eh und je. „Deswegen tut er das alles ja.“ „Was?“ Er verstand immer noch nur Bahnhof. „Gib dir keine Mühe, Wormmon“, meinte Ken apathisch. „Er wird dir weder glauben, noch dich verstehen. Und wenn, dann tut er nur so. Er ist nur ein armer Mensch, der in der DigiWelt geboren wurde und nie etwas von irgendwelchen DigiRittern mitbekommen hat.“ „Warte“, murmelte T.K. verdattert. Er hatte das Gefühl, ein Film würde vor ihm auf einer Leinwand vorbeirauschen, ohne dass er die Szenen begriff. „Das heißt, du erinnerst dich an früher? An uns DigiRitter und an die Reale Welt?“ Ken lächelte, dann bracht er plötzlich in Gelächter aus und riss die Arme empor. „Richtig so“, rief er zur Zimmerdecke. „Heiz mir ordentlich ein, Deemon. Als würde ich nach Nadine nochmal darauf reinfallen!“ „Ich glaube, er meint es ernst“, gab Wormmon zu bedenken. „Weil wir das auch glauben sollen. An Nadine habe ich auch nie gezweifelt.“ Nadine. Das kleine Mädchen von früher. T.K. wusste nicht, wovon die beiden sprachen. Er hatte das Gefühl, dass es wichtig war, es zu verstehen, doch im Moment überwog seine Wut. „Stimmt es, dass du jetzt sogar schon Menschen kontrollierst? Und dass du Nadine hast Selbstmord begehen lassen?“ „Natürlich stimmt das“, gab Ken freimütig zu. „Ich bin unbesiegbar. Gib also lieber gleich auf.“ „Dann bist du wirklich nicht der Ken, den ich mal kannte“, murmelte T.K. düster, und nun schien Ken kurz zusammenzuzucken. „Gehen wir, Wormmon“, sagte er plötzlich. „Ich wusste, dass es Zeitverschwendung ist. Ein Moralapostel ist anstrengend genug.“ „Yukio meint es doch nur gut mit dir“, sagte Wormmon. „Und ich meine es gut mit der DigiWelt. Trotzdem wehrt sie sich.“ Ken wandte sich der offenen Tür zu. „Warte!“, rief T.K. „Wage es ja nicht, einfach wieder abzuhauen! Yukio? Etwa Yukio Oikawa? Was wird hier eigentlich gespielt?“ Nein, das war unmöglich. Er meinte sicher einen anderen Yukio. Ken seufzte. „Ich werde dir nicht glauben, dass du dich erinnerst“, legte er fest. „Also tu nicht so, als wüsstest du nicht, worum es geht.“ „Ich weiß es wirklich nicht! Alles, was ich weiß, ist, dass meine besten Freunde sich plötzlich an nichts mehr erinnern, und der eine, der sich erinnert, den Verstand verloren hat und wieder Gott in der DigiWelt spielt!“ T.K. stapfte auf ihn zu und wollte ihn an der Schulter herumreißen, doch Ken fegte seine Hand fort. „Fass mich nicht an!“, zischte er aufgebracht. „Ich sollte dich in Ketten legen wie die anderen, nur zur Sicherheit!“ „Ken, er ist dein Freund …“, wisperte Wormmon. „Dieser T.K. bestimmt nicht.“ „Und wenn er die Wahrheit sagst?“, murmelte das Digimon. „Immerhin ist er nie mit der Saat in Berührung gekommen. Deemon kann nicht mit ihm sprechen.“ Nun schien Ken tatsächlich zu zögern. T.K. wartete, bis er einen Entschluss gefasst hatte. Wenn es der falsche war, würde er nachhelfen! „Also schön“, meinte sein ehemaliger Freund gedehnt. „Sag mir alles, was du über mich weißt.“ „Du bedienst dich wieder der Macht der Dunkelheit“, sagte T.K. sofort. „Und du versklavst unschuldige Digimon.“ „Ja, ja.“ Ken winkte ungeduldig ab. „Was weißt du von früher? Vom ersten, wirklichen DigimonKaiser? Sei ruhig ausführlich. Ich will keine Legenden wiedergekäut haben.“ Einen Moment starrte T.K. ihn nur zornig an. Was sollte das alles? Diskutierte er hier tatsächlich mit einem Verrückten? Schließlich begann er zu erzählen. Zu verlieren hatte er schließlich nichts. „Du hast uns erzählt, dass es angefangen hat, als du Oikawas Mail erhalten hast. Nachdem dein Bruder gestorben war. Du bist in die DigiWelt gegangen, wo dich die Saat der Finsternis beeinflusst hat. Anschließend hast du dich DigimonKaiser genannt und die DigiWelt erobert, genau wie jetzt.“ „Nicht ganz. Was ist anders?“, fragte Ken plötzlich mit ernster Miene. T.K. überlegte einen Augenblick. „Die Teufelsspiralen“, fiel ihm dann ein. „Ich habe noch keine gesehen. Dafür die Schwarzturmdigimon von Arukenimon.“ Ken nickte. „Weiter.“ Wann waren sie bei einem Verhör angelangt? Eigentlich hatte T.K. Antworten von Ken erwartet! „Wir kamen in die DigiWelt, weil unsere Digimon um Hilfe riefen. Davis, Cody und Yolei erhielten D3-DigiVices; Karis und meines veränderten sich, wie deines.“ Er erzählte Ken all ihre Abenteuer so detailliert wie möglich und kam sich dabei von Minute zu Minute lächerlicher vor. Ken unterbrach ihn kein einziges Mal, er nickte nur immer wieder. Schließlich beschloss T.K, auch die jüngsten Ereignisse anzuschließen, nur um sie irgendjemandem zu erzählen. Er berichtete, wie plötzlich jeder ihrer Freunde aus der Realen Welt verschwunden war und Kari begonnen hatte, von der DigiWelt zu träumen. Schließlich erzählte er ihr sogar von ihrer Odyssee, die sie ans Meer der Dunkelheit und von dort nach endlos langer Zeit in die DigiWelt geführt hatte. Nur Karis Pakt mit den Schattenwesen verschwieg er. „Verstehe“, murmelte Ken. „Es klingt nachvollziehbar. Schade, dass ich dir nicht trauen kann.“ „Warum tust du ständig so, als wäre ich hier der Angeklagte?“, knurrte T.K. aufgebracht. „Du bist dran. Was ist deine Rechtfertigung?“ Ken zuckte mit den Schultern. „Vermutlich weißt du es ohnehin. Aber gut, ich sage es dir. Wir stecken hier alle in einem verrückten Spiel fest, das Deemon begonnen hat. Und seither wandle ich auf einem Grat zwischen Himmel und Hölle.“ Was T.K. im Anschluss erfuhr, ließ ihn mit einem Schlag alle Wut vergessen, obwohl er sich geschworen hatte, Ken niemals zu verzeihen, egal, was seine Ausrede sein mochte. Er vergaß fast zu atmen, als Ken von den ungeheuerlichen Bedingungen erzählte, die Deemon ihm gestellt hatte. Bei dem Gedanken, das Digimon in Gedanken zu hören, stellten sich T.K.s Nackenhaare auf. Ken erzählte gleichmütig, wie er erst von Nadine verraten und dann von Oikawa gerettet worden war, wie er Sammy getötet hatte, den Deemon als seine Schwachstelle vermutet hatte, und dass er nun knapp davorstand, sein Ziel zu erreichen. Seine Kaltblütigkeit irritierte T.K, doch er zweifelte keine Sekunde daran, dass er die Wahrheit sagte. Das war das fehlende Puzzle-Stück, der Grund, warum ein herzensguter Mensch wie Ken etwas Derartiges tun würde … Kari hätte Mitleid mit ihm gehabt, das wusste er. T.K. selbst gestattete es sich nicht. Es war der Ausgleich zur Wut über Kens Taten. „Und nun hat Deemon dich geschickt. Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst“, endete Ken. „Und deine Geschichte … Sie ergibt tatsächlich Sinn. Nichts anderes würde ich von ihm erwarten.“ „Deemon hat mich nicht geschickt.“ T.K. merkte, dass seine Stimme nicht mehr so fest klang wie zuvor. Er fühlte sich irgendwie blutleer. „Kari und ich hatten von alldem keine Ahnung … Verdammt, wir waren alle auf dem Holzweg!“ Er hieb gegen die Wand. „Schön, dass du so tust, als würdest du mir glauben“, brummte Ken. „Aber selbst wenn es stimmt, wirst du verstehen, dass ich dir nicht vertrauen kann.“ T.K. tigerte in seinem Zimmer auf und ab. „Ich muss zu Kari, unbedingt! Ich muss es ihr sagen … Wir werden die anderen überzeugen.“ „Das wirst du nicht tun. Und du könntest es auch nicht.“ „Verdammt, Ken! Was für einen Beweis, dass ich ich bin, brauchst du noch?“ „Keinen. Es ist sinnlos.“ T.K. biss die Zähne zusammen, trat mit weit ausgreifenden Schritten auf ihn zu, packte ihn am Kragen und stieß ihn gegen die Wand. „Sieh her!“, brüllte er ihn an und ballte die Faust. „Dich zu schlagen wäre das Einzige, was ich momentan tun kann! Du hast mein DigiVice! Willst du dich prügeln wie damals? Willst du das? Mir würde es große Freude bereiten, du verdammter Idiot, aber an deinen Plänen würde es nichts ändern!“ „Schlag mich ruhig, wenn dir danach ist“, murmelte Ken leer. „Verdient habe ich es.“ „Allerdings! Was sollte das mit Nadine? So weit hättest du nicht gehen müssen!“ Ken verzog die Lippen zu einem unglücklichen Lächeln. „Ist das alles, was du mir vorwerfen kannst?“ „Nein! Du kriegst deine Abreibung, wenn wir mit Deemon fertig sind!“ Ken seufzte tief. „Wie lange hab ich mir einen Verbündeten wie dich gewünscht“, murmelte er, kaum verständlich. „Aber gerade deswegen …“ Ein neuer Stoßseufzer. „Ich hasse das“, sagte er leise. „Es ist sicher ein großer Fehler.“ „Was?“ „… fingiert.“ T.K. hob die Augenbrauen. „Was hast du gesagt?“ Die Kraft schien in Kens Glieder zurückzukehren. Er packte T.K.s Hand und riss sie von seiner Kleidung fort. „Die Hinrichtung war fingiert. Die Menschen waren alles Klone, wie der falsche Tai. Nadine geht es gut, auch wenn ich sie gefesselt habe.“ T.K. atmete tief durch. Sagte er die Wahrheit? „Und Cody?“ „Cody ist der Einzige aus unserer Clique, den ich auf meine Seite ziehen konnte. Ausgerechnet Cody. Ihm geht es auch gut. Ich kann keine Menschen kontrollieren, verstehst du?“ Er setzte sich aufs Bett und raufte sich die Haare. „Hätte ich dir das jetzt nicht gesagt, hätte ich dich vielleicht zu Kari zurückschicken können. Aber ich bin nicht mehr so naiv.“ „Nein. Du bist ein riesengroßer Idiot“, sagte T.K. Ken schnaubte. „Wir sind deine Freunde, Ken! Vielleicht hat Deemon Nadine umgekrempelt, aber wir waren immer ehrlich zueinander, oder?“ „Ich wünschte, ich könnte mir sicher sein.“ „Ich bin mir auch nicht sicher. Du könntest doch auch gelogen haben, oder nicht?“ „Dann verbleiben wir besser so wie bisher.“ Ken lachte. Früher, als sie ihn richtig kennengelernt hatten, hatte er selten gelacht, aber wenn, dann losgelöst und befreit. Nun klang es lediglich bitter. Plötzlich tat er T.K. doch leid – aber er wusste, dass Ken kein Mitleid wollte. Er wollte nur Gewissheit. „Wenn unsere Freunde weiterkämpfen, passiert eine Katastrophe“, sagte T.K. überzeugt. „Er hat recht, Ken.“ Wormmon berührte seine Beine. „Denkst du, das weiß ich nicht?“ Resolut stand er auf. „Schön. Ich werde alles auf eine Karte setzen. Eine Karte, auf der Hoffnung steht, mit deinem Gesicht darauf!“ T.K. lächelte unsicher. „Das heißt?“ „Ich werde dich zurückschicken. Mit einem Airdramon. Du hast nichts dagegen, mir dein DigiVice hierzulassen?“ „Nein“, sagte er sofort. „Du wirst Kari alles erzählen. Ihr werdet die anderen dazu bringen, zu mir in die Festung zu kommen. Ohne zu digitieren. Wenn sie dir nicht glauben oder ihr mich verratet, bringt euch das auch nichts. Ich werde siegen. Ihr könnt euch auf den Kopf stellen, aber es ist zu spät, um mich noch aufzuhalten. Es geht nur darum, euch aus der Schusslinie zu schaffen. Einverstanden?“ „Einverstanden.“ T.K. lächelte schief. „Oder sagen wir, fast. Wir werden dir dabei helfen, die DigiWelt zu erobern. Das verspreche ich dir.“ Ken schnaubte. „Das ist naiv. Aber der Gedanke ist nett. Danke.“     Ein freies Airdramon würde T.K. und Patamon nach Little Edo bringen. So ein Digimon war zwar wie die Handschrift des DigimonKaisers, aber mit einer weißen Fahne würden sie sicher ihr Ziel erreichen. Noch zur gleichen Stunde verabschiedeten sie sich von Ken im selben Hangar, in dem er sie gefangen genommen hatte. Sogar Arukenimon war zugegen. Die wenigen Worte, die T.K. mit ihm wechselte, waren ein weiterer Beweis, dass er sich erinnerte. Es musste einfach so sein! Ken hatte sich selten etwas so sehr gewünscht. Deemon hatte nie mit Oikawa, Arukenimon und Mummymon gerechnet, und dauerhaft mit T.K. sprechen konnte es sicher auch nicht. Ken vereinbarte einen Kommunikationskanal mit T.K, den Izzy benutzen konnte, um Einzelheiten zu besprechen. Mit einem „Bis bald!“, winkte T.K. ihm zu, als sie davonflogen. Kaum waren sie in der Nacht verschwunden, piepste Kens Connector. Eine Nachricht von Spadamon? Er suchte sich ein stilles Plätzchen im Hangar und ließ die Verbindung aufbauen. So sehr T.K. ihm Zuversicht gegeben hatte, so sehr war die Nachricht ein Schlag in die Magengrube. „Ich habe mich in die Pagode eingeschlichen, wo Eure Freunde hinverschwunden sind“, flüsterte das Löwendigimon. „Ein seltsamer Mann ist aufgetaucht. Sie waren alle so fasziniert, sie haben mich nicht mal bemerkt, als ich durch den Türspalt gelugt habe.“ „Was für ein Mann?“ „Er sagte, sein Name wäre Gennai.“     Spadamon hatte dem Kaiser eben alles erzählt, was es erfahren hatte. Es hatte seine Sache gut gemacht, eindeutig. Es war wichtig gewesen, das hatte es an seiner Reaktion erkannt. Und doch hatte es diesmal das Risiko überschätzt. Es versteckte sich in einem Raum in der Pagode, oberhalb des Sitzungssaals. Plötzlich wurden unter ihm Stimmen laut. Schnell versuchte es aus dem Fenster zu fliehen – doch dieser Weg war ihm versperrt. Ein Ninjamon starrte es böse an. Spadamon schnellte zurück in den Raum, hinaus auf den Gang – und wurde von den Ninjamon gestellt, die die Treppe heraufkamen. Es war umzingelt. „Izzy hat einen feindlichen Funkspruch aufgefangen“, sagte der Junge Michael, der bei ihnen war. „Seltsamerweise ging es dabei um genau das Rätsel, das Gennai uns eben gestellt hat. Zum Glück konnte er den Sendeort lokalisieren.“ Der Ritter sah Spadamon so finster an, dass sich seine Mähne sträubte. „Jetzt wissen wir auch endlich, wer ihm heute Morgen den Angriffspunkt verraten hat. Nehmt es gefangen. Eure Königin wird sich sehr gerne seine Geschichte anhören.“ Als sie Spadamon in den Kerker warfen, wusste es nicht, ob es nicht doch zu viel für den neuen Kaiser geopfert hatte. Eindeutig, es war gefährlich, sich von jemandem derart faszinieren zu lassen.     Noch eine Stunde nach Spadamons Funkspruch war Ken so aufgewühlt, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er hatte sich mit Wormmon in sein Schlafquartier gesperrt und versuchte, die Nachricht zu verarbeiten. Gennai war erschienen. Derselbe Gennai, der immer erschien, wenn die DigiWelt in Gefahr war. Und er schmiedete einen Plan mit den DigiRittern, um Ken zu stürzen … Du wusstest davon, sagte er überzeugt in Gedanken. Diesmal meldete sich Deemon sogar. Seine Gestalt erschien vor Kens Drehsessel. „Du hast mich ein wenig in die Ecke gedrängt, Ken, das gebe ich zu“, sagte es. „Aber ich habe mir einen Ausweg offen gelassen. Gennai tritt in Aktion, sobald du eine bestimmte Anzahl von Gebieten erobert hast und einige der DigiRitter versammelt sind.“ Also hast du selbst ihn manipulieren können, meinte Ken mutlos. Deemon lachte leise. „Ich würde die Digimon-Götter manipulieren, wenn ich könnte. Sie schlafen, und das reicht mir. Aber Gennai und die DigiRitter … Welch Ironie. Und wer sonst wäre imstande, den DigimonKaiser aufzuhalten? Es wird sein wie damals, Ken. Die DigiRitter haben bisher noch jeden Gegner besiegt. Dass sie ihre Erinnerungen verloren haben, spielt keine Rolle.“ Also hast das Rätsel in Wahrheit du geschrieben. Um mich zu besiegen. „Du bist nun der Antagonist einer uralten Prophezeiung, Ken. Freue dich darüber.“ Der Anfangsvers war als Ablenkung gedacht? „Schade, dass du nicht dazugekommen bist, ihn zu entschlüsseln zu versuchen. Es hätte mich sehr amüsiert.“ Ken überlegte scharf. Wenn er speziell ihn ablenken sollte, war der Satz vielleicht etwas, mit dem niemand etwas anfangen konnte – nur er. Weil er sich an sein früheres Leben erinnerte, oder an die Reale Welt … Deinen Blick sollst du zum Anfang des Himmels richten … Allzu lange brauchte er nicht. Mit diesen Zusatzinformationen war es ihm sonnenklar. Himmel. Damit ist Sora gemeint. Aber hier in der DigiWelt gibt es kein Japanisch – nur eine allgemeine Sprache. Was Soras Name bedeutet, weiß nur jemand mit Erinnerungen an die Reale Welt. Und der Anfang des Himmels – das ist keine Metapher für irgendetwas Unendliches, sondern es zeigt auf den Ort, an dem Sora zu Beginn unseres Spiels war. Das wäre dann Masla. Er verstand. Hätte er Gelegenheit gehabt, mehr über das Rätsel nachzudenken, wäre er vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass es ihm helfen könnte, Deemon im Falle seines Versagens zu besiegen. Er hätte das Wissen aus der anderen Welt benutzt und es zu lösen versucht – und wäre gescheitert. Es ist für jemanden gemacht, der keine Ahnung von der Realen Welt hat. „Schlau, wenngleich die Einsicht zu spät kommt, Ken.“ Ken wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die Chancen standen mindestens eins zu zwei. Vielleicht schafften es die anderen nicht, das Rätsel zu lösen. Vielleicht würde es ihnen gar nicht allzu viel weiterhelfen. Und dann war da noch T.K. Ken betete, dass er seine Freunde umstimmen konnte, während er sich daran machte, den Rest des Textes zu entschlüsseln, um den anderen zuvorzukommen.     T.K. konnte es immer noch kaum glauben – und doch erklärte es so viel! All die Kämpfe, diese ganze Farce, das Gerede von dem grausamen Tyrannen, weil Deemon Ken keine Wahl gelassen hatte! Wie mochte das Leben sein, wenn jeder, dem man begegnete, glaubte, man wäre ein bösartiger Feind aus alten Zeiten? Der eisige Flugwind brauste durch seine Kleider. Das Airdramon flog, so schnell es konnte. „Was hältst du davon, Patamon?“, fragte er, während der Gebirgszug in Sicht kam, der die Wüste begrenzte. Sterne funkelten darüber. „Ich hätte nie gedacht, dass Deemon solche Macht erlangen könnte.“ Das kleine Digimon fröstelte vor ihm auf dem Rücken der geflügelten Schlange. „Und es wird noch mächtiger, wenn Ken nicht siegreich ist“, murmelte T.K. „Ich hätte ihm mehr vertrauen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass er so etwas Grausames nie grundlos tun würde. Man kann viele Dinge wohl von mehreren Seiten sehen. Vielleicht nicht alle, aber viele.“ Patamon antwortete nicht darauf. Die Bergkette tauchte unter ihnen auf, hoch und zerklüftet, dann war sie schon wieder verschwunden. Die Ausläufer der Ebene trafen sich mit den weiten Ländereien des Shogunats, als sie nach Südwesten flogen. In der Ferne glaubte T.K. noch die Schatten der Schwarzen Türme zu sehen. Der Türme, die er nun mit neuen Augen sah. Dass die DigiRitter einmal auf die Macht der Dunkelheit würden zurückgreifen müssen, um sie zu besiegen … Er hätte es nie für möglich gehalten. Airdramon schlängelte sich Wiesen und Weiden entlang und ließ die letzten hügeligen Ausläufer der Berge hinter sich. T.K. überlegte sich bereits, wie er Kari am besten von dem erzählte, was er in Erfahrung gebracht hatte, als Airdramon erzitterte, sich krümmte und ein heiseres Krächzen ausstieß. „Was ist los?“, fragte T.K. alarmiert. Dann bemerkte er die Pfeilschäfte, die in einer Seite des Schlangenkörpers des Digimons aufgetaucht waren, mindestens ein Dutzend. „Airdramon!“ Eine Mischung aus Fauchen und Keuchen verließ das Maul des Drachen, und sein Leib erzitterte, als sich neue Pfeile aus der Nacht in ihn bohrten. T.K. krallte schreiend seine Hände in die Rückenmähne, als das Digimon an Höhe verlor. Patamon hielt sich an seiner Kleidung fest und stierte in die Dunkelheit, bemüht, den Gegner ausfindig zu machen. Airdramon peitschte mit den Flügeln, als sie nahe am Boden waren; dennoch wurde es eine Bruchlandung. Grashalme und Erde wurden aufgewirbelt, und T.K. wurde von seinem Rücken geschleudert. Der Schlangenkörper raste weiter durch das kniehohe Gras der Steppe, überschlug sich und blieb röchelnd liegen. „Airdramon!“ T.K. sprang auf und wollte zu ihm laufen, als ein Schatten vor ihn schnellte. Erst im Nachhinein bemerkte er, dass er Hufgetrappel gehört hatte. „Pass auf, T.K!“ Patamon flog an seine Seite, doch ohne DigiVice konnte es nicht digitieren … Verdammt! Sie waren umzingelt. „Sieh mal einer an“, sagte eines der Digimon, die die Rüstungsteile von Flamedramon und Raidramon an einem Zentaurenkörper vereinten. Etliche hielten noch ihre Bögen in der Hand. T.K. erkannte auch Centarumon, die fast harmlos neben den schwer gepanzerten, furchterregenden Sagittarimon wirkten. „Da saß doch tatsächlich ein Mensch auf diesem Digimon. Wir haben aber auch ein Glück.“ Die anderen lachten wiehernd. „Wer seid ihr?“, fragte T.K. mit klopfendem Herzen. Ausgerechnet jetzt, wo er so eine wichtige Botschaft hatte … Falls es so etwas wie Schicksal gab, musste es ihn hassen. „Nehmt ihn mit. Menschen kann man immer gebrauchen. Spätestens, wenn in Masla wieder der Sklavenhandel auflebt“, hörte er ein Digimon direkt hinter sich grollen. T.K. spürte feuchten Atem im Nacken und erschauerte. Er hatte erwartet, dass es groß war, aber als er sich umdrehte, war es riesig. Es sah Tais MetallGreymon ähnlich, besaß aber etwas wie stählerne Flügel, und seinem Arm entwuchs eine gewaltige Pistole. „Keine Waren und keine Dollar. Aber das Airdramon macht’s nicht mehr lange“, berichtete ein Centarumon, das den bebenden Schlangenkörper untersucht hatte. Sowohl seine Stimme als auch seine Wortwahl unterschieden sich so sehr von dem Centarumon von der File-Insel, dass T.K. ganz unwohl zumute wurde. „Macht nichts. Lassen wir es liegen. Abmarsch!“ Die Stäbe, die aus dem Rücken des riesigen Digimons ragten, begannen zu glühen, und wie mit einem Düsenantrieb erhob es sich in die Lüfte. T.K. fand sich von starken Armen gepackt und auf einen Pferderücken gehoben. Die Centarumon und Sagittarimon bildeten einen Kreis um ihn, die Waffen schussbereit. Dann galoppierten sie los, nach Norden. In die falsche Richtung. T.K. hätte am liebsten losgeheult. Er blickte sich hilfesuchend um, aber in der ganzen, nächtlichen Weite der Ebene war keine rettende Hand in Sicht. Nur Kens Airdramon, das inmitten von plattgedrücktem Gras sein Leben aushauchte.   I gave you love – I give you hate and now it’s me against the world I gave you hope – I give you pain You better run (Primal Fear – King For A Day) Kapitel 66: Zwei der Schätze, drei der Suchenden ------------------------------------------------ Tag 150   Großer Künstler, der du Eisen zu Gold machst, wie sehr bist du zu bedauern. Nie schließt deine Liebsten du in die Arme, nie möge sich dir etwas entziehen. Wo andere ihre Freunde überdauern, lachst du nur bitter über ihr Leid, Leid, das du ersehnst. Die beiden Sieger zanken sich seit Jahrhunderten. Keiner noch errang den Preis. Vergraben, bis das Schicksal erwacht. Zu sehen in goldener Morgenstund ist der Anbeginn. Goldenes Licht die Dunkelheit verdrängt. Zwei der Schätze, drei der Suchenden. Mit Füßen treten, um zu befreien, ist es Magie? Magisch ist der Besiegten Mühe. Nicht umsonst ihr Opfer sei. Magisch ist des Feindes Macht. An allen Ecken regiert das Böse. Magisch sind stets Ende und Anfang.   „Vielleicht ist Alchemie damit gemeint“, sagte Kari. „Eisen zu Gold. Alchemie beschäftigt sich doch damit, Eisen zu Gold zu machen.“ „Also ist derjenige, der in dem Rätsel erwähnt wird, Alchimist? Aber wer soll das sein?“, fragte Tai. „In der DigiWelt ist es doch sicher nicht schwierig, Daten von Eisen so zu verändern, dass Gold daraus wird, oder?“, fragte Michael Izzy, der sich am Kinn kratzte. In der Pagode war heute Nacht nicht an Schlaf zu denken. Die Versammlungshalle war von Dutzenden Laternen erleuchtet. All diejenigen, die Gennai DigiRitter genannt hatte, ihre Partner und auch die Ritter des Nordreiches hatten sich um Izzys und Michaels Laptops versammelt und versuchten, die Prophezeiung zu verstehen. „Theoretisch wäre das vielleicht möglich“, meinte Izzy. „Aber es wäre ein eigener Prozess, herauszufinden, wie man die Daten ändern müsste. Eine eigene Kunst.“ „Ob wir jemanden finden sollen, dem es gelungen ist?“, fragte Davis, dann hellte sich seine Miene auf. „Was, wenn er unsere ArmorEier vergolden kann, damit unsere Digimon so mächtig werden wie das von Willis?“ „Du bist der Einzige, der noch ArmorEier hat“, erinnerte Tai ihn. „Allein mit einem stärkeren Digimon werden wir dem DigimonKaiser nicht begegnen können.“ „Ich weiß nicht, ob es wirklich nur um so etwas wie Alchemie geht“, überlegte Joe. „Die anderen Zeilen müssen doch auch dazu passen. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass nur am Anfang viel über diesen großen Künstler gesagt wird. Ab der sechsten Zeile geht es um etwas ganz anderes.“ „Stimmt“, sagte Sora. „Die ersten fünf klingen wie aus einem traurigen Gedicht. Aber der Rest ist komplett wirr. Vielleicht müssen wir erst den Anfang entschlüsseln, ehe wir die weiteren Zeilen verstehen.“ „Ich habe die komplette Datenbank der Konföderation untersucht“, sagte Izzy, „aber da ist nichts Brauchbares. Nichts direkt über Alchemie, aber wenn es um Gold geht, ist geradezu abartig viel vorhanden. Das alles durchzuackern dauert Stunden.“ „Dann fangen wir doch gleich damit an“, schlug Willis vor. „ToyAgumon und ich hängen uns auch in unser Netzwerk. Wir beide und Michael durchforsten die Datenbank, ihr versucht sonst was zu erreichen. Selbst eine Nadel im Heuhaufen findet man irgendwann, wenn das ganze Heu fort ist.“ Zwei neue Computerstationen wurden aufgebaut, dann ging das Rätselraten weiter. „Es ist traurig, da hast du recht, Sora“, meinte Kari nach einer Weile. „Vielleicht ist alles nur metaphorisch gemeint? Es könnte um jemanden gehen, der viel erreicht hat, aber der keine Liebe erfährt, wohin er auch geht, und der keine Freunde hat.“ „Der DigimonKaiser!“, platzte Yolei heraus. Die anderen sahen sie entgeistert an. „Was?“, verteidigte sie sich. „Er hat ja eine Menge … erreicht. Oder nicht? Und nichts kann sich ihm entziehen.“ „Das klingt schon eher nach einer Prophezeiung“, meinte Matt. „Aber sie gefällt mir nicht.“ „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es so einfach ist“, überlegte Izzy. „Um den DigimonKaiser zu besiegen, müssen wir ein Rätsel lösen, in dem es genau um ihn geht?“ „Wer weiß, möglich ist alles“, sagte Matt. „Aber der da hat doch Freunde.“ Davis deutete auf die vierte Zeile. „Oder wie interpretiert ihr das?“ „Ich glaube, das bedeutet eher das Gegenteil“, sagte Sora. „Wo andere ihre Freunde überdauern, lachst du nur bitter über ihr Leid. Leid, das du ersehnst. Er hätte vielleicht auch gerne die Möglichkeit, länger zu leben als seine Freunde. Es könnte natürlich auch sein, dass all seine Freunde immer recht bald sterben.“ „Da haben wir’s. Er hat keine Freunde und keine Liebsten, die er in seine Arme schließt. Obwohl sich ihm niemand entziehen kann“, beteiligte sich auch Sir Agunimon an ihren Überlegungen. „Ich nenne das einen Krieger, der für etwas anderes keinen Sinn hat.“ „Etwa so wie Ihr?“, feixte Davis und winkte ab, als ihn Agunimons strafender Blick traf. „Nur die Ruhe, ich wollte nur ein wenig die Stimmung heben.“ „Und was soll das aussagen?“, fragte Joe zweifelnd. „Selbst wenn es der DigimonKaiser ist oder jemand ohne Freunde, wie soll es dann weitergehen? Die beiden Sieger zanken sich seit Jahrhunderten. Das allein ergibt schon keinen Sinn. Wenn sie sich noch zanken, wie können sie dann schon Sieger sein?“ „Vielleicht meint die Prophezeiung das Kaiserreich und unser Nördliches Königreich“, meinte Sir Angemon. „Aber der Krieg dauert noch kein Jahrhundert. Ich wüsste auch von keinem Krieg, der so lange ausgefochten wurde.“ „Also, das ist nur eine Idee“, begann Davis, „aber was, wenn das Rätsel wie eine Schatzkarte zu verstehen ist? Wir werden ja wohl irgendetwas finden sollen, das uns gegen den DigimonKaiser hilft. Dann zeigt uns der Anfang vielleicht den Ort, an dem wir beginnen müssen, und diese losen Zeilen danach geben uns Richtungshinweise.“ Auf diese Überlegung folgte erst einmal Stille. „Das könnte sein“, sagte Izzy. „Dann zeigt es auf die Festung des DigimonKaisers“, meinte Tai überzeugt. „Aber dann würden wir doch nie an dieses Hilfsmittel rankommen. Das ergibt doch ebenfalls keinen Sinn“, warf Joe ein und zuckte errötend zusammen, als ihm klar wurde, wem er da eben widersprochen hatte. Das Köpfe-Zusammenstecken über dem Rätsel hatte die Standesunterschiede zwischen ihnen aufgeweicht, erkannte Sora. Sie konnte nicht sagen, dass es sie störte. „Und wenn es teils metaphorisch, teils sinngemäß ist?“, stöhnte Mimi, die bisher noch gar nichts gesagt hatte. „Wer ist dieser Künstler, der Eisen zu Gold macht und der keine Freunde hat, die er überdauern kann? So ein dämliches Rätsel.“ „Ah!“, machte Kari plötzlich, und Mimi stierte sie sofort an. „Was ist? Ist dir etwas aufgefallen?“ „Schon, aber … Das kann es unmöglich sein.“ „Das wissen wir nicht. Heraus damit“, verlangte Agunimon. Sie schluckte. „Ich … ich habe an die Hand von Midas gedacht. Das ist eine Legende aus meiner … von da, wo ich herkomme. Midas war ein König oder so etwas, und alles, was er berührte, wurde zu Gold. Aber wer so eine Fähigkeit hat, ist dazu verdammt, einsam zu sein. Wenn er einen geliebten Menschen berührt, wird dieser zu einer Goldstatue.“ Die Augen aller blickten wieder auf den Text. „Das würde passen“, sagte Izzy schließlich. „Er kann Eisen zu Gold machen, aber schließt seine Liebsten nie in den Arm. Wenn er es täte, würden sie auch zu Gold – niemand kann sich ihm also entziehen. Und andere überdauern ihre Freunde und leiden darunter, aber dieser König überdauert seine Freunde nicht, weil sie nämlich als Goldstatuen auf ewig vor ihm stehen!“ „Das ist genial, Kari!“, rief Yolei und schenkte ihr einen bewundernden Blick. „Nein, ist es nicht“, entgegnete sie. „Ich bin mir sicher, in dieser Welt hat nie jemand von Midas gehört. Das Rätsel ist aber für jemanden aus der DigiWelt gemacht worden. Es muss eine andere Lösung geben.“ „Nein, ich glaube, es stimmt“, sagte Michael, der bisher an seinem Computer gearbeitet hatte. „Hier. Ich habe nach einer Fähigkeit gesucht, die bei der Berührung alles in Gold verwandelt. Es gibt in diesem Teil der DigiWelt auch so eine Legende. Und zwar über ein Kinkakumon.“ „Kinka…? Nie gehört“, meinte Davis und schürzte die Lippen. „Es ist ein sehr alter Mythos. Aber dieses Digimon konnte angeblich auch alles zu Gold verwandeln, was es berührte. Deswegen verhungerte es.“ „Was für eine praktische Gabe“, bemerkte Matt sarkastisch. „Okay … Und wie hilft uns das jetzt weiter?“, fragte Willis. „Sollen wir das Grab dieses ominösen Digimons suchen und seine Hand klauen, weil die mysteriöserweise überdauert hat? Nichts für ungut, aber das ist Blödsinn.“ „Eine Hand …“, murmelte Yolei und tippte mit dem Finger auf den Boden. „Eine Hand. Ihr habt doch gemeint, es ist eine Ortsbeschreibung. Als wir mit Whamon in See gestochen sind, hat uns Kabukimon zu einer Insel gebracht. Es hat gemeint, kaum jemand wüsste, dass sie existiert. Und die Insel war geformt wie eine große Hand!“ „Du meinst, was wir suchen, ist auf dieser Insel?“, fragte Michael und riss die Augen auf. Die anderen gerieten in helle Aufregung und bestürmten das Mädchen mit Fragen. „Wir wissen doch gar nicht, ob das stimmt“, dämpfte Matt die Euphorie. „Aber wir könnten jemanden dorthin schicken, und der Rest macht sich weiter Gedanken“, sagte Tai. „Es ist die einzige Spur.“ „Das sind mir hier eindeutig zu viele einzige Spuren“, brummte Willis missmutig. „Wisst ihr denn noch, wo die Insel liegt?“, fragte Mimi hoffnungsvoll. „Ich habe nämlich keine Ahnung.“ „Als Whamon uns zurückgebracht hat, habe ich unsere Reiseroute mitverfolgt“, berichtete Michael. „Ich habe sie sogar auf einer Karte eingezeichnet.“ „Michael, du bist ein Schatz!“, rief Mimi seufzend aus und warf sich ihm um den Hals. „Hey, geht doch lieber in das königliche Gemach“, rief Davis grinsend und die anderen lachten. Auch Sora gestattete sich ein Lächeln. Sie sollten gemeinsam die Welt retten, und sie waren schon dabei, sich zusammenzuschweißen. Eine Weile überlegten sie noch, was der Rest des Rätsels bedeuten könnte, aber es schien sich ihnen tatsächlich erst zu offenbaren, wenn sie eine weitere Spur hatten. Tai beschloss, dass sie sofort losfliegen würden. Für eine schnelle Reise stellte er sogar seine Drachenstaffel zur Verfügung. Er selbst ließ es sich nicht nehmen mitzufliegen, außerdem würden Izzy, Sora, Davis und Matt mitkommen und Yolei, weil sie die zündende Idee gehabt hatte. Laut Michaels Karte lag die Hand-Insel irgendwo im Meer vor dem Mori-Mori-Wald. Die Reise würde lange dauern, aber sie wären zurück, ehe das Heer des DigimonKaisers ihre Grenze angriff. „Lasst euch trotzdem nicht zu lange Zeit“, warnte Michael überflüssigerweise. „Der DigimonKaiser weiß auch davon.“ Das trübte die allgemeine Laune wieder. Sie hatten nicht vergessen, dass die Ninjamon einen Spion geschnappt hatten – ein harmlos, aber verschlagen aussehendes Digimon namens Spadamon. Sie hatten es vorerst zu Musyamon gesperrt, das freimütig erklärt hatte, dass es dieses Digimon gewesen war, das ihm die Pläne zur Konspiration übermittelt hatte. Es musste ein enger Vertrauter des DigimonKaisers sein. Sora hoffte, dass es in ihrer Abwesenheit nicht gefoltert wurde – der Hass auf den DigimonKaiser wuchs mit jedem Turm, den er baute, und sie traute den Digimon des Nordens mittlerweile sehr viel zu. Die Nacht hatte Little Edo noch in ihren kalten Klauen, als die Megadramon-Drachenstaffel aufbrach, auf ihren Rücken sechs DigiRitter und ihre Digimon.     Tag 151   Die Marodeure waren flott unterwegs. Dennoch war die Dämmerung nicht mehr fern, als sie einen T.K. wohlbekannten Ort erreichten. Er war einige Male von den Anstrengungen dieses chaotischen Tages eingenickt, und jedes Mal hatte ihn ein Sagittarimon mit seinem Bogen angestoßen und ihn lachend als Schlafmütze bezeichnet. Das Giga-Haus war noch so groß wie in seiner Erinnerung. Selbst die Zentauren brauchten ewig, um die Eingangstür zu erreichen, in der ein breiter Spalt klaffte. Das Anführer-Digimon – wenn T.K. die Gespräche der anderen richtig verstanden hatte, hieß es RiseGreymon – wartete dahinter im Flur. Sie brachten T.K. in die Küche, an die er sich noch gut erinnerte. „Willkommen in unserem bescheidenen Reich“, begrüßte ihn RiseGreymon spöttisch. „Ich hoffe, du frisst uns nicht die Haare vom Kopf. Wir haben selten lebende Beute.“ Sie sperrten ihn und Patamon in einen Küchenschrank. T.K. wehrte sich heftig dagegen. „Bitte, wir sind Gesandte zwischen den Reichen. Es ist wichtig, dass wir so schnell wie möglich nach Little Edo kommen! Man wird euch reich belohnen, wenn ihr uns gehen lasst! Das Schicksal der DigiWelt steht auf dem Spiel!“ „Ja, sicher“, sagte das Sagittarimon, das ihm den letzten Schubs gab. „Schrei weiter, und du bringst dich um deine nächste Mahlzeit. Also Ruhe, und versuch erst gar nicht, zu fliehen.“ Dann schlug die Schranktür zu, und die Dunkelheit war so absolut wie jene, die vielleicht bald über die ganze DigiWelt kommen würde.     Izzy hatte ihren Flug maskiert, wie er sagte. Er hackte wieder einmal das Überwachungsnetz des DigimonKaisers und verwischte all ihre Spuren, sodass ihr Feind nicht erfuhr, wohin sie unterwegs waren. Die Insel tauchte im Morgengrauen am Horizont auf. Davis war schon ganz mulmig zumute, so aufgeregt war er. Sie würden vielleicht bald einen unglaublichen Schatz heben! Er hätte gern den anderen seine Gedanken mitgeteilt, aber bei der Fluggeschwindigkeit verstand ihn selbst Veemon, das bei ihm auf dem Megadramon war, kaum. Yolei hatte die Wahrheit gesagt: Die Insel sah tatsächlich aus wie eine große Hand. Von oben konnte man das vermutlich noch viel besser erkennen als vom Meer aus. Außerdem konnte man das ganze Eiland überblicken, sodass es ihnen schon auffiel, als die Megadramon ihre erste Erkundungsrunde flogen: Auf ihm hatte sich einst etwas wie eine Stadt befunden. Graue, verblichene Ruinen durchzogen sein Herz, abseits der Wälder und paradiesischen Seen, die still und feucht im Morgendunst dalagen. Von den meisten Gebäuden erkannte man nur noch die Grundrisse, so sehr hatte der Zahn der Zeit an ihnen genagt. Nur zwei quadratische Wachtürme waren noch einigermaßen intakt. „Da unten!“, schrie Yolei plötzlich, laut genug, dass man sie in ihrem verlangsamten Flug verstehen konnte. „Die Sieger! Das sind die Sieger!“ Verwirrt folgte Davis ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Meinte sie die Türme? Auf Tais Zeichen hin landeten die Megadramon. „Wie kommst du darauf, dass diese Türme gemeint sind?“, fragte Davis Yolei, nachdem sie abgestiegen waren und sich die Beine vertraten. Für ihn waren sie nur plumpe Steingiganten, standhaft, ja, aber hässlich und unnütz. „Überleg doch mal.“ Sie hob besserwisserisch den Finger. „Die ganze Stadt besteht nur noch aus Ruinen. Nur die Türme stehen noch. Das heißt, sie sind die Sieger, wenn es um Ausdauer geht. Und sie zanken sich seitdem darum, wer wohl als Erstes zusammenbricht. Bisher hat aber noch keiner gewonnen.“ „Du bist dir nur so sicher, weil du mit deinem letzten Tipp richtig gelegen hast“, meinte Davis pikiert, weil ihm das nicht aufgefallen war. „Gleich werden wir es wissen“, sagte Izzy. „In goldener Morgenstund erscheint uns der Anbeginn. Die Sonne geht bald auf.“ Sie verharrten die letzten Minuten quer über den Platz zwischen den Türmen verteilt, um kein Detail zu übersehen. Dann schob sich die Sonnenscheibe im Osten über den Horizont, blinzelte über die ersten Bäume. „Haben wir ein Glück, dass es nicht bewölkt ist“, scherzte Davis. „Seht mal!“, rief Piyomon und flatterte aufgeregt in die Höhe. Die Sonne verlor sich in den Ruinen, nur an einer Stelle stach sie gut sichtbar auf den Platz. Ein kunstvoll gearbeitetes Loch in den Mauern, das in den Trümmern seltsam fehl am Platz wirkte, ließ das Licht einen bestimmte Fleck am Boden erhellen. Die DigiRitter versammelten sich darum. Es war eine Platte aus einem seltsam technisch anmutenden Material, irgendetwas zwischen Chrom, Stein und Metall. „Das ist also der Anbeginn“, sagte Gabumon fast ehrfürchtig, obwohl niemand von ihnen wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie untersuchten den von Moos überwachsenen Boden genauer. Das seltsame, graue Material überzog den gesamten Platz als eine einzige, gegossene Schicht, wie Asphalt. Nur an der beleuchteten Stelle war eine rautenförmige Platte eingelassen. Als sie das Moos entfernten, stießen sie auf weitere solcher Platten: Sie bildeten einen Kreis von etwa zwanzig Schritten Durchmesser, der auf zwei Seiten von den Türmen begrenzt wurde. „Und jetzt?“, stellte Davis irgendwann die entmutigende Frage. „Das ist doch kein Problem“, meinte Agumon großspurig. „Wenn das, was wir suchen, da drunter ist, digitiere ich einfach und reiße den Boden auf!“ Es machte schon eine entsprechende Pose. „Warte, das ist keine gute Idee“, sagte Matt. „Was immer dort versteckt ist, wir wissen nicht, wie fragil es ist. Es könnte kaputtgehen, wenn wir Gewalt einsetzen.“ „Hast du einen besseren Plan?“, fragte Tai herausfordernd. „Wir sollten mit dem Rätsel weitermachen. Das ist der beste Weg.“ „Augenblick“, meldete sich Tentomon zu Wort, das mit Izzy wieder den Text auf seinem Laptop untersuchte. „Kann es sein, dass wir einen Fehler gemacht haben? Hier steht, dass goldenes Licht die Dunkelheit verdrängt. Hätten wir vielleicht Willis und Rapidmon mitbringen sollen, was meint ihr?“ „Er wollte doch nicht“, meinte Tai. „Glaubt ihr, die Rettung der DigiWelt würde allein von ihm abhängen?“ „Das glaube ich ehrlich gesagt auch nicht.“ Izzy hatte die Arme verschränkt und nahm nicht den Blick vom Bildschirm. „Vielleicht hätte er uns helfen können, wenn wir nicht zufällig bei Sonnenaufgang hier gewesen wären. Schließlich ist das Sonnenlicht auch golden, zumindest in der Inschrift.“ „Dann lies mal weiter“, forderte ihn Tai auf. Er sprach ihn schon ganz kameradschaftlich an, fiel Davis auf. „Zwei der Schätze, drei der Suchenden. Vermutlich muss man mindestens zu dritt sein. Ich tippe auf einen verborgenen Mechanismus, und er hat sicher etwas mit diesem seltsamen Boden zu tun. Mit Füßen treten, um zu befreien, ist es Magie?“ „Damit ist doch eindeutig gemeint, dass wir auf diese Platten steigen sollen“, sagte Matt. „Es müssen irgendwelche Druckpunkte sein, und wenn wir die richtigen erwischen, befreien wir unsere beiden Schätze.“ „Wir haben es fast gelöst“, meinte Sora lächelnd. „Klasse – dann müssen wir ja nur alle möglichen Kombinationen durchprobieren!“ Davis krempelte die Ärmel hoch und wollte schon beginnen, aber Tai hielt ihn zurück. „Wir wissen aber nicht, ob nicht etwas Furchtbares passiert, wenn wir einen Fehler machen. Wir könnten eine Falle auslösen. Besser, wir denken das Rätsel bis zuende durch.“ „Du hast recht“, seufzte Davis. „Ähm, wenn ihr diese Platten anseht, woran denkt ihr da?“, fragte Sora plötzlich. Die anderen sahen sich nochmal um. „Ein Kreis?“, schlug Davis geistlos vor. „Also ich denke an eine Uhr“, sagte die ehemalige Schwarze Königin. „Es sind zwölf Platten. Und wo der Sonnenstrahl sie berührt hat, da ist der Anbeginn. Mit anderen Worten, zwölf oder null Uhr.“ „Du hast recht!“, rief Yolei. Davis wurde langsam neidisch – er hatte noch keine sinnvolle Theorie gehabt. Er nahm sich vor, sich doppelt so sehr anzustrengen. „Das heißt, jede Platte steht für eine Uhrzeit“, fasste Matt zusammen. „Und wo die Hinweise im Rätsel versteckt sind, ist auch recht eindeutig.“ Tai nickte. Ausnahmsweise schienen sie den gleichen Gedanken zu haben. „Es sind diese magischen Dinge. Magisch ist der Besiegten Mühe, nicht umsonst ihr Opfer sei. Magisch ist des Feindes Macht, an allen Ecken regiert das Böse. Magisch sind stets Ende und Anfang.“ „Fangen wir mit dem Ersten an. Wer könnten diese Besiegten sein?“, fragte Izzy in die Runde. „Also wenn die Türme die Sieger sind, dann sind wohl all die Gebäuderuinen die Besiegten, oder?“, sagte Veemon. Alle starrten es an. „Was … habt ihr?“, fragte es unsicher. „Veemon“, flüsterte Davis scharf. „Das nächste Mal erzählst du es mir vorher, wenn du einen guten Einfall hast!“ „Was denn? Vielleicht stimmt es ja nicht mal.“ „Doch, ich glaube, es stimmt.“ Yolei stand nahe am unteren Ende des Kreises, oder bei fünf Uhr, wenn man Soras Theorie glaubte. „Hier, das Gebäudefundament ragt ganz nahe an diese Platte heran.“ Die anderen traten an ihre Seite. Tatsächlich sah es aus, als würden die grauen Linien, die von dem Bauwerk übriggeblieben waren, auf diese eine Druckplatte zeigen. „Gut gemacht“, sagte Tai grinsend. „Sie gehört dir, stell dich darauf.“ „Bis du sicher, Tai?“, fragte Izzy zaghaft. „Wenn es falsch ist …“ „Wir müssen irgendwann anfangen, etwas zu wagen. Wenn ihr wollt, stelle ich mich selbst ...“ Er schluckte den Rest des Satzes hinunter, als Yolei mit einem dramatischen Schritt auf die Platte trat. Nichts geschah, sie sank auch nicht ein oder Ähnliches. Izzy stieß erleichtert die Luft aus. „Also gut, zum Nächsten. Des Feindes Macht. Worauf könnte das anspielen?“ „Den DigimonKaiser“, sagte Matt. „Diesmal bestimmt. Die Prophezeiung wurde geschrieben, um ihn zu besiegen. Das heißt, sie sieht auch ihn als Feind voraus.“ „Und wo auf der Uhr ist dann der zweite Punkt?“, fragte Yolei. „Ist es sein Alter? Da gehen uns die Platten aus, fürchte ich.“ Nun waren sie in eine Sackgasse geraten. Die Sonne wanderte weiter, und Davis hoffte, dass sie nicht die Null-Uhr-Platte beleuchten musste, damit der Mechanismus funktionierte. Immerhin, sie waren definitiv auf der richtigen Spur! Das gab ihnen Durchhaltevermögen. Irgendwann begannen dennoch ihre Mägen zu knurren. Auch die Müdigkeit meldete sich mit brutaler Härte. Davis fiel es immer schwerer, sich zu konzentrieren. Sie waren seit über vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und strengten ihre grauen Zellen an. Auserwählte DigiRitter oder nicht – bald würden sie einfach umfallen und einschlafen. Da sie nur kurz fortbleiben wollten, hatten sie kaum Essen mitgenommen. Yolei teilte bereitwillig ihre Vorräte mit ihnen: getrocknete Beeren und einige Streifen Pökelfleisch. Es reichte nicht, um ihren Hunger zu stillen, fachte aber die Müdigkeit neu an. Auf der Suche nach Inspiration stromerten sie jeder für sich über den Platz, darauf bedacht, auf keine der Platten zu steigen. Yolei hatte von ihrer eigenen abgelassen, nachdem nichts passiert war. Die Sonne stand bald so hoch, dass sie einen der beiden Wachtürme umrundet hatte, auf seiner anderen Seite hervorlugte und Davis blendete. „Magisch ist des Feindes Macht. An allen Ecken regiert das Böse“, murmelte Sora immer wieder vor sich hin. Und plötzlich wusste Davis die Lösung. „Die Türme! Es sind die Schwarzen Türme!“ Stolz drehte er sich zu den anderen um und erntete endlich bewundernde Blicke. „Die Türme verbreiten die Macht des DigimonKaisers. Darauf hätten wir wirklich selbst kommen können“, meinte Izzy verlegen und kratzte sich am Kopf. „Wir sind wirklich schon zu lange wach.“ Davis war aber noch nicht fertig. „An allen Ecken lauert das Böse – das ist der nächste Hinweis! Ein schwarzer Turm hat neun Ecken! Die zweite Platte ist die auf neun Uhr!“ Diesmal waren sie wirklich überrascht von seinen geistigen Leistungen. Tai klopfte ihm sogar anerkennend auf die Schulter. Davis stellte sich auf die Platte, die er erobert hatte, entschlossen, sie nicht wieder herzugeben. „Fehlt nur noch eine“, meinte Matt. „Magisch sind stets Ende und Anfang.“ Mit neuem Eifer stürzten sie sich auf die letzte Zeile der Offenbarung, und so dauerte es nicht lange, bis sie auch diese entschlüsselt hatten. „Die Antwort haben wird doch eigentlich sogar schon gefunden“, meinte Sora. „Weil es eine Uhr ist. Darum fallen Ende und Anfang auch zusammen, auf eine einzige Stelle. Die letzte Platte ist die, auf die der Lichtstrahl gefallen ist. Zwölf beziehungsweise null Uhr.“ Tai nickte ihr zu. „Sie gehört dir.“ Selbstsicher trat Sora auf die oberste Platte. Davis kam um vor Spannung. Yolei lief nach fünf Uhr und sprang regelrecht darauf. „Dann zeig deine Schätze mal her, du seltsame Insel!“, rief Davis, und in dem Moment machte es irgendwo unter ihnen Klonk. Ein Surren ertönte, dann zerbröckelte plötzlich der Boden im Kreisinneren. Die anderen DigiRitter machten, dass sie von dort fortkamen. Das Material löste sich auf wie Asche. Darunter kam ein Felsenkrater zum Vorschein, in dessen Zentrum etwas lag: Das eine sah aus wie eine hellblaue Lichtkugel, das andere … „Ein Goldenes DigiArmorEi?“, fragte Davis verwundert. „Es gibt ein zweites?“ Er stieg von seiner Platte, ohne nachgedacht zu haben, so benebelt fühlte er sich inzwischen vor Müdigkeit, doch es passierte nichts mehr. Der Mechanismus war ausgelöst und zum Stillstand gekommen. Sie kletterten alle den Krater hinunter. Ihre DigiVices begannen zu glühen, mit jedem Schritt ein wenig heller. „Wer soll es bekommen?“, fragte Tai, als sie vor den beiden Gegenständen standen. „Unsere DigiVices leuchten alle.“ Izzy schien sich über etwas Gedanken zu machen. Er nahm sein DigiVice in die Hand und richtete es auf ihre Schätze. Wie schon vorher Willis‘ Ei das Licht daraus angezogen hatte, stach auch nun ein heller Strahl daraus hervor – doch er richtete sich nicht auf das goldene Ei, sondern auf die Lichtkugel. Die DigiRitter zuckten zusammen, als die Kugel regelrecht explodierte. Je ein Strahl hellblaues Licht schoss in jedes ihrer DigiVices. Andere Lichtbänder fuhren himmelwärts und verteilten sich dort. Vor ihren Augen tummelten sich rote Streifen, als die Lichter verglommen waren. Die Kugel war verschwunden. „Ich fühle mich plötzlich so … anders“, meinte Agumon. „Ich auch“, bestätigte Gabumon. „Als müsste ich vor nichts mehr Angst haben.“ „Piyomon, du auch?“, fragte Sora. „Oh ja! Es fühlt sich toll an! Ich bin überhaupt nicht mehr müde! Es ist … als könnte mich niemand mehr daran hindern, zu kämpfen.“ Die DigiRitter sahen einander an. „Es ist nur eine Vermutung …“, begann Izzy, und sofort sagte Tai: „Vermutungen haben uns heute weit gebracht. Spuck’s schon aus.“ „Gut. Es könnte doch sein, dass unsere Digimon nun auch in Gebieten digitieren können, in denen Schwarze Türme stehen.“ Tai stieß einen Pfiff aus. „Das wäre unglaublich! Wie bist du darauf gekommen?“ „Piyomon meinte, niemand könnte es mehr am Kämpfen hindern. Wenn ihr alle so etwas Befreiendes spürt“, sagte Izzy zu den Digimon, „und wir mit diesen Schätzen angeblich den DigimonKaiser besiegen können, muss sich etwas verändert haben. Irgendeinen Vorteil brauchen wir – und wir haben schon erfahren, dass dieser Mechanismus und alles installiert wurden mit dem Gedanken, dass die Schwarzen Türme die Macht des DigimonKaisers darstellen.“ „Klingt nachvollziehbar, soweit mein müde Kopf das zu sagen vermag“, murmelte Matt. „Und die anderen Lichter?“ „Ich schätze, wir haben die Kraft in dieser Kugel irgendwie freigesetzt. Wahrscheinlich kann nun jedes Digimon eines Menschen unter Schwarzen Türmen digitieren. Wir müssen es freilich noch ausprobieren.“ „Schön“, sagte Davis grinsend. „Dann zurück zu der anderen Frage, damit wir endlich von hier fort und eine Mütze Schlaf nachholen können. Wer bekommt das Ei?“ „Finger weg“, sagte Tai. „Du bist der Einzige von uns, der schon zwei ArmorEier hat.“ Davis schmollte beleidigt, während die anderen nacheinander versuchten, das Ei zum Erstrahlen zu bringen. Hochheben konnte es ein jeder, doch niemandem gelang die Armor-Digitation. „Schön“, seufzte Tai schließlich, als er es selbst versucht hatte. „Davis, jetzt bist du dran. Wenn es nichts wird, nehmen wir es mit und lassen es die anderen probieren.“ Ohne große Hoffnungen nahm Davis das ArmorEi in die Hand. „Erstrahle!“, befahl er. Und das Ei erstrahlte.     Ken war irgendwann über den verwinkelten Metaphern des Rätsels eingenickt. Als er erwachte, war es früher Vormittag. Da ihn die Enge seines Zimmers plötzlich erdrückte, verließ er ausnahmsweise mal wieder die Festung, um sich die Beine zu vertreten und einen freien Kopf zu bekommen. Er war gestern keinen Zoll weitergekommen. Einige Wolken tummelten sich im Osten, und sie ließen den Himmel rosa leuchten. Ken empfand das fast als Omen. Irgendetwas lag in der Luft, etwas Drückendes, ein Geruch, der von einem baldigen Ende kündete. Nur – war es sein Ende oder das Deemons? Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. In letzter Zeit befiel ihn eine derartige Melancholie ständig, wie als Ausgleich zu seiner plötzlichen Gleichgültigkeit. Er musste schleunigst das Spiel zuende bringen, koste es, was es wolle! Wormmon hatte noch geschlafen, als er aufgestanden war, doch als er in die Festung zurückkehrte, wartete es mit einem behelfsmäßigen Frühstück auf ihn. Ken zwang sich zu einem Lächeln, und die beiden aßen stillschweigend. Später traf er sich mit Oikawa. Vielleicht war er bei dem Rätsel auf etwas gestoßen. Zu zweit diskutierten sie darüber, ließen sich das Mittagessen in Oikawas Gemächer bringen und diskutierten weiter, bis Ken langsam die Hoffnung verlor, je hinter diese merkwürdige Prophezeiung zu kommen, die Deemon gegen ihn aufgestellt hatte. Vermutlich war es überhaupt erst ein Rätsel geworden und keine simple Anleitung, weil das Digimon damit gerechnet hatte, dass Ken die Inschrift finden könnte. Dann, irgendwann, als sie schweigend über dem Text brüteten, geschah es. Das Licht kam direkt durch die Decke des Raumes. Zwei leuchtend Spiralen schossen quer durch den Raum und bohrten sich in Kens und Oikawas DigiVices. Alarmiert sahen sich die beiden an. Wormmon und Datirimon unterbrachen ihr Spiel und blickten verwundert auf. „Hast du das auch gespürt?“, fragte Oikawas Partner. Wormmon nickte zögerlich. Ken wartete mit angehaltenem Atem, ob noch etwas passierte. Dann nahm er Kontakt mit Deemon auf. Ich vermute, du wirst nicht mal Türme verlangen, wenn ich dich jetzt frage, was das Licht eben zu bedeuten hatte? Deemon lachte nur. Das war Antwort genug. Ken stand auf und strich sein Cape glatt. „Wir können aufhören“, sagte er zu Oikawa. „Die anderen haben es gelöst.“ Der schwarzhaarige Mann runzelte besorgt die Stirn. „Trommel Arukenimon und Mummymon zusammen. Wir treffen uns im Besprechungssaal.“ Als er zur Tür hinausging, legte er sich bereits die Worte zurecht, die er an sie richten würde. Und er wappnete sich schon gegen die Einwände, die sie gegen seinen Notfallplan haben würden. „Dein letztes Stündlein hat geschlagen, Ken“, ließ Deemon plötzlich vernehmen. Für einen Moment verharrte Ken mitten im Tritt, und etwas Kaltes schien nach seiner Seele zu greifen. Entschlossen schüttelte er es ab. Und wennschon.     „Bisher waren überall, wo man hinsieht, Schwarze Türme. Und jetzt, wo wir einen brauchen, finden wir keinen“, murrte Kari. „Das liegt daran, dass die Rebellen ihr Shogunat wieder so sauber wie vorher haben wollten“, sagte Nefertimon. Die beiden flogen luftiger Höhe über ein Gebiet von Reisfeldern und grünen Hügeln. Kari konnte nicht sagen, dass sie die Zeit alleine mit ihrem Digimon nicht genoss. Viel zu selten war sie in letzter Zeit ihren Pflichten als Königin entkommen, selbst wenn diese nur darin bestanden, ständig bei ihrem Volk zu sein. Allerdings war selbst die frische Luft an einem kühlen Tag wie diesem schwer und bedrückend, wenn nicht allzu weit entfernt ein feindliches Heer dräute. „Versuch es ein paar Kilometer westlich“, knarrte Michaels Stimme aus ihrem Headset. „Aber sei vorsichtig, das ist Feindesland.“ Natürlich ist es das, dachte sie, wusste aber, was er meinte. Wenn sie in Reichweite des Heeres kam, das sich zwischen Wüste und Bucht sammelte, hatte sie ein mächtiges Problem. Izzy hatte Michael kontaktiert, als sie sich auf den Rückweg von der Hand-Insel gemacht hatten. Damit sie keine wertvolle Zeit verloren, sollten die DigiRitter, die in Little Edo geblieben waren, seine Theorien überprüfen, und Kari hatte sich sofort freiwillig gemeldet. Nach wenigen Minuten tauchten tatsächlich Türme am Horizont auf. Nefertimon hielt auf den nächstbesten zu: Er stand in einem kleinen Dorf aus Strohhütten. Einwohner sah man keine. Das Gebiet lag schon außerhalb des Shogunats, weswegen sie noch nicht das Risiko eingegangen waren, es zu befreien. Nefertimon landete etwas außerhalb der ersten Gebäude, um ganz sicherzugehen. Kari stieg ab und ihr Digimon wurde wieder zu Gatomon. Kari nickte ihm zu – und im selben Moment spien die Strohhütten Dutzende von Digimon aus – kleine, niedliche Monsterchen mit beigem Fell und Mützen auf dem Kopf, die wie Hamburger mit Sesam aussahen. Sie alle hatten Schwarze Ringe um den Leib und stürmten aggressiv auf Kari zu. Im gleichen Moment leuchtete Gatomon auf, und Angewomons Engelsgestalt ragte hinter Kari auf. Sie stieß einen Jubelschrei aus. „Es hat geklappt!“ „Vorsicht!“ Angewomon packte sie an der Hüfte und hob sie hoch, als die kleinen Digimon sie erreichten und offenbar versuchten, sie zu beißen. „Lass uns wieder verschwinden, Kari.“ „Warte noch!“, rief Kari, als die Engelsfrau schon mit ihr fortfliegen wollte. Die versklavten Digimon, die wie verrückt zu ihr emporzuspringen versuchten, taten ihr leid. Sie wollte wenigstens den Turm zerstören – auch wenn der DigimonKaiser dann garantiert von ihrer Anwesenheit hier erfuhr. Da kam ihr ein Geistesblitz. Gennai hatte versprochen, dass sie die Möglichkeit bekommen würden, die Macht des DigimonKaisers zu brechen. Tatsächlich konnten sie nun selbst im Schatten der Schwarzen Türme digitieren, aber das brachte gar nichts, solange Ken – sie war sich mittlerweile sicher, dass er dahintersteckte – seine Geiseln kontrollieren konnte wie Schwarzringdigimon. Andererseits waren die Schwarzen Ringe ebenfalls auf die Macht der Türme angewiesen, und es war Karis DigiVice, das nun diese Macht übertrumpfen und Gatomon digitieren lassen konnte. Kurz entschlossen richtete sie ihr D3-DigiVice auf die wütende Digimon-Meute. Warmes, weißes Licht strömte aus dem Display und hüllte die kleinen Wesen ein – und plötzlich hielten sie inne, blickten verwirrt umher und betasteten schließlich die Ringe an ihren Körpern. Kari lächelte. Es funktionierte tatsächlich – sie konnten sogar versklavte Digimon befreien! Vielleicht hätten sie das sogar damals gekonnt, als Azulongmon ihnen schon einmal die Macht gab, in der Nähe von Türmen zu digitieren, aber damals hatte es keine Schwarzen Ringe mehr gegeben. Das musste sie den anderen sofort mitteilen! Zuvor galt es jedoch noch etwas zu erledigen. Mit einem letzten Blick auf den Schwarzen Turm, der so unheilvoll und doch so hilflos über dem Dorf thronte, sagte sie zu den Burger-Digimon: „Wenn ihr frei sein wollt, kommt mit. Wir bringen euch in Sicherheit.“   Staring shapeless shadows Under the sky of hallow Prepare to be the chosen hero Release the force to us (Celesty – Unreality) Kapitel 67: Die längste Nacht ----------------------------- Tag 151   Der Alarm wurde mit einem infernalischen Geheul ausgelöst, und Warnlampen tauchten die Gänge der Festung in düsteres Rot. „Verdammt“, zischte Tai. „Das war’s dann mit dem Versteckspiel.“ Izzy hatte sie gewarnt, dass er sie vielleicht nicht die ganze Zeit über tarnen könnte. Es wäre schwierig genug, ihnen eine unbewachte Route durch die Schwarzen Zonen in der Wüste zu erstellen, von der sie keinen Fußtritt weit abkommen durften. Fast zwei Stunden hatten sie von der Küste bis vor die Festung gebraucht, obwohl sie in Piximon-Tarnkappen geflogen waren. Und das alles nach nur unwesentlich längerer Ruhezeit in Little Edo, in der sie Schlaf nachgeholt hatten. Tai hatte nicht länger warten wollen. Das Sternenzelt hatte sich bereits aufgespannt und den gewaltigen Felsklumpen noch monströser wirken lassen, und in der Ferne hatte man die Schatten von Türmen und Digimon gesehen. Hätten die Piximon aus Santa Caria, die sie begleiteten, sie nicht mit ihren Tarnkappen beschützt, wären sie garantiert entdeckt worden. In der Kälte der Wüstennacht hatten sie gezittert, darauf wartend, dass Izzy ein Kunststück vollbrachte und ihnen eine Luke öffnete. Er hatte es tatsächlich geschafft. Schon einmal hätte er eine Horde Kurizarimon in die Festung geschleust, hatte er gesagt, aber damals wäre es einfacher gewesen, die Sicherheitsmechanismen zu umgehen. Schließlich hatte er sie gewarnt, dass die Überwachungssysteme in der Festung sicher viel ausgeklügelter waren als die der einzelnen Türme, und er hatte recht behalten. Sie waren noch keine fünfzig Schritt weit gekommen, als die Sirenen ertönten. „Soll ich schon digitieren, Tai?“, fragte Agumon. „Nein, noch nicht. Warten wir bis zum letzten Moment.“ Er drehte sich zu Matt, Davis, Willis, ihren Digimon und den vier Piximon um. Das rote Licht verlieh den Gesichtern seiner Gefährten etwas Grausames, Brennendes. „Wir haben nur eine Chance. Wir teilen uns auf und versuchen, die Geiseln zu finden, ehe er genau weiß, wer, wo und wie viele wir sind.“ Die anderen nickten stumm, und bei der nächsten Weggabelung trennten sie sich.     Ken hatte Arukenimon nicht überredet, er hatte es regelrecht überrumpelt. Oikawa hatte gemeint, er würde zu weit gehen, wenn er ihnen allen mit dem Tod drohte, aber falls sie versagten, würden sie sowieso sterben. Anschließend war er auf die Brücke gegangen und hatten den Angriff seines Heeres befohlen, das sich immer noch gesammelte hatte. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Er musste derjenige sein, der den ersten Zug machte. Spadamon war verschwunden. Er hatte es erst bemerkt, als er ihm einen Auftrag schicken wollte. Es war entweder getürmt, was er nicht glaubte, oder aufgeflogen, was er nicht glauben wollte. So oder so, Izzy hatte sich garantiert wieder in sein System gehackt. Ken hatte keine Lust mehr, die Verschlüsselung zu ändern. Sollten sie mithören! Er würde sie einfach überrennen, ihnen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage vor Augen führen. Und T.K? Er hatte entweder versagt oder ihn verraten. Was sollte man machen; Ken wollte sein Glück ohnehin nicht von jemand anderem abhängig machen. Tausende Digimon von der Felsenklaue, aus der Kaktuswüste und der Goldenen Zone, Digimon aus Türmen von Takashi, Keiko und Hiroshi, eigene Soldaten und Freiwillige trampelten eben die letzten Meilen Grasland nieder, die sie von Fort Netwave trennten. Den Oberbefehl hatte er Sir BlackAgumon, dem wiedergeborenen DarkTyrannomon, gegeben, da er Arukenimon anderweitig brauchte. Gerade überlegte er, wie er nach der Rückeroberung des Forts weiter vorgehen sollte, als der Alarm ertönte. „Was ist da los?“, rief er. Die Hagurumon arbeiteten hektisch an ihren Maschinen. „Eindringlinge in der Festung.“ „Zeigt mir die Überwachungsbilder.“ Ken wartete darauf, dass die Kameras scharfgeschaltet wurden, doch der entsprechende Bildschirm zeigte nur Schneegestöber. „Primärüberwachung nicht möglich. Störung im System“, berichteten die Zahnraddigimon. „Izzy“, murmelte Ken düster. „Schickt die Monitormon.“ Es dauerte nur Minuten, bis die kleinen, flinken Digimon durch die Gänge gehastet waren und ihm, so gut versteckt wie möglich, brauchbare Bilder lieferten. Was er erkannte, ließ ihn die Augenbrauen hochziehen. „Ken! Das sind sie doch, oder?“, fragte Wormmon. „Eindeutig.“ Fast musste er ein Lachen unterdrücken. „Dass sie freiwillig hierherkommen … Sie wollen garantiert meine Geiseln befreien. Ich hätte nie gedacht, dass sie schon derart verzweifelt sind. Fangt sie mir ein, lebend!“ „Ken, sei bitte vorsichtig“, murmelte sein Partner. „Ich glaube nicht, dass sie nur verzweifelt sind. Sie haben sicher einen Plan.“ „Sie sind in meiner Festung. Allein. Das ist die beste Gelegenheit, die ich je hatte!“ Wormmon duckte sich, als fürchtete es seinen Zorn. Oder vielleicht eher, seine Hoffnungen zu zerschlagen. „Trotzdem. Ich bin mir sicher, dass sie ein Ass im Ärmel haben.“ Selbst wenn, mehr als die Armor-Digitation sollte er nicht zu fürchten haben, immerhin war das Signal aller Türme noch positiv … „Testet die Funktionsfähigkeit der Türme in der Nähe“, sagte er. Es war doch schon einmal vorgekommen, dass seine Türme zerstört wurden und man ihn im Glauben ließ, sie wären noch intakt. Darum hatte er eine einfache Testroutine entwickelt, mit der er eindeutig feststellen konnte, ob die Türme noch standen. „Zu hundert Prozent positiv“, meldete ein Hagurumon. Also haben sie nur wieder das Radarsignal unterdrückt. Ken überlegte und beschloss, Wormmons Warnung trotzdem nicht in den Wind zu schlagen. „Alle Turmdigimon in der Wüste sollen sich rings um die Festung versammeln“, wies er seine Untergebenen an. „Ruft Dame Arukenimon und Sir Mummymon auf die Brücke. Und Cody und Fürst Yukio auch.“ In dem Moment glitt die Tür auf und Oikawa kam herein, mit ernster Miene. „Der Alarm bedeutet nichts Gutes, nehme ich an?“, fragte er rhetorisch. „Das werden wir bald wissen“, entgegnete Ken.     Die Schlacht wütete furchtbar. Kari stand auf dem Wehrgang von Fort Netwave und presste sich gegen die Zinnen. Von unten flogen immer wieder Attacken herauf, zerbarsten an dem Stein oder landeten im Burghof. Es hatte begonnen. So viele Digimon waren plötzlich am Horizont erschienen, dass sie gar keinen Ausfall gewagt hatte. Fast war es, als wollten sie für die befreiten Burgermon rächen, aber Kari wusste, dass das Unsinn war. Es handelte sich um das Heer von der Felsenklaue, das schon Andromons Armee geschlagen hatte. Es war vermutlich unausgeglichen, noch regelrecht ausgefranst von der letzten Schlacht, aber das spielte kaum eine Rolle. Außerdem hätte ein fähiger General das Kommando übernommen, hieß es. Angewomon stand neben ihr und schoss einen leuchtenden Pfeil nach dem anderen über die Brüstung. Es konnte kaum danebenschießen: Die Starmon, Revolvermon, Tuskmon, Scorpiomon, Rockmon, Minotarumon, Kiwimon, Gargomon, Mamemon und all die anderen standen dicht an dicht. Kari zuckte zusammen, als etwas gegen die nächste Zinne schlug und faustgroße Steintrümmer herausriss. Sie kauerte sich noch ein wenig mehr auf dem Wehrgang zusammen. Staub und Rauch kratzen in ihrer Kehle. Auf den Zinnen standen die Fernkämpfer der Nordarmee. Selbst die Snimon hielten sich hier auf, weil sie fliegend ein gefundenes Fressen wären. Guardromon und Mekanorimon der Konföderation setzten die hinteren Reihen der Gegner ebenfalls unter Dauerfeuer. In den vorderen wurde hart gekämpft: Die stärksten Digimon des Forts bewachten das große Tor und wüteten so furchtbar unter den Angreifern, dass beinahe ständig schwarze Datensplitter aufstiegen wie Rauch. Als Kari an der Zinne vorbeilinste, sah sie als Erstes Zudomons mächtigen Rückenpanzer. Sie hatte lange gebraucht, um Joe dazu zu bringen, bei dem Kampf mitzumischen. Eigentlich wollte sie niemanden dazu überreden müssen zu kämpfen, doch sie hatte seine und Zudomons Schlagkraft vermisst. „Unsere Gegner sind keine echten Digimon“, hatte sie ihm lang und breit klarmachen müssen. „Wenn du Digimonleben retten willst, hilf uns, die Schwarzturm-Digimon zu zerstören!“ Jetzt kümmerte er sich gemeinsam mit Sora auf dem Burghof um die Verwundeten. Kari konnte die beiden von hier aus ebenfalls sehen. Neben Zudomon bewegte sich hektisch und feurig eine kleinere Gestalt. Agunimon schien ganz in seinem Element, teilte Schläge und Tritte nach allen Seiten aus und schien lieber auszuweichen, als hinter Zudomons Panzer Schutz zu suchen. Auch andere Ultra-Digimon kämpften dort, doch sie erschöpften zusehends. Sir Angemon machte neben Angewomon eine gute Figur. Wäre T.K. hier, hätte man es fast für Patamons höhere Form halten können. Wie in den alten Zeiten … Kari vermisste ihren Freund. Sie war so lange mit ihm unterwegs gewesen … Nun war sie sicher, dass Ken ihn gefangen genommen hatte. Dass er tot war, wollte sie sich gar nicht vorstellen. „Passt auf!“, hörte sie Zudomon von unten brüllen; beinahe übertonte der Schlachtenlärm das Digimon. Kari hob den Kopf, suchte nach der Gefahr. Ein leises Surren hob sich von den anderen Geräuschen ab, schwoll an – und sechs Giromon schnellten wie Kanonenkugeln über die Zinnen, ein metallisches Grinsen aufgesetzt. Kari meinte zu wissen, wer sie waren: Söldner, die schon für Matt, dann für Takashi und Datamon gearbeitet hatten. Nun gehorchten sie dem DigimonKaiser. „Runter mit euch!“ Sir Angemon deckte die kugelförmigen Digimon mit einem Lichtstrahl ein, der eines von ihnen meterweit fortfegte, aber nicht vernichtete. Kaum hatte es die Gefahr erkannt, stieg Birdramon vom Burghof auf und digitierte. Es war genau für solche Situationen zuständig: zu verhindern, dass anstürmende Digimon die Mauer erklommen. Die Giromon blieben unbeeindruckt. Eines sauste mit kreischender Kettensäge auf Angemon zu, ließ es dreimal mit seinem Stab parieren, dann schoss es zur Seite – während die anderen fünf ihre Bomben schleuderten. „Angemon!“, schrie Kari und machte sich gleichzeitig noch kleiner, versuchte den Kopf mit den Händen zu schützen. Als die Bomben Sir Angemon erwischten, ging ihr die Explosion durch Mark und Bein. Ein stechender Schmerz entflammte in ihrem Ohr, und ihr wurde plötzlich übel. Als sich der Rauch verzog, war von Angemon nichts mehr übrig. Die Giromon lachten, aber Kari hörte sie nur sehr gedämpft. Sie wandten sich gerade Angewomon zu, als ein feuerheißer Schwall über die Zinnen fegte. Garudamons Angriff war nur wenige Sekunden zu spät gekommen. Die sechs Söldner trudelten in die Tiefe, ihr Metallpanzer war geschwärzt, aber nicht zerstört. Angewomon spannte mit den Händen einen rosa Bogen auf. Eine leuchtende Sichel fuhr auf die Giromon herab wie eine Guillotine. Kari hielt ihren Partner nicht auf, obwohl die Datensplitter, in die sich die Digimon verwandelten, nicht schwarz waren.     Tai stieß wahllos Türen auf. Die meisten Räume waren finster, leer oder mit Gerätschaften vollgestellt. Er hielt sich nicht damit auf, sie zu zerstören. Er musste die Geiseln finden, ehe der DigimonKaiser sie gegen sie einsetzte! Königin Kari hatte herausgefunden, dass ihre DigiVices nun die Wirkung der Schwarzen Ringe unterbinden konnten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit galt das auch für womit auch immer der Kaiser Menschen kontrollierte! Agumon trampelte hinter ihm her. „Tai … nicht so schnell …“, keuchte es. „Leg einen Zahn zu, Agumon!“ Er selbst keuchte ebenfalls schwer. Er war zwar Taichi der Drachenkönig, aber er würde weder Schweiß noch Schmutz scheuen, genauso wie König Leomon! Er hatte erst die Hälfte der Türen in diesem Flur untersucht, als ihm schon ein Begrüßungskomitee entgegenkam. Vier Meramon, einige Thunderboltmon. Sie verstopften den Gang regelrecht. Der DigimonKaiser machte keine halben Sachen. „Es ist so weit, Agumon“, sagte Tai entschlossen. „Wir erledigen sie so schnell wie möglich und suchen dann weiter.“ „Alles klar!“ Agumon sprang nach vorn, wurde von Licht eingehüllt – und Tai meinte die Kraft zu spüren, die plötzlich von ihm ausging. Es war seltsam, die Warp-Digitation endlich gegen den DigimonKaiser einsetzen zu können. Seltsam befreiend. Die Digimon zögerten, als sie WarGreymon sahen. Selbst wenn sie sofort angegriffen hätten, hätten sie nichts ausrichten können. Das Digimon des Drachenkönigs bohrte sich wie eine blitzende Nadel durch den Gang und pulverisierte sie auf der Stelle. Jetzt wurde garantiert bald die Zeit knapp. Tai vermutete, dass auf dieser Ebene keine Geiseln untergebracht waren, also liefen die beiden weiter und nahmen eine Treppe in ein tieferes Stockwerk. Der Gang hier war heller erleuchtet, und es gab weniger Räume – diese waren dafür mit schweren Stahltüren verschlossen. Tai nickte WarGreymon zu. „Achtung, da hinten!“, rief er, so laut er konnte, und sein Digimon wurde einmal mehr zu einem Krallentornado, der die Tür aufplatzen ließ wie einen Luftballon. Als Tai einen vielstimmigen, erschrockenen Schrei hörte, wusste er, dass sie hier richtig waren.     Sora hastete hin und her und half Joe so gut es ging mit Verbandszeug und Schienen. Es waren so viele verwundete Digimon – dabei meinte der Zuverlässige, bisher hätten sie noch extrem wenig zu tun. Die meisten ihrer Patienten wurden von den Zinnen zu ihnen gebracht. Noch war kein feindliches Digimon in das Fort eingedrungen. Die Digimon lagen auf einfachen Bastmatten auf dem Burghof. Über sie hatte man ein Tuch gespannt, auf das dünne Schuppen DigiChrom-Stahl geschmiedet waren. Einige Knightmon sorgten für zusätzlichen Schutz. Seit der Angriff begonnen hatte, hatten nämlich immer wieder feindliche Digimon direkt den Burghof angegriffen, allen voran die Starmon mit ihren Sternschnuppen. Sora bewunderte Joe dafür, dass er so ruhig blieb. Mit stoischer Geduld und Präzision behandelte er ein Digimon nach dem anderen, erkundigte sich nach Schmerzen, verabreichte Lösungen und Tinkturen und verarztete Wunden. Sora zuckte jedesmal zusammen, wenn sie wieder einen lauten Schrei oder einen Knall hörte. Die Räume der Festung waren zu eng, um die Verletzten richtig versorgen zu können, aber so mussten sie ständig fürchten, dass eine Attacke das Schutzdach durchdrang. Als hätten die Feinde ihre Gedanken gelesen, prasselte etwas mit einem ohrenbetäubenden Krachen gegen die Chromschuppen, so schrill, dass Soras Zähne schmerzten. „Was war das?“, rief sie atemlos. „Lass dich nicht ablenken“, sagte Joe und nahm ihr die Schale mit gekochtem Wein aus der Hand, mit dem er eine Wunde auswaschen sollte. „Die anderen beschützen uns.“ Sora merkte, dass seine Hände zitterten. Als er sich vor das verletzte Elecmon kniete, war er wieder ganz ruhig. Eine der Türen, die in den Burghof führten, öffnete sich. KaiserLeomon kam herausgestürmt, ein paar Dinosaurierdigimon im Schlepptau. „Was ist los?“, fragte Sora und lief zu ihm. „Ist jemand ins Fort eingedrungen?“ „Noch nicht. Wir werden im Osten angegriffen“, knurrte es. „Im Osten?“ Die Armee kam doch aus der anderen Richtung … und die Bucht wurde von Karis Divermon beschützt. „Die Digimon auf dem Stiefel haben sich zusammengetan. Offenbar haben sie unsere Lage erkannt.“ Dann war der schwarze Löwe an Sora vorbei, bereit, einen Ausfall anzuführen. Sie blickte eher zufällig in den Himmel – und sah gerade noch rechtzeitig die neue Salve Ikkakumon-Harpunen, deren Bogen über dem Fort seinen Höhepunkt erreichte. Die schwarze Schale der Geschosse blätterte ab, und Qualmwolken nach sich ziehend senkten sich die Raketen auf den Burghof. Sora konnte gerade noch unter das schützende Tuch springen, als auch diese Harpunen an der Chrompanzerung zerbarsten.     „Willst du nicht auch nach den Geiseln suchen?“, fragte Lopmon, als sie eine Weile durch die Gänge geirrt waren. „Nein.“ „Du willst den DigimonKaiser immer noch töten“, murmelte sein Partner bedrückt. „Das ist es nicht“, behauptete Willis. „Du hast ihm vergeben, das akzeptiere ich. Aber dieses ganze Samthandschuh-Getue, dass wir erst die Geiseln befreien sollen … das kostet nur Zeit. Ob dieser Gennai nun die Wahrheit gesagt hat oder nicht, solange der DigimonKaiser lebt, ist die DigiWelt in Gefahr. Und ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch tun soll – also beenden wir zuerst diesen Krieg, dann fangen wir ein neues Leben an!“ „Das machen wir“, sagte Terriermon begeistert und sprang auf seinen Kopf. „Und dann werden wir lachen wie früher.“ „Ja“, murmelte Willis. „Das werden wir.“ Als sich ihnen die ersten Digimon entgegenstellten, waren Terriermon bereits zu Rapidmon und Lopmon zu Endigomon digitiert.     Kari wusste, sie sollte lieber von diesem Wehrgang verschwinden, vor allem, da die Zinnen nach und nach unter den ständigen Attacken zerbröckelten. Aber sie konnte nicht. Hier oben sah sie, was geschah, und sie wollte Angewomon nicht alleine lassen, wollte wissen, wann der Feind das Tor aufbrach und in das Fort stürmte – zum ersten Mal, seit sie mit T.K. zum Meer der Dunkelheit gereist war, fühlte sie wieder wirklich Angst. Ihr Herz pochte zum Zerspringen, als rings um sie Feuerbälle und Blitze flogen, in ihren Adern rauschten Blut und Adrenalin und auf einem Ohr hörte sie immer noch nur ein helles Sirren. Die Nacht war hell erleuchtet, und doch waren es nur Attacken, die das Licht brachten. Licht, um zu zerstören. So sollte es nicht sein. Ein weiteres Licht tauchte die Zinnen in Gold. Es bezeugte nichts Gutes: Zudomon digitierte zurück. Es hatte Stunden in der Flut der Gegner standgehalten wie ein Fels in der Brandung, so war es Kari vorgekommen. In Wirklichkeit waren es wahrscheinlich nicht einmal fünfzehn Minuten gewesen. Die Zeit dehnte sich unglaublich, wenn der Tod nahte. Einige Augenblicke später hörte sie etwas an der Mauer kratzen, ein feindliches Drimogemon zersprang in tausend Teile, die in der Finsternis kaum zu sehen waren, dann sauste Agunimon mit brennenden Beinen von draußen auf den Wehrgang. In den Händen hielt es das bewusstlose Gomamon. „Es hat keinen Sinn“, keuchte es. „Es sind einfach zu viele. Wir müssen sie in der Festung erwarten, dann haben wir eine Chance.“ Kari nickte. Der Ritter musste am Ende seiner Kräfte sein. Nicht nur, weil er sonst kaum mit ihr gesprochen hatte. Die orangerote Rüstung wies viele Dellen und Kratzer auf, die blonde Mähne war zerzaust und stellenweise ausgerissen. Agunimon ließ den Blick über die Verteidiger auf dem Wehrgang schweifen. Ihm bot sich ein trostloser Anblick: Izzys Maschinendigimon waren schwer dezimiert. Angewomon konnte noch kämpfen, aber es hatte kam noch Kraft. Und nun, da die Verteidiger des Tors fort waren, würde es nicht mehr lange dauern, bis die dunkle Woge einfach durch es hindurchspülte. Kari warf einen Blick zur Bucht, die links von ihr lag. Ihre Divermon hielten sich im Wasser auf, schwarz wie die Nacht, und schleuderten ihre Harpunen auf alle Digimon, die der Seeseite des Forts zu nahe kamen. Diese bemerkten ihre Verluste kaum. Wenn das so weiterging, konnten Klecks und seine Untertanen die Schwarzturmarmee vielleicht erheblich dezimieren … Kari hatte den Gedanken noch nicht zuende gedacht, als in der Bucht ein Blitz aufloderte und alles in gespenstisches Licht tauchte – und auch dieses Licht war kein gutes Zeichen. Der Blitz zuckte direkt aus dem Wasser. Anstelle eines Donners bäumte sich die See auf. Gischt sprühte nach allen Seiten und Wellen spülten die Divermon fort, die sie als dunkle Punkte erkennen konnte. Selbst hier auf dem Wehrgang wurde sie von salzigem Sprühregen übergossen. Eine riesige Seeschlange richtete sich in der Bucht auf, überragte den höchsten Turm des Forts um ein Vielfaches, und ein raues Lachen ertönte. „Habt ihr geglaubt, ich würde euch nicht sehen?“ Kari schluckte. Sie wusste, wer das war. MegaSeadramon, der Großadmiral der feindlichen Flotte. Hinter ihm tauchten kleinere Seadramon auf. „Verdammt“, fluchte Agunimon. „Ebidramons Blockade hat sie wohl nicht aufgehalten.“ Fürst Ebidramon hatte einige Meeresdigimon geschickt, vornehmlich Dolphmon, die die Bucht von der übrigen See abschneiden sollten. Die Flotte der Wissens-Armee unter Admiral Shaujinmon hatte Tai und die Piximon zur Kaiserwüste gebracht, weil sie dort mehr Schlagkraft und Disziplin benötigten, sollten sie entdeckt werden. Fast wäre Ebidramon nicht rechtzeitig hier im Süden eingetroffen – und offenbar hatte es der Flotte des DigimonKaisers nicht lange standgehalten. Kari wünschte sich, sie hätte Tai dazu überreden können, wenigstens ein Megalevel-Digimon zur Verteidigung des Forts zurückzulassen, aber er setzte alles daran, den DigimonKaiser in seinem eigenen Nest auszuräuchern. Selbst seine Drachenstaffel hatte er mitgenommen, um im Ernstfall genügend Schlagkraft zusammenrotten zu können. Und Kari war hier nicht seine Schwester, sondern nur eine weitere Königin. Sie lief zur Südseite des Wehrgangs, wo sie die Finger um die kalten Zinnen schloss. Eine Königin von einem Volk, das gerade ausgelöscht wird. Die Divermon hatten wenig Kampferfahrung. Speere auf ferne Feinde zu werfen war nicht allzu schwierig, und T.K. und Angemon hatten sie im Nahkampf gedrillt – aber sie hatten ihnen nicht beibringen können, wie man Seeschlangen tötete. MegaSeadramon ließ Blitz um Blitz in die Bucht niedergehen. Kari wusste nicht, ob das Wasser seine Elektrizität weiterleitete, aber auf kurz oder lang würde es die Schattenwesen alle erwischen. „Schießt in die Bucht!“, schrie sie heiser. „Auf MegaSeadramon!“ Angewomon hatte sich bereits von den Digimon vor dem Tor abgewandt und war losgeflogen, um die Aufmerksamkeit der Schlange auf sich zu lenken. Unsicher sahen die anderen Digimon zu Agunimon. „Unsinn!“, stieß es hervor. „Wenn das Tor fällt, sind wir verloren!“ „Dort unten sterben meine … Sie folgen mir!“, erwiderte Kari heftig. Agunimon, der Digimon-Ritter ihres Bruders, bedachte sie mit einem abfälligen Blick. „Dann trägst du allein die Schuld an ihrem Tod.“     Der Raum war ziemlich groß, und weitere Türen schienen in andere Zimmer abzuzweigen. Und er war voller Mädchen. Hatte der DigimonKaiser sich einen Harem aufgebaut? Keine der vier war älter als Tai, und sie sahen alle ziemlich verschieden aus. Die Stockbetten in dem Zimmer schienen benutzt und die Mädchen trugen allesamt Nachthemden oder Pyjamas, also hatte der Alarm sie vermutlich aus dem Schlaf geschreckt. Ängstlich pressten sie sich gegen die Wand und beäugten WarGreymon. Vor ihnen hatten sich kleine Digimon aufgebaut, wie ein Verteidigungswall aus Plüschtieren. Tai verlieht seinem Auftreten so viel Würde, wie möglich war. Seit er wieder einen schwarzen Umhang mit Goldbestickung hatte, fühlte er sich wie ein richtiger König. „Keine Sorge“, sagte er. „Wir sind hier, um euch zu befreien.“ „Be…freien?“, murmelte die Ältere, eine hübsche junge Frau mit dunkler Haut und dunklem Haar. Sie klang verwirrt. „Tai. Das DigiVice“, erinnerte ihn WarGreymon. „Ach ja, richtig.“ Er holte sein DigiVice hervor und richtete es auf die Mädchen. Sie zuckten zusammen, als befürchteten sie, gleich würde etwas daraus hervorbrechen … Doch nichts geschah. Das Licht, das Kari beschrieben hatte, blieb aus. Verdutzt beäugte Tai sein DigiVice. War es kaputt? Hatte Kari gelogen? Hatte etwa nur ihr DigiVice diese Kräfte? Oder wirkte es auf Menschen nicht? Oder … Er musterte wieder die Mädchen, die sich hintereinander vor WarGreymon zu verstecken schienen. „Ihr … werdet nicht vom DigimonKaiser kontrolliert?“, fragte er mit belegter Stimme. Die vier tauschten einen ratlosen Blick. „Was meint Ihr?“, fragte die Ältere. „Ich meine, er kann euch nicht … irgendwie Befehle erteilen? Die ihr erfüllen müsst, auch wenn ihr gar nicht wollt?“ Sie schüttelten gleichzeitig den Kopf. „Er war immer sehr gut zu uns.“ „Verstehe …“ Tai leckte sich über die Lippen. Er verstand gar nichts. „Wie auch immer, ihr kommt mit mir. Hier ist es zu gefährlich.“ „Was sollen wir tun, Mina?“, fragte ein kleineres Mädchen mit langem Haar. „Ihr entführt uns also?“, fragte Mina. „Entführen? Wir retten euch!“ Immerhin schein er nicht als Einziger nicht zu verstehen, was los war. Die fragenden Blicke der Mädchen sprachen Bände. Mina schien schließlich eine diplomatische Antwort gefunden zu haben. „Verzeiht, aber … wir sind nicht in Gefahr. Solange uns von Euch keine Gefahr droht.“ „Aber warum seid ihr dann in dieser Festung gefangen?“, fragte Tai verdattert und vergaß alle Königlichkeit. „Wir sind nicht gefangen. Der DigimonKaiser ließ uns herbringen, um uns zu schützen.“ „Tai, wir sollten uns beeilen und die echten Geiseln finden“, meinte WarGreymon. Es hatte recht. Tai stöhnte. „Also schön. Ihr kommt trotzdem mit uns. Der DigimonKaiser kann euch jederzeit als Geiseln gegen uns einsetzen. Das lasse ich nicht zu. Ich bin übrigens König Taichi, der Drache aus dem Norden.“ Das würde ihnen hoffentlich etwas sagen. Sie ließen sich jedoch nicht anmerken, ob sie ihn kannten. Mina wies die anderen mit einer Kopfbewegung an, das Nötigste zu packen, während Tai wie auf Nadeln saß. Dann folgten sie ihm und WarGreymon durch die kalten Gänge der Festung.     Man hatte Cody zur Brücke bestellt, und er wusste, dass man ihn eigentlich hinter der Tür erwartete, bei den Geräten und den Hagurumon und bei seinem Kaiser und dessen Beratern. Und doch stand er hier, auf dem Gang, wie eine Wache. Genau das wollte er sein. Dieses bisschen Ungehorsam nahm er sich ausnahmsweise heraus. Der Kaiser teilte vielleicht seine Pläne nicht mit ihm, aber Cody war nicht dumm. Wenn er es nicht schon immer gewusst hatte, dann war es ihm spätestens aufgefallen, als eine ganze Wagenladung Menschen in die Festung gebracht worden war. Der DigimonKaiser wollte ihn aus sämtlichen Kampfhandlungen heraushalten. Er wollte ihn, den ehemaligen Arenakämpfer, in ein Zimmer einsperren und erst wieder herauslassen, wenn der Krieg gewonnen war! „Ich glaube, ich habe jemanden gesehen, Cody“, schrie Armadillomon über das Heulen der Sirenen. Tatsächlich, dort am Ende des langen Ganges, der zur Brücke führte, war ein Schatten vor das rote Leuchten der Alarmlampen gehuscht. „Armadillomon, du kannst doch digitieren, oder?“ „Ich habe es noch nicht versucht, aber ich habe so das Gefühl, dass es mir gelingen wird.“ „Gut.“ Cody regulierte seinen Atem und spannte seine Muskeln an. In seiner Hand ruhte kühl das goldene Zanbamon-Schwert. Er hatte es bis heute aufbewahrt. Cody war alles andere als blutgierig, doch er würde auf jeden Fall seine Schulden zurückzahlen. Der DigimonKaiser hatte ihn aus der Sklaverei gerettet, eine ganze Stadt befreit, Armadillomon gefunden und sie beide wieder vereint. Das ließ sich nicht aufwiegen, indem er kurz die Dinge in der Festung regelte oder sich für ein paar Minuten auf eine Maschine legte. Er erkannte die Endringlinge erst, als sie knapp vor ihm standen; Schuld daran war das schlechte Licht. Es waren drei: ein blonder Junge, älter als er selbst, und zwei Digimon. Eines trug einen goldenen Panzer. Konnte es sein …? Sie blieben vor ihm stehen. Der Junge legte den Kopf schief. „Da haben wir schon den ersten Besessenen“, sagte er, was immer das heißen sollte. „Tut mir leid, ich höre dir weder zu, noch lasse ich mich von dir aufhalten. Wenn ich Izzys Karte richtig im Kopf habe, muss das die Brücke sein, oder?“ Das goldene Rapidmon hob einen Kanonenarm. „Halt!“ Cody trat entschlossen einen Schritt vor. „Nur über meine Leiche!“ Der Blonde seufzte. „So hab ich mir das vorgestellt. Lass mich deine Meinung ändern.“ Cody machte sich für eine Parade bereit, doch der andere holte nur sein DigiVice aus der Hosentasche und richtete es auf ihn. Angespannt wartete Cody, doch was immer geschehen sollte, geschah nicht. Der blonde Junge runzelte irritiert die Stirn. „So ist das also“, murmelte er dann und schien sich etwas zusammenzureimen. „Du hast nur den braven Sklaven gespielt. Dienst du dem DigimonKaiser etwa aus freien Stücken?“ „Allerdings!“, sagte Cody ernst. Der andere lachte und fuhr sich durchs Haar. „Meine Güte. Dann werden wir dich wohl doch mit Gewalt aus dem Weg räumen.“ Er nickte seinen Digimon zu. „Aber versucht vielleicht trotzdem, nur sein Digimon zu treffen.“ Als Reaktion darauf stürzte sich nur Endigomon auf Cody. Es war so massig, dass es fast den gesamten Gang ausfüllte. Armadillomon digitierte, zum ersten Mal, seit sie einander wiederhatten, und Ankylomon füllte den Gang tatsächlich aus. Cody konnte es nicht sehen, aber den Geräuschen nach zu urteilen, stieß es Endigomon von sich. Der junge Mann lachte. „Das zu treffen sollte einfach sein.“ Dann krachten Rapidmons Raketen gegen den Dinosaurier. Seine Panzerung schützte ihn, aber der heftige Angriff ließ ihn stöhnen. Er rutschte rückwärts durch den Gang, seine Krallen zogen Furchen durch den Boden. Cody biss die Zähne zusammen und packte sein Schwert fester.     Bei jedem Schritt taten seine Wunden weh, doch er beklagte sich nicht und versuchte, dennoch schnell zu sein. Die Eisenstäbe waren das Furchtbarste gewesen, das er je in seinem Leben hatte durchmachen müssen. Hätte das Nördliche Königreich nicht viele gute Cutemon-Ärzte gehabt, wäre er sicher noch ans Bett gefesselt. Selbst jetzt waren all seine Glieder so dick verbunden, dass er sich wie eine Mumie fühlte. Aber gerade in diesen Tagen würde sich vielleicht das Schicksal der DigiWelt entscheiden – er konnte also unmöglich auf der faulen Haut liegen. Matt und Gabumon durchsuchten die untersten Ebenen. Er versuchte, seine eigene Zelle wiederzufinden, aber das war nicht so einfach. Zu tief, in den rötlichen, kabelübersäten Bauch der Festung, wollte er auch nicht geraten. So suchte er einen einfachen Mittelweg zwischen Rampen und Treppen und öffnete dabei jede Tür, auf die er stieß. Wenn der DigimonKaiser die Menschen nun beherrschen konnte, brauchte er so etwas wie Schlösser nicht mehr. Die Geiseln konnten überall stecken. Er stieß auf eine Tür, die dennoch bewacht wurde. Zwei Commandramon richteten ihre Waffen auf ihn und erbleichten in ihren Kevlarrüstungen, als sie sich plötzlich Garurumon gegenübersahen. Zwei Feuerstöße später waren sie die beiden los. Matt betrachtete das Zahlenschloss, das die Tür sicherte. Dahinter musste sich etwas Wichtiges verbergen. Wenn er einen falschen Code eingab, würde der DigimonKaiser ein Warnlämpchen blinken sehen? „Die Tür ist nicht sehr stabil“, sagte er. „Wenn die anderen ähnlich rabiat waren, weiß der Kaiser vor kaputten Türen ohnehin nicht mehr ein noch aus.“ Er nickte Garurumon zu, das zu WereGarurumon digitierte und dem Stück Metall mit einem Tritt einen breiten Riss verpasste, den es dann mit seinen kräftigen Pranken auseinanderzog. Im Inneren des Raums war es fast finster, nur der hintere Bereich war erleuchtet. Matt stockte der Atem.   We are the vengeance of souls went in silence We are the scream of a new rising hope We’ll give our live to defend our kingdoms We’ll fight the hells at the end of the world (Rhapsody Of Fire – Immortal New Reign) Kapitel 68: Die Schatten und das Licht -------------------------------------- Tag 152   Ganz in der Nähe explodierte etwas. Ken zuckte in seinem Kommandosessel zusammen. „Funktionieren die Kameras schon wieder?“, rief er. „Positiv.“ „Dann zeigt mir, was vor der Brücke vor sich geht!“ Ihm blieb fast das Herz stehen. Cody war dort draußen – gemeinsam mit Willis, und die beiden kämpften gegeneinander! Er hatte sich schon gewundert, warum der Junge nicht aufgetaucht war, und war nahe dran gewesen, einen Suchtrupp loszuschicken. Ansonsten konnte er noch Rapidmon sehen, das etwas angriff – etwa Armadillomon? Und wieso konnte Terriermon überhaupt digitieren? Das Goldene ArmorEi müsste in einer sicheren Kammer in der Festung vor sich hin stauben! Hatten sie es etwa gefunden? „Sofort raus!“, blaffte er Arukenimon und Mummymon aus. „Helft ihm! Und bleibt am Leben! Müsst ihr eigentlich ständig seine Erlaubnis einholen?“, fragte er gereizt, als sie Oikawa einen fragenden Blick zuwarfen. „Verzeihung!“ Mummymon huschte als Erstes davon, in Mullbinden gekleidet. Arukenimon begegnete Ken noch kurz mit ausdruckslosem Gesicht, dann verwandelte es sich ebenfalls.     Die Tür zur Brücke glitt auf, gerade als Ankylomon zurückdigitiert war. Cody hielt sich nicht damit auf. Ein Rauchschleier hing noch von Rapidmons letzter Attacke in der Luft, das nutzte er aus. Der Arenakämpfer warf sich nach vorn, zog vor jedem Schritt eine saubere Linie mit dem Schwert. Er traf tatsächlich, noch bevor er sein Ziel erkennen konnte. Die goldene Klinge fraß einen Spalt in Endigomons Brust und ließ das affenartige Digimon knurren. Cody drehte das Schwert gekonnt in der Hand und stieß die Spitze genau in die frische Wunde. Diesmal brüllte es, stürzte rückwärts und digitierte zu einem kleinen, braunen Digimon zurück. Allein dieser Kampfkniff hatte Codys Atem beschleunigt. Er war eindeutig nicht mehr in Bestform … Der blonde Junge stand zwei Meter vor ihm und starrte ihn hasserfüllt und fassungslos an. „Der schon wieder!“, hörte er Arukenimons Stimme hinter sich. Es war in der Tür zur Brücke aufgetaucht, gemeinsam mit Mummymon. „Mach, dass du reinkommst“, sagte die Mumie zu Cody. „Du wirst schon erwartet.“ „Ich bleibe“, sagte Cody stur, obwohl es unvernünftig war. „Ihr zwei seid also auch hier“, stellte der Blonde fest und wich etwas vor Codys Klinge zurück. „Hätte ich mir denken können. Diesmal wird es ein ehrlicher Kampf – oder habt ihr Angst davor?“ „Dir sollte mal einer den Hintern versohlen“, rief Mummymon aus und legte auf Rapidmon an. „Nimm das!“ Die Lichtschlange aus seinem Gewehr war zu langsam. Das goldene Digimon sauste aus der Schusslinie und gab fast im selben Moment einen eigenen Schuss ab, der Mummymon gegen die Brust traf und zurück durch die Tür schleuderte. Arukenimon machte es schlauer und versprühte Giftnebel, der den halben Gang ausfüllte. „Halt den Atem an, Kleiner!“ Ein rosa Spinnenfaden schoss auf Cody zu, um ihn zurückzureißen. Aber Cody hatte genug davon, beschützt zu werden! Entschlossen kappte er den Faden mit seinem Schwert, dann stürzte er sich auf den Blonden. Wie Mummymon zu langsam für Rapidmon gewesen war, war der Junge zu langsam für Cody. Ohne dass er viel Gegenwehr leisten konnte, riss er ihn von den Füßen und schmetterte ihm den Schwertknauf gegen das Kinn. Arukenimon stöhnte auf. „Verdammt, bist du eine Nervensäge!“ Es wollte auf ihn zutrippeln, doch Rapidmon, dem das Giftgas offenbar nichts ausmachte, stellte sich ihm in den Weg. „Ich bin dein Gegner.“ Die Spinnenfrau schnalzte verärgert mit der Zunge. „An deiner Stelle würde ich mir Sorgen machen, dass mein kleiner Junge deinem kleinen Jungen den Kopf abschlägt.“ Das wirkte. Rapidmon flog sofort zu Cody zurück, der dem anderen die Klinge an die Kehle setzte. Der war immerhin klug genug, sich nicht zu wehren. „Ihr seid gefangen“, rief er aus. „Alle drei! Digitiere sofort zurück!“ „Schmutzige Tricks“, presste der Blonde hervor. „Ich habe dich ganz alleine überwältigt. Komm mir nicht mit schmutzigen Tricks!“ „Cody, was soll das?“, schallte plötzlich eine Stimme durch den Gang. Der DigimonKaiser. Cody zwang sich dazu, sich nicht umzudrehen. Die Klinge noch fest am Hals seines Opfers, sagte er: „Ich habe ihn überwältigt. Wir nehmen ihn gefangen.“ Und ohne mich hätte Rapidmon sicher auch alle anderen Digimon über den Haufen geschossen. Der Kaiser seufzte. „Schön. Gut gemacht. Willis, ergib dich.“ „Niemals!“, zischte der Blonde. „Du wirst dich ergeben. Wenn nicht freiwillig, dann pflanze ich dir meine Saat ein, und dir wird nichts anderes übrig bleiben, als mir zu gehorchen. Und dann töte ich wieder deine Digimon. Nur diesmal lasse ich es dich eigenhändig tun.“ Willis erstarrte. Die Klinge hüpfte, als er hart schluckte. Als hätte es genau wie er seinen Kampfgeist verloren, digitierte Rapidmon zurück.     Im hinteren Winkel des Zimmers stand jemand – oder besser gesagt, jemand wurde in eine stehende Position gezwungen. Straff gespannte Riemen umwickelten Oberkörper und Arme der Person und waren an zwei Stahlträger gebunden. Die Knöchel steckten in eisernen Manschetten, die direkt an der Wand angebracht waren, der Kopf wurde mit einem gepolsterten Stirnreif fixiert. Im linken Arm des Menschen steckte eine Nadel, die über einen Schlauch mit einem medizinischen Tropf verbunden war. Als die Gestalt Matt und WereGarurumon bemerkte, weiteren sich ihre Augen und sie gab unverständliche Laute von sich. Ein dicker Knebel hinderte sie am Sprechen. „WereGarurumon, hilf mir.“ Matt löste die Seile, während WereGarurumon es schaffte, die Eisenringe als Ganzes aus der Wand zu reißen. Als Matt ihr den Knebel aus dem Mund nahm, beugte sie sich hustend vornüber und stützte sich an seiner Schulter ab, als würde es ihr schwer fallen, selbstständig zu stehen. „Danke“, krächzte sie und hustete wieder. Ihre Kehle klang ausgedörrt. Erst, als sie vollständig befreit war, erkannte Matt dieses Mädchen. WereGarurumon erging es ebenso. „Königin Nadine“, grollte es verblüfft. Ihr schwarzes Kleid war von den scheuernden Riemen zerschunden, einzelne Fäden aufgetrennt. Ihr Haar fiel ihr ungewaschen und widerborstig ins Gesicht, aber sie war es eindeutig. Blinzelnd sah sie ihn an, und auch durch ihre Augen zuckte der Schein des Erkennens. „Na so was“, sagte sie und lachte rau. Es klang schmerzhaft. „Du bist das! Was für eine Ironie.“ „Du … lebst?“, brachte Matt völlig überrascht heraus. Er hatte nicht vergessen, dass sie es gewesen war, die ihn seinerzeit aus der Gewalt des DigimonKaisers befreit hatte. Es gab die wildesten Gerüchte über ihn und die Königin: Offiziell war sie seit geraumer Zeit krank, aber daran glaubte mittlerweile niemand mehr. Es lag auf der Hand, dass die Schwarze Rose den DigimonKaiser verraten hatte und dafür von ihm bestraft worden war – und in der Wüste hatte sie genau das zugegeben. In der Wüste, wo sie gestorben war. „So leicht sterbe ich nicht“, sagte sie und verzog das Gesicht, bleckte die Zähne. „Dafür hat er ja gesorgt!“ Mit einem Ruck riss sie sich die Nadel aus der Armbeuge, ballte die Faust und starrte das Blut an, das ihr über den Am lief. „Dieser elende Mistkerl“, murmelte sie. „Dieser verdammte, verdammte Idiot!“ Mit einem Schrei riss sie den leeren Tropf vom Ständer, stieß selbigen um und zerrte dann an den losen Fesseln, als wollte sie sie zerreißen. Matt wagte es kaum, sie anzusprechen. „Was … bedeutet das hier alles?“ Sie schien nicht zu wissen, was er meinte. „Das bedeutet, dass ich ihn mit seinen eigenen Eingeweiden erwürge!“ Mit funkelnden Augen drehte sie sich zu ihm um. „Nicht nur, dass er mich hier einsperrt – verschnürt mich der doch wie ein Paket! Nicht einmal selbst essen hat er mich lassen! Ich könnte mir ja die Zunge abbeißen, o weh! Und wozu gibt’s schließlich künstliche Ernährung?“ Sie schleuderte den Schlauch mit der Nadel angewidert von sich. „Und dreimal am Tag schickt er so ein hohles Pumpkinmon mit einem Nachttopf! Nur keine Umstände, liebe Königin! Kannst du dir vorstellen, wie demütigend das war?“ Keine Spur von Scham war auf ihrem Gesicht zu sehen. Das Rot auf ihren Wangen schien einzig von ihrer Wut herzurühren. Matt schwieg mit offenem Mund. Er hatte das Gefühl, als zöge irgendetwas Wichtiges an ihm vorbei und er könnte nicht verstehen, was es war. Als Nadine seinen fragenden Blick sah, winkte sie ab. „Was rede ich überhaupt mit einem NPC wie dir? Mach Platz.“ Sie stapfte an ihm vorbei zu dem Bett, das sich schemenhaft im Zimmer abzeichnete. Daneben stand ein wuchtiger Schrank. „Dreht euch um! Ich muss mich umziehen.“ Gehorsam wandten Matt und WereGarurumon ihr den Rücken zu. Er suchte immer noch nach Worten. Wie konnte sie leben? Wo war ihre Wunde hinverschwunden? Er hörte ihre Röcke rascheln. Unentwegt fluchte sie über den DigimonKaiser, über irgendein Spiel und andere Dinge, die er nicht verstand. „Er ist sowas von tot, dieser Mistkerl … Hat mich so weit gebracht, dass ich hier vor einem NPC herum jammere. Ich muss ja wohl sehr lange einsam gewesen sein!“ Sie schnaubte. „Immerhin, Deemon hatte recht. Dich zu befreien, war eine gute Idee. Ihr könnt euch wieder umdrehen.“ Königin Nadine war in ein einfaches, graues Kleid geschlüpft, das unter den Knien endete und ärmellos war. Es schien nicht zu einer Königin zu passen. Eben kämmte sie ihr Haar ein wenig nach hinten. „Ihr seid hier, um den DigimonKaiser zu töten, oder? Dann komme ich mit“, entschied sie, etwas ruhiger. Matt fand endlich seine Sprache wieder. „Was geht hier vor?“, fragte er. „Warum lebt Ihr noch?“ „Mein Gott, bitte, bestätige mir nicht das Klischee, dass Blondinen dämlich sind. Oder generell Schönlinge“, stöhnte sie und verdrehte die Augen. „Das hab ich dir doch schon erzählt, oder nicht? Er hat alles dafür getan, dass ich nicht Selbstmord begehen kann! Das wird er noch bereuen!“ Sie ging zu einer Stahlkiste mit winzigen Luftlöchern, die an der Wand stand, öffnete den Riegel und hob ein Elecmon heraus, das sie zärtlich streichelte. Es kuschelte sich an ihre Brust und murmelte etwas, und Nadine flüsterte ihm beruhigende Worte zu. „Aber Ihr habt Selbstmord begangen“, sagte Matt ernst. „Ihr habt Euch einen Speer in die Brust gerammt. Meine … Freunde haben es gesehen.“ Nadine starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Dann lachte sie. Ihre Stimme klang immer noch rau und kratzig. „Oh, komm schon. Das wüsste ich doch wohl.“ „Wart Ihr nicht am Rand der Wüste? Habt Ihr nicht gemeint, Ihr müsstet für Eure Sünden bezahlen?“ „Wovon redest du überhaupt?“ Sie lachte immer noch, verstummte aber, als sie seinen ernsten Blick sah. „Ich war die ganze Zeit hier – in meiner verdammten Königinnenzelle!“ „Dann muss es jemand gewesen sein, der Euch ungeheuer ähnlich sah“, beharrte Matt. Er hatte sie selbst nicht gesehen, aber selbst der einfachste Soldat hatte die Geschichte erzählen können. Er zweifelte nicht daran, dass es die Wahrheit war. Nadine machte ein nachdenkliches Gesicht, während sie in ihrem Nachtkästchen nach einem Haargummi kramte und sich die Haare zu einem Pferdeschwanz band. „Da war jemand, der genauso aussah wie ich?“ „Ja.“ Sie ließ sich auf ihr Bett sinken. Dann wanderte ein Schatten über ihr Gesicht. „Dieser Verrückte, was hat er nur wieder ausgeheckt? Ich kann mir nur eines vorstellen, wie er …“ Sie unterbrach sich. „Die Maschine! Verstehe, das muss es sein! Er hat mich geklont, dieser Irre!“ Geklont. Das Wort hallte in Matts Kopf wider. „Ihr meint, er hat sich eine Puppe gebaut, die genauso aussieht wie Ihr?“ „Warte. Ich will das nur schnell überprüfen.“ Nadine schien sich plötzlich in Gedanken zu verlieren. Für einen Moment schien es, als lauschte sie jemandem, dann nickte sie. „Es stimmt tatsächlich. Das mit der Puppe. Und ich will gar nicht wissen, was er alles mit ihr angestellt hat“, murmelte sie finster. Wenn es nur eine Puppe gewesen war … „Dann kann der DigimonKaiser gar keine Menschen kontrollieren, so wie die Schwarzringdigimon?“ Nadine lachte humorlos auf. „Nie im Leben. Das wüsste ich.“ Matt fühlte ein Ziehen in der Magengegend. Wenn das stimmte, wenn er gar keine selbstmörderischen Geiseln besaß … Dann war soeben seine letzte Trumpfkarte verbrannt. „Gehen wir, WereGarurumon“, sagte er. „Ich komme mit“, verkündete Nadine und stand schwungvoll auf. In ihren Augen funkelte Tatendrang. „Ich kann mir drei Orte vorstellen, an denen er im Moment sein könnte. Am besten fangen wir mit der Brücke an. Und ich schwöre euch, ich bringe ihn um. Diesmal schaffe ich es.“     Kari sah mit an, wie die Seeschlangen unter den Divermon wüteten. Besonders MegaSeadramon schien sich einen Spaß daraus zu machen, die kleinen Schattenwesen auf sein Horn zu spießen und davon zu schleudern. Angewomon hatte den Großadmiral endlich erreicht und schoss einen Himmelspfeil auf ihn. MegaSeadramon zuckte zusammen, doch sein Leib war zu groß, als dass ein einziger Schuss ihm viel ausgemacht hätte. Angewomon umschwärmte es wie eine lästige Wespe – und mehr war es für das Digimon wohl auch nicht: lästig. „Schnell!“, schrie Kari, so laut sie konnte, doch gegen den Schlachtenlärm kam sie nicht an. „Bringt euch in Sicherheit!“ MegaSeadramons Schwanz peitschte durch die Luft und erwischte Angewomon, schleuderte es irgendwo in Strandnähe ins Wasser. Kari konnte nur noch sehen, wie es zurückdigitierte. Es hatte alle Energie beim Kampf auf der Mauer verbraucht. „Tu doch endlich was!“, herrschte sie Agunimon an, das ihr kaum Beachtung zollte, sondern immer noch den nun ungeschützten Bereich vor dem Tor im Auge behielt. Eben lief ein Digimon, das Kari noch nie gesehen hatte, über den kraterübersäten Boden. Es trug eine schwarze Rüstung, aus der an mehreren Stellen riesige Augäpfel glotzten. Seine beiden Schwerter glühten rot, und es schwenkte sie in einem Halbkreis, als es auf das Tor zusprang. Dann war es außerhalb von Karis Sichtbereich. „Verdammt!“, fluchte Agunimon noch, dann erbebte die gesamte Festungsmauer, als ein roter Feuerball meterhoch in den Himmel stach. Wo sich das Tor befand, wurde der gesamte Wehrgang verformt, aufgerollt wie ein Teppich. Alle Digimon, die sich noch darauf befanden, wurden im hohen Bogen fortgeschleudert. Wenn Kari noch dort gestanden wäre … Steinbrocken in jeder Größe flogen durch die Gegend, schlugen im feindlichen Heer ein oder gingen im Burghof nieder, wo sie von dem Chromtuch aufgefangen wurden. Gemahlenes Gestein rieselte auf Kari herab. Als das rote Licht verglomm, gähnte ein gewaltiges Loch in der Mauer, als hätte jemand ein Stück herausgebissen. Schon strömten Kens Digimon auf den Burghof. „Sie kommen durch! Haltet stand!“, brüllte Agunimon. Aus allen Quartieren, Türmen und Mauern stürzten Digimon herbei, die Besatzung des Forts, die einen guten Teil des Nordheeres ausmachte. Sie würden die Angreifer eine Weile aufhalten, zumindest bis man die Verletzten fortgebracht hatte. Aber was war mit Gatomon, mit Klecks und den Divermon …? Als Kari sich wieder der Bucht zuwandte, sah sie direkt in MegaSeadramons Augen. Plötzlich war sie unfähig, sich zu bewegen. Aus dieser Nähe hatte sie so ein Digimon noch nie gesehen, den blitzenden Schädel, die grässliche, faltige Haut um die Augen, die glänzende Zunge, die aus seinem Maul hing … Es war ebenfalls auf die Explosion aufmerksam geworden. „Sieh an“, fauchte es. „Ein Mensch. Ich habe zwar strikte Anweisungen, aber ich frage mich, wie es sein mag, einen Menschen zu rösten.“ Licht sammelte sich in seinem Horn. „Weg da, Närrin!“ Agunimon packte Kari grob und sprang. Noch während sie in der Luft waren, fegte ein heller Blitz über den Wehrgang und zerschmetterte alle Digimon, die sich noch darauf befanden. Agunimon landete stolpernd mit Kari auf dem Arm auf der Treppe, die in den Burghof führte. „Du musst Todessehnsucht haben! Komm mit!“, zischte es und zerrte sie mit sich nach unten. Kari versuchte sich zu wehren. „Lass mich los! Ich muss zu Gatomon!“ Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie alleine zur Bucht lief, aber konnte sie ihre Digimon deswegen im Stich lassen? Tränen liefen ihr über die Wangen. Im Hof war die Hölle los. Sechs Meter breit war die Lücke in der Mauer, und dort zwischen geborstenem Fels und umherliegendem, zersplittertem Holz lieferten sich drängelnde Digimon ein hitziges Gefecht. Immer wieder verirrte sich eine Attacke und geriet bis zu dem Chrom-Zelt. Die Verletzten wurden eben fortgebracht und irgendwo in den viel zu engen Gängen der Burg einquartiert. Auch von der östlichen Mauer hörte man Waffengeplänkel und Schreie. Agunimon hatte sie losgelassen und wandte sich KaiserLeomon zu, das über den Platz gehetzt kam. „Wir haben ein Problem“, sagte es. „Mehr als eines“, erwiderte der schwarze Löwe. „Das Tor ist zerstört, und dieses MegaSeadramon ist groß genug, dass es uns von oben angreifen kann“, knurrte Agunimon. „Sie können uns von zwei Seiten angreifen!“ „Von drei, fürchte ich“, entgegnete KaiserLeomon. „Digimon vom Stiefel greifen uns im Osten an. Sie rennen uns fast das Tor ein – als hätten sie erfahren, in welcher Zwickmühle wir sind.“ Agunimon verzog das Gesicht. „Das ist schlecht. Das ist sehr schlecht … Wir können uns unmöglich verteidigen, wenn sie aus drei Richtungen kommen.“ Es stieß die Luft aus und ihm war anzusehen, wie schwer ihm seine nächsten Worte fielen. Allein, dass es sie aussprach, bewies ihre missliche Lage. „Wir müssen uns zurückziehen. Der Weg nach Norden ist noch frei. Wir können nur unseren Rückzug decken und uns irgendwo formieren, wo wir nicht von jeder Seite angegriffen werden.“ „Nein!“, rief Kari. Sie wusste, was das bedeutete. „Gatomon ist noch da draußen!“ „MegaSeadramon auch“, knurrte Agunimon. „Sei endlich artig, Majestät, oder ich lasse dich in irgendeinen Kerker werfen, in dem du keine Dummheiten machst.“ Kari überlegte schon, ob sie alleine durch das zerstörte Tor laufen sollte, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sora stand mit mitfühlendem Gesichtsausdruck hinter ihr. „Tu nichts Unüberlegtes“, murmelte sie. Sie schöpfte neue Hoffnung. „Sora … Bitte, ich brauche Garudamon. Kannst du es mir leihen? Ich muss Gatomon finden!“ Sora nickte. Sie war eine herzensgute Person geblieben, trotz all dieser Umwälzungen. „Fliegt schon mal voraus“, sagte sie zu Agunimon und KaiserLeomon. „Kari und ich kommen nach.“     Vorsichtig tasteten sich Davis und Flamedramon voran. Er wollte dem DigimonKaiser keinen Grund geben, die Geiseln zu töten. Vielleicht übersah man sie beide einfach. Eben waren sie in einen großen Frachtraum gekommen. Hier hatte er garantiert niemanden eingesperrt, aber womöglich gingen von hier weitere Gänge aus. „Soll ich nicht doch lieber die neue Digitation benutzen?“, fragte Flamedramon. Davis schüttelte den Kopf. „Warte, bis es nicht mehr anders geht. Wir haben oft genug einfach drauf losgeschlagen. Jetzt hängt alles vom richtigen Timing ab – wir können nicht mehr Hals über Kopf losstürmen.“ Er kletterte einen der Container hoch, die hier überall herumstanden. Dieser hier war offen. Er ließ sich den Inhalt durch die Hand gleiten. „Schwarzer Sand“, murmelte er. „Eiskalt.“ „Meinst du, der DigimonKaiser baut daraus seine Türme?“, fragte Flamedramon. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. „Möglich.“ Davis sah sich im Lagerraum um. „Allzu viele Kisten hat er nicht mehr.“ „Sollten wir sie anzünden? Vielleicht verbrennt das Zeug ja.“ Davis überlegte kurz. Es würde dem DigimonKaiser signalisieren, dass etwas in seiner Festung geschehen war, aber vielleicht würde er nicht sofort an Angreifer aus dem Nordreich denken. „Tun wir’s. Aber mach schnell.“     Endlich funktionierten wieder sämtliche Überwachungskameras. Die Hagurumon hatten doch noch einmal die Sicherheitsmechanismen erneuert und somit wieder für scharfe Bilder gesorgt. Ken brauchte nicht lange, um seine Freunde auszumachen. Davis hatte offenbar Lagerraum 3 in Brand gesteckt und schlich nun einen Gang weiter, entfernte sich dabei aber von der Brücke. Tai hatte einige internationale DigiRitter im Schlepptau – offenbar waren sie wirklich gekommen, um Kens vermeintliche Geiseln zu befreien. Und Matt … Matt hatte Nadine und Elecmon befreit. Er konnte sie auf dem Überwachungsmonitor eindeutig sehen. Verdammt. Das bedeutete das größte Problem. Was wusste Nadine, welche Schlüsse konnten Kens Freunde daraus ziehen? Und außerdem … „Wie kann es sein, dass ihre Digimon digitiert sind?“, keuchte er und schaltete noch einmal zu Tai zurück. WarGreymon, tatsächlich … „Sind die Türme mittlerweile beschädigt?“, fragte er die Hagurumon. „Türme einwandfrei.“ „Sie können trotzdem wieder digitieren“, sagte Cody. „Was soll das heißen?“ „Armadillomon konnte digitieren, obwohl wir im Einflussbereich der Schwarzen Türme waren. Das liegt bestimmt an dem Licht, das in unsere DigiVices gesickert ist.“ Ken vergrub die Hände in seinem Haar. Konnte das sein? Warum war er noch nicht darauf gekommen? War ihm sein Schicksal doch eine Spur zu gleichgültig gewesen? „Was denn? Hol doch einfach deine übrigen Geiseln raus und zwinge sie, sich umzubringen. Ich bin sicher, das wird die anderen aufhalten“, sagte Willis hämisch, den Arukenimon an einen Drehsessel gefesselt hatte. Sein DigiVice und sein ArmorEi lagen sicher in einiger Entfernung. Der Zwillingsritter legte herausfordernd den Kopf schief. Seine Augen wurden schmal. „Oder hast du damals einfach nur geblufft und kannst sie gar nicht töten?“ Fast war Ken ihm dankbar. Seine Worte hatten ihn wieder zur Ordnung gerufen. Panik war unangebracht. Er konnte nur gewinnen – für nichts anderes hatte er gekämpft, seine Hände beschmutzt, für nichts anderes war er der Tyrann, den alle hassten. Wie lächerlich wäre es, jetzt zu verlieren, jetzt hysterisch zu werden! „Bringt ihn zum Schweigen“, befahl er ruhig. „Liebend gern.“ Mummymon wickelte Willis ein paar Schichten Mullbinden vor den Mund. „Wie gehen die Bauarbeiten auf Zwei-Eins-M voran?“, fragte Ken die Hagurumon. „Die Digimon liegen gut im Zeitplan. Allerdings wurden zwei Container noch nicht geöffnet.“ „Das dauert zu lange.“ Ken drehte sein DigiVice in der Hand. „Ich fliege selbst hin.“ „Überleg dir das noch einmal“, warnte Oikawa. „In der Festung wimmelt es im Moment nur so vor Feinden.“ „Das ist mir egal. Komm, Wormmon.“ Ken betätigte den Öffner der Brückentür. Als er einen Schritt nach draußen machen wollte, hörte er metallische Schritte – schnelle, metallische Schritte. Die Alarmlampen waren mittlerweile wieder durch die gewöhnliche Deckenbeleuchtung ersetzt worden, daher sah er sie schon, als sie um die Ecke bogen: Matt und Nadine, auf MetallGarurumons Rücken. Sie sind schon hier? Ken sprang zurück und hieb auf den Schalter. Fauchend schloss sich die Tür wieder. Ruhig aktivierte er die rein-manuelle Steuerung und schloss noch die Sicherheitsblende, die er nach dem ersten Attentat hatte einbauen lassen. Lange würde das ein Digimon wie MetallGarurumon trotzdem nicht aufhalten … „Wir haben ein Problem. Sie sind bereits da“, verkündete er ohne Gefühlsregung. „Die gesamte Besatzung der Festung soll die Brücke verteidigen. Wir halten sie auf, so lange es geht.“ „Lange kann das nicht sein“, meinte Oikawa. „Entweder lange genug, oder wir haben verloren. Alles oder nichts, Yukio. Es ist einfacher. Gewöhn dich daran.“     Kari und Sora saßen auf Garudamons Schulter, das wegen seiner Größe natürlich sofort von MegaSeadramon aufs Korn genommen wurde. Ein Blitzstrahl fuhr in seine Brust und ließ es stöhnend erzittern. „Alles in Ordnung?“, fragte Sora besorgt. „Es geht schon … aber nicht lange.“ Kari ließ ihren Blick schweifen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch der Anblick ließ ihr speiübel werden. Die Wellen, auf denen zerbrochene Eiskrusten tanzten, spülten Dutzende lebloser Körper an den Strand, die eben dabei waren, sich in Datenstaub aufzulösen. In den Eisblöcken eingeschlossen waren Gliedmaßen, die sich noch nicht in Daten verwandelt hatten. Kari sah kein einziges Divermon mehr in den Fluten. „Kari!“, rief plötzlich eine bekannte Stimme. „Gatomon!“ Es hatte sich an Land gerettet und hinter einem Felsen versteckt. Nun winkte es ihnen zu. „Wir müssen nach Überlebenden suchen“, sagte Kari zu Sora und Garudamon. „Dann überlass MegaSeadramon mir“, sagte das Digimon mit mächtiger Stimme. „Ich lenke es ab.“ Es landete am Strand und setzte Sora und Kari ab. Dann stürzte es sich auf die Seeschlange, die sich über ihren neuen Gegner zu freuen schien. Mit den Fußkrallen packte Garudamon MegaSeadramon knapp unter dem Kopf und stieß es zurück ins Wasser. „Kari!“, schrie Gatomon ihr zu und lief ihr entgegen. „Eine Armor-Digitation müsste noch drin sein!“ „Gut!“ Sie nahm ihr D-Terminal zur Hand. „Erstrahle!“ Auf Nefertimons Rücken suchten Kari und Sora die Bucht ab. Die Seadramon spien Eis nach ihnen, und mehr als einmal war das Armor-Digimon zu einem halsbrecherischen Ausweichmanöver gezwungen. Wenn es sich ergab, schoss es die Juwelen in seinen Läufen auf die Digimon. Irgendwann entdeckten sie das erste noch lebende Divermon und fischten es aus dem nachtschwarzen Wasser. Garudamon rang in dessen weiter mit MegaSeadramon. Es hatte die Schlange an Land gezerrt und in den Sand gedrückt, hieb mit den Fäusten auf seinen gepanzerten Schädel ein. MegaSeadramon hingegen hatte sich wie eine Würgeschlange um Garudamons riesigen Leib gewickelt und versuchte, es zu erdrücken. Sein Kopf wand sich hin und her und versuchte, das Horn in Position zu bringen. Immer wieder zuckten kleine Lichtblitze daraus in den Sand oder die nahe Festungsmauer. Die Seeschlange fauchte kehlig. „Das war das Letzte“, meinte Sora. „Schon?“, fragte Kari erschrocken. „Das kann nicht sein – es muss noch andere geben!“ „Ich sehe auch keines mehr“, ließ Nefertimon vernehmen. Kari fühlte sie wie zerschlagen. Nur sieben Divermon hatten sie geborgen und hinter einen Felsen am Strand gebracht, und selbst diese konnten sich kaum mehr rühren – sieben! Von Achtzig! „Kari, lass uns umkehren“, sagte Sora und berührte sie sanft am Arm. Sie schluckte ihre Tränen hinunter. „Okay“, sagte sie mit gebrochener Stimme. Sie flogen zurück, gerade als Garudamon eine leuchtend rote Flügelklinge auf die Seeschlange niedergehen ließ. Einmal mehr wand sich MegaSeadramon, dann löste es sich mit einem hässlichen Zischeln endlich in Daten auf.     Tai wurde nicht schlau aus der ganzen Sache. Er hatte bereits überraschend viele Menschen in den Eingeweiden der Festung gefunden, aber kein Einziger war vom DigimonKaiser kontrolliert worden. Sein DigiVice hatte nie auch nur irgendeine Reaktion gezeigt. Einige hatte er sogar regelrecht nötigen müssen, ihm zu folgen. Das war mehr als merkwürdig. Da war einmal ein anderes Mädchen gewesen, gegen dessen Schönheit selbst Mimi nicht ankam. Fast hätte Tai sie nicht erkannt, doch sie war damals Soras Gefangene gewesen, in dem Kerker, in dem er sein Auge verloren hatte. Sie schien sich gar nicht an ihn zu erinnern. Tai wollte sie gern darauf ansprechen, aber für den Moment ließ er es dann doch sein. Dann war da noch ein Mädchen, fast noch ein Kind, mit dunklen geflochtenen Zöpfen. Diese beiden und ein stämmiger Junge schienen nicht gewillt zu sein, befreit zu werden – irgendwie kam es Tai vor, als betrachteten sie ihn als Bösewicht. Nicht zu vergessen, dass die meisten von ihnen Digimonpartner hatten. Drei Brüder hatte er noch gefunden, die immerhin erfreut waren, dass jemand sie retten kam. Anscheinend hatte der DigimonKaiser sie irgendwo im Westen in einem Lokal gefunden und mitsamt ihrer drei Syakomon-Muscheldigimon verhaften lassen. Mit diesen neun erschöpfte sich Tais Erfolg. Niemand von ihnen wusste, wen der DigimonKaiser als Geiseln vorgeschickt hatte oder wo man sie finden könnte. Die meisten kannten wenig mehr als ihre Quartiere oder durften sich immerhin frei auf dem dazugehörenden Flur bewegen. Viele waren überdies erst kürzlich in die Festung gebracht worden und hatten zuvor ihr Dasein auf dem Rosenstein gefristet, in Königin Nadines Palast. Für Tai war das ein Beweis, dass der Kaiser sie als Geiseln einsetze wollte – aber es war sein einziger. Als er aus der Ferne Kampfgeräusche hörte, beschloss er die Suche aufzugeben und bei den Kämpfen mitzumischen. Ewig würde WarGreymon sein Megalevel schließlich nicht halten, und vielleicht hatten die anderen mehr Erfolg gehabt und er durchstöberte hier umsonst finstere, leere Räume. Immer wieder waren ihnen Feinde begegnet, aber sie wurden immer weniger. Selbst die stärksten hatte WarGreymon mit einem kleinen Energieball vernichtet. Zu viel Schaden wollte Tai nicht anrichten. „Bleibt hinter mir. Und keiner läuft davon“, schärfte er seinen Schützlingen ein, als sie eine Weile durch die Gänge geirrt und dem Lärm gefolgt waren. Nach der nächsten Biegung atmete er auf. Dort waren Matt und MetallGarurumon und entledigten sich soeben einiger Guardromon und tückischer Thunderboltmon. Die Hand zum Gruß erhoben trat Tai auf sie zu, die anderen Menschen folgten ihm. Neben Matt sah er noch ein Mädchen und ein Elecmon. „Ah, du hast auch jemanden …“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er die Schwarze Rose erkannte. „Das … Das ist doch …“ Matt blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Königin Nadine von der Felsenklaue, ja. Der DigimonKaiser hat sie nicht umgebracht. Das war nur eine Kopie – genau wie die anderen Menschen, vermute ich.“ „Eine Kopie“, stieß Tai aus. Der Eherne Wolf nickte. „Deine Norddigimon sind zweimal auf denselben Trick hereingefallen.“ „Nicht zu fassen!“, knurrte Tai. „Dann haben wir ganz umsonst … Er hat also gar keine Geiseln, die er gegen uns einsetzen kann?“ „Wenn ich mir ansehe, wie viele du befreit hast, wohl nicht mehr“, meinte Matt mit einem schiefen Lächeln. „Wisst ihr, wo der DigimonKaiser steckt?“ „Dahinter.“ Nadine zeigte verärgert auf eine dicke Stahltür am Ende des Ganges. „Und ich bin mir sicher, dass er mein DigiVice auch irgendwo dort gebunkert hat. Ich liege deinem Freund hier schon ewig in den Ohren, dass er endlich die Tür aufbricht, aber er will unbedingt rumtrödeln und sich lieber mit den Digimon kloppen, die von überall angerannt kommen.“ „Ich halte es für besser, wenn wir auf die anderen warten“, bestätigte Matt. „Königin Nadine sagt, es gäbe keinen zweiten Eingang zur Brücke. Er sitzt in der Falle. Wir sollten ihn alle gemeinsam stellen, damit er uns nicht entwischt.“ „Wenn unsere Digimon nicht vorher zurückdigitieren“, brummte Tai. „Hast du etwas von den Piximon gehört?“ Sie waren ihm nicht mehr über den Weg gelaufen, seit sie sich getrennt hatten. Matt schüttelte den Kopf. „Sie wurden vermutlich auch in Kämpfe verwickelt. Sie sind nicht so stark wie unsere Digimon.“ „Wie groß und mächtig ihr doch seid“, seufzte Nadine. „Also gut, wir warten zehn Minuten“, entschied Tai. „Wenn Davis, Willis und die Piximon nicht bis dahin aufgetaucht sind, schlagen wir ohne sie los.“     Sie hatte noch gesehen, wie die letzten Festungsmauern fielen, ehe sie zu der fliehenden Armee aufschlossen. Mit einer unglaublichen Leere in ihrem Herzen hatte Kari über ihre Schulter geblickt. Die Digimon, die vom Stiefel gekommen waren, jubelten, als sie das Fort fast verlassen vorfanden. Die Schwarzturmdigimon, die ihnen auf dem Burghof begegneten, freuten sich nicht. Sie verharrten einfach, hatten ihre Aufgabe erfüllt. Dann hatte Kari noch gesehen, wie sie sich neu formierten, sicherlich, um die Verfolgung aufzunehmen, ehe sie sich gezwungen hatte, wieder nach vorne zu schauen. Snimon, Kuwagamon, Unimon, sogar Piximon, alle möglichen Flugdigimon hatten ihr Bestes gegeben, ihre langsameren Kameraden in Sicherheit zu bringen. Unter ihnen war ein breiter Strom aus Norddigimon über die Steppe geflossen, die Verwundeten in der Mitte, die Flanken von den Stärksten geschützt. Sie hatten kein Licht entzündet, um möglichst nicht gefunden zu werden. Nicht alle Digimon hatten evakuiert werden können. Einige Freiwillige hatten die Festung verbissen bis zum letzten Moment gehalten und waren gestorben. Ohne ihr Opfer hätten die anderen nie alle durch das Nordtor entkommen können. Zweifellos würden sie später als Helden gefeiert werden. Und was war mit Karis Divermon? Sieben hatte sie gerettet. Sieben Schattenwesen trug Garudamon in seinen Klauen. Die anderen waren in der Bucht gestorben, in der ersten Schlacht, in der sie auf sich allein gestellt waren. Kari war froh gewesen über den rauen Flugwind, der ihre Augen trocknete.   Wohin es ging, hatte niemand gesagt, aber sie hatte es sich denken können. Gemeinsam mit ihr, Gatomon und Sora war Garudamon den Flüchtenden in die Nacht hinein gefolgt. Schließlich waren sie in den südlichen Ausläufern der Edo-Berge gelandet. Die kläglichen Überreste der Wissens-Armee hatten wohl Izzy informiert, denn alle kampffähigen Digimon aus Little Edo hatten bereits dort gewartet. Mimi hatte einen Aufstand gemacht, ließ sich Kari sagen. Sie wollte die Feinde nicht weiter in ihr wiedergewonnenes Reich lassen als nötig, und Izzy hatte dem schließlich standgegeben. Im Dunkel der Nacht traf die geschlagene Besatzung von Fort Netwave im Lager des Heeres ein, das sich den feindlichen Digimon als letzte Grenze entgegenwerfen wollte, die schützenden Berge im Rücken. Vielleicht konnten sie standhalten – aber man war sich einig, dass die neuen Schwarzturmdigimon aus der Wüste das nun ungeschützte Little Edo überrennen würden, sollten Tai und die anderen es nicht schaffen, den DigimonKaiser ein für alle Mal unschädlich zu machen. Kari bekam von den Notfallplänen und strategischen Sitzungen, bei denen auch Izzy und Yolei zugegen waren, wenig mit. Nicht einmal das bange Warten auf den baldigen Angriff der nachrückenden Schwarzturm-Streifkräfte berührte sie. Sie saß abseits eines Lagerfeuers, im Schatten, weil das Licht heute den Tod gebracht hatte, und pflegte die Schattenwesen, die davon verbrannt worden waren. Klecks war unter den Überlebenden. Sie erkannte ihn an dem geflochtenen Ring aus trockenem Seetang, den sie ihm bei ihrer Hochzeit an den Finger gesteckt hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass er ihn noch hatte, auch nicht, dass er ihn am Tag der Schlacht tragen würde. Es ließ sie sich nur noch elender fühlen. Als er die Augen mit einem Ruck aufschlug, rutschte Kari zu ihm und ergriff seine Hand. „Meine Königin …“ Seine Stimme war ein mattes Schlürfen. „Verzeih uns. Wir haben versagt.“ „Das stimmt nicht“, sagte sie ärgerlich. „Nicht ihr habt versagt. Es ist alles meine Schuld, alles!“ Sie biss die Zähne zusammen, aber die Tränen kamen trotzdem. „Ich war so selbstsüchtig. So dumm! Ich habe euch alle in diese Sache mit hineingezogen, obwohl ich wusste, dass es gefährlich ist. Ich dachte, mit euch an meiner Seite könnte ich etwas ausrichten. Wie naiv ich doch war.“ „Es tut mir leid“, sagte Klecks schleppend langsam. „Wir haben deine Erwartungen nicht erfüllt.“ „Doch, das habt ihr.“ Sie drückte seine Hand fester. „Ihr habt euch immer an die Abmachung gehalten. Ihr habt für mich gekämpft, und so viele sind gestorben! Ihr habt euch nie gegen mich aufgelehnt, obwohl alles so aussichtslos aussah! Und ich … ich habe bereits begonnen, mein Versprechen zu verabscheuen!“ „Wir werden dir überallhin folgen“, bekräftigte er. „Sei still!“, befahl sie ihm schluchzend, die Augen zusammengekniffen. „Ich will es nicht mehr hören! Warum könnt ihr so sein? Wie könnt ihr mir so ruhig und stur in den Tod folgen? Ich habe versprochen, euch zu helfen, damit ihr nicht aussterbt. Sieh dir an, was ich angerichtet habe.“ „Das ist nicht der Grund“, sagte Klecks und richtete sich schwerfällig auf. Sie sah ihn überrascht an, wusste erst nicht, was er meinte. Den Grund, aus dem sie ihr folgten, vielleicht? „Als unser Gott verschwand, waren wir hilflos und ängstlich“, murmelte das verwandelte Schattenwesen. „Unser Leben verlor jeden Sinn und jede Bedeutung. Dann kamst plötzlich du, das Licht aus einer anderen Welt. Eine neue Göttin, der wir folgen konnten. Und wir haben es gern getan. Unsere Leere war gefüllt.“ „Göttin“, zischte sie abfällig. „Vielleicht bin ich wirklich das Licht. Das Licht tötet Schatten.“ „Nein“, sagte Klecks. „Die Schatten entstehen durch das Licht.“ Kari ertrug den Schmerz in ihrer Brust nicht länger. Zum ersten Mal umarmte sie ihren Gemahl, weinte laut an seiner Schulter. Und in dem Moment, als die Lichter der feindlichen Armee am Horizont auftauchten, schwor sie sich, dass sie ihr Versprechen halten würde. Egal, was T.K. oder sonst jemand davon hielt.   Attacked in the cold I lay to the ground And I’m starting to freeze Touched by the dark I travelled the desert (Primal Fear – Demons and Angels) Kapitel 69: Götterdämmerung --------------------------- Tag 152   Magnamon erhellte die Gänge der Festung wie eine eigene Sonne – hier sah es noch viel prächtiger aus als auf der Hand-Insel. Davis hatte ihm die Digitation gestattet, als sich eine ganze Horde wütender MetallMamemon auf sie gestürzt hatte. Wie ein goldener Blitz fegte Magnamon durch ihre Reihen, und nicht einmal die Splitter ihrer schwarzen Kerne konnten das Licht aufsaugen. Irgendwann sah es so aus, als würden ihre Gegner fliehen. Davis folgte ihnen; bisher hatte er niemanden gefunden, den er hätte befreien können. Vielleicht war es den anderen gelungen, dem Kaiser die Geiseln zu entreißen. Die beiden letzten Meramon stürmten um einen Knick des Ganges und griffen jemanden an – und kurz darauf sah Davis ihre Daten davonstieben. Er stürzte um die Ecke und erblickte seine Gefährten. Tai und Matt standen vor einem großen Tor, außerdem einige andere Menschen. Sehr gut. „Wo warst du so lange?“, fuhr Tai ihn an. „Wir kämpfen hier seit zehn Minuten gegen die Digimon, die ständig angerannt kommen!“ „Tut mir leid, ich wusste nicht, dass wir einen Treffpunkt vereinbart hatten“, gab Davis beleidigt zurück. „Also habt ihr die Geiseln befreit?“ „Nein“, sagte das schwarzhaarige Mädchen neben Matt. Davis hatte das Gefühl, ihr Gesicht schon mal irgendwo gesehen zu haben. „Es gibt keine Geiseln. Alles Humbug. Der Kaiser versucht, in diesem Spiel keinen einzigen Menschen zu töten.“ „Hä?“, machte Davis verwirrt. „Und wer bist du?“ „Das ist Königin Nadine“, sagte Tai, als sie schon den Mund aufmachen wollte. „Königin … etwa die Königin …“ „Ja. Wir erklärten dir alles später“, sagte Matt. „Hinter dieser Tür liegt die Brücke. Dort versteckt sich der DigimonKaiser. Weißt du, wo Willis ist?“ Davis schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit mehr. Wir schaffen es auch alleine“, meinte Tai, und er und Matt nickten einander zu. Neues Feuer packte Davis. „Also gut! Legen wir los, Magnamon!“ „Liebend gern!“ In Magnamons goldener Rüstung öffneten sich Klappen, und ein Schwall Raketen hagelte auf das fragliche Tor nieder. Die DigiRitter schützten ihre Gesichter vor dem Splitterregen und husteten, als der weiße Qualm in ihre Kehlen drang. Hinter der pulverisierten Tür war kaum mehr als Finsternis zu erkennen. „Ihr wartet hier“, wies Tai die anderen Menschen an. Er, Nadine, Matt, WarGreymon, MetallGarurumon, Magnamon und Davis selbst betraten die Brücke. Der DigimonKaiser erwartete sie, lässig auf einem gepolsterten Drehsessel sitzend, inmitten von quellender Dunkelheit. Seine Brillengläser schienen im selben matten Licht wie die Bildschirme zu glimmen, die überall um ihn herum angebracht waren. Davis kannte sein Gesicht aus seinen Videobotschaften, doch damals hatte er noch nicht so einen grausamen Zug um den Mund gehabt. Hinter ihm ragten die dunkelgrünen Umrisse eines Stingmons auf. „Willkommen“, sagte er leise. „Das Spiel ist aus, DigimonKaiser.“ Tai trat einen Schritt vor. „Du bist erledigt!“ „Ach, wirklich?“ Der DigimonKaiser lächelte und bewegte lediglich einen Finger. Neben ihm ging Licht an – Willis saß dort an einen Sessel gebunden. Neben ihm stand ein grinsendes Mummymon, das ihm einen Gewehrlauf gegen die Backe drückte. „Rückt eure DigiVices heraus“, forderte der Kaiser. „Ihr habt die anderen vielleicht befreit, aber ich habe hier einen der euren.“ „Hört nicht auf ihn. Er blufft.“ Nadine marschierte an WarGreymon und MetallGarurumon vorbei und warf hochmütig ihren Zopf zurück. „Dein Schwindel ist aufgeflogen, Ken. Tu nicht so, als wärst du hier der Böse.“ Der DigimonKaiser begegnete ihrem Blick ausdruckslos. Die Digimon nahmen Angriffshaltung ein. Nadine lachte. „Du hättest mich wirklich töten sollen.“ „Ja. Vielleicht hätte ich das“, murmelte er düster. Mummymon stieß den Sessel mit Willis einfach um und stieß ein irres Lachen aus. Das Gewehr schwenkte herum; eine blitzende Lichtschlange verließ es und schoss auf die DigiRitter zu. WarGreymon reagierte blitzschnell, warf sich in die Schusslinie und wehrte den Energiestrahl mit seinem Rückenschild ab. Aus den Schatten schnellte Stingmon hervor. Davis hörte nur das laute Brummen seiner Flügel, dann landete es plötzlich genau neben ihm. Er konnte nur mühsam einen Aufschrei unterdrücken, als er in seine Facettenaugen sah. Der rosa glühende Stich ging in Richtung seiner Hüfte, wo sein DigiVice hing. Mehr durch Zufall konnte er ausweichen – im nächsten Moment warf sich Magnamon dazwischen, schlug den Insektenarm zur Seite und donnerte Stingmon die Faust gegen den Schädel. „Jetzt reicht’s!“, grollte MetallGarurumon und spie einen eisigen Hauch aus seinem Maul, direkt auf den DigimonKaiser, der sich nicht einmal rührte. Ein halbes Dutzend Hagurumon flog von irgendwo her. Die Zahnräder ordneten sich wie ein Schild vor ihm an, schützten ihren Herren. Das Eis hüllte sie vollständig ein und ließ sie zu Boden stürzen, vereint und sich bereits auflösend. In WarGreymons Kralle erschien eine glühende Feuerkugel, doch kam es nicht dazu, sie zu werfen. Ein Arukenimon stürzte plötzlich von der Decke – genau auf das Drachendigimon, das von den Füßen gerissen wurde. Damit nicht genug, huschte plötzlich noch ein Schatten durch den Raum. Als Nadines Elecmon Blitze auf Arukenimon schleuderte und MetallGarurumon blaue Eisstrahlen aus seiner Schnauze schoss, die den Boden hinter der Gestalt aufrissen, erkannte Davis einen dunkel gekleideten, groß gewachsenen Mann. Ein winziges Digimon auf seiner Schulter, das von einem Moment auf den anderen von einem grünen Klops zu einer Art Kastanie mit Blatt wurde, sprühte sogar eine Wand aus Seifenblasen auf die DigiRitter und versuchte wohl sie abzulenken. Der Mann hielt eine Eisenstange in Händen, aber er kam nicht weit: Magnamon packte Stingmon am Arm und schleuderte es gegen ihn, wo sie beide ächzend zu Boden gingen. Davis ballte die Fäuste. Sie wehrten sich wirklich verbissen … Nadine beließ es nicht beim Fäusteballen, sondern stürzte sich auf den DigimonKaiser, der endlich von seinem Sessel aufgesprungen war. Sie prallte gegen ihn, riss ihn von den Füßen. Davis hörte nur ihr Fauchen und dumpfe Geräusche, als sich die beiden irgendwo durch die Finsternis wälzten. „Davis!“ Er fuhr herum, wusste nicht einmal, wer geschrien hatte. Urplötzlich war ein Junge vor ihm aufgetaucht, den er noch nie gesehen hatte. Er schwang ein goldenes Schwert, so furios, dass Davis mit einem Aufschrei auf seine vier Buchstaben plumpste, dabei galt der Angriff MetallGarurumon. Die Klinge prallte Funken sprühend gegen seinen gepanzerten Hals. Wütend rammte der Wolf dem Jungen den eisernen Schädel in die Magengrube. Er gab ein würgendes Geräusch von sich und taumelte. Licht glühte in MetallGarurumons Rachen auf … Ein Digimon, das aussah wie ein Gürteltier, sprang auf den Kopf des Wolfes, presste seine Kiefer zusammen und erstickte die Attacke. MetallGarurumon versuchte, es abzuschütteln, und mehr konnte Davis nicht mehr erkennen: Kaum war er wieder auf die Füße gekommen, verpasste ihm Arukenimon eine mächtige Backpfeife. Seine rechte Gesichtshälfte explodierte im Schmerz. Er prallte gegen Magnamon, das ihn auffing. Das Spinnendigimon peitschte sofort mit seinen ekligen Fäden hinterher, die WarGreymon mit messerscharfen Krallen zerhackte. Im selben Moment ertönte ein saugendes Geräusch: MetallGarurumon hatte seine Raketen abgefeuert, die kreuz und quer durch den Raum flogen und sich jeweils ihr eigenes Ziel suchten. Ein Knall ganz in der Nähe, ein Schrei. Etwas zersprang klirrend in Daten. Mummymon hatte sich zwischen Arukenimon und eine Rakete geworfen, die sein Gewehr zertrümmert hatte. Ein schwarzer, rauchender Fleck zierte außerdem Mummymons Brust, von der lose Bandagen hingen. „A-alles in Ordnung, Arukenimon?“, seufzte es. „Du Idiot!“, zischte das Spinnenwesen mit geweiteten Augen. „Mach sie fertig, WarGreymon!“, rief Tai. Den nächsten Energieball warf es tatsächlich. Nun war es Arukenimon, das Mummymon zu Boden riss. Im Fallen nahm es eine menschliche Form an, was seine Angriffsfläche verringerte – und haarscharf sauste die Energiekugel an ihnen vorbei, fraß sich krachend und knirschend in die Wand. Dutzende Kabel und geschmolzene Stahlträger quollen daraus hervor. Noch während sie abgelenkt waren, beging der Mann von vorhin eine Wahnsinnstat. Er sprang WarGreymon von hinten an, versuchte, seine Arme zu fixieren. „Das tust du nicht nochmal“, flüsterte er entschlossen. „Die beiden sind sozusagen meine Kinder.“ Irgendwo im hinteren Teil des Raumes hörte man einen Aufschrei. Das Gerangel von Kaiser und Königin, Tulpe und Rose dauerte an. „Genug von dem Geplänkel!“, schrie plötzlich Willis. Er hatte sich irgendwie von seinen Fesseln befreit und war durch den Raum gerobbt. In Fetzen hingen Mullbinden von ihm herab, und in der Hand hielt er ein Goldenes ArmorEi. „Erstrahle!“ Davis konnte zunächst nicht sagen, woher das Licht der goldenen Digitation kam. Irgendwo unter eine Computerkonsole mussten Willis‘ Digimon eingesperrt gewesen sein. Die Maschinen zerbarsten und strahlend wie das Morgenlicht kam Rapidmon zum Vorschein. Das Glühen der Digitation tauchte den ganzen Raum in hellen Glanz und ließ ihn kleiner wirken. In einer Ecke kam eben keuchend der DigimonKaiser auf die Beine, das Gesicht zerkratzt, das Haar zerzaust. Seine Brille war fort. Zu seinen Füßen krümmte sich Nadine, hielt sich stöhnend den Bauch. Elecmon stieß einen schrillen Schrei aus, stürzte sich auf den Kaiser und verpasste ihm einen Stromschlag. Er stieß ein schmerzerfülltes Keuchen aus und seine Muskeln zuckten unkontrolliert – aber dann fegte er Elecmon mit einem wütenden Tritt zur Seite. „Ihr haltet mich nicht auf“, knurrte der DigimonKaiser. Ken, wenn Davis sich richtig erinnerte. Blut lief ihm aus der aufgeplatzten Lippe über das Kinn, und er fletschte die Zähne. „Digitiert, so viel ihr wollt! Bringt mir alles, was ihr habt! Ich werde nicht verlieren!“ Die letzten Worte schrie er in Rapidmons und MetallGarurumons Raketenfeuer. Das Donnern war so gewaltig, dass Davis‘ Trommelfell zu platzen schien. Maschinen, Kabel, Konsolen, Tische schmolzen regelrecht dahin, Splitter und Trümmer flogen durch den Raum, bohrten sich in Davis‘ Kleidung und seine Haut. Ein reißender Sog zerrte an seinem Haar. Ken und Nadine verschwanden in einer Wolke aus Feuer und Rauch. Etwas rumpelte und knirschte, ein frischer Lufthauch traf Davis‘ glühende Haut, füllte seine pumpenden Lungen. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er alle Muskeln angespannt hatte. „Ken!“ Stingmon rauschte in die Qualmwolke hinein. Der Kampf erstarb. Vor zwei menschenähnlichen Digimon rappelte sich der schwarzhaarige Mann auf. Auf der anderen Seite stand der Junge mit dem Schwert keuchend neben seinem kleinen Digimon. Es war nicht zu sagen, wer wen beschützte. „Gebt endlich auf!“, schrie Tai heiser „Ihr habt verloren! Euer Kaiser ist tot!“ „Glaubst du das wirklich?“, ertönte eine schrille, gequetschte Stimme. Davis rieselte es kalt den Rücken runter. Ein Windstoß zerriss den Rauchvorhang. Dort stand er, vor dem glitzernden Sternenhimmel. Die Reste seines Umhangs flatterten in der Brise, die durch die zertrümmerte Wand wehte: Ein klaffendes Loch prangte knapp neben ihrem Erzfeind in dem Fels-Metall-Gemisch, mehrere Meter tief, und reichte bis ins Freie. Davis stieß einen ungläubigen Schrei aus. Die Raketen hatten den DigimonKaiser verfehlt? Kens Gesicht war eine blutige Maske. Stirn und Wange waren von Metallsplittern aufgeschlitzt worden; einige winzige Trümmerstücke sah Davis sogar noch in seiner Haut glänzen. Seine blaue Kleidung war rußbefleckt und er hatte das linke Bein abgewinkelt, wo unter dem Knie rohes, zerfurchtes Fleisch zu sehen war. Sein Haar war angesengt worden; winzige Flammen fraßen eben noch an einzelnen Strähnen. Der DigimonKaiser machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu ersticken. Er breitete die Arme aus und lachte heiser, als er ihre Gesichter sah. „Ist das Ironie? Deemon kann mir alles entgegenwerfen, eine falsche Freundin, einen falschen Bruder, Magnamon und Rapidmon und Gennai – aber schieres Glück kann es wohl nicht steuern!“ „Jetzt, Ken!“, rief der große Mann. Der DigimonKaiser biss die Zähne zusammen, als er herumfuhr und durch den Tunnel hastete, den die Attacken in die Wand gerissen hatten. „Haltet ihn auf!“, kreischte Davis. Er hätte gar nichts sagen müssen – die Digimon stürzten von alleine vorwärts. Die Anhänger des DigimonKaisers hatten eine Spur schneller reagiert: Der Junge und sein Armadillomon warfen sich WarGreymon entgegen, das sie wie Puppen von sich stieß und durch den Raum purzeln ließ. Arukenimon verwandelte sich wieder und erreichte den DigimonKaiser mit schnellen Schritten. Mummymon saß auf dem breiten Spinnenrumpf und schleuderte Mullbinden auf seine Gegner, um sie zu verlangsamen. Auch die DigiRitter setzten sich in Bewegung, doch es war zu spät. Der DigimonKaiser ließ sich einfach aus der Öffnung fallen, Arukenimon und Mummymon sprangen nur eine Sekunde später hinterher, dann Stingmon mit vibrierenden Flügeln. „Nein!“, schrie Davis. Der peitschende Schwanz eines Airdramons war kurz zu sehen, als es dort draußen in die Tiefe tauchte. Kurz bevor sie das Loch in der Mauer selbst erreichten, baute sich der schwarzhaarige Mann davor auf, packte die scharfen Ränder der Wand und versperrte ihnen den Weg. Seine hellen, traurigen Augen funkelten entschlossen. „Aus dem Weg!“, schrie Matt. Der andere schnaubte. „Ich werde für die DigiWelt sterben“, sagte er. „Wenn es sein muss, immer und immer wieder.“ „Kannst du haben!“ Es war Willis, der sich gegen ihn warf. Der Stoß, den er ihm verpasste, enthielt all den gewaltigen Zorn und die Verzweiflung, die auch Davis empfand. Der Mann geriet nahe an den Abgrund, taumelte und stürzte schließlich in die Tiefe, während in der Ferne Airdramon und Stingmon zu sehen waren, die vor ihnen flohen. „Verdammt, das war …“, wollte Davis Willis anfahren, aber Tai fiel ihm sofort ins Wort. „Diskutiert das später aus! Wir müssen ihm hinterher!“ Matt saß bereits auf MetallGarurumons Rücken. „Wir sind viel schneller, diesmal entkommt er uns nicht!“ Sie nickten einander zu. Die beiden hatten recht. Davis kletterte hinter Matt auf den Eisenwolf, Willis hielt sich an Rapidmon fest, dann sausten sie alle in die Nacht hinaus, auf der letzten Jagd nach einem Feind, der so gut wie geschlagen war.     Oikawa schloss die Augen, als er den Wüstenboden näherkommen sah. Ein Sturz in den Tod, vorbei an Massen aus Gestein und von Finsternis getränktem Metall. Unten warteten Kens Schwarzturmdigimon, das wusste er, doch ohne eindeutigen Befehl würden sie ihn nicht auffangen. Er hatte von Anfang an erwartet, dass es so kommen würde. Dass er sich irgendwann opfern müsste, damit Ken das Unmögliche möglich machen konnte. Er bereute es nicht. Er hatte seine letzten Worte ernst gemeint. Etwas bremste seinen Fall, zunächst nur leicht, aber dann wurde der Sturz tatsächlich langsamer. Oikawa fühlte sich am Kragen gepackt. Als er fast reglos in der Luft schwebte, blickte er überrascht nach oben. Ein Digimon trug ihn unter sichtlicher Aufbietung all seiner Kraft. Er hatte es noch nie gesehen, zumindest nicht in dieser Form: Es war eine Art Pflanze mit einem Propeller auf dem Kopf. „Datirimon?“, fragte er ungläubig. Lalamon, verbesserte er sich. Sein DigiVice glühte. „Du bist ein DigiRitter, vergiss das nicht“, presste Lalamon angestrengt hervor und sank langsam tiefer. „Und ich warte nicht noch einmal so lange auf dich!“ Oikawa schloss wieder die Augen und lächelte.     „Da vorne ist er!“, brüllte Davis Matt ins Ohr, als würde er sie nicht auch sehen. Der Himmel hellte sich bereits auf, doch das meiste Licht gaben die Digimon unter ihnen ab, als MetallGarurumon mit riesigen Sätzen über sie hinwegsprang. Der DigimonKaiser hatte all seine Schwarzturmdigimon zur Festung gerufen, und sie attackierten die DigiRitter. Magnamon verschoss seine Torpedos, aber wirklich Ruhe hatten sie erst, als WarGreymon ausholte und einen riesigen Energieball auf sie schleuderte. Die Kugel formte die Dünenlandschaft neu, wirbelte Sand und schwarze Datensplitter auf. Es mussten Hunderte Digimon sein, die es mit einem Schlag vernichtete. Was wollte der Kaiser dem entgegensetzen?     Selbst als das Glühen von WarGreymons Planetenkraft nachließ, war es eine Spur heller als zuvor. Die Sonne ging langsam auf. In Stingmons Armen hielt Ken Ausschau nach dem tintenschwarzen Feld in der Wüste. Airdramon flog direkt neben ihnen. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Er hoffte, dass es jeder davon wert war. Dass alles das Ergebnis wert war. Er hatte seine Freunde nun selbst in große Gefahr gebracht, seine Verbündeten ebenso wie diejenigen, die sich gegen ihn verschworen hatten. Er hatte Nadine niedergeprügelt, wie er noch nie jemanden niedergeprügelt hatte. Und das alles nur zu einem Zweck. Es spielte keine Rolle. Er war immer zu weich gewesen. Er würde gewinnen, noch heute, um jeden Preis, denn der Preis des Verlierens war viel zu hoch. Die aufgehende Sonne hatte damals seinen Untergang verkündet. Heute würde sie seinen Sieg bejubeln. Die anderen waren ihm hart auf den Fersen. Rapidmon schoss Rakete um Rakete auf ihn ab. Sein Heer war so gut wie Geschichte; keine Champion- oder Ultradigimon konnten Rapidmon, Magnamon, WarGreymon und MetallGarurumon aufhalten, wenn diese über sie hinweg flogen. Auch das spielte keine Rolle. Alles oder nichts. Das ist einfacher. „Hier!“, rief Ken, als die Fläche in Sicht kam, die selbst das Morgenlicht schluckte. „Setz mich hier ab!“ Stingmon stellte keine Fragen. Es ging tiefer und landete auf dem Kamm einer gewaltigen Düne. Mummymon und Arukenimon flogen mit Airdramon weiter, bis sie den schwarzen Stachelteppich erreichten. MetallGarurumon kam vor ihm zum Stehen, WarGreymon, Magnamon und Rapidmon mit ihren Partnern blieben in der Luft, in einem breiten Halbkreis um Ken herum. Er breitete die Arme aus, wie um sie willkommen zu heißen. „Gib endlich auf!“, rief Davis von MetallGarurumons Rücken. „Nicht, solange ich die Grenzen dieser Welt nicht aufgerissen habe!“, schrie er. Er wusste, dass sie ihn nicht verschonen würden. Damals, als er vor Jahren Agumon gekidnappt hatte, war er auch schon Ziel ihrer Attacken geworden. Und wenn sie doch nicht auf ihn schossen, dann sicher auf alle Digimon und Türme in der Nähe. Das war genauso fatal, denn es bedeutete das Ende. Der Boden erzitterte erst nur leicht, sodass Sand die Düne hinunter rieselte. Das Dröhnen war zunächst kaum hörbar. Hinter ihm begann es erst richtig zu rumoren, als die Sonne die ersten hellen Strahlen durch die Wüste schickte, vorbei am dunklen Klotz seiner Festung. Obwohl WarGreymon und MetallGarurumon vermutlich stärker waren, fixierte Kens Blick in dem Moment nur Magnamon. Es schwebte genau vor der Sonne, die ihn wie mit einem goldenen Kranz umgab. Es machte sich zum Kampf bereit. „Diesmal nicht“, murmelte Ken, dann schrie er mit allem, was seine Stimmbänder hergaben: „Diesmal durchkreuzt du meine Pläne nicht! Nie wieder!“ Das Getöse ließ die anderen zögern, es schwoll an, bis der Druck auf seinen Ohren jeden anderen Gedanken auslöschte. Sandwelle um Sandwelle brandete gegen Kens Rücken. Die Körner, die an ihm vorbeiflogen, waren tiefschwarz.     „Was … was ist das?“, rief Davis entsetzt, als sich etwas hinter dem DigimonKaiser aus der Wüste erhob. Es sah aus wie ein Feld aus finsteren Nadeln, von denen eine unglaubliche, geballte Kälte ausging … „Türme!“, rief Tai atemlos von WarGreymons Rücken. „Das sind Schwarze Türme! Massenweise!“ Nun sah Davis auch, wie sie sich aus dem Sand lösten und langsam in den Himmel schwebten, das junge Sonnenlicht regelrecht durchstachen und nur Finsternis übrig ließen. Ein Sturm kam auf. Mit wachsendem Entsetzen und weit aufgerissenen Augen sah er, wie die schwarzen Stacheln Wellen schlugen, sich verformten. „Tut etwas!“, schrie Willis, dessen Rapidmon Rakete um Rakete auf die brodelnde Masse schoss. Die Projektile erzitterten kurz davor, ihre Flugbahn oszillierte, und schließlich implodierten sie. „WarGreymon!“, rief Tai. Sein Digimon breitete die Arme aus und schickte eine weitere, zweite Sonne in die Schatten. Magnamons Rüstung glühte auf, und der Strahl, der daraus hervorbrach, war sogar noch heller. Licht und Schatten verwirbelten wie Tinte in stürmischem Wasser. Hektisches, schwarzgoldenes Geflimmer ließ Davis‘ Sinne verrücktspielen. Er spürte es überall auf seiner Haut kribbeln, als stächen ihn Hunderttausende Nadeln, doch als er sich kratzte, war da nichts. Dazu kamen ein Geruch nach Winter und Eiseskälte und ein Druck auf den Ohren, als befände er sich viele Meilen unter der Wasseroberfläche. Die Wüste verlor ihre Farbe. Der gelbbraune Sand wurde weiß mit schwarzen Punkten. Der DigimonKaiser wurde von einer Sturmbö von den Füßen gerissen und rutschte die Düne hinunter, die langsam zu wandern begann. Es war, als erwachte die Wüste selbst zum Leben. Das Flimmern erstarb. Davis konnte kaum sehen, was dort vorne geschah: Er erkannte nur einen tintenschwarzen Fleck und hier und da einzelne Ecken und Kanten. Es sah nicht so aus, als hätten ihre Attacken etwas bewirkt.     Ken weinte. Es war weder wegen der Kälte, noch wegen der in den Augen brennenden Sandkörner, dem Sturm oder den Schmerzen. Er weinte aus ehrlichem Bedauern. Und er hätte nie gedacht, sich nach dem Mord an dem falschen Sammy wieder für etwas zu schämen. Stingmon hatte seinen Arm gepackt. Sand schabte auf seiner Haut, kalt wie Eiskristalle. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er fast von den wandernden Dünen begraben worden wäre. „Ken, was ist mit dir?“, fragte Stingmon. Er sah sein Digimon an, wollte etwas sagen, doch er schluchzte nur. „Jetzt ist es vollbracht“, flüsterte er. „Mein allergrößter Frevel. Es ist stärker als Kimeramon. Wie stark, werden wir sehen …“ Er versank halb in dem dunkeln Strudel seiner Gedanken. Es war anders als damals bei Kimeramon. Damals hatte ihn die Dunkelheit überwältigt. Nun schien es ihm, als wäre es genau andersherum. „Ken! Ken!“ Stingmon rüttelte ihn an den Schultern. Es schmerzte. Also lebte er wohl noch. Träge sah er zum Horizont. Die Sonne selbst schien von der geballten Finsternis zurückgedrängt zu werden. Er sah seine Verbündeten vor der Dunkelheit fliehen. Airdramon glitt sanft auf den Sturmböen dahin und landete neben ihm. Immer noch wehten Vorhänge aus Sand an ihm vorbei, gepaart mit dunklen Bruchstücken kristalliner Bosheit. Zumindest nahm Ken an, dass es sich um Turm-Granulat handelte. Arukenimon hielt seinen Hut fest und rief etwas zu Ken herunter, doch er verstand es nicht. Nur das Rauschen und Knirschen, das die ausströmende, körperlose Finsternis verursachte, hallte in seinen Ohren wider. Dafür verstand er die Geste, als die Spinnenfrau eine hektische Handbewegung machte. Sie mussten von hier verschwinden. Halb in einer Traumwelt betrachtete Ken Arukenimons Haar, doch so wie der Sturm damit spielte, konnte er keinen Unterschied erkennen. Er konnte immer noch kaum glauben, was er getan hatte. Er hatte fast sein gesamtes Granulat zu der Stelle bringen lassen, wo er Deemons Extra-Türme errichtet hatte, zur Belohnung für seine Antworten. Er hatte das Feld von seinen Digimon weiter bebauen lassen, Turm neben Turm, bis er zehn mal zehn Türme nebeneinander stehen hatte wie einen schwarzen, stacheligen Teppich – und nach diesem Teppich hatte er neun weitere gebaut. Ein Turm für ein Digimon auf dem Champion-Level. Zehn für Ultra, hundert für Mega … Die Debatte war hitzig gewesen, Oikawa und seine Günstlinge empört. Aber am Ende hatte Arukenimon auf sein Geheiß hin nicht weniger als tausend Türme in ein einziges Schwarzturmdigimon verwandelt!   Rage of a bleeding warlord Black tears of a dying world The fight for the last empire The clash of the titans (Luca Turilli’s Rhapsody – Clash Of The Titans) Kapitel 70: Sonnenfinsternis ---------------------------- Tag 152   Während der ersten Nacht und dem darauffolgenden Tag hatte T.K. beschlossen, Klecks zu töten. Er wusste nicht, wie er überhaupt auf den Gedanken kam, und er schämte sich zuerst dafür. Vermutlich waren es Hunger, Durst und Müdigkeit. Obwohl es in dem Schrank im Giga-Haus stockfinster war, drangen die lauten Stimmen der Marodeure an sein Ohr, die raue Scherze trieben, lachten und feierten. Erst einmal hatten sie ihm etwas zu trinken gebracht, Wasser in einem Schnapsglas, das immerhin so groß wie ein Eimer war. Zu essen hatte er noch nichts bekommen. In Gedanken war er bei Kari oder auch bei Ken. Wenn er könnte, würde er mit bloßen Fäusten gegen RiseGreymon und seine Spießgesellen kämpfen, aber er bekam nicht einmal die Schranktür auf. Hilflos musste er auf ein unbekanntes Schicksal warten, während er als Einziger wirklich wusste, was in der DigiWelt vor sich ging! Diese Ohnmacht machte ihn wahnsinnig – wahnsinnig und rasend. Kari hatte ein Schattenwesen geheiratet und sich bereit erklärt, seinen Nachwuchs auszutragen, nur um in diesen verrückten Krieg eintreten und die DigiWelt retten zu können! Und nun hatte sich herausgestellt, dass sie sich alle geirrt hatten. Ken war nicht die Gefahr, er war die einzige Rettung. Sie müssten nichts weiter tun, als sich ihm anzuschließen, weniger noch: Vermutlich reichte es, wenn sie ihn nicht mehr bekämpften! Wegen eines riesigen Irrtums hatte Kari ihr Leben weggeworfen. Das würde er Klecks nie verzeihen. Er würde das Schattenwesen dazu zwingen, ihre Vereinbarung zu annullieren, und wenn er es mit Gewalt tat! Sollte Kari ihn dafür hassen. Ken hassten auch alle, und er tat das Richtige. Selbst Patamon konnte ihn nicht aufbauen. Sein Zeitgefühl war ihm längst abhanden gekommen. War es noch Tag oder schon wieder Nacht? Oder war der zweite Tag seit seiner Gefangennahme angebrochen? Seine Gedanken wurden schwärzer, je länger er in der Dunkelheit hockte.     Der Sturm wurde unerträglich. Sand wehte in Tais Augen, als er sich an WarGreymons Rückenschild klammerte. Sein Umhang zerrte und riss an ihm. Welche Teufelei hatte der DigimonKaiser nun wieder ausgeheckt? Hinter dem Wirbel aus Schwarz und Braun war das finstere Knäuel kaum noch zu erkennen, aber Tai fühlte die Kälte, die davon ausging, viel lebensfeindlicher als die Wüste bei Nacht, viel schlimmer als die schneidenden Sturmböen in Frigimons Eisregion. Zu dem Sturm kam ein Saugen hinzu. Der Himmel hatte sich verfinstert, und etwas schien dunkle Gewitterwolken in die Nähe der Stachelkugel zu ziehen. Schwarze Blitze zuckten über den Horizont, pures Chaos über ihnen, Sand und Dunkelheit und schwarze Kristalle und wirbelnde Wolken und unnatürliches Wetterleuchten … Aus den Augenwinkeln sah Tai, wie Willis den Mund aufriss und auf etwas zeigte. Der DigimonKaiser und seine Digimon glitten auf den Sturmwinden in die Höhe. Tai schrie WarGreymon etwas ins Ohr, aber er verstand seine eigenen Worte nicht. Dann kehrte sich die Sogwirkung endgültig um, und seine Sinne kehrten zu ihm zurück, genau wie sich der fortgeschwemmte Sand aufzubäumen schien und in den Krater zurückschwappte, den die kantige Dunkelheit verursacht hatte. Er sah dunkelblaue und violette Blitze über die Oberfläche des Dings laufen, sich aufspalten und weiterspringen. Der Himmel war wieder nachtschwarz geworden, und dort oben blitzte und grollte es ebenfalls, als braute sich ein Unwetter zusammen, wie es diese Wüste sicherlich noch nie gesehen hatte. Was war mit der Sonne geschehen? Trotz des dunklen Himmels ließ sich die Umgebung geradezu abartig gut ausmachen. Tai erschien plötzlich alles bunter und greller, aber genau diese Intensität der Farben war es, die den Sand, seine Freunde und ihre Digimon unnatürlich und falsch erscheinen ließ. Als wäre etwas in der Natur aus den Fugen geraten, das sich auf natürliche Weise nicht mehr einrenken konnte … Airdramon, Stingmon und der DigimonKaiser schwebten plötzlich direkt neben Tai und betrachteten das Schauspiel. „Was hast du angerichtet?“, schrie Tai ihm zu. Er konnte wieder etwas hören. Mit starrem Blick beobachtete der Kaiser das Spektakel. Vielleicht wäre er nun leichte Beute gewesen – doch ein Donnerschlag riss Tais Aufmerksamkeit von ihm fort. Immer neue Blitze sprangen vom Himmel auf den Schattenwürfel – oder war es umgekehrt? War es nicht dieses Ding, das Kugelblitze auf die Wolken überspringen ließ? Etwas geschah damit. Die Elektrizität schmolz Risse in die Oberfläche – wie das vonstattenging, konnte Tai hinterher gar nicht mehr sagen. Das düstere Licht sank irgendwie darin ein, und es war kaum zu sagen, wann sie verschmolzen waren. Dann waberte das Ding wie ein Turm aus Gewitterwolken, ballte sich noch einmal zusammen – und ein neuerlicher Windstoß, viel heftiger als alle anderen zuvor, riss die DigiRitter mit sich. Tais eigener Schrei gellte in seinen Ohren, als die Welt Purzelbäume schlug. Er verlor den Halt, rauschte davon in finsterer Kühle, überschlug sich und tauchte irgendwann in eine Sanddüne. Der Sturz raubte ihm fast das Bewusstsein. Sand drang in seine Nase und seinen Mund, kratzte in seinem Hals und stahl ihm den Atem, juckte auf seiner Haut. Hustend und würgend kämpfte Tai sich daraus hervor, zwang sich, das brennende Auge zu öffnen. Das schwarze Gebilde hatte sich verwandelt. Tai erblickte ein schreckliches Ungetüm.     Sie waren allesamt irgendwo in der Wüste abgestürzt. MetallGarurumon war neben ihm, und Matt wollte sich vergewissern, dass seinen Kameraden nichts geschehen war, doch er konnte den Blick nicht von dem Monstrum abwenden, das unter dem wolkenverhangenen Himmel erschienen war. Das Digimon war riesig. Es hatte weder Arme noch Beine; aus seinem Rumpf wuchsen blütenförmig Panzerplatten, dick wie Felsen, darunter züngelten Abermillionen schwarz glänzender Haare, dick wie Tentakel. Die Taille war dünn und ebenfalls behaart, der Oberkörper breit und riesenhaft und wiederum von einem hellen Panzer geschützt. Die größten Platten überzogen die Schultern, verziert mit dunklen Flecken, und reflektierten das Licht der Blitze. Dort, wo man die Oberarme vermuten würde, wuchsen nur weitere Stränge wirbelnder, zappelnder Haare. Der Kopf war winzig im Vergleich zu dem übrigen Körper und insektenähnlich, zwei lange Fühler ragten daraus hervor. Matt brauchte ewig, um alle Einzelheiten zu erkennen. Immer wieder flackerte das Digimon vor seinen Augen, als könnte es sich nur mühsam in dieser Welt halten – aber Matt wusste, dass das ein Irrtum war. Es war die Welt, die instabil geworden war. Rings um die DigiWelt bog sich die Wirklichkeit – nein, sie zerriss! Wie die Blitze von vorhin ästelten sich Risse durch den Himmel und die Wüste, zuckend und sich immer wieder neu bildend, und direkt unter dem Digimon schien etwas anderes aufgetaucht zu sein, eine Mischung aus schwarzem Schlick und Metall und kriechenden Schatten, die vielleicht Lebewesen waren – dafür war an der Stelle die Wüste verschwunden. Er bemerkte, dass er schrie. Matt schrie sich die Seele aus dem Leib, genau wie die anderen. Kalte Finger schienen nach ihm zu greifen und sein Herz zu zerdrücken. Es war ein Gefühl, das blanke Panik in ihnen auslöste. Als ob etwas Böses, Abscheuliches in sie eindrang und sie von innen heraus veränderte, verdrehte … Der DigimonKaiser, der Krieg, all das war plötzlich klein und unwichtig. Matt wusste nur eines instinktiv: Dieses Wesen gehörte nicht in die DigiWelt. Es musste zerstört werden, um jeden Preis, oder etwas Furchtbares würde geschehen … Rapidmon war das Erste, das das neu entstandene Digimon angriff. Es sauste los, ein winziger, goldener Funken vor dem Ungetüm, dessen Größe alles in den Schatten stellte, was Matt je gesehen hatte. Seine Raketen waren noch winziger, und sie erreichten den haarigen Körper erst gar nicht. Sie schienen einfach zu verschwinden, oder sie explodierten schon vorher in den meterbreiten Rissen, die wabernd den Himmel durchzogen. „Ich helfe dir!“ Magnamon zog wie ein heller Streifen Morgenlicht über den geschwärzten Himmelsbogen. Auch wenn alles verfinstert war, die Sonne selbst schien ihre ganze Hoffnung in das Digimon zu setzen, so hell leuchtete seine Panzerung auf. Magnamon breitete die Arme aus und versank in einer golden glühenden Kugel, blendend hell und beruhigend in der kalten Dunkelheit. Es war ein Schwall puren Lichts, der auf das Digimon zuschoss. Auch davon tranken die Risse, doch genug erreichte den Körper des Ungeheuers. Wenn Magnamon die Sonne war, dann war das andere Digimon eine absolute Sonnenfinsternis. Der Lichtstrahl traf es in der Brust, Gold kletterte über seinen Panzer, seinen ungeschützten Rumpf – und verglühte. Als die Schatten zurückkehrten, schienen sie noch finsterer als zuvor. „Was ist los?“, hörte Matt Davis auf einer Düne rufen. „Hat es nicht gewirkt?“ Erstmals bewegte sich das Untier. Sein Kopf ruckte träge hin und her, schien die beiden goldenen Digimon zu bemerken. Und dann, plötzlich, ohne dass es etwas getan zu haben schien, krümmten die beiden sich wie unter Schmerzen. „Magnamon! Was ist los?“ Davis stolperte eilig die Düne herunter. Die beiden versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Das goldene Leuchten ihrer Rüstungen wurde schwächer – und irgendwann war es ganz verschwunden. Zwei winzige Digimon fielen in den Sand, nicht weit von Matt entfernt. „Chibomon!“, rief Davis. Er und Willis eilten zu ihren Partnern. Das Digimon, das Veemon kaum mehr ähnlich sah, schlug träge die Augen auf, als er es hochhob. „Es tut mir leid, Davis“, hauchte es. „Ich hatte plötzlich überhaupt keine Kraft mehr …“ Es schien einzuschlafen. „Was? Chibomon! Nicht – bleib wach!“, rief Davis, während Willis nur ausdruckslos auf seinen bewusstlosen Partner starrte. Lopmon auf seiner Schulter sah aus, als würde es gleich in Tränen ausbrechen. „Was ist das für ein Ding?“, rief Matt entsetzt und starrte das Untier an, das sich immer noch kaum geregt hatte. Seine Stimme zitterte. „Matt! Davis!“ Tai kam angelaufen, stapfte durch den Sand. Ernst begegnete er Matts Blick. „Sie sind zurückdigitiert?“ „Ich weiß nicht, ob wir dieses Ding besiegen können“, murmelte Willis. „Sei nicht so pessimistisch, es muss einen Weg geben“, herrschte ihn Tai an. „Und welchen?“, rief Matt herausfordernd. Die Worte brachen einfach aus ihm hervor. „Selbst eine so starke Attacke konnte ihm nichts anhaben!“ „Wir haben noch WarGreymon und MetallGarurumon“, erinnerte ihn Tai. „Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben! Oder willst du feige den Schwanz einkneifen, ohne es versucht zu haben?“ Matt biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Das Untier flößte ihm Angst ein. Gewaltige Angst. Seine bloße Präsenz ließ ihn erschauern. Ihnen allen musste es so gehen. Aber Tai schien seine Furcht in Wut umzuwandeln – und Entschlossenheit. „Du bist ein beeindruckender Kerl“, murmelte Matt zähneknirschend. „Was?“ „Wenn du Mimi damals geheiratet hättest, wäre sicher alles anders gekommen. Du hättest es besser gemacht als ich. Du bist der Drachenkönig, der die Hauptverantwortung in diesem Krieg trägt. Und du trägst sie mit Recht.“ Tai starrte ihn an. „Und du bist ein Idiot“, sagte er trocken. Nun hob Matt verwirrt die Augenbrauen. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit so etwas. „Du bist ein Idiot!“, wiederholte Tai. „Von wegen, besser gemacht. Ich dachte, du bist arrogant. Seit wann blickst du derart zu mir auf? Was habe ich schon geleistet? Ich habe mich fangen lassen, ich war unfähig zu kämpfen, während du mein Reich verteidigt hast. Verdammt, die anderen haben mir erzählt, wie dich MetallPhantomon fast aufgespießt hat, und trotzdem stehst du hier und kämpfst noch immer!“ Matt wollte etwas entgegnen, doch er klappte sprachlos den Mund wieder zu. Verblüfft starrte er Tai an, dann verzogen sich seine Lippen wie von allein zu einem Lächeln. Tai grinste, und plötzlich brachen sie beide in Gelächter aus. „Seid ihr noch bei Trost?“, rief Willis aufgebracht. „Was ist so lustig?“ Matt grinste schief. „Wir hätten uns vielleicht nicht von Anfang an streiten sollen. Vielleicht hätten wir dann mehr erreicht.“ „Du sagst es“, meinte Tai. „Das war hirnlose Rivalität.“ Er hielt ihm die Hand hin. „Gemeinsam gegen dieses Ding?“ „Gemeinsam.“ Matt schlug ein. Und ihre Digimon digitierten. MetallGarurumon und WarGreymon schienen zu schrumpfen, bis nur noch ihre Helme übrig waren. Gleißendes Licht wuchs daraus hervor, bildete einen Körper, der die Helme wie als Handschuhe trug. Ein wallender Umhang floss von seinen Schultern, als ein herrschaftliches Digimon unter dem finsteren Himmel aufgetaucht war. Mit offenen Mündern starrten Matt und Tai ihm nach, als es sich in den Kampf stürzte.     „Omnimon“, murmelte Ken, als er das Digimon sah. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie in dieser Welt auch verschmelzen können.“ Als sein neues Schwarzturmdigimon vollendet gewesen war, war er wie erstarrt gewesen. Doch als seine Glieder sich nicht mehr bewegen ließen, hatten sich endlich seine Gedanken wieder zu drehen begonnen. Er fühlte wieder etwas, und wenn es nur blanke Angst war. „Du hast dich nicht an unsere Regeln gehalten Ken“, sagte Deemon. „Diese Türme waren für mich bestimmt.“ Und was willst du dagegen tun? Es war eine Notfallmaßnahme. Morgen baue ich dir dafür die dreifache Menge. Wenn ich dann noch lebe. Das Versprechen fiel ihm leicht. Morgen würde vielleicht schon alles vorbei sein. Was sagst du zu meinem neuen Digimon? Hat dich mein Zug überrascht? „Er war nicht übel“, sagte Deemon nach einer Weile, die allein schon seine Überraschung bekundete. „Ein Digimon jenseits des Mega-Levels, das nicht existieren dürfte. Arkadimon.“ Arkadimon. Ken hatte nicht gewusst, wie er es nennen sollte. Er hätte nicht gedacht, dass so ein Ding überhaupt einen Namen hatte. Ob es auch eine Seele hat? „Was sollen wir machen, Ken?“, fragte Stingmon neben ihm. „Wir fliehen“, sagte er. „Wir müssen Arukenimon und Mummymon finden. Obwohl ich nicht glaube, dass wir dieses Untier kontrollieren können.“ Stingmon hob ihn hoch, gerade als Omnimon sich mit einer Wucht, die man in dieser Version der DigiWelt noch nie gesehen hatte, auf seinen Feind warf. Arkadimon schien es als Gegner anzuerkennen, denn endlich bewegte es sich. Seine Haar-Tentakel wallten auf und schossen ihm wie Speere entgegen. Mit einem Streich seines Schwertes verschaffte Omnimon sich wieder Luft. Die gekappten Haare wuchsen sofort nach. Als das Ritterdigimon ihm so nahe kam, flackerte auch sein Körper, als sähe man es nur durch eine Luftspiegelung. Ken wusste, woher das kam. BlackWarGreymon hatte damals die Phasen in Bewegung gebracht. Arkadimon riss sie gewaltsam auseinander. Die Schatten, die in den flimmernden Rissen auftauchten, mussten Wesen und Dinge aus anderen Welten sein, die sich vielleicht in der DigiWelt manifestieren würden, wenn die Risse durch die Phasenverschiebung nicht selbst so gebeutelt werden würden. Das Ritterdigimon hob den rechten Arm. In Garurumons Helm erschien ein Kanonenrohr, und es schoss mehrere Lichtkugeln auf Arkadimons Körper ab. Sie zerplatzten wirkungslos an dessen Panzerung, zerfetzten allerdings seinen haarigen Unterkörper. „Meinst du, sie haben eine Chance?“, fragte Stingmon. „Ich weiß nicht.“ Kens eigene Kreation flößte ihm Angst ein. Kalte Panik war seinen Hals empor gekrochen, kaum dass die Türme sich vereint hatten. Es war keine rationale Furcht, sondern etwas, das allein Arkadimons Existenz auslöste. „Ich habe nichts dagegen, wenn sie es besiegen“, hörte er sich sagen.     Tai brüllte aus Leibeskräften, als er ihr gemeinsames Digimon anfeuerte. Matt blieb stumm, und Willis und Davis blickten ihm nur ehrfürchtig nach. Omnimon umkreiste das Ungeheuer, nicht mit der Geschwindigkeit Rapidmons, dafür eleganter. Sein Schwert zerhackte Haarstränge, riss Funken aus dem Insektenpanzer. Immer wieder musste es plötzlich die Richtung ändern, als direkt vor ihm diese merkwürdigen Risse erschienen, und einmal wurde es halb verschluckt, flimmerte, wurde dann aber wieder sichtbar. Als seine Kanone ein Loch in die Taille des Wesens stanzte, schrien die DigiRitter erfreut auf – doch im nächsten Moment wuchsen die Haare nach und vereinten seine beiden Körperhälften wieder. „Mist“, fluchte Tai. „Sie dürfen nicht nachgeben“, sagte Matt. „Es muss irgendwo einen wunden Punkt haben!“ Omnimon versuchte es als Nächstes beim Kopf des Untiers. Mit wehendem Mantel flog es in die Höhe, prachtvoll trotzdem die Dunkelheit an seinen Umrissen zerrte. Zappelnde Tentakel griffen nach ihm, doch mit kunstvollen Schwertschwüngen hackte es sich den Weg frei. Dann war es mit dem Wesen auf einer Augenhöhe und gab einen Schuss ab, größer als alle zuvor. Die verwaschene Lichtkugel ließ Tai nicht genau erkennen, was passierte, doch irgendwie verglomm sie wirkungslos – und im nächsten Moment stieß Omnimon einen markdurchdringenden, zweistimmigen Schrei aus. Es sah aus, als würde es in der Mitte auseinandergerissen; sein Körper verschwand im Licht der Digitation. MetallGarurumon und WarGreymon blieben übrig, wurden von dem Wesen fortgeweht und wie zuvor die Goldenen wurden sie wieder zu Babydigimon und stürzten über der Wüste ab. Sie landeten knapp außerhalb des schwarzen Abgrunds, der sich unter dem Monster aufgetan hatte. Die DigiRitter erstarrten betroffen. Omnimon war auch nicht stark genug? „Lopmon, hol sie da raus“, murmelte Willis mit belegter Stimme. Sein verbleibendes Digimon digitierte zweimal, bis es eine Art großer Hase war, der mit kräftigen Beinen durch die Wüste rannte, direkt auf das finstere Digimon zu. „Wir sind erledigt“, murmelte Davis, als das unbezwingbare Wesen den Kopf in ihre Richtung drehte.     Man sah gar nicht, dass Arkadimon angriff. Man sah nur die Auswirkungen. Ken und Stingmon flogen auf die Festung zu, um die sich noch einige Schwarzturmdigimon tummelten. Außerdem erkannte er einen ganzen Schwarm Megadramon, die von Osten her seine Verteidiger angriff. Das musste Tais Drachenstaffel sein, von der er gehört hatte. Offenbar vermissten sie ihren Anführer und handelten sie auf eigene Faust – oder der Kampf in der Wüste hatte sie angelockt. Sie umkreisten und bombardierten die Festung, als an der Stelle plötzlich eine blendend weiße Kugel auftauchte, sich vergrößerte, bis sie den ganzen Festungskorpus verschluckt hatte – und dann verschwand. Ken sah für den Bruchteil einer Sekunde noch die Umrisse der Festung, dann wurde sie auf einen Schlag in Datenmüll verwandelt, der in den Himmel davontrieb. Von den Megadramon war keine Spur mehr zu sehen. Ken hielt den Atem an. Das war also die Macht dieses Scheusals … „Ken!“, rief Stingmon. „Cody und die internationalen DigiRitter waren noch in der Festung!“ Die Worte trafen ihn wie ein Schlag. Was habe ich getan?     Das hasenartige Antylamon brachte Botamon und Punimon zu den DigiRittern und reichte ihnen dann die Hand. Willis war der Erste, der aufsprang und auf seine Schulter kletterte. „Kommt schon“, rief er. „Sagt mir nicht, dass ich Antylamon gegen diese Biest schicken soll! Das ist Wahnsinn! Machen wir lieber, das wir hier fortkommen!“ Selbst Davis hatte nichts gegen eine Flucht einzuwenden. Noch hatte das Digimon sie nicht angegriffen – dafür war urplötzlich die Festung in der Ferne explodiert. Er zweifelte nicht daran, dass dieses Untier dafür verantwortlich war. Es war viel zu stark. In der ganzen DigiWelt konnte es kein Digimon geben, das es mit ihm aufnehmen konnte! Er ergriff Willis‘ Arm und ließ sich von ihm auf Antylamon ziehen. Als auch die anderen mit bitterer Miene aufgestiegen waren, rannte das Digimon in die Wüste davon.     „Hier lang, schneller!“, keuchte Cody und stolperte über Felsen und durch Sand. Er und Armadillomon führten die anderen Menschen. Als er die Gewitterwolken im Westen gesehen hatte, hatte er gewusst, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Da die Festung ohnehin infiltriert worden war, hatte er instinktiv beschlossen, die Schützlinge seines Kaisers anderswo unterzubringen. Diese Entscheidung hatte ihnen allen das Leben gerettet, wie es aussah. Sie waren noch nicht weit gekommen, als hinter ihnen plötzlich eine gewaltige Lichtkuppel aufragte und die Festung einfach zu existieren aufhörte. Nun waren sie auf dem Weg zum Meer. Cody wusste nicht, wohin sie fliehen sollten, doch was immer den gewaltigen Felsen zerstört hatte, konnte ihnen auf den Fersen sein. Selbst Nadine war ohne Murren mit ihm gekommen. Bisher hatte die Schwarze Rose keine Gefahr wirklich ernst genommen, aber vor dem Schrecken, der sich irgendwo in der Wüste befand, schien selbst sie plötzlich Angst zu haben. Cody hörte sie murmeln, während sie über Felsen und Dünen kletterten: „Ich werde nicht sterben. Ich werde ihm zeigen, dass ich überlebe.“ Sie kamen an mehreren Linien von reglosen Schwarzturmdigimon vorbei. Vor ihnen sollte eigentlich längst die Sonne aufgehen, aber der Himmel war bis zum Horizont pechschwarz. Was ging hier nur vor?     Ken fand Oikawa und sein Digimon vor dem Krater sitzend, der einst die Festung gewesen war. Wobei Krater das falsche Wort war: Viel eher war es ein Loch, das bis zum Mittelpunkt der Welt zu reichen schien. An seinen Rändern flimmerte es, wo die Phasen instabil geworden waren. Jeder, der hineinklettern würde, würde entweder in tausend kleine Stücke zerrissen werden oder eine Welt der Finsternis betreten, das wusste Ken. „Weißt du, was mit Cody und den internationalen DigiRittern ist?“, fragte Ken, als Stingmon ihn absetzte und erschöpft zu Wormmon zurückdigitierte. Oikawa schüttelte den Kopf. Er sprach seine Vorwürfe nicht aus, doch Ken las sie in seinem Blick. Ken versuchte, ihn zu ignorieren, und betrachtete die Zerstörung. Sie war vollkommen. Nichts war mehr übrig, absolut nichts. Vernichtet von einer Attacke, die man nicht einmal gesehen hatte. Er drehte sich um und sah Arkadimons massige Gestalt gen Norden schweben, langsam, aber seine Größte mochte seine Geschwindigkeit Lügen strafen. „Wohin will es wohl?“, murmelte er. „Ich glaube, es sucht nach etwas“, sagte Arukenimon, das eben auf Airdramon zu ihnen stieß. Hinter ihm lag Mummymon, das wohl seit geraumer Zeit bewusstlos war. „Du liebe Zeit …“ Selbst Arukenimon fand keine Worte, um die Zerstörung hier zu beschreiben. „Und was kann es suchen?“, fragte Oikawa düster. „Keine Ahnung. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, starke Gegner.“ „Nein“, murmelte Ken. „Es ist nicht wie BlackWarGreymon oder Megidramon. Es ist völlig anders, das spüre ich. Es hat sicher keine Seele, vielleicht nicht einmal ein Bewusstsein. Es ist Fleisch gewordene Dunkelheit, sonst nichts.“ „Ach ja? Und da bist du dir sicher?“, fragte Arukenimon. „Nein“, gab er zu. „Es ist nur so ein Gefühl. Es lebt nicht wirklich. Aber ich glaube, es sucht nach Leben. Omnimon hat gegen es verloren, dann kam die Festung dran, und daraufhin hat es sich in Bewegung gesetzt. Die Schwarzturm-Digimon scheint es gar nicht zu bemerkten, wahrscheinlich, weil sie anorganisch sind. Nicht mehr als Türme mit Beinen. Und außerdem hält es auf die Arkadenstadt zu. Dort gibt es eine große Menge an Leben – vermutlich wird es davon angezogen. Um es zu vernichten.“ Schon sein letztes Monster hatte damals die Arkadenstadt zerstört … Ken schüttelte den Gedanken ab. „Kommt“, sagte er und stieg auf den Rücken des Airdramons. „Hier ist nichts mehr zu holen.“ „Und wohin willst du?“, fragte Oikawa grimmig. „Zur File-Insel“, sagte Ken. „Dort habe ich noch etwas Granulat gebunkert. Es sollte reichen.“ Er tastete nach seinem Connector. Das Gerät funktionierte offenbar noch. „Ken … Willst du etwa noch so ein Digimon erschaffen?“, fragte Wormmon ängstlich. „Nein. Ich erkläre es euch unterwegs. Steigt auf.“ Oikawa blieb, wo er war. „Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht“, murmelte er. „Diese ganze Welt ist ein Fehler.“ Yukio schüttelte den Kopf. „Ich kann dir nicht länger folgen. Tut mir leid.“ Er hielt Lalamon fest im Arm. Ken sah ihm in die Augen und zog grimmig die Brauen zusammen. „Du hast die Wahl zwischen Arkadimon und mir. Entscheide dich.“     Auf der ganzen Breite des Gebirgszuges wurde gekämpft, und eine so heftige Schlacht hatte Yolei noch nie erlebt. Die Nordarmee und die Schwarzturmtruppen des DigimonKaisers – die beiden Heere hatten sich längst vermischt wie zwei Flüssigkeiten, die sich nicht vollständig ineinander auflösen konnten. Yolei konnte nicht mehr sagen, wer auf der Siegerstraße war. Sie rannte nur zwischen Wach- und Schützentürmen, Zelten und Bunkern aus Bambus hin und her, floh vor starken Digimon, stürzte sich mit ihrem Degen selbst auf Schwächere, ließ Aquilamon mittelstarke erledigen. Es war wie ein Rausch, aber das war gut so, denn es hinderte sie am Denken. Überall flogen Attacken und Datensplitter herum, Schreie und Explosionen gellten, und Yolei verließ sich nur auf ihre Instinkte, die sie ausweichen ließen, wenn es auszuweichen galt, und zuschlagen ließen, wenn sich die Gelegenheit bot. Wo die anderen DigiRitter waren, konnte sie nicht sagen. Sie hoffte, dass Izzy in seinem Kommandozelt hinter den Linien noch den Überblick hatte. Und dass Tai und die anderen bald auftauchten und das Ende ihres Feindes verkündeten. Als die Digimon aus dem Nördlichen Königreich plötzlich Jubelschreie ausstießen, glaubte sie schon, dass Letzteres eingetroffen war. Dann erkannte sie jedoch den wahren Grund für ihre Freude: Die Schwarzturmdigimon flohen. Einige hatten ihr Digimon-Äußeres bereits weitgehend verloren und waren nur noch verformte, schwarze Hüllen, weswegen Yolei sie und ihre Verbündeten gut auseinanderhalten konnte. Sie ließ den Degen sinken und rutschte an dem Bambusturm hinter ihr zu Boden. „Haben wir es geschafft?“, fragte sie ungläubig. Schweißnass klebte ihr die Uniform am Leib. Sie fröstelte; diese Nacht war besonders kalt. „Hinterher!“, brüllte jemand. Tatsächlich verfolgten viele Soldaten die Turmdigimon, die sich nicht einmal wehrten, als man ihnen Attacken nachschleuderte. Als würde Tinte von einem Schwamm aufgesogen, verschwanden die dunklen Flecken aus dem verschlungenen Mosaik von Digimon-Körpern. „Sofort alle zurück!“ Yolei fuhr herum. Izzy kam angelaufen, völlig außer Atem, die Wangen gerötet. Dass er aus seinem Zelt herausrannte, bedeutete nichts Gutes. „Wir müssen sofort abrücken!“, keuchte er. „Willis … Die anderen …“ Er schien Yolei gar nicht zu bemerken und machte Anstalten, an ihr vorbeizulaufen. Sie hielt ihn an den Schultern fest. Das Feuer der Schlacht rauschte noch in ihren Adern. „Was? Was ist los, Izzy?“ Schwer atmend sah er sie an, seine Augen geweitet. Fackelschein ließ sein bleiches Gesicht glänzen wie Wachs. „Willis hat mich eben kontaktiert“, berichtete er. „Wir müssen abrücken … nach Norden! Dort ist ein schreckliches Digimon aufgetaucht, Little Edo ist in Gefahr! Wir müssen ihnen helfen zu fliehen!“ Yolei stockte der Atem. Fliehen? Sie hatten immer noch ein schlagkräftiges Heer, und sie sollten fliehen? Doch Izzy schien es ernst zu meinen, und plötzlich merkte sie wieder, wie kalt es war. Zu kalt. Irgendetwas stimmte nicht. „Aber … was für ein Digimon kann das sein? Warum bist du so verängstigt? Was ist mit den anderen?“ „Yolei, ist es dir noch nicht aufgefallen?“, fragte er, anstatt zu antworten. „Was denn?“ „Es müsste längst Morgen sein.“ „Tatsächlich?“ In der Schlacht hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Ihren schmerzenden Muskeln nach zu urteilen, konnten sie auch zwei Jahre gekämpft haben. Plötzlich begriff sie, warum ihr diese Nacht so seltsam vorkam. „Wenn es schon Morgen ist, wo ist dann die Sonne?“ Auch die Sterne waren verschwunden. Izzy sah sie nur grimmig an. Und plötzlich bekam Yolei Angst um Mimi und Michael, die in Little Edo geblieben waren.   The age of Shadows has begun I won’t accept what we’ve become We stand to lose more than we’ve won The age of Shadows has begun (Ayreon – Age of Shadows) Kapitel 71: Resonanzkatastrophe ------------------------------- Tag 152   Die Arkadenstadt verpuffte in einem einzigen Schlag. Die Digimon versuchten zu fliehen, als sie das riesige Digimon auf sich zukommen sahen, doch nur wenige schafften es weit genug. In dem Moment, als Arkadimon die Stadt erblickte, befand sie sich in seiner Angriffsreichweite. Ein Blitz, eine helle Kuppel – und das Nichts fraß die Arkadenstadt. Ein Loch im Boden blieb zurück, noch viel größer als jenes in der Wüste. Träge wandte sich Arkadimon nach Süden. Die winzigen Lebensfunken, die es hier noch gab, interessierten es nicht. Dort, hinter der grasbewachsenen Ebene, fühlte es weiteres Leben, massig davon. Leben, wie es in seiner Brust nicht pochte. Leben, das es nicht verstand, ein Zustand, der ihm fremd war, den es nicht in seiner Nähe wollte, der zerstört werden musste. Es hinterließ eine Spur aus Weltenfetzen, die in der DigiWelt auftauchten, zertrümmert und versehrt, mit Schattenklumpen, die dazwischen umherkrochen. Auch ein dunkles Meer blitzte dann und wann in dem düstergrauen Fluss auf, der unter ihm erschien, als tropfte Finsternis von seinen Tentakeln. Die Fluten spülten über die DigiWelt, ehe sie wieder verschwanden, doch was sie mit sich rissen, blieb verschwunden, und was sie berührten, wurde grau und trostlos.     In einem gekaperten Mekanorimon flog Datamon nach Süden. Offenbar hatte es die Zeichen richtig gedeutet und die Festung rechtzeitig verlassen, denn plötzlich war nichts als ein rauchendes Loch und Datenmüll davon übriggeblieben. Verdammt sollte der DigimonKaiser sein! Datamons Geräte und all seine Klone waren noch dort drin gewesen! Dass es so ernst wurde, hätte es nie gedacht. Aber so war es eben. Datamon konnte alles neu bauen. Sobald es die Verhältnisse, die jetzt in der DigiWelt herrschten, wieder durchschaut hatte. Auf eigene Faust etwas zu unternehmen, war bei all den Heeren und Schwarzturmdigimon, die durch das Land krauchten, gefährlich. Sich in diesen Zeiten mit den Falschen einzulassen, war sogar noch gefährlicher. Datamon würde sich seine nächsten Schritte genau überlegen. Und wenn es möglich war, diesem arroganten DigimonKaiser alles heimzahlen!     T.K. war eingenickt. Selbst das Feiern raubeiniger Digimon konnte einschläfernd wirken, wenn man müde und geschwächt genug war. Lärm, der anders war als das ewige Grölen und Johlen, ließ ihn wieder hochschrecken. Draußen war etwas im Gange. Die Marodeure schienen hektisch, er hörte sie in der Küche herumtrampeln und ihre Habseligkeiten einsammeln. Mühevoll schleppte er sich zur Schranktür. Er war so entkräftet, dass ihm sogar das schwerfiel. Schwach trommelte er dagegen. „Hey! Was ist los?“ Warum sollten sie überhaupt antworten? Er war doch nichts als ein Gefangener, halb schon ein Sklave. Doch die Tür öffnete sich tatsächlich. Nach so langer Zeit im Dunkeln tat das grelle Licht in den Augen weh, obwohl die Deckenlampe in der Küche nicht allzu stark und es vor den Fenstern schwarz war. „Kommt raus da“, blaffte eines der Sagittarimon, packte ihn und zerrte ihn aus dem Schrank, danach verfuhr es ebenso grob mit Patamon. „Was ist denn los?“ „Frag nicht so dumm. Komm her.“ Es hob ihn auf den Rücken eines Centarumons. Die Marodeure schienen abmarschbereit. RiseGreymon saß beim Fenster und sah nach draußen. Von hier unten wirkte es gegen die Maße des Giga-Hauses klein wie Spielzeug. Mit Brettern, Töpfen und Tellern hatten die Marodeure eine behelfsmäßige Rampe gebaut, mit der sie die Anrichte und das Fensterbrett erreichen konnten. Centarumon brachte T.K. und Patamon an RiseGreymons Seite. Draußen wimmelten Schatten am Himmel, schwärzer als die Nacht. Eine Gewitterwolke? Nein, sowohl die Wolke als auch die Blitze hatten die falsche Farbe … War das am Ende gar ein Digimon? „Wir haben dich vom Rücken eines Airdramons gepflückt“, ließ RiseGreymon knurrend vernehmen, ohne ihn anzusehen. „Das heißt, du warst beim DigimonKaiser. Kennst du seine Pläne?“ T.K. hätte sowohl mit Ja als auch mit Nein antworten können, wenn er ehrlich war. „Plötzlich interessiert ihr euch für mich?“, fragte er herausfordernd. „Beantworte die Frage“, grollte RiseGreymon und sah ihn an, als wollte es ihn gleich fressen. „Weißt du, was das da für eine Abscheulichkeit ist? Warum wird mir kalt, wenn ich es nur ansehe?“ Es hatte recht. T.K. fröstelte auch, und er spürte die Auszehrung mehr denn je. „Habt ihr deshalb gepackt? Wollt ihr davor fliehen?“ „Es zieht nach Süden“, knurrte RiseGreymon. „Ich habe trotzdem keine Lust, auch nur in Sichtweite davon zu sein. Wir werden so weit wie möglich davon wegziehen, wenn es etwas Lästiges ist. Ich frage dich nochmal: Was ist das?“ T.K. ließ sich eine Lüge einfallen. „Der DigimonKaiser ist mein Freund. Er wird gemerkt haben, dass ich entführt wurde. Das da hat er wohl geschickt, um mich zu suchen.“ „Der DigimonKaiser hat keine Freunde“, lachte Centarumon. „Ruhe“, knurrte RiseGreymon. „Ihr kennt ihn nur nicht. Wir haben uns lange unterhalten. Ich bin sein wichtigster Botschafter. Diese … Wolke ist sein …“ Beinahe hätte er Digimon auf dem Mega-Level gesagt, doch er wusste nicht, wo dort draußen überall Schwarze Türme standen. Nicht, dass er offensichtlichen Unsinn redete. „Seine Geheimwaffe. So etwas wie ein Digimon für besondere Fälle.“ RiseGreymon durchbohrte ihn mit seinem Blick. Zum Glück waren Digimon selten gut darin, Menschenmienen zu durchschauen. „Es sucht dich also?“ „Wenn es in diese Richtung weiterfliegt, kommt es zu der Stelle, an der ich abgestürzt bin. Dort wird es meine Fährte aufnehmen, die es direkt hierher bringt.“ Das klang wohl logisch für RiseGreymons Ohren. „Dann sollten wir dich wohl lieber um die Ecke bringen.“ T.K. bemühte sich, seine Maske zu wahren, obwohl ihn die Ankündigung erschreckte. „Das würde ich an eurer Stelle nicht tun. Sonst wird es weitersuchen und meinen Geruch an euch erkennen. Und dann seid ihr es, die um die Ecke gebracht werden. Am besten lasst ihr es mich finden. Dann hat es keinen Grund mehr, weiter herumzufliegen, und wird in die Festung zurückkehren. Ich bin nicht nachtragend, ich will nur meinen Auftrag ausführen.“ RiseGreymon überlegte. „Schön“, grollte es dann. „Wir ziehen ab und lassen den Knilch und sein Digimon hier! Ich hoffe, wir sehen dich nie wieder“, brummte es. Ganz geheuer war ihm die Sache wohl nicht. Vielleicht fürchtete es, T.K. könnte die Wolke trotzdem hierherschicken. Durch die Vordertür hörte T.K. sie noch trampeln. Er hoffte ebenfalls nicht auf ein Wiedersehen. Die Marodeure hatten nicht alles Essbare mitgenommen. Da sie hier eine dauerhafte Bleibe eingerichtet hatten, war es mehr gewesen, als sie tragen konnten. Als T.K. Früchte und Fleisch hinunterschlang, als gäbe es kein Morgen, wurde ihm sofort übel, doch er behielt es bei sich. Auch Patamon stärkte sich. Hätte er doch nur sein DigiVice, dann könnte er auf Pegasusmon fliegen … Er stopfte sich die Taschen mit Essen voll, dann machten sie sich auf den beschwerlichen Weg über die Ebene nach Little Edo. Dorthin war wohl auch diese Wolke unterwegs … T.K. ahnte Schlimmes, und er hatte tatsächlich höllische Angst vor diesem … was immer es war. Aber er musste zu Kari, komme, was da wolle!     Mimi stand mit Michael auf dem höchsten Balkon der Pagode und klammerte sich an seine Hand. Sie warteten schweigend auf den Tag, der nicht kommen würde. Stattdessen zog eine Gewitterwolke, schwärzer als der ohnehin bedeckte Himmel, über die Berge. Izzys Nachricht hatte Michael erreicht. Sie hatten keine Fragen gestellt. Der Drachenkönig und der Auserwählte, der Eherne Wolf und der Zwillingsritter hatten versagt. Was immer der DigimonKaiser nun getan hatte, es würde sie vernichten. Mimi hatte ihr Volk angefleht, die Stadt zu verlassen. Viele waren überstürzt aufgebrochen, obwohl das nur eine Notlösung war. Aus der einen Richtung kam das Digimon, in der anderen lauerte das Heer des Kaisers. Eine große Anzahl Gekomon, Otamamon, Floramon und Mushroomon hatte beschlossen, in ihrer Heimat zu bleiben. Unten in den Straßen war viel los. Zivilisten bemühten sich, zu ihren Lieben zu kommen, Soldaten bemühten sich, sie fortzuschaffen. Das Nordheer war vor kurzem eingetroffen, und es hatte etliches an Stärke eingebüßt. Dennoch wollten sich Agunimon und KaiserLeomon dem fremden Digimon entgegenstellen, und viele ihrer Soldaten folgten ihrem Beispiel und nahmen vor der Stadt Aufstellung. Auf Izzy hörten sie nicht, und eine neue Nachricht mit einem Befehl von Tai traf nicht ein. Yolei war zu Tode erschöpft. Sie war erleichtert gewesen, als sie Mimi heil angetroffen hatte, und wollte dann unbedingt mit ihr fliehen. Mimi hatte es ihr ausgeredet. Sie hatte genug vom ständigen Weglaufen, genug davon, ständig in Angst leben zu müssen. Wenn sie schon keine Zukunft hatte, würde sie dem Schicksal mutig ins Auge blicken. Die herannahende Gefahr hatte Yoleis Nervenkostüm den Rest gegeben. Sie hatte gewütet und Mimi sogar geschlagen, ehe Hawkmon sie beruhigt hatte. Dann war sie an Agunimons Seite getreten. Mimi tat es leid, dass sie sich ihretwegen nun zum Kampf entschieden hatte. Auch Kari hatte sich verändert. Sie war entschlossener denn je, den Krieg zu gewinnen. Sie sprach davon, den DigimonKaiser zu kennen, und dass sie das Digimon schon irgendwie besiegen könnten. „Ihr wisst nur nicht, was wir schon alles geschafft haben. So oft war es aussichtslos, aber kein Digimon hat uns je besiegt“, hatte sie gesagt und dann den Kopf geschüttelt, als Mimi von ihr verlangte, dass sie ihr diese Worte erklärte. Sora wollte ebenfalls weiterkämpfen. Sie wusste, was es hieß, in Dunkelheit zu leben. Für sie gab es nichts Schlimmeres. Dieser Kampf würde sie befreien, so oder so, aber sie hatte noch Hoffnung, dass sie gewinnen und das Licht zurückbringen konnten. Joe war unermüdlich dabei, Verletzte zu versorgen. Mimi hatten versucht, wenigstens ihn zur Flucht zu drängen, doch als er erfuhr, dass alle anderen in der Stadt blieben, hatte er gelächelt und gemeint: „Von einem Zuverlässigen wird erwartet, dass er immer dort ist, wo seine helfende Hand gebraucht werden könnte.“ Mit Michael hatte sie nicht darüber gesprochen. Überhaupt hatten sie seit der Nachricht wenig miteinander geredet, aber es schien selbstverständlich, dass er bei ihr blieb und das Ende abwartete. Denn Mimi wusste, dass er genau wie sie nicht an ein Wunder glaubte. Zu oft waren Wunder geschehen. Wenn das Digimon den gesamten Himmel derart verdunkeln konnte, wie Willis geschildert hatte, und ihre stärksten Digimon es nicht hatten bezwingen können, war jeder Widerstand sinnlos. Als nun die Wolken über den Bergspitzen im Nordosten auftauchten, fühlte Mimi unendliche Trauer in sich aufsteigen. Es war eine brodelnde Masse, durchzuckt von dunklen Blitzen und an den Rändern ausgefranst. Bunte Farben weckselten sich dort ab, aber Mimi meinte, nur feuriges Rot und tiefes Violett zu erkennen. Es war kaum zu glauben, dass ein Digimon diese Erscheinung auslöste. Eine Eiseskälte wehte ihr voraus und ließ Mimi in ihrem weißen Prinzessinnenkleid zittern. Sie blickte nach oben. Bis hierher reichten die ersten Blitze. Die Wolken waren nicht dunkelgrau und schwer, wie sie sein sollten, sondern von einem so tiefen Schwarz, wie Mimi es noch nie gesehen hatte. Der Wind frischte auf, ließ die Kerzen flackern, die hinter ihnen auf dem Balkon brannten. Selbst das Licht der Flammen schien schwächer, düsterer zu werden. Das Gewitter kam immer näher, quälend langsam, die Blitze wurden immer aggressiver. So musste der Weltuntergang aussehen. Eine Träne löste sich aus Mimis Augenwinkel und lief ihr über die Wange. Michael schloss Mimi fest in die Arme. Immer noch sprachen sie kein Wort, immer noch starrten sie der Finsternis entgegen. Sie standen auf dem höchsten Balkon der Pagode und warteten auf das Ende.     Die Digimon wurden unruhig, und viele flohen nun doch. Niemand machte ihnen einen Vorwurf. Selbst Agunimon betrachtete nur stumm das finstere Schauspiel in den Bergen. Sora stand inmitten des Heeres in den verwaisten Reisfeldern, die Arme eng um den Körper geschlungen. Ihr war eiskalt. Das überlebende Gigadramon der Wissens-Armee sah auf dem Boden nicht halb so furchteinflößend aus. Sein Artgenosse musste irgendwann bei der Schlacht um Fort Netwave gefallen sein. Selbst Garudamon hinter Sora machte sich klein. Und dabei hatten sie sich für kampfbereit gehalten. Als die dunkle Wolke die vorderen Bergspitzen erreichte, geschah etwas Seltsames. Zuerst hielt Sora das Grollen für Donner, dann erst fielen ihr die Geröllbrocken auf, die von den Berghängen kollerten. Die steinernen Giganten schienen zersetzt zu werden. Es wirkte, als reichte die bloße Nähe des noch nicht einmal sichtbaren Digimons aus, um Berge einstürzen zu lassen … Sora bekam es mit einer Angst zu tun, wie sie sie noch nie zuvor gespürt hatte. Die Digimon schwiegen ehrfürchtig, bis Agunimon die Stille brach. „Wer noch gehen möchte, sollte das jetzt tun. Sich diesem Untier zu stellen, hat nichts mehr mit Mut zu tun. Wer bleibt, ist wahnsinnig.“ Es selbst blieb an Ort und Stelle stehen, was anderen Digimon ein paar nervöse Lacher entlockte. Die Reihen dünnten aus, und Sora war über jeden Soldaten froh, der sie verließ. Sie dachte auch selbst darüber nach, was sie tun sollte. Sollte sie Vertrauen in sich und ihre Digimon haben? Oder auf ihren Instinkt hören, der ihr riet, so schnell wie möglich davonzulaufen, wohin auch immer? In dem Moment entstand rechts von ihr eine Unruhe. „Der König!“, rief jemand. „Der König ist zurück!“ Sie kamen auf Unimon angeflogen, vermutlich waren sie durch das Schneisental gekommen. Sora verspürte eine Welle der Erleichterung. Es mochte wenig Bedeutung haben angesichts der Bedrohung, die auf sie zukam, aber die Gruppe war vollzählig, auch wenn sie zu Tode erschöpft und verschreckt wirkte und ihre Digimon auf einem sehr niedrigen Level waren. Dann fiel ihr ein, dass eigentlich die Drachenstaffel bei ihnen sein sollte. Tai blieb unweit vor Sora und Agunimon stehen und starrte das Heer entsetzt an. „Was tut ihr hier? Seid ihr verrückt? Ihr solltet euch in Sicherheit bringen!“ MegaKabuterimon kam durch das Heer heran gestapft. Auf seinem Rücken saß Izzy, der beschlossen hatte, die notwendigen Befehle von dort aus zu geben. Nur seinen Laptop hatte er bei sich. „Tai! Willis!“, rief er ihnen zu. Offenbar hatte auch er nicht gewusst, dass sie auf dem Weg hierher waren. Er hatte gemeint, es gäbe Probleme mit der Technik, sowohl mit seiner als auch mit der des DigimonKaisers. „Es gibt keine Sicherheit mehr in der DigiWelt, Majestät“, sagte Sir Agunimon mit fester Stimme. „Die Schwarzturmdigimon haben sich nur zurückgezogen. Wohin wir auch fliehen, der DigimonKaiser wird uns jagen. Wir hier sind diejenigen, die sich dem Ende lieber kämpfend stellen.“ Tai schluckte. „Dieses Wesen ist viel zu stark. WarGreymon und MetallGarurumon sind miteinander verschmolzen und hatten dennoch keine Chance.“ „Das hier sind Krieger, Tai“, meinte Sora mit einem Lächeln. „Du kannst sie nicht zur Flucht zwingen.“ Er runzelte die Stirn, und im nächsten Moment war eine gläserne Kugel neben Sora aufgetaucht, mitten in ihrem Heer. Zunächst wusste sie nicht, wie ihr geschah. Sie sah etwas aus den Augenwinkeln, und als sie den Kopf wandte, sah sie nur wenige Meter von sich entfernt eine helle Kuppel aufragen, die sich dort urplötzlich ausdehnte. Digimon stießen erschrockene Schreie aus, schubsten sich gegenseitig, als sie auseinander drängten. Das Gebilde wurde größer und größer, verschluckte fast das halbe Heer … Dann löste es sich in Luft auf und ließ nichts zurück außer einem Schneesturm aus Datensplittern und einem klaffenden Loch, wo zuvor Hunderte Digimon gestanden waren. Sora war wie zur Salzsäule erstarrt, dann ruckte ihr Kopf herum. Das feindliche Digimon war immer noch in den Bergen. Sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob der verwaschene Fleck dort unter den Gewitterwolken wirklich jenes Digimon sein sollte. Es hatte von dort oben ein Drittel ihres gesamten Heeres vernichtet? Innerhalb eines einzigen Augenblicks? Plötzlich wurden ihre Knie weich. „Genau das meine ich!“, schrie Tai mit sich überschlagender Stimme, als schieres Chaos ausbrach. Digimon stoben auseinander, Agunimon versuchte vergeblich, sie geordnet zurückweichen zu lassen. Überall wurde gestoßen und gedrängelt. Eine Kompanie Monochromon verlor die Nerven und trampelte ihre Kameraden nieder. Die beiden KaiserLeomon waren verschwunden, vergangen in der hellen Kuppel. Irgendwo hinter Sora stieß Yolei einen verzweifelten Schrei aus. „Was sollen wir nur tun? Sollen wir fliehen?“ „Eine gute Idee“, meinte Willis. Tai starrte nur in die Berge und sagte nichts. Die Gewitterwolken hatten die letzten steinernen Spitzen hinter sich gelassen und befanden sich nun über freiem Feld. Ohne Zweifel hielt das Digimon auf Little Edo zu. „Und wohin sollen wir jetzt fliehen?“, fragte Davis, seltsam nüchtern. „In den Norden? Ich glaube nicht, dass es nach Little Edo aufhört, die DigiWelt zu zerstören.“ Er ballte die Fäuste. „Wir müssen es aufhalten, sonst legt es alles in Schutt und Asche!“ „Und wie?“, fragte Matt, mit einem schwächlichen Digimon im Arm. „Wie sollen wir dieses Biest besiegen?“ „Ihr könnt es nicht besiegen“, erklang plötzlich eine Stimme, so unerwartet und ruhig, dass die Digimon für einen Moment in ihrer der Flucht innehielten. „Der DigimonKaiser!“, stieß Davis aus, der die Stimme erkannt hatte.     Er war lautlos wie ein Schatten aufgetaucht. Izzys Instrumente hatten ihn nicht angezeigt, aber seit das fremde Digimon erschienen war, schienen sie verrückt zu spielen. Die Finsternis, die die DigiWelt nun fest im Griff hatte, war ein guter Deckmantel für ihn und seine Digimon gewesen. Sie mussten sogar über die Häuser von Little Edo hinweg geflogen sein, denn aus dieser Richtung waren sie aufgetaucht: Der DigimonKaiser mit Wormmon auf einem Airdramon, seine Anhänger – ein großer Mann, Arukenimon und Mummymon – auf einem anderen, und hinter ihnen eine ganze Horde von kleinen, fliegenden Digimon: Thunderboltmon und MetallMamemon. „Was willst du?“, rief Tai. „Bist du hier, um zu kämpfen?“ „Mach dich nicht lächerlich“, gab der Kaiser zurück. Seine Brille trug er nicht mehr, in seinen Augen schien etwas zu funkeln, das Izzy selbst in der Dunkelheit erkannte. Vorfreude? Machtgier? „Ich bin hier wegen Arkadimon. Dem unbesiegbaren Digimon, das ich geschaffen habe.“ „Ken!“, schrie Kari plötzlich. „Was hast du getan? Dein Digimon wird die DigiWelt zerstören!“ „Ich weiß“, sagte er unbeeindruckt. „Es ist das kleinere Übel.“ Sein Blick fand Izzy. „Ich vermute, deine Instrumente haben versagt. Die Digimon aus dem Norden haben sich in ihre Städte und Dörfer zurückgezogen, als meine Schwarzturmdigimon kamen.“ „Was sagst du da?“ Tai sprang von Unimons Rücken, doch der Kaiser war unerreichbar. Keiner der Soldaten griff ihn an. Wer nicht Hals über Kopf floh, starrte auf diese viel größere Bedrohung, die über die Steppe schwebte. Sie warteten ab. Sie wussten, dass nichts, was sie taten, ihren Untergang verhindern konnte. „Meine verbliebenen Digimon aus der Wüste sind nach Norden in die Ebene gezogen. Während ihr hier auf euren Tod wartet, habe ich Schwarzturm-Thunderboltmon in euer Königreich geschickt.“ „Damit wirst du uns nicht besiegen!“, rief Tai impulsiv. Izzy hatte das Gefühl, dass es gar keinen Unterschied machte. „Meramon ist dort oben, und Wizardmon heuert neue Soldaten an! So einfach fällt unser Königreich nicht!“ „Das muss es gar nicht“, sagte der DigimonKaiser und blickte weiter nach Norden. „Es muss bald so weit sein“, murmelte er. Täuschte sich Izzy, oder zitterte sein Kinn? Der Kaiser stand etwas gekrümmt da, als hätten sich all seine Muskeln verkrampft – und sein Blick hatte etwas Gehetztes, trotz seiner ruhigen Worte, glitt zwischen der finsteren Wolke und einem kleinen Bildschirm, den er in Händen hielt, hin und her. Von nun an antwortete er auf keine ihrer Fragen mehr, als hätte er sie alle ausgeblendet. Eine weitere, weiße Kuppel blitzte einige hundert Meter links von ihnen auf und erwischte mehrere Dutzend fliehende Digimon. Yolei stieß einen schrillen Schrei aus und raufte sich die Haare. „Ich halte das nicht mehr aus!“ „Macht euch bereit“, sagte Tai zu seinen Soldaten. „Sobald es in Reichweite ist, greifen wir alle gleichzeitig an! Es wird funktionieren!“ „Und wenn nicht, gehen wir mit Pauken und Trompeten unter“, murmelte Matt. „Jetzt“, sagte der DigimonKaiser plötzlich und sah von seinem Bildschirm auf. Izzy zuckte zusammen, als seine Digimon wie Kanonenkugeln davonschossen. Die Hälfte von ihnen, vornehmlich die stärkeren MetallMamemon, flogen auf die Ebene hinaus auf Arkadimon zu, die anderen schwärmten sternförmig aus. Einige Thunderboltmon flogen gar die Pagode in der Stadt an. „Was hast du vor?“, fragte Izzy. „Ist dir aufgefallen, dass Arkadimon die Phasen aufreißt?“ „Was?“ Izzy blickte auf seinen Laptop. „Es stört erheblich etwas im Gleichgewicht der DigiWelt, aber …“ „In einem anderen Leben hättest du mein Vorhaben längst erkannt. Vermutlich muss man wissen, dass es weitere Welten neben der DigiWelt gibt.“ Izzy sah ihn fragend an, doch der DigimonKaiser blickte wieder auf den Bildschirm in seiner Hand. Seine Anhänger hüllten sich in gespanntes Schweigen, und selbst die DigiRitter und Norddigimon warteten darauf, dass etwas geschah. Und tatsächlich passierte etwas, als Arkadimon schon gut sichtbar vor ihnen schwebte. Es war seltsam: Zuvor hatte seine bloße Nähe Berge zerspringen lassen. Izzy hatte festgestellt, dass Teile davon einfach verschwunden und durch etwas anderes ersetzt worden waren – durch etwas, das aus fremden Welten kam? Diese Störungen waren überall in Arkadimons Kielwasser aufgetaucht, und man müsste sie eigentlich mit freiem Auge erkennen können. Das war nun nicht mehr so: Die Graslandschaft unter ihm lag fast unberührt da. Keine Spur von finsteren Wellen, Rissen in der Wirklichkeit oder anderen Phänomenen, von denen Willis und die anderen berichtet hatten. Selbst sein Laptop zeigte keine Störung mehr an. Ein weiterer technischer Fehler? Die Veränderungen tauchten ganz plötzlich wieder auf – aber am Himmel, und sie waren anders, als sie sein sollten. Keine zackigen Blitze, die konkrete Bilder oder Schemen zeigten, sondern ein blasses Abbild einer auf dem Kopf stehenden Landschaft, kaum erkennbar. Wolkenkratzer waren zu sehen, aber sie wurden fast sofort von einem trüben, nebligen Himmel überblendet. Izzy sah so viele verschiedene Szenen, die sich überlagerten, dass er sich ganz wirr im Kopf fühlte. Was war das? „Nur noch ein bisschen.“ Die Kieferknochen des DigimonKaisers traten hervor, seine Hände zitterten. Starr fixierte er das Display. Dann verschwanden auch die gespenstischen Bilder wieder, gerade als ein Teil von Little Edo hinter ihnen in einer weißen Kuppel verschwand. Und im nächsten Moment klaffte ein rötlich glühender Spalt im Himmel auf, direkt über Arkadimon, scharf und schmal, als hätte jemand mit einem Messer hindurch geschnitten. Das Glühen war noch unterhalb der Gewitterwolken und ließ sie rot leuchten, viel intensiver als es jeder Sonnenuntergang geschafft hätte. Izzy stockte der Atem, genau wie allen anderen. Der DigimonKaiser verlor plötzlich sämtliche Anspannung. Er tiefer Seufzer entwich seiner Kehle. Er sackte rücklings auf Airdramons Kopf zusammen, hockte eine Weile nur dort, auf die Arme gestützt, den Kopf tief durchatmend nach oben gereckt. „Geschafft“, hauchte er. „Was … was ist das?“, fragte Tai. Arkadimon verharrte und hob den Kopf, um zu dem Spalt empor zu sehen. „Das …“, sagte der DigimonKaiser, kurzatmig wie nach einem Sprint, „ist unser wahrer Feind.“     Wann war die ganze Sache so ernst geworden? Wann war sämtliche Freude aus seiner Brust getilgt worden, Freude über gelungene Züge, über den Fortschritt, über einen herannahenden Sieg? Als der Himmel aufriss, hatte das nichts Verheißungsvolles, nichts Triumphales mehr. Nur das lang erwartete Ende von etwas, das am besten nie begonnen hätte. Wann hatte Ken begonnen, dies alles derart zu hassen? Seine Freunde riefen noch aufgeregt durcheinander, Digimon rannten kreuz und quer, er wurde mit Fragen bestürmt. Schweigend ließ er Airdramon aufsteigen, auf die feurige Öffnung zu. Der Himmel sah immer noch so widernatürlich aus, dunkel und rot … Wann hatte die Sonne ihre Kraft verloren? Es musste schon vor Arkadimons Geburt gewesen sein. Anfangs war noch alles weniger verzweifelt gewesen, weniger kalt, höchstens von einer Frische durchzogen, die durchaus angenehm hatte sein können. Als Deemon ihm das Spiel erklärt hatte, hatte er gewusst, dass das Schicksal von mehreren Welten auf seinen Schultern ruhte, und er hatte das Gewicht durchaus gespürt. Dennoch war die Sonne am Himmel gestanden, Tag und Nacht hatten sich abgewechselt, und er hatte Erfolge verbuchen und sich sogar darüber freuen können. Er hatte noch mit reinem Herzen gekämpft, ein Ziel verfolgend, und jeder Schritt darauf zu war ihm richtig vorgekommen. Er erinnerte sich, wie Leomon und die anderen ihm entsagt hatten. Wie er stattdessen Ogremon in seine Dienste nahm. Schon das war ein kleiner Erfolg gewesen. Er hatte regiert und sich um Gerechtigkeit bemüht. Lange war es auch gut gegangen. Er war endlich der Herrscher gewesen, der er damals nicht hatte werden können … Selbst nach der verlorenen Schlacht um die Maya-Pyramide hatte er sich besser gefühlt als jetzt, bei seinem endgültigen Triumph. Es hatte sogar im Leben unter der Last der Welt schöne Augenblicke gegeben. Nun kamen ihm die Momente, als er morgens aufgewacht war und sich bei einer Tasse Kaffee unkritische Berichte aus seinem wachsenden Reich angehört hatte, die Bittgesuche und sogar die Gespräche mit seinen Freunden, die ihn nicht wiedererkannt hatten, wie ein angenehmer Traum vor. Er hatte versucht, freundlich zu wirken, allen klarzumachen, dass er nicht der Tyrann war, für den man ihn hielt. Seine Trauer, wenn es ihm nicht gelungen war, sah er jetzt als einen Beweis für seine Aufrichtigkeit. Selbst Nadine hatte ihm befreite Momente beschert, auch wenn es sich nur um Lügen gehandelt hatte. Er hatte mit ihr gelacht, Pläne geschmiedet und sein Reich verbessert. Seinen Digimon war es nicht schlecht ergangen. Und jeder Schlag, der ihm gegen Deemon gelungen war, hatte ihn aufgebaut, nach einer Niederlage wiederaufgerichtet. Wann waren all diese kleinen Glücksmomente, die ihn selbst inmitten dieses monatelangen Quälens mit der Verantwortung gefunden hatten, einfach verschwunden? Es musste schleichend passiert sein. Vermutlich war Wormmons Tod der Auslöser gewesen. Damals war er zum ersten Mal wirklich verzweifelt gewesen. Immer noch hatte er um seine Freunde gekämpft. Sie besiegt, um sie zu retten. Cody hatte er überzeugen können – und er war als Befreier nach Masla gekommen. Hatte er sich nicht wie ein Held gefühlt? Den süßen Geschmack des Erfolgs ausgekostet? Hatte ihm da das Spiel nicht sogar ein wenig Spaß gemacht? Als Tai sein Auge verloren hatte, war ihm der Ernst der Lage bewusst geworden – aber hatte er nicht schon vorher begriffen, was auf dem Spiel stand? War es nicht in Ordnung, ab und zu abzuschalten, selbst wenn seine und die DigiWelt auf dem Spiel standen? Dann kam Nadines Verrat. Die Flügel, die Ken mit der Zeit gewachsen waren, wurden mit einem Mal abgeschnitten. Er fing das Spiel neu an, misstraute jedem, selbst Oikawa … War es dann geschehen, dass er verbitterte? Er erinnerte sich an seinen Flug in die Wüste, nachdem er Takashi besiegt hatte. Ein Hoch nach einem Tief? War seine Herrschaft damals noch eine Hügellandschaft gewesen? Seit wann gab es nur noch dieses Tal? Wormmon klammerte sich fest an seine Schulter. Es zitterte, je näher sie dem Feuer am Himmel kamen. Ken packte sein DigiVice fester. Alle Geräusche schienen gestorben. Als hielte die Welt den Atem an, während sie zusah, wie er sie von ihrer Geißel befreite. Seit Sammys neuerlichem Tod gab es kein Richtig und kein Falsch mehr. Nur noch Kens Pflicht. Er merkte, dass er müde war. Es war gut, dass es jetzt vorbei war. Es war lediglich beklemmend, dass es im Leben immer ein Danach gab. Was würden die anderen von ihm halten? Er war seiner Linie nicht gefolgt. Am Ende hatte er ein Untier geschaffen, grässlicher noch als Kimeramon. Wie konnte ihm je verziehen werden? Er atmete tief durch. Arkadimon war direkt vor ihm, doch es wirkte wie erstarrt. Als spürte es Deemon in der fremden Welt. Der Raum hinter der Feuerwand schien genauso zu brennen wie die Wand selbst. Oder es war etwas anderes, Materie, die nur wie Feuer aussah oder auch nur dessen Form annahm, wenn ein Mensch darauf blickte. Die fremde Welt musste völlig anders sein als alles, was er je gesehen hatte. „Es ist vorbei, Wormmon“, sagte er. „Ken, ich verstehe es immer noch nicht“, murmelte sein Digimon. „Wie hast du das gemacht? Das ist Deemon? Warum hast du ein Tor öffnen können? Du hast doch gar nicht überall Türme gebaut?“ Ken hatte die Sache schon auf dem Weg zum Stiefel erklärt, doch er würde es Wormmon wahrscheinlich genauer ausführen müssen, damit es ihn verstand. Irgendwann. „Es ist reine Physik, Wormmon“, sagte er nur. „Wenn es die Zeit erlaubt, werde ich es dir nochmal erklären. Jetzt sollten wir uns beeilen, bevor sich das Tor schließt.“ Er hob sein DigiVice, richtete es auf die feurige Öffnung. Er wusste nicht, ob das notwendig war, aber es erschien ihm passend. Damals hatten sie sein DigiVice benutzt, um Deemons zum Meer der Dunkelheit zu schicken. Damit hatte alles begonnen. Nun würde er es damit aus seinem Versteck hinter der Feuerwand reißen, zurück in die DigiWelt, wo es hingehörte. Wo es sterben sollte. Er hatte den Plan gefasst, als er gezwungen gewesen war, Arkadimon zu bauen. Die Schwarzen Türme störten die Phasen. Sie bewegten die Grenzen der Welt wellenförmig. Diese Theorie hatte er schon früher aufgestellt, und Deemon hatte sie zu Spielbeginn bestätigt: Kens Rolle war es gewesen, in jedem Gebiet der DigiWelt mindestens einen Turm zu errichten. Das war die Bedingung für seinen Sieg gewesen. Wenn die DigiWelt aus dem Gleichgewicht geriet, taten es ihr nahe Welten wie die Reale Welt oder das Meer der Dunkelheit gleich. Die Grenzen zwischen den Welten waren wie eine Wasseroberfläche, die Wellen schlagen konnte. Ein Turm allein erzeugte kaum merkliche Schwingungen. Viele Türme in der ganzen Welt, die alle im selben Rhythmus auf die Phasen eintrommelten, vereinten ihre Schwingungen zu einer riesigen Welle. Und diese Welle war schließlich groß genug, um die Grenzen zu einer weit, weit entfernten Welt aufzureißen. Ein Tsunami, der weit über das Ufer des Meeres schwappte. Auch Schwarzturmdigimon brachten die Weltengrenzen zum Schwingen. BlackWarGreymon war das beste Beispiel dafür gewesen. Es hätte keinen Unterschied gemacht, ob Ken die DigiWelt mit Türmen bebaut oder an deren Stelle ein Champion-Schwarzturmdigimon gesetzt hätte. Nur hatten die Türme wesentlich mehr Vorteile, und seine Digimon hätten in Feindesland auch nicht überlebt. Er konnte also nicht einfach in jeden Winkel der DigiWelt ein Schwarzturmdigimon schicken, ohne diese Gebiete richtig zu erobern – für seinen Notfallplan war das jedoch auch nicht nötig gewesen. BlackWarGreymons bloße Präsenz hatte damals die DigiWelt, die Reale Welt und das Meer der Dunkelheit durcheinander gebracht. Die Schwingungen, die es bei den Phasen auslöste, glichen denen von hundert Schwarzen Türmen, konzentriert auf einem einzigen Fleck. Es war keine einfache Welle, sondern ein gewaltiger Brecher entstanden, auf offener See. So stellte sich Ken das Aufreißen der Weltengrenzen vor, als sprühende Schaumkrone, wenn eine meterhohe Welle sich selbst nicht mehr halten konnte und in sich zusammenfiel. Und Arkadimons Wirkung war noch heftiger: Wenn die Grenzen zwischen den Welten wie eine Wasseroberfläche waren, war Arkadimon ein Meteor, der in das Meer raste. Die Wellen, die er erzeugte, waren gewaltig, und Durchgänge zu einem Dutzend anderer Welten mussten sich auf einen Schlag geöffnet haben. Diese urgewaltige Kraft hatte sich Ken zunutze gemacht. Er hatte das Wasser, das in alle Richtungen spritzte, zu kontrollieren versucht. Er hatte auf dem Stiefel neue, flinke Schwarzturmdigimon mit dem Granulat von der File-Insel gebaut gebaut und den Rest seiner Heere in der DigiWelt verteilt. Dutzende Ultra-Digimon in Arkadimons Nähe fingen dessen gigantische Schwingung auf, machte aus den oszillierenden Grenzen wieder Wellen, die geregelt waren und weit reichten. Champion-Digimon weiter entfernt pflanzten diese noch weiter fort und dämpften die Schwingungen dabei. Aus einem unkontrollierten Geruckel der Grenzen wurde wieder ein riesige, geregelte Welle, doch allein die Kraft ihres Ursprungs ließ sie über die Ufer treten, sodass am Ende ein ähnlicher Effekt erreicht wurde, als wenn die gesamte DigiWelt mitschwingen würde – obwohl nur im Herzen der DigiWelt Schwarzturmdigimon postiert waren. Arkadimons Auftauchen hatte einen Großteil von Kens Messinstrumenten nutzlos werden lassen. Auf dem Weg zum Stiefel hatten er und Oikawa es aber geschafft, ein einfaches Programm zu entwickeln, das Phasenverschiebungen messen konnte. Allein damit und mit den übrigen Türmen in seinem Reich die Schwarzturmdigimon zu koordinieren, bis jedes auf seinem Platz war, war ein Albtraum gewesen. Wäre Ken nicht bereits dermaßen abgestumpft, hätte er garantiert die Nerven verloren. Aber es war vollbracht. Nicht die gesamte Wasseroberfläche hatte sich in eine Welle verwandelt, doch mithilfe eines Meteoriten hatte Ken einen Tsunami weitergeleitet, der dieselbe Wirkung erzielte. Deemon war direkt vor ihm. Er streckte sein DigiVice weit von sich, und tatsächlich geschah etwas. Vielleicht erinnerte sich das Gerät auch einfach nur an Deemons Präsenz, aber es begann sanft zu glühen. Und eine dunkle, unstete Gestalt sank aus dem Weltenspalt in die DigiWelt. „Du hast es also geschafft, Ken.“ Die Stimme wahrhaftig zu hören, anstatt sie nur in Gedanken wahrzunehmen, ließ ihm einen Schauer über den Rücken gleiten. „Das Spiel ist aus, Deemon!“, rief er der Gestalt zu. „Ich habe gewonnen!“ „Das hast du“, bestätigte Deemon. „Und du hast sogar einen Weg gefunden, an mich heranzukommen, den ich nicht vorhergesehen habe. Auch wenn du ein wenig unfair gespielt hast, als du die Türme, die du auf meine Antworten hin errichtet hast, so einfach zu einem Digimon gemacht hast.“ „Das spielt jetzt wohl keine Rolle mehr“, meinte Ken. „Ich habe innerhalb der Frist gewonnen! Selbst von hier kann ich erkennen, dass du noch kaum deine alten Kräfte zurückerlangt hast! Du bist erledigt!“ Deemon sah fast so aus wie bei ihren gedanklichen Debatten, schattenhaft, fast zweidimensional, und sein Körper wirkte durchlöchert und ausgefranst. Es hob seine dünnen Arme. Arkadimon stieß ein leises Zischeln aus. Seine Tentakel gerieten in Wallung. „Bin ich das?“, fragte Deemon und stieß ein heiseres Lachen aus. In Kens Magengrube breitete sich eine schreckliche Hitze aus, wie eine dunkle Vorahnung. Sie kroch seinen Hals hinauf bis zu seinen Wangen und seiner Stirn. „Wie meinst du das?“ „Du hast es selbst gesagt, Ken. Das Spiel ist vorbei. Alle Regeln sind jetzt nichtig. In dieser Welt kann ich nun so unfair sein, wie ich will.“ „Erklär mir das!“, spie Ken ihm entgegen. Er hatte doch gewonnen – oder nicht? Es müsste vorbei sein, Deemon war nur ein Happen, ein Ultradigimon könnte es vermutlich zerstören! „Ken, Ken, Ken“, tadelte es ihn. „Ich dachte, du wüsstest mittlerweile genug über die Macht der Dunkelheit. Hast du es etwa vergessen? Die Macht der Dunkelheit kann viele Formen annehmen. Digimon, die sich ihr verschrieben haben, können sich an bestimmten Formen laben. Hast du vergessen, warum ich dich damals in deiner Welt jagte? Ich wollte die Saat der Finsternis, eine Manifestation der Macht der Dunkelheit, die mir Kraft gibt. Jemand hat sie mir weggeschnappt, doch das ist nicht weiter schlimm. Von meinem Versteck aus konnte ich mit jenen sprechen, die sie einst in sich trugen. Und ich habe eine neue Macht der Dunkelheit in die DigiWelt gebracht, die mich stärken sollte. Die Schwarzen Türme, Ken. Ich sagte doch, dass sie ein zweischneidiges Schwert sind. Einerseits kannst du dadurch ein Tor hinter die Feuerwand öffnen. Andererseits gewinne ich durch sie meine Macht zurück, Stück für Stück. Es hätte noch lange gedauert, bis die Dunkelheit, die sie verströmen, meine Kraft wiederhergestellt hätte, da hast du recht. Aber nun servierst du mir als Willkommensgeschenk ein Digimon, das aus tausend Schwarzen Türmen besteht, auf dem Silbertablett!“ Die Hitze verschwand. Ken wurde eiskalt, als er begriff, welch fatalen Fehler er begangen hatte. Arkadimons Tentakel züngelten zu Deemon hoch, umschlossen es fest, bis es in einem Wald aus glänzend schwarzen Haaren verschwunden war. Dann schien das riesige Digimon zu versteinern, seine Panzerplatten überzogen sich mit einer schwarzen Kruste, schlugen schließlich Wellen und wurden wieder so, wie es kurz vor seiner Vollendung ausgesehen hatte: Ein wirres, abstraktes Kunstwerk mit zu vielen Kanten und Ecken, pechschwarz und eisig kalt. Langsam kehrten sich die Zacken nach innen, als schlürfe Deemon das Herzstück des Digimons. Airdramon schoss instinktiv einen violetten Feuerball ab, doch der zerplatzte wirkungslos an der dunklen Oberfläche. Der Riss im Himmel schloss sich, aber stattdessen fuhren fauchend Feuersäulen aus dem schwarzen Vieleck, wie Dampf, der an undichten Stellen entwich. Schließlich sickerte Deemons Gestalt durch das Gebilde, flackernd, aber riesengroß. Aus den Stichflammen tauchten Arme auf, kämpften sich durch die schwarze Masse wie durch zähen Schleim. Geschmolzenes Turmgranulat bedeckte Deemons Körper von den Flügel- bis zu den Fingerspitzen. Selbst sein Kapuzenkopf schien schlammverschmiert, und der Schlamm bewegte sich, zappelte. Ken meinte die Reste von Arkadimons Tentakeln zu erkennen, die sich weigerten, mit Deemon zu verschmelzen, aber unweigerlich von ihm verschlungen wurden. „Wessen Ende ist es nun, Ken?“, fragte das monströse Digimon. Flammen zuckten um seine Finger, sprühten wild in alle Richtungen. Dann tauchte die mächtigste Feuersäule bisher auf, hüllte Deemon ganz ein, und Ken glaubte den letzten und einzigen, unmenschlichen Schrei Arkadimons zu hören. Der Feuerstoß war so gewaltig, dass er die Wolkendecke über ihnen zerfetzte und wieder Leben in den Himmel brachte. Deemon hatte Arkadimons dunklen Fluch gebrochen. Ken schrie auf, als ein wahrer Feuersturm ihn traf. Die Flammen wirbelten um Deemon herum, wurden zu einer Wand aus schierer Hitze, die fauchend über Airdramon hinweg rollte. Die Druckwelle wehte es fort, Ken war gefangen in einem rot glühenden Orkan, Glut schien über seine Haut zu wandern, seine Lunge atmete geschmolzene Luft, die Steppe stand in Flammen, Wormmon presste sich an ihn. Dann verlor er das Bewusstsein. The beat of black wings under red skies The place where demons and angels will die Out of torment, there’s no tomorrow (Primal Fear – Demons and Angels) Kapitel 72: Das letzte Aufgebot ------------------------------- Mimi stieß einen Schrei aus, als ihre Erinnerungen zurückkehrten. Ein ganzes Leben wurde in ihren Kopf gepresst, kämpfte mit ihrem anderen um die Vorherrschaft, bis sie meinte, ihren Schädel platzen zu spüren und wahnsinnig zu werden. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis der Schmerz endlich aufhörte und sie sich dazu imstande fühlte, Traum von Wirklichkeit zu unterscheiden – nur um zu erkennen, dass beide Vergangenheiten, die in ihrem Kopf existierten, bis zu einem gewissen Grad geschehen waren. Sie und Michael bemerkten, dass sie einander immer noch im Arm hielten, hier auf dem Balkon der Pagode, vor der auf der Ebene etwas ganz und gar Merkwürdiges vorzugehen schien. Instinktiv zuckten sie voreinander zurück und starrten sich verlegen an. Es war seltsam: Hier in diesem Leben, in dieser Welt, liebte sie ihn. Es wurde ihr nun erst klar, als sie einen Vergleich zu ihrer anderen Vergangenheit hatte, in der er einfach nur ein Freund gewesen war, den sie in Amerika kennengelernt und mit dem sie viel unternommen hatte, auch durch die DigiWelt gereist war. In einem Leben, in dem sie keine Prinzessin und er kein Ritter war, in dem ihr Leben eine völlig andere Geschichte geschrieben hatte. Nun, mit der Rückkehr ihrer Erinnerungen, wusste sie nicht, was sie davon halten sollte. Was waren ihre wahren Gefühle? Gab es so etwas wie wahre Gefühle überhaupt in so einer Situation? Die drohende Gefahr schien fürs Erste gebannt, die unheimliche Kälte, die das feindliche Digimon verströmt hatte, war verschwunden. Nun meinte Mimi, erst ihre Gefühle aussortieren zu müssen, ehe sie weitermachen konnte. Ehe sie wieder eine richtige Person sein konnte. Michael räusperte sich unbehaglich. Seine Wangen waren gerötet. Beschäftigten ihn ähnliche Gedanken? „Du erinnerst dich auch?“, fragte er. Mimi nickte. „Wir … sollten vielleicht runtergehen“, meinte er nach kurzem Zögern. „Zu deinen Freunden.“ „Ja. Stimmt.“ Sie blickte auf das Schattenknäuel, über dem endlich die Wolkendecke aufgerissen war. Der Himmel sah nicht viel trostvoller aus als zuvor, immer noch dunkel, aber dennoch … Wie ein verhinderter Weltuntergang. Sie gingen nach drinnen. Auf der Treppe bot ihr Michael galant den Arm an – und hielt dann inne. Verlegen lachte er. „Ich kann das Rittersein wohl nicht so einfach ablegen“, meinte er. Gegen ihren Willen musste Mimi lächeln. Auch wenn ihre neuen Identitäten irgendwie fabriziert sein mussten, sie waren doch immer sie selbst gewesen. Vielleicht hätten sie unter anderen Umständen auch in der realen Welt dieselben Gedanken gedacht, ähnliche Wege beschritten. Vielleicht war es gut, mehrere Facetten der Persönlichkeit eines anderen zu kennen.     Davis schien aus einem tiefen, langen Traum zu erwachen – oder eher, in einen Traum hinabzugleiten. Plötzlich wusste er nicht mehr, was real und was künstlich war, und sein Kopf brummte und drehte sich. Chibomon in seinen Armen zitterte und schien Ähnliches durchzumachen. Verwirrt blickte Davis sich um. „Yolei! Tai!“, rief er atemlos, als er diese beiden als Erstes sah. Yolei war wie zur Salzsäule erstarrt und kreidebleich geworden, die Augen vor Erkenntnis geweitet. Tai presste die Hand gegen die Schläfe, sein verbliebenes Auge zuckte. Hawkmons Gefieder war gesträubt, das Digimon krümmte sich wie unter Schmerzen. Und da war doch noch jemand bei ihnen gewesen … hier auf den Reisfeldern vor Little Edo … Als er sich umwandte, sah er Matt in die Augen, der auf seinem Unimon schwer atmete und ebenso bestürzt zu sein schien wie er. Willis war in die Knie gegangen, kniete im seichten Wasser und wurde wie von Krämpfen geschüttelt. Sein DigiVice war seinen kraftlosen Händen entglitten. „Nein …“, murmelte er. „Was hat das zu bedeuten … Warum … warum war es so …“ Izzy kletterte mit wackeligen Knien von MegaKabuterimon. Er schien relativ gefasst, aber da Davis ihn kannte – da er ihn wieder kannte –, wusste er, dass der Junge genauso verstört war wie er selbst. Sora trat näher an die Gruppe heran, ungelenk und ungewöhnlich in ihrem weißen Kleid. Sie weinte – aber aus irgendeinem Grund war ein Lächeln auf ihrem Gesicht erschienen, und sie sah ihre Freunde liebevoll an. „Tai“, hauchte sie und berührte ihn an der Schulter. „Es tut mir so leid, Tai …“ Doch ihr Lächeln blieb. „Izzy! Izzy!“ Joe kam von weiter hinten angelaufen, Gomamon im Schlepptau. „Was ist hier los?“ Er erkannte die anderen. „Habt ihr das auch gespürt?“ Die wenigsten nickten. Yolei erwachte endlich aus ihrer Starre. „Oh, verdammt!“, entfuhr es ihr. „Verdammt, verdammt, verdammt! Was ist das nur?“ Ihr Blick flog verwirrt über das zerstreute Heer. „Davis!“ Sie stürzte zu ihm, packte ihn an den Schultern. „Bitte! Sag mir, dass ich das alles nur geträumt habe!“ „Du siehst doch, dass es echt war“, schnauzte er sie an. Ihre Knie gaben nach, sie sank zu Boden. „Das kann doch nicht … Was habe ich die ganze Zeit …“ Hawkmon wirkte genauso verloren. Die Norddigimon starrten sie verwirrt an. „Mein König, was habt Ihr?“, fragte Agunimon, als Tai die Zähne wie unter Schmerzen zusammenbiss – vielleicht spürte er sein verlorenes Auge erneut. „Hör mir auf mit König …“, stöhnte er kehlig. Nur eine ihrer Freunde schien die Fassung zu bewahren. Kari stand etwas abseits, mit ausdruckslosem Gesicht. Nun erkannte Davis sie wieder – was war nur mit seinem Gedächtnis los gewesen? „Ihr erinnert euch also wieder?“, fragte sie tonlos. „Wa-was ist überhaupt los?“, stammelte Davis. „Was soll das bedeuten?“ „Warum erinnere ich mich plötzlich an eine Zeit, in der ich als Söldnerin durch die DigiWelt gelaufen bin?“, brachte Yolei seine eigene Verdutztheit auf den Punkt. „Seht mal!“, rief Sora plötzlich und deutete mit dem Finger in den Himmel hinein. Die Erinnerungen hatten sie mit solcher Wucht getroffen, dass sie das riesige Schwarzturmdigimon ganz vergessen hatten. Nun war es verschwunden – oder eher, es verformte sich. Feuer leckte über die düsteren Wolken, drängte sie zurück. Die lange, künstliche Nacht endete – nur um einen Sternenhimmel zu offenbaren. So lange war es also finster gewesen. Ein ganzer Tag war unbemerkt der nächsten Nacht gewichen. Eine Gestalt arbeitete sich aus der Schwarzen Masse hervor, begleitet von Funken und Glut. Arme und Beine drückten von innen dagegen wie bei einem Kokon, aus dem etwas schlüpfen wollte. Zäher, schwarzer Schlick bedeckte zwei Arme. Ein Kapuzenkopf ragte ebenfalls daraus hervor, stellenweise blitzte die Farbe des Stoffes unter dem Schwarz hervor. „O mein Gott, sagt mir, dass ich träume!“, rief Davis, als er das Digimon unter all dem Schlamm erkannte. „Das kann nicht sein, ist das etwa Deemon?“, stieß Yolei hervor. „Aber das sollte doch … Wir haben es doch zum Meer der Dunkelheit geschickt, oder sehe ich plötzlich Gespenster?“ „Es ist Deemon“, sagte Kari düster. „Es ist vom Meer der Dunkelheit entkommen, und jetzt ist es wieder hier. Ich bin sicher, dass es hinter euren falschen Erinnerungen und dieser verdrehten DigiWelt steckt.“ „Wie bitte, Deemon?“ Tai blinzelte zu der Gestalt hoch, deren Umrisse kochten und blubberten. „Das hat Ken also gemeint, als er von unserem wahren Feind sprach …“, murmelte Matt und stockte. Davis durchfuhr es im selben Moment wie ein Blitz. „Ken! Ken ist der DigimonKaiser!“ Natürlich. Er kannte ihn doch, seine Stimme, sein Gesicht! „Du hast recht … Aber warum?“, murmelte Yolei hilflos. „Warum ist er wieder zu einem Tyrannen geworden?“ „Das ist doch ganz klar“, meinte Davis überzeugt. „Weil Deemon auch seine Erinnerungen manipuliert hat! Wir hatten doch plötzlich alle ganz andere Ansichten, wie diese Welt aussehen sollte! Warum sollte er dann nicht glauben, dass er noch in der Haut des DigimonKaisers steckt?“ „Das stimmt nicht“, erklang plötzlich eine andere Stimme. „Ken hat sich erinnert.“ Ein Tumult war an der Westseite der Front entstanden. Davis erkannte, dass Verstärkung gekommen war – aber es dauerte ein wenig, ehe er seine Erinnerungen weit genug auseinanderdividieren konnte, um zu begreifen, dass es Nachschub aus dem Dornenwald war. Wizardmon führte etliche Pflanzen- und Vogeldigimon an, und vom Rücken eines Sunflowmons sprang eben T.K. auf den nassen Boden. „T.K!“ Kari lief sofort erleichtert in seine Richtung, dann schien sie sich an irgendetwas zu erinnern und blieb auf halbem Weg stehen. T.K. warf ihr einen Blick zu. „Du bist allein? Was ist mit Klecks?“ Kari schien verlegen. „Er … wurde verletzt. Beim Kampf um das Fort.“ „Verstehe.“ Er ging einfach an ihr vorbei zu den anderen. „Ken war der Einzige, der wusste, was in der DigiWelt wirklich geschehen ist. Deemon hat ihn in ein höllisches Spiel gezogen, und er war als Einziger in der Lage, die DigiWelt zu retten.“ Gerade so ausführlich, wie es nötig war, erzählte T.K. ihnen, was er von Ken gehört hatte. Anschließend berichtete er in Stichworten, wie er selbst von Marodeuren gefangen und ins Giga-Haus verschleppt worden war, wie sie ihn wieder hatten laufen lassen und wie er auf dem Weg durch die Ebene schließlich Wizardmons Reserveheer begegnet war. Das alles hörte Davis kaum noch. „Das darf doch wohl nicht wahr sein …“, murmelte er fassungslos. „Oh, der arme Ken!“, stöhnte Yolei auf. „Und wir haben ihn die ganze Zeit bekämpft und für unseren schlimmsten Feind gehalten!“ Kari schien auch betrübt. „Ihr kennt ihn. Er muss schrecklich darunter gelitten haben.“ „Verdammt, wir haben echt gegen unseren Freund gekämpft!“ Davis hatte das Verlangen, gegen irgendetwas zu treten, aber hier in dem Reisfeld gab es nichts, woran er sich hätte abreagieren können. „Dabei hätten wir ihm helfen müssen! Wir sind doch ein Team! Verdammt, das werde ich Deemon nie verzeihen!“ „Ich habe mich mit ihm geschlagen“, murmelte Yolei beschämt. „Ich hab mich mit Ken geprügelt, obwohl er einfach nur vernünftig mit mir reden wollte.“ „Du bist nicht die Einzige.“ Matt sah T.K. aus ernsten Augen an. „Ich habe meinen eigenen Bruder nicht wiedererkannt. Ich kann gar nicht mehr sagen, was ich alles … Tut mir leid.“ „Mir auch“, murmelte Davis, der sich an ihren Kampf in Santa Caria erinnerte. „Entschuldigungen bringen uns jetzt nichts“, sagte T.K. hart. „Außerdem konntet ihr ja nichts dafür“, versuchte Kari schnell, die Worte zu entschärfen. „Deemon hat eure Erinnerungen manipuliert.“ „Das entschuldigt trotzdem nichts.“ Tai starrte mit zerfurchter Stirn auf das Knäuel aus Finsternis, das über den nördlichen Reisfeldern waberte. „Moment mal!“, rief Yolei plötzlich und wandte sich an Kari und T.K. „Was ist mit euch? Habt ihr euch etwa an alles erinnert?“ Die beiden wechselten einen betretenen Blick, dann erzählte Kari von ihren Erlebnissen. Offenbar hatte Deemons finsteres Werk sie beide nicht betroffen. In dem Moment kamen Mimi und Michael durch die Linien der Digimon gelaufen. Die Gekomon baten Mimi sofort, sich wieder in die Pagode zurückzuziehen, doch sie hörte nicht auf sie. „Ich schätze, euch geht es plötzlich genauso wie uns beiden?“, fragte sie zur Begrüßung. Sie war die Einzige, der die königliche Kleidung stand, fand Davis. T.K. setzte zu einer Erklärung an, aber sie schnitt ihm das Wort ab. „Sag nichts. Ich möchte es vielleicht gar nicht so genau wissen.“ Sie deutete auf das schwarze Brodeln unter dem Nachthimmel. Immerhin sah es nicht so aus, als würde es sie demnächst angreifen. „Wir sind wieder hier, um die DigiWelt zu retten, oder? Und dafür müssen wir das Ding da bekämpfen, hab ich nicht recht?“ „Darauf läuft das ganze Grübeln wahrscheinlich hinaus, ja.“ Sora lächelte immer noch. Es war, als wäre sie noch nie so erleichtert gewesen, trotz allem, was sie als Schwarze Königin getan hatte. „Es ist Deemon“, berichtete Kari. „Deemon? Das Digimon, gegen das ihr im Westend-Viertel gekämpft habt?“ Die anderen nickten. Zu Davis‘ Überraschung rümpfte Mimi die Nase. „Naja, ist auch egal, welches Scheusal es ist. Besiegen müssen wir es so oder so. Selbst wenn ich all das nur geträumt habe, ich lasse es sicher nicht näher an meine Stadt herankommen!“ Wizardmon, das sich mit Agunimon beraten hatte, trat heran. „Wir verstehen noch nicht wirklich, worüber Ihr Euch unterhaltet, und ich fürchte, es würde zu lange dauern, es uns zu erklären. Aber wie dem auch sei, wir folgen demjenigen, den wir zu unserem König gekrönt haben, denn ihm vertrauen wir. Was sollen wir nun tun?“ „Ja, was sollen wir tun?“, fragte Sora unbehaglich. Tai schwieg immer noch. „Ich weiß, was ich tue“, sagte T.K. und sprang wieder auf Sunflowmons Rücken, nachdem er ihm zugenickt hatte. „Ich gehe Ken suchen. Er hat etwas, das mir gehört. Als wir hergekommen sind, ist ein Airdramon auf das fremde Digimon zugeflogen. Ich bin mir sicher, das war Ken.“ Dann flog das Sonnenblumendigimon auch schon davon. Plötzlich zuckte Yolei zusammen. „Das hätte ich ja fast vergessen – Ken ist draußen in den Reisfeldern, wir sind alle hier … Wo ist Cody?“ Nun war es an Davis, zusammenzuzucken. Er zog scharf die Luft ein. Erst als er die Momente Revue passieren ließ, erkannte er, wer der Junge in der Festung gewesen war. „Ich … Wir haben gegen ihn in der Festung gekämpft! Er war auf Kens Seite! Verdammt, wenn wir nur gewusst hätten …“ „Und die Festung“, fügte Matt hinzu, „ist zerstört worden.“ Bestürzt starrten ihn die anderen an. „Was? Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist!“, stieß Yolei aus. Kari verkrampfte die Hände zu Fäusten. „Hallo, Leute!“, rief plötzlich jemand – diesmal aus der anderen Richtung. „In dieser Nacht scheinen sich alle möglichen Menschen zusammenzufinden“, stellte Agunimon schnaubend fest. Davis fuhr herum, und ihm fiel ein Stein vom Herzen. „Cody!“, rief er aus. „Musstest du unbedingt bis jetzt warten, um einen coolen Auftritt zu bekommen?“ Etwas anderes fiel ihm nicht ein, um seine Erleichterung zum Ausdruck zu bringen. Cody sprang von einem Airdramon, das eben in der Nähe landete. An seinem Gürtel baumelte immer noch dieses goldene Schwert. Hinter ihm stiegen weitere DigiRitter ab, außerdem kam noch ein Snimon angeflogen, auf dem ein blondes Mädchen saß. Sie alle liefen zu Davis und seinen Freunden herüber. „Könnt ihr mir sagen, was hier los ist?“, fragte Cody statt einer Begrüßung. Er war relativ gefasst, aber das sah ihm ähnlich. „Eben noch habe ich geglaubt, ihr wärt meine Feinde – und plötzlich weiß ich wieder, dass wir Freunde sind?“ Während die anderen ihm die Lage erklärten, ließ Davis den Blick über die internationalen DigiRitter schweifen. Es war die Gruppe, die sie in Kens Festung befreit hatten. Immerhin einen erkannte er nun wieder: Steve, einen DigiRitter aus New York. Yolei, Kari, Matt und Sora schienen weitere von ihnen zu kennen und stellten sie als Laura, Mina, die drei Gebrüder Hoi und Chichos vor. Ein anderes Mädchen hieß Yuehon, und als Tai Katherine begrüßte, schlich ein Schatten auf sein Gesicht. Sogar Nadine war dabei – das Mädchen, von dem Oikawa einst eine Blume der Finsternis geerntet und das später ironischerweise das Banner einer Schwarze Rose gewählt hatte. Sie stand etwas abseits und schien nicht erpicht auf ein Gespräch. Und noch jemand stieß zu der Gruppe. Digimon fluchten, schimpften und spuckten, doch mit einigen aufgeregten Drohgebärden schufen Arukenimon und Mummymon einen Durchgang für Oikawa. Davis konnte es nicht glauben, dass er auch hier war, obwohl er schon gegen ihn gekämpft hatte. „Du hast sie also alle in Sicherheit gebracht, Cody? Ein Glück“, sagte der Mann. Die anderen schienen ebenso überrascht. „Was machen Sie denn hier? Sind Sie nicht tot?“, rief Yolei und schlug sich dann beschämt die Hand vor den Mund. Er nahm es ihr nicht übel. „Meine Geschichte kann warten.“ Er wandte sich wieder an Cody, der in seiner Gegenwart plötzlich verlegen wirkte. „Wie kommst du hierher?“ „Naja, ich …“ Der Junge schluckte. Seine Hand wanderte unbewusst zum Griff seines Schwerts, dann zuckte sie zurück. Cody schien zu beschließen, dass er es seinen Freunden erzählen sollte. „Als sich in der Wüste etwas gerührt hat, sind wir aus der Festung geflohen. Wir haben an der Küste eine Höhle entdeckt, in der wir uns versteckt haben. Der DigimonKaiser … Ich meine, Ken hat uns dann angefunkt und gesagt, wir sollten dort bleiben, damit Arkadimon – das Schwarzturmdigimon, das er erschaffen hat – nicht auf uns aufmerksam wird.“ Katherine ergriff das Wort. Sie sprach in der Sprache, die sie alle plötzlich beherrschten und die Deemon wohl für besseres gegenseitiges Verständnis in der DigiWelt installiert hatte. „Ich habe ihm gesagt, dass wir uns nach Little Edo durchschlagen sollten, weil ich dort Freunde habe. Das heißt, mein Floramon hatte … in dieser Welt … ihr wisst schon. Der Edelfreie, bei dem ich gelebt habe, war ab und zu bei ShogunGekomon zu Gast.“ „Ken wollte aber nichts davon wissen“, fuhr Cody fort. „Es klang für mich so, als hätte er selbst vor, nach Little Edo zu reisen und dort gegen euch zu kämpfen, und als wollte er mich dort nicht dabei haben. Er hat gesagt, wir sollen in der Wüste bleiben.“ „Und du bist trotzdem gekommen?“ Davis hob die Augenbrauen. „Sieht dir gar nicht ähnlich.“ Codys Gesicht verfinsterte sich. „Ich hatte das Gefühl, ihm helfen zu müssen. Ständig wollte er mich bemuttern, aber ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen. Und die anderen wollten auch nicht untätig in einer Höhle herumsitzen. Also haben wir einen Weg gesucht, nach Süden zu kommen. Dabei habe ich das gefunden.“ Stolz präsentierte er das DigiArmorEi des Wissens. Davis stieß einen Pfiff aus. „Es war in der Höhle. Mit Digmon haben wir ein paar Türme in Ufernähe zerstört, dann konnten Tatums und Lauras Digimon digitieren, und wir sind auf Airdramon und Snimon die Küste entlang und dann durch das Schneisental geflogen.“ „Dann wart ihr wohl nur knapp hinter uns“, sagte Tai. Sie waren von Antaylamon zu dem Wachposten beim Ölbohrturm gebracht worden, von wo aus sie die Unimon eskortiert hatten. „Mensch, Cody“, meinte Davis grinsend, „du bist ja ein richtiger Anführer geworden!“ Cody verzog das Gesicht. „Ich bin ja auch kein kleines Kind mehr.“ In dem Moment tauchte Sunflowmon wieder aus der Finsternis auf, und T.K.s Stimme schallte zu ihnen herüber. „Hey! Kommt schnell – ich brauche eure Hilfe!“ Davis strengte seine Augen an und erschrak bis ins Mark, als T.K. versuchte, einen reglosen Ken von Sunflowmons Rücken zu heben.     Als er kühles Wasser auf seiner fiebrigen Stirn spürte, schlug Ken die Augen auf. Um sich herum sah er seine Freunde. Zuerst hielt er sie für einen Traum, dann erschrak er und versuchte instinktiv, von ihnen wegzukriechen. „Alles in Ordnung. Wir erinnern uns.“ Davis‘ Stimme. Wo war er? Was war geschehen? Sein Körper war ein einziger Schmerz, fast war es, als stünde er in Flammen. Seine Haut spannte und tat weh, und er roch verbranntes Haar. Dann wusste er es wieder. Deemon war zurückgekehrt. Nichts ist in Ordnung. Davis kniete neben ihm auf einem der grasbewachsenen, festgetretenen Pfade, die die Reisfelder um Little Edo durchzogen. Erschöpft blickte Ken in die Gesichter von Yolei, Kari, T.K, Cody, Tai, Matt, Sora, Mimi, Izzy, Joe, Michael, Oikawa, der anderen DigiRitter … Sie sahen ihn mitleidig an. Willis war auch hier, doch er wich seinem Blick aus. Er stemmte sich hoch. Wenn Cody noch lebte … und die anderen auch … Er suchte nach Nadine, doch er konnte sie nirgends entdecken. „Wie geht’s dir?“, fragte Davis mit rauer Stimme. Ken entdeckte Tränen in den Augen seines besten Freundes. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Nicht der Rede wert“, behauptete er. Selbst seine Kehle fühlte sich verbrannt an. Seine Kleidung war an zahllosen Stellen verkohlt oder so verbrannt, dass wunde, hellrosa Haut darunter hervor schimmerte. „Doch“, schniefte Davis. „Es ist der Rede wert! Warum hast du nicht versucht, uns alles zu erklären? Warum hast du nur so getan, als wärst du der Böse in diesem Krieg?“ „Ich habe es versucht“, murmelte Ken. „Aber so waren die Spielregeln.“ „Du hättest das nicht allein tun müssen“, sagte Tai. Die Augenklappe ließ sein Gesicht finster wirken. „Wir sind doch Freunde, oder?“ Kens Blick glitt weiter zu den Sternen. „Hoffentlich“, flüsterte er. „Aber ich habe die Hoffnung verloren.“ Die anderen schwiegen. Ken hörte, wie jemand – ein Digimon – etwas zu Tai sagte, und dieser meinte impulsiv: „Das kommt nicht in Frage! Der Erste, der ihn anrührt, bekommt es mit mir zu tun! Wir wurden alle getäuscht! Ken ist nicht der DigimonKaiser, er ist ein Held, der eure Welt schon einmal gerettet hat!“ Ken hörte, wie eine Diskussion aufbrandete. Er fühlte sich melancholisch, hätte am liebsten geweint, doch selbst seine Tränen schienen in dem heißen Wind verdampft zu sein. Endlich hatte er seine Freunde zurück … und dabei konnte er sich selbst nicht mehr als ihren Freund betrachten. Yoleis Gesicht schob sich über seines. „Alles wird gut, Ken“, sagte sie, die Stirn weinerlich in Falten gelegt. „Es tut mir so leid, was wir alles … Ich meine …“ „Hör auf“, murmelte Ken tonlos. „Was?“ „Hör auf. Ihr braucht euch für nichts zu rechtfertigen. Ihr wusstet es nicht besser. Ich habe es besser gewusst. Und trotzdem habe ich euch wie den letzten Dreck behandelt. Ich habe euch eingesperrt, angekettet, bekämpft, in Lebensgefahr gebracht. Ich habe ein Digimon mit einer Seele erschaffen und sterben lassen. Ich habe Tausende Digimon auf dem Gewissen und eine Bestie wie Arkadimon erschaffen. Ich habe …“ „Halt endlich den Rand“, knurrte Willis plötzlich. Schmerz war in seine Augen getreten. „Sag gefälligst nicht, dass wir uns nicht entschuldigen sollen. Nimm gefälligst nicht die ganze Schuld auf dich, hörst du? Ich kenne dich zwar nicht, aber ich hab dir am meiste Unrecht von uns allen getan! Ich habe dich beschuldigt, mein Digimon auf dem Gewissen zu haben, und dafür habe ich dein Wormmon getötet … und dich auch beinahe. Überlass es uns, dir zu verzeihen. Sag mir lieber, ob du mir das je verzeihen kannst!“ Ken schluckte. Er ließ den Kopf wieder ins angenehm kühle Gras sinken und schloss die Augen. „Ich war … nie jemandem von euch böse.“ Wenn er so darüber nachdachte, stimmte es. „Ken ist ein guter Mensch“, sagte Sora sanft. „Und wir sind alle DigiRitter“, fügte Tai hinzu. „Ein Team.“ Sollten sie mir so einfach vergeben? „Mimi“, sagte Ken und drehte den Kopf in ihre Richtung. Noch immer fühlte er sich nicht kräftig genug, um aufzustehen. „Was ist mit dir? Auch wenn Deemon dir diese Erinnerungen eingepflanzt hat – Little Edo muss für dich wie eine Heimat gewesen sein. Und ich habe sie dir einfach weggenommen.“ „Wie du siehst, hat mich das nicht aus der Bahn geworfen“, gab sie selbstbewusst zurück und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich habe dich wirklich gehasst, das gebe ich zu. Das war genauso real. Aber wie Sora gesagt hat, du bist ein guter Mensch. Und du hattest gute Gründe. Bessere als bei deinem ersten Versuch, DigimonKaiser zu sein.“ Sie lächelte. „Und du hast immerhin verhindert, dass ich Matt geheiratet habe.“ „Ach ja?“, fragte Matt mit einem schiefen Grinsen. „Hat er das? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir geheiratet, Frau Ishida.“ Ein paar der anderen lachten. Ken wollte ebenfalls lächeln, doch es wollte ihm nicht gelingen. Wie lange würde es wohl diesmal dauern, bis er wieder zu lachen lernte? Ein heißes Rauschen, als Deemons Schattengestalt einen neuen Feuergeysir ausstieß, ließ sie verstummen und brachte die Schwermut zurück. Alle betrachteten das Wesen, das immer mehr wie Deemon aussah, größer, als es je gewesen war. „Was meint ihr, warum hat es uns nicht schon längst angegriffen? Warum bewegt es sich nicht?“, fragte Sora. „Ich glaube, es versucht, mit Arkadimon zu verschmelzen“, analysierte Izzy. „Bis die Vereinigung abgeschlossen ist, wird es uns vielleicht in Ruhe lassen.“ „Und es dauert sicher eine ganze Weile, bis es ein derart riesiges Digimon verdaut hat“, meinte Matt trocken. „Das heißt, wir haben noch etwas Zeit“, führte Joe den Gedanken zu Ende. „Es tut mir leid“, murmelte Ken betreten. „Ich habe alles versucht, um es zu besiegen … Aber letztendlich war es umsonst. Ich hätte Arkadimon nie benutzen sollen, um Deemon in die DigiWelt zu ziehen.“ „Das würde ich so nicht sagen“, meinte Matt sofort. Ken sah ihn verwirrt an. „Du hast T.K. doch erzählt, dass Deemon übermächtig und unbesiegbar geworden wäre, wenn es zu lange hinter der Feuerwand geblieben wäre, richtig? Seine momentane Gestalt ist also definitiv schwächer. Solange es nicht vollständig mit Arkadimon verschmolzen ist, haben wir vielleicht eine Chance, es zu vernichten.“ Matt warf Izzy einen Blick zu. „Oder was meinst du?“ Izzy massierte sein Kinn. „Das könnte gut möglich sein.“ „Etwas anderes, als zu kämpfen, bleibt uns sowieso nicht übrig“, sagte Tai entschlossen. Ken merkte plötzlich, wie sehr er seine Freunde vermisst hatte. Wäre da nur nicht sein Gewissen – oder viel eher die Leere, die an dessen Stelle getreten war. „Und was sollen wir tun? Es einfach angreifen?“, fragte T.K. „Es hat sich bereits einen großen Teil von Arkadimon einverleibt“, murmelte Ken. Immer mehr von Deemons wahrer Gestalt, nur hundertfach vergrößert, drang durch den schwarzen Schlamm. Die Masse war wie Salbe, die langsam einzog. „Vielleicht sollten wir versuchen, Kontakt mit Gennai aufzunehmen“, schlug Izzy plötzlich vor. „Er wird wissen, was zu tun ist.“ „Ich fürchte, die Mühe können wir uns sparen“, meinte Kari. „Er hat uns auch nicht erkannt, schon vergessen? Deemon hat die ganze DigiWelt umstrukturiert. Gennai ist ein Teil von ihr. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er dieses Mal Rat weiß.“ „Aber wir erinnern uns doch auch wieder!“, rief Davis. „Das ist, weil ihr erst hierhergerufen wurdet, als die DigiWelt bereits verändert war“, sagte Gatomon. „Die Digimon aus dem Nordheer sehen Ken doch immer noch als Feind.“ „Aber unsere Digimon … Ihr erinnert euch doch auch?“ Davis betrachtete Chibomon, das nickte. „Vermutlich, weil wir an unsere Partner gebunden sind“, erwiderte Gatomon. „Was auch immer der Grund ist, ich glaube auch nicht, dass Gennai uns helfen kann.“ „Na toll“, sagte Yolei mutlos. „Das wird ja immer besser!“ „Unsere Digimon sind leider auch nicht in der Verfassung, schon wieder zu kämpfen“, meinte Matt bitter. Tsunomon in seiner Hand blinzelte schweigsam, als hätte es das Sprechen verlernt. „Sie müssten erst ein halbes Dutzend Mal digitieren, um gegen Deemon anzukommen.“ „Nicht alle. Einige von uns können immer noch kämpfen!“, sagte Gatomon. Es wies auf das versammelte Heer. „Und so viele Digimon stehen diesmal hinter uns! Ich bin überzeugt, dass wir es mit vereinten Kräften schaffen!“ „Trotzdem wäre mir wohler zumute, wenn wir Omnimon zurückhätten“, murmelte Tai. Cody hatte plötzlich eine Idee. „Was ist mit Azulongmon und den anderen drei Digimon-Wächtern? Azulongmon hat uns doch schon einmal seine Kraft geliehen, damit unsere Digimon digitieren konnten!“ „Azulongmon und die anderen drei wurden versiegelt“, murmelte Ken. „Genau wie Apocalymon und die Meister der Dunkelheit hat auch Deemon es geschafft, sie außer Gefecht zu setzen. Ich fürchte, sie werden erst wieder aufwachen, wenn wir Deemon besiegt haben.“ „Also auch nichts“, murmelte Tai düster. „Ich gebe nicht so einfach auf!“, sagte Davis. „Wenn Azulongmon uns nicht helfen kann, was ist dann mit den Lichtern, die es ausgesät hat?“ Codys Gesicht hellte sich auf. „Ich erinnere mich. Es hat Lichtsamen anstelle der Heiligen Steine gepflanzt, und irgendwann sollten sie deren Platz einnehmen! Und die Heiligen Steine trugen Azulongmons Macht in sich und haben uns auch beim Digitieren geholfen – denkt nur an Angemon!“ „Was meinst du?“, fragte Tai Izzy. „Dasselbe wie vorher: Wir haben keine Wahl, als es zu versuchen.“ „Und wo sollen wir diese Lichter finden?“, fragte Kari. „Diese Version der DigiWelt entspricht nicht mehr ganz der, die wir kannten.“ „Ich glaube, da kann ich euch helfen“, sagte Willis zur Überraschung aller. „Wenn ihr dieselben Lichter meint wie ich, dann weiß ich, wo sich eines davon befindet. Ich habe dadurch mein Goldenes DigiArmorEi zurückbekommen. Wir müssen nur die Ebene überqueren. Mit einem Gigadramon sollte das nicht allzu lange dauern.“ Verstehe, dachte Ken. Darum war er sich plötzlich erneut Rapidmon gegenübergestanden. „Ist ja klasse, Willis!“, jubelte Davis. „Worauf warten wir dann noch?“ „Okay“, sagte Tai. „Matt, Davis, Willis und ich fliegen los und suchen Azulongmons Licht. Wenn wir dadurch erreichen können, dass unsere Digimon wieder digitieren, haben wir viel bessere Chancen.“ Er sah Botamon in die Augen, zu dem sein Digimon nach Arkadimons Attacke geworden war. „Wir warten hier auf Euch“, sagte Wizardmon. „Es sei denn natürlich, Ihr habt andere Anweisungen.“ Tai überlegte einen Moment. „Allerdings. Ihr helft mit, alle Digimon, die nicht kämpfen wollen oder können, aus Little Edo zu schaffen. Diesmal lauert keine Horde Schwarzturmdigimon auf uns, oder?“ Die Frage war an Ken gerichtet, der nickte. Er gab Oikawa und Arukenimon ein Zeichen, damit sie das Signal zum sofortigen Rückzug aller Turmdigimon sendeten. Er ließ diese Quellen dunkler Macht am besten gar nicht erst in Deemons Nähe. „Entschuldigt“, sagte Mina, das indische Mädchen. „Was können wir tun? Wir sind auch DigiRitter.“ Tai ließ den Blick über ihre internationalen Gefährten und deren Digimon schweifen. „Diejenigen, die kein Digimon hier haben, tun am besten gar nichts. Das wäre viel zu gefährlich. Und die anderen … sollten sich besser auch zurückhalten.“ „Wir sollen einfach hier warten?“, empörte sich Yolei. „Was wollt ihr denn sonst tun?“ Izzy machte wieder eine nachdenkliche Miene. „Ganz einfach. Bis du und die anderen zurückkommt, sollten wir versuchen, Deemon zu schwächen.“ „Wie soll das gehen?“, fragte Michael. „Deemon ist noch nicht komplett mit Arkadimon verschmolzen. Es kann sich vielleicht nicht so gut verteidigen. Dieser schwarze Schlamm, der seinen Körper umspannt – wenn ich mich nicht täusche, ist er das, was von Arkadimon übrig ist. Es sieht von hier vielleicht so aus, als würde sich Deemon daraus hervorkämpfen, aber ich glaube, tatsächlich saugt es ihn Stück für Stück ein und nimmt damit Arkadimons Kräfte auf. Wenn wir es schaffen, diesen Schlamm von ihm fernzuhalten oder ihn irgendwie zu vernichten, kann Deemon nicht so mächtig werden, wie es gerne möchte. Je schwächer es bleibt, desto besser.“ „Dann werden wir auch dabei helfen“, sagte Agunimon und schlug die Fäuste gegeneinander, dass Funken flogen. „Es sollte einfach sein, gegen Schlamm zu kämpfen.“ „Aber wird das funktionieren?“, warf T.K. zweifelnd ein. „Damals im Westend-Viertel konnten wir Deemon nicht einmal verletzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir mit gewöhnlichen Attacken Erfolg haben können.“ „Doch, ich glaube, es ist machbar“, sagte Izzy. „Der schwarze Schlamm ist möglicherweise aus demselben Material wie die Schwarzen Türme, aus denen Arkadimon bestand. Vermutlich nehmen sie nur flüssige Form an, weil Deemon sie absorbiert. Es ist quasi ein anderer Aggregatzustand. Kann das stimmen, Ken?“ Ken hob nur die Schultern. Er wusste es nicht. „Wenn meine Theorie stimmt, ist der Schlamm nichts anderes als Schwarze Türme. Und wir haben früher schon Türme mit Armor- oder Champion-Digimon zerstört. Ich glaube, es wird funktionieren. Wir sollten zumindest versuchen, es so weit zu schwächen, dass unsere Mega-Digimon leichteres Spiel haben.“ „Gut, machen wir es so“, bestimmte Tai kurz entschlossen. Ken hatte das Gefühl, dass seine Zeit als Drachenkönig seinem Anführerbewusstsein einen Schub versetzt hatte. „Eines dürft ihr aber nicht vergessen“, schärfte der junge Mann den anderen ein. „Deemon ist möglicherweise immer noch unglaublich stark. Ihr müsst höllisch aufpassen. Ein Fehler, und es kann mit euch vorbei sein.“ Er stutze, als die anderen ihn angrinsen oder lächelten. „Man könnte meinen, du hast vergessen, wer wir sind“, meinte T.K. „Wir wissen, worauf wir uns einlassen. Du brauchst dir nicht mehr Sorgen als üblich zu machen“, bekräftigte Joe. Tai starrte sie an, dann grinste auch er. „Also gut. Wir beeilen uns.“ Ehe sie zu dem Gigadramon gingen, sagte er zu Agunimon: „Für euch gilt das Gleiche. Tut nichts Unüberlegtes.“ Agunimon schien nicht zu wissen, worauf es sich einließ. „Es ist nur ein Digimon“, sagte es, „und wir sind das Heer des stolzen Nördlichen Königreichs. Ihr scheint uns zu unterschätzen.“ „Nein“, sagte Tai und kletterte neben Matt, Davis und Willis auf Gigadramons Helm, „du unterschätzt Deemon.“ Dann flogen sie davon, und die übrigen DigiRitter machten sich daran, ihren Plan auszuführen. Den letzten, den sie in diesem langen Kampf um die Vorherrschaft der DigiWelt schmieden würden. Ken saß da und fühlte … gar nichts. Keine Reue mehr, diese Pflicht war getilgt. Keine Angst, keine Hoffnung, keine Freude. Nur den Schmerz und die Leere. Er hatte seine Pflicht erfüllt. So gut er konnte. Aber war es genug? Oder war Deemon trotz allem zu mächtig geworden?   We have a chance And we’re holding back the moment When the morning comes The battle will be won (Primal Fear – All for One) Kapitel 73: Schatteninferno --------------------------- Once in the air, the battle begins They have proven their worth Now they fly for revenge (Sabaton – Aces in Exile) Die Nacht hatte die DigiWelt immer noch fest im Griff, als die DigiRitter den größten Kampf ihres Lebens begannen. Das Rauschen mächtiger Schwingen und das Brummen von Insektenflügeln begleiteten Garudamon und MegaKabuterimon, die größten Flugdigimon, die sie hatten. Lillymon verschwand beinahe in ihren Schatten. Das Airdramon und das Snimon der internationalen DigiRitter stießen mit den Snimon, Flymon, Mothmon und Kuwagamon der Nordarmee und Kens verbliebenem, freiwilligem Airdramon in die Lüfte. Agunimon hatte darauf bestanden, dass sofort all ihre Digimon angriffen, doch Izzy hatte das nicht zugelassen. Nur die schnellsten und wendigsten Flugwesen sollten die erste Welle bilden. Er wollte herausfinden, wie gefährlich Deemon im Moment war. Tai hatte recht: Ein falscher Schritt, und sie konnten ihr halbes Heer verlieren – und damit einen großen Teil aller Digimon, die nach diesem kräftezehrenden Krieg noch in der DigiWelt lebten. Noch vor geschätzt einem Tag hatten sie ihre Grenzen an allen Enden sichern, auf alle Eventualitäten vorbereitet sein und Heere teilen oder vereinen müssen. Nun war der hartnäckige DigimonKaiser mit seinen Truppen aus schwarzem Gestein, seinen unheimlichen Ringen und seinem weitreichenden Informationssystem, seinem überlegenen Wissen über die DigiWelt und seinen raffinierten Plänen und Winkelzügen plötzlich verschwunden, und ein einziges Digimon war an seine Stelle getreten, riesengroß, mit dem Ziel, das mächtigste Wesen aller Zeiten und Welten zu werden. Eine einzige Gefahr, gut sichtbar, und im Moment offenbar angreifbar. Yolei hatte nichts dagegen. Sie hielt es für eine Vereinfachung der Dinge, auch wenn sie sich dabei töricht vorkam. Auf Aquilamon glitt sie unter dem sternenübersäten Himmel hinweg. Nur noch dunkle Fetzen erinnerten an die Sturmwolken, die Arkadimon begleitet hatten – dafür fauchten zwischen den klebrigen Schichten aus flüssigen Schatten, die Deemons Gestalt bedeckten, immer wieder Feuerstrahlen hervor. Yolei war sogar das Feuer lieber als die irrsinnige Kälte. Kari und T.K. saßen ebenfalls auf ihren Partnern. Pegasusmon und Nefertimon würden sich etwas zurückhalten und zunächst den Ultra-Digimon das Feld überlassen. Genau wie Yolei wollten sie ihre Partner nicht alleine in den Kampf schicken, während Garudamon und MegaKabuterimon durch Sora und Izzy eher behindert würden. Sie griffen Deemon von hinten an. Sehr träge, als verlangsamte der dunkle Schlick seine Bewegungen, drehte sich das Digimon zu ihnen um. Allein sein Kopf war so groß wie die Bergspitzen des Edo-Gebirges, die Augen riesige, blaue Seen. „Ich habe schon auf euch gewartet“, sagte es mit einer Stimme, dröhnend wie Donnergrollen und von einem hohlen Echo verfolgt. „Ich hoffe, mein Spiel hat euch gefallen?“ Zur Antwort wehten ihm ein Blitz aus MegaKabuterimons Horn und Garudamons brennendes Abbild entgegen, trafen es an einer Stelle am Oberarm. Der Schlamm schlug Wellen und schien sich erst dagegen zu wehren, Deemons Körper zu verlassen, dann spritzte er wie kochendes Wasser auf und sprühte über die Ebene. Yolei sah die Spritzer zusammenfließen, bis sie dunkle Kugeln bildeten, dann aber begannen sie zu rauchen – und verdampften in schwarzen Datensplittern. „Es funktioniert!“, rief sie und reckte aus alter Gewohnheit ihren Degen. „Alle Einheiten, Sturmangriff!“ Snimon-Sicheln, Mothmon-Kugeln und Flymon-Stacheln flogen durch die Luft, Pegasusmon, Nefertimon und Aquilamon ließen möglichst großflächige Attacken auf Deemons Flügel niederprasseln. Ein buntes Lichtgewitter erhellte den Nachthimmel. Kuwagamon pflügten durch den Schlamm, rissen ihn auf. Manche blieben auch einfach stecken und wurden von unbekannten Kräften zerdrückt. Die Mengen an schwarzem Schlick, die sie von Deemons Leib rissen, waren fast lachhaft verglichen mit der gewaltigen, zähen Masse, die immer tiefer in seine Haut sickerte. „Weitermachen!“, schrie Yolei aus Leibeskräften. „Jeder Treffer zählt!“ „Ihr seid nichts als kleine Fische“, sagte Deemon abfällig. Der Schlick um seinen Arm spannte sich und schlug Wellen, als es ihn langsam hob und die Finger spreizte. „Vorsicht! Das wird ein Feuerangriff!“, warnte T.K. Die Digimon drehten ab. Lillymon war sogar so frech, noch einen Schuss aus seiner Blumenkanone auf die Hand abzufeuern. Ein Stern aus Flammen sprühte aus Deemons Handfläche. Die Feuerzungen schlugen unkontrolliert in alle Richtungen, erwischten einige der Snimon, hielten MegaKabuterimon und Garudamon auf Abstand. Aquilamon und Pegasusmon schafften es, auszuweichen und hinter Deemons Finger zu gelangen. Der Arm, über den sie hinwegrauschten, erinnerte an einen zerklüfteten Berghang, dessen Felsen unheilvoll blubberten. Über die ganze Strecke ließen sie Laserringe und grüne Lichtstrahlen aus Pegasusmons Stirn darauf niedergehen. Diesmal nützte es nicht viel: Zwar wirbelten sie einiges von dem zähen Morast auf, doch die Spritzer landeten trotzdem wieder auf Deemons Arm. Dennoch jubelte Yolei innerlich über jeden Klumpen schwarzen Schleims, der weit genug davonflog, um sich aufzulösen wie ein zerstörtes Schwarzturmdigimon.     „Das ist dieselbe Attacke, die es damals im Westend-Viertel auch beherrschte, oder?“, fragte Izzy. Er saß auf dem Pfad zwischen den Reisfeldern und analysierte den Kampf mit seinem Laptop. Die Störungen, die Arkadimon verursacht hatte, waren verschwunden. Cody nickte und sah gebannt dem Luftkampf zu. „Die Flammen sind größer.“ „Flammen können mir nichts anhaben“, behauptete Agunimon, das sichtlich auf Nadeln saß. „Diese Flammen schon“, beharrte Izzy. „Es dürfen nur Digimon kämpfen, die eine große Reichweite haben. Und sich schnell in Sicherheit bringen können.“ „Schon gut, ich weiß“, brummte Agunimon und brüllte Befehle. Die Monochromon, Allomon, Tortomon und Tyrannomon setzten sich in Bewegung, verteilten sich so über die Reisfelder, dass ein Feuerstrahl nur wenige von ihnen erwischen konnte. Minas Meramon und Steves Frigimon gesellten sich zu ihnen, Kiwimon huschten nach vorne. Auch Digmon begab sich aufs Schlachtfeld: Izzy hatte ihm eine besondere Aufgabe zugeteilt. „Werden sie es überhaupt erwischen?“, fragte Sora. „Wegen den Störungen und den verschobenen Phasen kann ich es nicht genau sagen, aber Arkadimons unterste Tentakel waren nur etwa achtzig Meter vom Boden entfernt“, berichtete Izzy. „Deemon hat dieselbe Größe angenommen, wahrscheinlich, um es besser absorbieren zu können. Solange die Digimon etwa achtzig Meter weit in die Luft schießen können, können sie etwas ausrichten.“ Wo Deemons Fußspitzen sein müssten, wuselte im Moment etwas wie ein schwarzes Feuermeer; vermutlich die letzte Erinnerung an Arkadimons Tentakel-Haare. Die Kiwimon waren die Ersten, die direkt unter Deemon waren. Cody fragte sich, wie die kleinen, flugunfähigen Vögel die Masse erreichen wollten, als je vier Sunflowmon ein Blossomon auf das Schlachtfeld trugen. Allein hätten diese Digimon zu lange dafür gebraucht. Sie streckten ihre dicken Ranken aus und bildeten damit Rampen für die Kiwimon, die mit unglaublichem Gleichgewichtssinn näher an das schwebende Deemon heran liefen. Aus ihren Schnäbeln schossen kleine, weiße Projektile in Form von behelmten Vögeln. Die Dinosaurierdigimon spien ihrerseits Flammen, und auch Meramon und Frigimon mischten ordentlich mit. Bald schon ging schwarzer Regen auf sie nieder. „Was glaubt ihr, was euch das bringt?“, fragte Deemon ruhig. Langsam schwebte es tiefer, bis seine schlammbedeckten Stiefel mit einem ekligen Geräusch in die Reisfelder klatschten. Die Digimon brachten sich rasch in Sicherheit, nun ihres Schutzes in Deemons totem Winkel beraubt. Sogleich loderten wieder Flammen in der Hand des Riesen auf. Die Erde erzitterte, der lebende Schlamm zuckte. Furchen gruben sich durch die Felder, das stehende Wasser ergoss sich in wenige Meter tiefe Schluchten. Das war Digmons großer Einsatz gewesen. Die Digimon sprangen in die Erdspalten und entgingen damit dem Feuerwirbel, der sich um Deemon herum ausbreitete. „Ihr habt nichts von eurer Hartnäckigkeit verloren“, stellte ihr Feind amüsiert fest. Weißer Dampf stieg von den Feldern auf.     „Endlich bist du wach!“, blaffte eine wohlvertraute Stimme Mummymon an, als es endlich sein Auge aufschlug. Arukenimon war das Erste, was es sehen würde! Sofort richtete es sich auf und sah sich um. Sie befanden sich hinter einer breiten Schlachtreihe verschiedenster Digimon, und weit vorne kämpften ein- bis zweihundert weitere gegen einen Feind, an den sich Mummymon nur zu gut erinnerte. „Sag mal, du spinnst wohl?“, schimpfte Arukenimon. „Du hast einen vollen Tag geschlafen, du Faulpelz!“ Mummymon verstand nicht. Das Letzte, woran es sich erinnerte, war … „A-Arukenimon“, begann es berauscht, „kann es sein, dass du mich vor … vor WarGreymon beschützt hast?“ Arukenimon starrte es an. „Red keinen Müll. Wann soll das gewesen sein?“ „Kurz bevor … ich das Bewusstsein verloren habe.“ Mummymon spielte verlegen mit den Fingern. „Ich weiß es noch genau.“ Die Dame seines Herzens schnaubte. „Und wennschon. Das war sicher nur ein Versehen.“ Yukio, der vor ihnen stand, drehte sich zu ihnen um und störte die angenehme Zweisamkeit. „Du bist wach?“, stellte er fest. Lalamon flog neben ihm. „Gut. Dann kommt mit.“     „Ich frage mich, warum sich unter Deemon nicht wieder die Phasen verschieben“, sagte Izzy. „Bei Arkadimon hat man das schließlich deutlich gesehen.“ „Wahrscheinlich muss Deemon die Macht der Türme umwandeln, damit es sie aufnehmen kann“, sagte eine Stimme hinter ihm. „Und Deemons Dunkelheit ist eine andere als die, die die Weltengrenzen verschwimmen lässt.“ Izzy wandte sich um. Es war eine seltsame Erfahrung, Oikawa in ihrem Lager zu wissen. Sie wussten alle, dass er nur von MaloMyotismon benutzt worden war; dennoch hatte er verwerfliche Dinge getan – nur um hinterher die ganze DigiWelt durch sein Opfer zu retten. Wie verhielt man sich so einem Mann gegenüber? „Zögere nicht, uns auch in der Schlacht einzusetzen“, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns in seinem langen, traurigen Gesicht. „Ich bin schließlich auch ein DigiRitter. Mein Partner kann im Moment nur bis zum Rookie-Level digitieren, aber ich habe hier noch zwei Digimon auf dem Ultra-Level, die auch dafür sorgen wollen, dass diese Welt nicht zugrunde geht.“ Er deutete auf Arukenimon und Mummymon, die sich wenig begeistert ansahen, dann aber mit den Achseln zuckten. Izzy lächelte die drei an. „Danke.“     Gigadramon war fast ebenso schnell wie Tais Drachenstaffel. Dennoch kam ihm jede Minute viel zu lange vor, in der sie quer über die Ebene flogen und auf das kleine Gebirge nördlich des Trugwalds zuhielten. Dann vergeudeten sie noch weitere kostbare Minuten, weil Willis aus der Luft und bei Nacht nicht so schnell den Eingang zum richtigen Tal fand. Als sie über die Hängebrücke flogen, wusste plötzlich auch Davis, wo sie suchen mussten. „Hier haben wir gegen BlackWarGreymon gekämpft!“, berichtete er. Als Gigadramon, langsamer nun, um eine Biegung flog, sahen sie den Lichtsamen in allen Regenbogenfarben schillern – und sein Licht auf die ungeschlachte Meute werfen, die davor in dem Tal lungerte. Als das Schlangendigimon vor ihnen auftauchte, geriet Bewegung in das Lager. „Ganz ruhig“, sagte Matt und wies Gigadramon an, zu landen. „Sie müssen uns nicht feindlich gesinnt sein.“ Die Digimon schienen das anders zu sehen. Ein großes, metallgepanzertes Greymon, das weit brutaler aussah als Tais Partner, stellte sich an die Spitze der gut zehn Sagittarimon und fünfzig Centarumon. „Was wollt ihr hier?“, brüllte es ihnen entgegen. „Das ist unser Tal! Haut ab!“ „Wir haben nicht vor, euch euer Tal wegzunehmen!“, rief Matt ihm zu. „Wir wollen nur zu diesem Licht dort hinten, etwas überprüfen!“ „Ich sagte, haut ab! Das hier ist unser neuer Stützpunkt!“ Das Digimon gab einen Warnschuss aus seinem gewaltigen Revolver ab, der eine nahe Felswand zerfetzte. Mit lautem Getöse donnerten die Trümmer in die Tiefe. Die Zentauren lachten. Tai hielt es nicht länger aus. „Verdammt, die ganze DigiWelt ist in Gefahr! Wir müssen ein unglaublich starkes Digimon bekämpfen und wir brauchen dieses Licht!“ Das Greymon lachte röhrend auf. „Und das soll ich dir abkaufen? Der nächste Schuss trifft.“ „Wir haben keine Zeit, um mit denen zu verhandeln“, meinte Davis mit zusammengebissenen Zähnen. „Der Meinung bin ich auch“, sagte Willis und gab Lopmon ein Zeichen. Es sprang von Gigadramons Rücken und digitierte im Fallen bis auf sein Ultra-Level. Antylamon landete wie auf Samtpfoten in der Schlucht. Das Mega-Level konnte es nicht erreichen, hatte Willis gesagt. „Das war ein Fehler“, knurrte der feindliche Anführer. „Niemand legt sich mit RiseGreymon und seinen Getreuen an!“ Gleich drei Schüsse auf einmal verließen seinen Revolver, und Antylamon brachte sich mit einem raschen Satz in Sicherheit. Gleichzeitig trampelten die Centarumon und Sagittarimon heran und deckten sie mit einem Pfeil- und Lichtkugelhagel ein. Gigadramon bekam drei, vier Treffer ab, ehe es sich kreischend wieder in die Luft erhob und Kreise über der Schlucht drehte. „Und was tun wir jetzt?“, rief Davis gegen das Getrommel der Geschosse an. „Es sind viel zu viele!“ Ihre anderen Digimon waren alle auf das Baby-Level zurückdigitiert. Antylamon hatte kaum Platz, um auszuweichen, also stürmte es den Digimon entgegen. Ehe es die ersten mit seinen stählernen Armen zerfleischen konnte, bohrten sich ihm ein halbes Dutzend Pfeile in den Leib. Tai hatte die Zähne zusammengebissen. Seine Gedanken rasten.     Welle um Welle flogen sie gegen Deemon, Attacke um Attacke zerriss sein Kleid aus geschmolzenen Türmen. Stück um Stück verhinderten sie seine Vereinigung mit Arkadimons Überresten. Kari wusste schon nicht mehr, wie lange sie in der Luft waren. Vermutlich noch keine zwanzig Minuten, aber die immer wieder neuen Angriffsmanöver machten es schwierig, das zu schätzen. Sie selbst fühlte sich bereits zu Tode erschöpft, aber trotzdem immer noch erleichtert. Erschöpft, weil das Ausweichen und die ständige Hitze, die um sie herum aufwallte, an den Nerven zerrte und ihr die Schlacht um Fort Netwave noch in den Knochen steckte – seither hatte sie vielleicht zwei Stunden geschlafen. Und erleichtert, weil endlich wieder alles klar war. Der Spuk war vorbei, ihre Freunde erinnerten sich. Deemon galt es zu besiegen, und die DigiWelt wäre gerettet … Trotz des Schleiers der Müdigkeit, der sie befallen hatte, fühlte sie ihre Gedanken klar wie das Licht, das sie einmal für die DigiRitter dargestellt hatte. „Kari!“ T.K. flog auf Pegasusmon neben sie. „Wir versuchen, Deemons Kopf anzugreifen! Vielleicht ist es noch gar nicht so stark, wie wir glauben!“ Sie nickte und Nefertimon heftete sich an seine Seite. Sie umflogen Deemons Arm, der nach ihnen zu schlagen versuchte wie nach lästigen Fliegen, und erreichten seinen Hals gemeinsam mit MegaKabuterimon, Lillymon und Garudamon. Zu fünft schleuderten sie Attacken gegen Deemons Kapuzenkopf, wo er sich bereits aus dem Schlamm hervor gearbeitet hatte. Eine Feuerwolke wirbelte auf, und als sie verschwand, war Deemons Körper unangetastet. Es lachte. „Dachtet ihr, es wäre so einfach?“ „Nein“, sagte T.K, sodass nur Kari ihn hörte, „aber einen Versuch war es wert.“ Dann geschah etwas Seltsames: Deemons Kopf schien sich zu verändern, nur für einen Augenblick blitzte unter den Stellen, die noch von Schlamm bedeckt waren, etwas Fremdes hervor. Erst glaubte Kari, es wäre eine Nachwirkung ihrer Attacken, aber das konnte nicht sein … „Seht ihr das? Was ist das?“, rief Yolei, die auf Aquilamon an ihre Seite flog. Sie hatte es also auch bemerkt. Für die Dauer eines Lidschlags war die Kapuze verschwunden, und zotteliges, braunes Fell, das eine grässliche Dämonenfratze einrahmte, wurde sichtbar. Dann war der Kopf wieder so wie vorher: von einer Kapuze geschützt, aus der gedrillte Hörner ragten, teilweise noch von Schlamm verschmiert. „Ich glaube, es versucht, zu digitieren“, murmelte Kari beklommen.     „Was?“, rief Cody entsetzt, als Izzy ihnen von seiner Theorie erzählte. „Wahrscheinlich erhält es genügend Kraft von Arkadimon, um ein höheres Level zu erreichen“, murmelte Izzy und kaute auf seiner Daumenkuppe. „Hoffentlich sind die anderen bald zurück“, meinte Sora. Ken stand etwas abseits und starrte regungslos auf den verzweifelten Kampf, der vor seinen Augen stattfand. „Ken …“, murmelte Wormmon. „Soll ich nicht auch kämpfen?“ „Nein“, sagte er. Nach einer Weile fügte er hinzu: „Noch nicht.“ Das Nordheer hatte sich nun vollständig in die Schlacht geworfen. Nun, da Deemon auf seinen eigenen Beinen stand, konnten selbst Nahkämpfer etwas ausrichten. Die schwerfälligen Digimon waren zurückgeblieben und halfen bei der Evakuierung der Stadt. Wer nicht kämpfen wollte, musste gehen – so hatte ihr König es beschlossen. Das Alte Gekomon führte die Flüchtlingstruppen ins Hinterland. „Ihr kleinen Maden“, sagte Deemon ruhig, dann wurde seine Stimme lauter. „Denkt ihr, nur weil ihr so viele seid, könntet ihr etwas ausrichten? Hier, spürt etwas von der Hölle jenseits der Feuerwand.“ Es streckte beide Hände aus, und erneut fauchten Schlangen aus Feuer über die Reisfelder, die mittlerweile nur noch ein zerfurchtes Ödland mit braunem Gestrüpp und Glutnestern waren. Digimon schrien auf, als sie sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, zersprangen in Sekundenschnelle in Daten. „Es ist furchtbar“, murmelte Mimi. Die Hitze war bis hier zu spüren. Der Widerschein des Feuertobens spiegelte sich auf ihren Wangen wider. „Ja“, sagte Michael. „Aber sie wussten alle, was auf dem Spiel steht. Jeder Treffer zählt.“ „Trotzdem. Lillymon!“, schrie sie, obwohl ihr Digimon sie unmöglich hören konnte. „Ihr müsst es schaffen! Reißt Deemon diese Schlammpackung herunter, dann können sich alle getrost zurückziehen!“ In dem Moment wurde aus den züngelnden Flammen in Deemons Hand eine wahre Feuerwalze, die direkt auf Little Edo zufuhr. Die DigiRitter schrien auf, als sie ein rasendes Inferno herannahen sahen. Zudomon, das bei ihnen geblieben war, warf sich vor seine Freunde und versuchte sie mit seinem Rückenpanzer zu schützen. Dennoch fühlte Sora die Hitze, die über sie hinweg rollte. Sie hörte Deemons Gelächter und das Knistern von Flammen und ein unheilvolles Knarzen hinter sich. Als der Feuersturm erlosch, digitierte Zudomon erschöpft zurück, und Joe lief zu dem bewusstlosen Gomamon. Mimi drehte sich um und stieß einen Schrei aus. Die Feuerwelle war über Little Edo hinweg geschwappt. Ein Dutzend Gebäude standen in Flammen und erhellten die Nacht wie ein zweites Schlachtfeld.     „Nein“, flüsterte sie. „Nein, nein …“ „Keine Sorge, die Digimon sind in Sicherheit“, beruhigte sie Michael. „Aber die Zeit hat sicher nicht gereicht…“ „Betamon“, sagte er, „komm. Wir löschen das Feuer.“ Er wandte sich an die Digimon, die noch am Stadtrand standen und die Feuerwalze überlebt hatten. „Wer kann, soll helfen!“ Betamon digitierte zu Seadramon und tauchte das nächstbeste brennende Gebäude in einen eisigen Hauch, bis die Flammen erstickt waren. Die Octomon der Hoi-Brüder krabbelten heran und versuchten sogar, die Brände mit Tinte zu löschen. Weitere Digimon betraten die Straßen der brennenden Stadt und halfen emsig mit, während auf den apokalyptischen Feldern immer noch der Kampf eines gegen viele wütete. „Wenn sie verhindern können, dass die Flammen auf benachbarte Gebäude übergreifen, sollten sie es schaffen“, murmelte Oikawa und betrachtete das Ausmaß der Zerstörung. Mimi hielt es nicht mehr aus. Sie wollte ihre Stadt nicht brennen sehen; egal, ob sie nun gar nicht ihre Heimat war oder doch, sie trug die Verantwortung für das Zuhause Tausender Digimon! In ihrem Prinzessinnenkleid lief sie in das nächstbeste Haus, fand einen Eimer, füllte ihn vor der Stadt mit Wasser und rannte wieder zurück. Sora und Cody folgten ihrem Beispiel und gemeinsam mit Rookie-Digimon, die nicht gegen Deemon kämpften, bildeten sie eine Eimerkette, um Michael und den anderen zu helfen.     Ächzend erklomm Ogremon die letzten, zersprungenen Felsen. Als es dieses Gebirge das letzte Mal gesehen hatte, hatte es noch ganz anders ausgesehen. Es ließ sich davon natürlich nicht entmutigen. Ogremon war in den Bergen zuhause – selbst wenn kein Stein mehr auf dem anderen lag und die Felsen von gefährlich knarzenden Rissen durchzogen waren, konnte es nichts von seinem Weg abbringen. Dennoch musste es sich auf seine Keule stützen und ordentlich verschnaufen. Von hier hatte es einen guten Blick auf die Schlacht, die vor Little Edo tobte. Sein Instinkt riet ihm, sich von dort fernzuhalten, und Ogremon hatte gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen. Trotzdem war es auch unglaublich stur – und einfach mitten in der Wüste stehen gelassen zu werden, von nichts als hirnlosen Schwarzturmdigimon umringt, nachdem die Festung in die Luft geflogen war, und von niemandem gesagt zu bekommen, was eigentlich los war, schmeckte ihm nicht. Dort unten wurde gekämpft, und Ogremon war ein Krieger. Das riesige Digimon dort war ein nicht zu verachtender Gegner. Ruhm lag in diesem Kampf. Und wenn es starb, machte das auch nichts; schließlich lebte Leomon nicht mehr, wie es mittlerweile gehört hatte. Eine Weile schöpfte es noch Atem, dann machte es sich auf den Weg den Berghang hinunter.     Völlig erschöpft und ausgelaugt landeten T.K. und Kari mit ihren Digimon vor der Stadt. Einige der Häuser brannten; Kari starrte entsetzt in die Flammen. T.K. fühlte sich sogar zu schwach dazu, Schrecken zu empfinden. Ihre Gefangenschaft hatten ihm und Patamon mehr zugesetzt, als sie geglaubt hatten; sein Partner war zurückdigitiert. „Wie ist die Lage?“, fragte Izzy, als sie sich zu ihnen schleppten. Kari keuchte schwer und wischte sich Ruß von der Stirn. Ihr schweißnasses Gesicht war mit einem grauen Film bedeckt. „Es geht kaum voran. Wir können Deemon schwächen, aber ich weiß nicht, ob es reicht. Wahrscheinlich … wahrscheinlich ist der Preis zu hoch.“ Sie sah auf das Schlachtfeld, wo immer mehr Digimon in Deemons Flammen umkamen, die es nun beständig umloderten. Sie kamen kaum noch zum Angreifen; vielmehr waren sie mit Ausweichen beschäftigt oder flüchteten sich in Digmons Klüfte und die Tunnel, die es gebohrt hatte. „Yolei ist noch in der Luft.“ „Typisch für sie“, meinte Gatomon. Die fliegenden Digimon hatten es einfacher. Deemon ignorierte sie fast, weil es sie nur schwer erwischen konnte. Das riesige Digimon schien sie nicht als allzu große Bedrohung anzusehen. Der Schlamm auf seiner Haut wurde beständig weniger, doch das konnte genauso gut daran liegen, dass es ihn sich mehr und mehr einverleibte. „Ruht euch ein wenig aus“, sagte Izzy. „Es kann sein, dass wir euch später noch einmal brauchen.“ Auch andere Digimon landeten in sicherem Abstand zu Deemon – wie sicher das wirklich war, hatten sie allerdings bei der Feuerwelle gemerkt. Kari und T.K. nickten dankbar und sahen sich nach einer Möglichkeit zu trinken um, als plötzlich ganz in der Nähe ein Knall ertönte. T.K. schrie erschrocken auf, als Erde und Gras und etwas Hartes, Kantiges ihm ins Gesicht flog. Auch Izzy schrie. Als T.K. die Augen wieder aufschlug und sich nach dem Angreifer umsah, bemerkte er, dass der Rotschopf aufgesprungen war. Sein Laptop war nur noch ein Haufen geschmolzenes Metall. „Was war das?“, fragte Kari atemlos. Links hinter ihnen glühte etwas Rotes auf. „Ken!“ Wormmon schien auf bloßen Verdacht hin zu digitieren, aber es rettete seinem Partner das Leben. Der Mekanorimon-Laser traf Stingmon in die Brust und ließ es gegen Ken taumeln, sodass beide zu Boden gingen. Oikawa kniff die Augen zusammen. „Dort oben“, sagte er und deutete auf einen Wachturm im Palisadenwall der Stadt. Er gab Arukenimon und Mummymon einen Wink. „Ich glaube, ich weiß, wer das ist. Sucht irgendwo Deckung; wir übernehmen das.“ Zu dritt liefen sie los. „Ich komme mit“, rief T.K. und folgte ihnen mit Patamon, obwohl es nicht die Kraft hatte, demnächst zu digitieren. Kari rief ihm etwas nach, aber er hörte nicht auf sie.     Matt konnte nicht fassen, dass sie hier tatsächlich von Digimon aufgehalten wurden, wo sie doch versuchten, deren Welt zu retten! Gigadramon erwies sich immerhin wie erwartet als sehr nützlich. Nur RiseGreymon nahm es aufs Korn, und dessen Attacken war es bisher ausgewichen. Die DigiRitter klammerten sich fest in seine Mähne, als es Loopings und Schleifen flog und Raketen auf die Zentaurenhorde niedersausen ließ, die sich wohl trotzdem gute Chance gegen zwei Ultra-Digimon ausrechneten. Die Centarumon und Sagittarimon waren flink. Antylamon war zwar auch sehr schnell und sprang von Felswand zu Felswand, doch wen immer es angriff, das Digimon ergriff sofort die Flucht, während die anderen unablässig auf den großen Hasen schossen. Als gleich acht oder neun Centarumon-Lichtkugeln Antylamon trafen, ging es zu Boden. Sofort trampelte die Horde über seinen gekrümmten Körper, bis es zurückdigitierte. „Lopmon!“, schrie Willis außer sich. „Leute, tut etwas!“ „Wie denn?“, gab Tai gereizt zurück. Matt war schon ganz übel von Gigadramons unstetem Flug. „Wir müssen den Lichtsamen erreichen“, sagte er. „Es geht nicht anders! Wir müssen alles auf eine Karte setzen!“ „Er hat recht! Gigadramon, kannst du näher ranfliegen?“, rief Davis dem Digimon zu. Das Digimon gehorchte und schoss direkt auf RiseGreymon zu, das lachend seine Flügel aufglühen ließ. Ein feuriger Lichtstrahl traf Gigadramons Helm, doch es hielt nicht inne, obwohl es schmerzerfüllt fauchte. Im letzten Moment brachte sich RiseGreymon in Sicherheit. Gigadramon peitschte mit seinem Schwanz nach ihm – und das Digimon schlug Krallen und Zähne in den Schlangenleib. Der Flug endete in einer Bruchlandung. Gigadramon krümmte sich rechtzeitig zusammen, als es über den Boden schlitterte, dass die DigiRitter zähneklappernd durchgeschüttelt wurden. Seitlich krachte es in die Felswand am Ende des Tals, sein Kopf kam ganz in der Nähe des Lichts zum Stillstand. „Ich danke dir!“, rief Tai und sprang waghalsig zu Boden, lief auf den Samen zu. Matt sah, wie die Zentauren am anderen Ende des Tals von Lopmon abließen und wieder zurückgaloppierten – genau Tai entgegen.     Mit weit ausgreifenden Schritten erklommen T.K. und Oikawa die Bambustreppe, die auf den Wachturm führte. Die ganze Zeit fragte sich der Junge, wer so dumm war, sie in so einer Situation anzugreifen. Als er Oikawa danach fragte, verstand er. „Sieh an. Da kommen Freund und Feind, um mich aufzuhalten“, sagte Datamon und drehte sich zu ihnen um, als sie durch die Luke im Turm kletterten. Es saß auf einem Mekanorimon nahe der Brüstung; aus den Fingern seiner rechten Hand führten Kabel in das Innere des Maschinendigimons. „Von Treue scheinst du wenig gehört zu haben“, erwiderte Oikawa. „Ich dachte, ihr würdet mich inzwischen kennen“, schnarrte das Digimon abfällig. „Wenn ich schon selbst nichts mehr ausrichten kann, stelle ich mich gern auf die Seite des Siegers.“ „Weißt du, was du da tust?“, fragte T.K. ernst. „Die ganze DigiWelt steht am Abgrund.“ „Wir werden sehen“, meinte Datamon gedehnt. „Wenn ich diesem großen Digimon da eure leblosen Körper bringe, wird es mir sicher dankbar sein.“ Es richtete seine zweite Hand auf die beiden. Patamon feuerte einen Luftschuss auf es ab, doch die kleine Maschine zuckte kaum. „Mehr habt ihr nicht drauf?“ Arukenimon und Mummymon stürmten hinter ihnen auf die Wachplattform. Mummymon war außer Atem, vermutlich die Nachwirkungen seiner langen Ohnmacht. Datamon schien es zu kennen. „Sieh an, mein Freund aus der Wüste. Ist dir dein Gewehr abhanden gekommen?“ „Als ob dich das bräuchte, um gegen dich zu kämpfen!“ Von Mummymons Handgelenken wickelten sich Mullbinden, die es Datamon entgegen schleuderte. Arukenimon tat Ähnliches mit seinen Spinnenfäden. Kleine Raketen verließen Datamons Finger und ließen die Fesseln der beiden bersten. Auch Mekanorimon drehte sich um und bereitete seinen Laser vor. Oikawas Lalamon spuckte ein Sperrfeuer aus Nüssen oder etwas Ähnlichem, das Datamon kurz die Sicht vernebelte. Sofort verharrte auch Mekanorimon wieder. „Meinst du, wir können es mit bloßen Händen angreifen?“, fragte Oikawa leise. „Eher nicht“, sagte T.K. „Damals war es kräftig genug, Sora und Piyomon zu tragen.“ „Aha! Das nennt ihr kräftig? Was sagst du dazu?“, rief Mummymon plötzlich. Seit es wieder aufgewacht war, war es zwar rasch ausgepowert, aber seine Energieschübe waren nicht zu verachten. Es stürmte auf Datamon zu, sprang über eine Salve aus dessen Fingern hinweg und donnerte die Faust gegen den gläsernen Schädel. Datamon wurde von Mekanorimon geschleudert und prallte gegen einen Bambuspfeiler. Die Kabel, die beiden verbanden, rissen unter elektrischem Geblitze. Arukenimon zögerte keine Sekunde. Aus dem Juwel an seinem Handrücken schoss ein klebriges, rotes Spinnennetz, das Datamon sofort an den Pfeiler band, die Arme ausgestreckt, sodass es sich nicht selbst befreien und auch nicht auf seine Feinde schließen konnte. T.K. hätte im Leben nie gedacht, dass er einmal mit diesen Digimon gemeinsame Sache machen würde … Mummymon trat heran. „Was sagst du jetzt, du kleine Nervensäge?“ „Ich sage, ihr hattet nur Glück.“ „Pech für dich“, gab das Mumiendigimon zurück und durchbohrte Datamon mit seinen langen Krallen. Das Auge des Maschinendigimons blinkte noch kurz auf, dann erlosch das Leben darin. „Das wär’s“, sagte Oikawa und legte eine Hand auf Mekanorimon, dessen Bewusstsein zurückzukehren schien. „Es würde mich freuen, wenn du uns im Kampf unterstützen könntest.“ Er nickte T.K. zu. „Lass uns wieder zu den anderen gehen.“ Mekanorimon begleitete sie tatsächlich. T.K. folgte ihnen die Treppe hinunter, bis sie in der kleinen Wachstube unten im Trum standen. „Geht schon mal vor“, sagte er. „Ich muss noch etwas erledigen.“ Oikawa sah ihn fragend an, nickte dann aber, als T.K. keine Anstalten machte, weiter ins Detail zu gehen. „In Ordnung. Pass auf dich auf – und tu nichts Unüberlegtes.“ Während der große Mann, Arukenimon, Mummymon und Mekanorimon wieder vor die Stadt liefen, begab sich T.K. in die Straßen, die immer noch von Glutnestern geziert waren. Tu nichts Unüberlegtes. Er hatte es sich eindeutig gut genug überlegt.     Hinter ihm fauchte Gigadramon erneut, als RiseGreymon seine Haut aus nächster Nähe mit Kugeln durchlöcherte. Bar einer anderen Idee hielt Tai sein DigiVice ins Licht – und eine wohlige Wärme durchströmte ihn, ließ das Gerät aufleuchte. Als er sich umsah, stand Agumon neben ihm. „Es funktioniert, Tai“, sagte es zufrieden. „Ich fühle mich wieder stark!“ „Stark genug für eine Warp-Digitation?“ „Stark genug, um Deemon ordentlich einzuheizen!“ Das Licht seines DigiVices wurde stärker, färbte sich orangerot. Die anderen hatten den Lichtsamen ebenfalls erreicht. Als sich Gigadramon kreischend in Daten auflöste und RiseGreymon sich den DigiRittern zuwandte, erblickte es WarGreymon neben Tai und erkannte ihn plötzlich. „Du … Du bist der Drachenritter!“, stieß es hervor. „Mittlerweile Drachenkönig“, sagte Tai. WarGreymon fügte hinzu: „Zwei Greymon sind eines zu viel!“ Es wirbelte um seine eigene Achse, und als eine reißende Spirale durchbohrte es RiseGreymons Brustpanzer mühelos. Das Digimon starb mit einem wütenden Schrei. Als die Zentauren sie erreichten, stellten sich ihnen Matt und MetallGarurumon entgegen. „Seid ihr sicher, dass ihr gegen uns kämpfen wollt?“, knurrte Letzteres. „Ihr seid nämlich nicht unsere eigentlichen Gegner“, ergänzte Matt. Die Sagittarimon und Centarumon sahen einander unsicher an. Als auch noch WarGreymon neben seinen Kameraden trat, das ihren Anführer vernichtet hatte, drehten sich die verbliebenen dreißig Digimon um und suchten ihr Heil in der Flucht. „Es tut mir leid um Gigadramon“, murmelte Davis. „Es sind wirklich genug Digimon gestorben“, sagte Tai zornig. „Auf zu Deemon! Jetzt zahlen wir ihm alles heim!“     Agunimon hätte nie gedacht, dass es sich einmal vor Feuer fürchten würde. Es hatte sofort gemerkt, dass dieses Deemon es nicht erwischen durfte, sonst wäre es aus mit ihm. Der Ritter des Nordens teilte Tritte und Schläge gegen den schwarzen Schlick aus, der Deemons Kutte und Beine bedeckte. Je mehr er sich damit besudelte, desto siegessicherer wurde er. Agunimons tapfere Krieger waren nicht weit entfernt. Da Deemon so groß war, bot es jede Menge Angriffsfläche. Als Agunimon etwas Atem schöpfen und sich den rauchenden Schlamm aus den Augen wischen musste, sah es sich auf dem Schlachtfeld um. Die Armeen des Nordens, des Wissens, die Befreier von Little Edo und die DigiRitter und ihre Digimon entfachten ein wütendes Gewitter aus Attacken. Mit grimmiger Genugtuung stellte Agunimon fest, dass es noch eindrucksvoller aussah als die dunklen Sturmwolken von Arkadimon. Es schien, als würden hier alle Digimon der DigiWelt gegen einen einzigen Feind kämpfen. Wizardmon schwebte knapp über ihm und ließ aus seinem Stab Blitze hervor zucken, zwei Frigimon kämpften Seite an Seite mit Eisschlägen, und eines davon musste der Fürst der Eisregion sein. Dann waren da noch ein Meramon – der Partner eines Menschen –, Piximon aus Santa Caria, Woodmon, Kiwimon, Sunflowmon und Blossomon aus der Blütenstadt, Kuwagamon und Snimon, alle möglichen Dinosaurierdigimon aus dem Norden, etliche Maschinen und wolfsähnliche Digimon, die sich dem Kampf in den letzten Minuten angeschlossen haben mussten, als hätten sie instinktiv gespürt, dass sie gebraucht wurden. Etwas vorsichtiger, aber nicht minder entschlossen kämpften Gekomon, Floramon und Mushroomon, die einfach ihre Heimat, Little Edo, verteidigen wollten. Und dort drüben war … Agunimon glaubte nicht recht zu sehen. Es rannte los, um hinter die aufpeitschenden Flammen zu gelangen, die seine Sicht behinderten. Tatsächlich. „Was machst du hier?“, brüllte es das Digimon an. „Hä?“, machte Ogremon und drehte sich zu ihm um. „Na so was, dich gibt’s auch noch, ja? Dann bin ich ja direkt froh, dass ich mich hiervor nicht gedrückt habe! Willst du unseren Kampf nachholen?“ Es winkte einladend mit seiner Keule. „Wie verlockend“, knurrte Agunimon. „Vielleicht komme ich darauf zurück, wenn wir dieses Ding hier gefällt haben.“ Es deutete auf den riesigen Schatten über ihnen. Ogremon lachte. „Gute Idee. Ich muss ohnehin verrückt sein, hier an eurer Seite zu kämpfen – da kann ich es auch gleich mit einem ganzen Berg aufnehmen!“ Ihre beiden nächsten Schläge trafen Deemon gemeinsam.     T.K. hatte sich bemüht, dass die Digimon, die immer noch gegen die Brände kämpften, ihn nicht bemerkten. Schließlich hatte er trotzdem ein Mushroomon nach dem Weg fragen müssen. Das Gebäude, das zum Lazarett umfunktioniert worden war, stand unweit eines kritischen Brandherds, aber die Digimon schienen das Feuer unter Kontrolle zu haben. Dennoch hing Qualm in der Straße, und der staubige Boden war in orangerotes Licht getaucht. T.K. strich den wassergetränkten Vorhang zur Seite, der über dem Eingang hing. Drinnen war es stickig und ziemlich dunkel; ein wenig Feuerschein drang durch die Ritzen der Holzwände, und Staub tanzte darin. Holzstreben stützten die Decke, und an einer davon glomm eine traurige Öllampe. Jemand hustete. Langsam schritt T.K. die Schlaflager ab. Digimon – schwitzend, stöhnend, verletzt – lagen darin. Wer immer sich um sie gekümmert hatte, musste nun draußen mit dem Feuer beschäftigt sein. Die Luft roch sauer und war warm. Jemand flehte ihm um etwas zu trinken an. Er hinderte Patamon nicht daran, abgestandenes Wasser aus einem Topf in eine Schale zu schöpfen und dem Digimon zu überreichen. Er selbst ließ weiter suchend den Blick schweifen. Schließlich entdeckte er ihn in einem kleinen Hinterzimmer, der durch einen dünnen, grobmaschigen Vorhang von dem Hauptraum getrennt war. Auch dort brannte eine Laterne, und er sah die Umrisse durch den Stoff. T.K. schlug den Vorhang zur Seite und baute sich vor Klecks‘ Krankenlager auf. Das Schattenwesen in Divermon-Form atmete schwer und pfeifend, als läge ein schweres Gewicht auf seiner Brust. Es war bis zum Hals zugedeckt, sodass T.K. nicht sehen konnte, wie schlimm seine Wunden waren, doch es wirkte sehr erschöpft. „Warum musstest du Kari das antun?“, murmelte er bitter. „Hättest du nicht einfach sterben können? Musstest du unbedingt überleben?“ Klecks schlug die hellen Augen auf und T.K. zuckte zusammen. Er hatte ihn gehört, schwieg aber. Erwartungsvoll sah er T.K. an, bis es jenem zu viel wurde. „Hör schon auf“, knurrte er. „Mach mir Vorwürfe, bettle, irgendwas. Tu nicht immer so, als berühre dich nichts von alledem.“ Doch das Schattenwesen starrte nur. T.K. machte sein Blick rasend. „Ist es dir egal, wenn ich dich töte?“, schrie er es an. „Wieso hast du Kari dann geheiratet? Warum tust du, als wärst du mit allem zufrieden, aber auszusterben käme nicht in Frage?“ „Wir wollten deiner Freundin niemals Kummer bereiten“, sagte Klecks mit schleppender Stimme. „Lüge!“, fauchte T.K. „Habt ihr nicht gemerkt, wie sehr sie unter ihrem Versprechen leidet? Wie sehr es sie gequält hat, auch nur mit euch zu leben?“ „Wir stellten ihr das Angebot damals, weil wir dachten, sie würde sich geehrt fühlen. Wir haben sie nie mehr belästigt, nachdem sie es ausgeschlagen hat.“ T.K. biss die Zähne zusammen. Er wusste, dass es Karis freie Entscheidung gewesen war, sich als Mutter der Schattenwesen anzubieten. Aber konnte man überhaupt von freier Entscheidung sprechen, wenn sie geglaubt hatte, keine Wahl zu haben? „In dem Fall“, sagte er leise. „Ist alles nur eine traurige Verkettung der Ereignisse.“ Neben Klecks‘ Bastmatte lag noch seine Harpune. T.K. hob sie auf und prüfte ihre Schärfe. Ein Tropfen Blut quoll über seine Fingerkuppe, fast schwarz in dem schwachen Licht. „Es tut mir leid“, murmelte er. „Ich kann eure Abmachung nicht akzeptieren. Ich habe sie keine Sekunde akzeptiert!“ „T.K!“ Er fuhr herum. Kari stand vor dem zur Seite gezogenen Vorhang. Gatomon und Patamon waren bei ihr. War sie gekommen, um Klecks zu besuchen? Oder um nach ihm zu sehen? Hatte sie vielleicht geahnt … „Was … tust du da?“, fragte sie mit geweiteten Augen. Er beschoss, es nicht zu leugnen. „Wonach sieht es aus?“, fragte er kühl. „Ich erlöse dich.“ „Bitte hör auf“, murmelte sie und kam näher. „Ich weiß, wir sind alle in großer …“ „Keinen Schritt weiter“, blaffte er. „Versuch nicht, mich aufzuhalten!“ „Du wirst ihm nichts antun!“, sagte sie, schneidende Schärfe in der Stimme. „Wenn du das tust … Wenn du …“ „Du kannst mich hassen, so viel du willst. Das ist ein kleiner Preis. Hasse mich, verfluche mich, verletze mich, von mir aus kannst du mir den Hals umdrehen – solange du es hier in der DigiWelt oder in der Realen Welt tust und nicht am Meer der Dunkelheit, mit einem Rudel Schattenwesen-Kinder, die um dich herumspringen! Ich werde nicht zulassen, dass so ein Scheusal dich derart missbraucht!“, knurrte T.K. Wie oft führten sie dieses Gespräch nun schon? „T.K. …“, flüsterte sie. Im Lampenschein offenbarte ihr Blick, wie sehr enttäuscht sie von ihm war. Es spielte keine Rolle. Er musste es tun, egal wie die Folgen für ihn aussahen. Egal, was man von ihm halten mochte. Noch nie hatte er Ken so gut verstehen können wie in diesem Moment. „Ich habe es ihnen geschworen“, sagte Kari mit belegter Stimme. „Und es geht nicht mehr nur um die Abmachung. Ich bin schuld, dass ihr Volk nun fast ausgestorben ist.“ „Wie praktisch für sie, dass du das ändern kannst“, höhnte T.K. „Kann ich dich und deine Kinder auch mal am Meer der Dunkelheit besuchen kommen? Was soll ich ihnen für Spielzeug mitbringen? Schleim? Brackiges Wasser? Vielleicht finden wir auch eine Hebamme, die sich mit Schattenwesengeburten auskennt!“ „Hör auf!“, schrie sie ihn an, die Wangen rot vor Zorn. Er drehte die Harpune, bis die Spitze auf Klecks‘ Hals zeigte. In dem Moment trampelten Schritte im Hauptraum. Yolei platzte in das Zimmer. „Kari, da bist du! Die anderen sind gerade zurückgekommen, und Izzy meint, wir sollten eine DNA…“ Sie verstummte, als sie die beiden vor Klecks‘ Lager stehen sah. „Was … was ist denn los?“ „T.K. will ihn töten“, sagte Kari tonlos und deutete auf das Divermon. Yolei riss die Augen auf. „Was? Hast du sie nicht mehr alle?“ Sie lief an Kari vorbei, packte die Harpune und wollte sie ihm entreißen. „Lass sofort das Ding los! Was ist denn in dich gefahren? Es hat uns doch gar nichts getan!“ „Du kennst die schmutzige Wahrheit nicht“, sagte T.K. durch zusammengebissene Zähe. Er hielt die Waffe eisern fest. „T.K!“, sagte Kari scharf. „Was denn? Schämst du dich plötzlich? Das da ist Karis Gemahl, Yolei! Die beiden haben geheiratet!“, platzte er heraus. „Und sie hat sich bereiterklärt, seinen verkommenen Nachwuchs zu gebären! Wenn du einen Funken Anstand im Leib hast, hilfst du mir, ihn loszuwerden!“ Yolei prallte zurück. Ihr Haar wehte, als ihr Kopf zwischen T.K, Klecks und Kari hin und her ruckte. „Aber das … das ist doch ein Digimon“, meinte sie hilflos. „Es sieht nur so aus“, erklärte er. „Es ist ein Schattenwesen vom Meer der Dunkelheit.“ Yolei suchte den Blick ihrer Freundin. „Ist … ist das wahr?“, hauchte sie. „Das ist ganz allein meine Sache“, zischte Kari. „Ich habe meine Gründe!“ „Und ich habe meine!“, gab T.K. zurück. Diesmal machte Yolei keine Anstalten, ihn aufzuhalten, doch als er zustechen wollte, richtete sich Klecks plötzlich auf. Die Decke glitt von seinen Schultern und offenbarte verbrannte, zerfurchte Haut. T.K. erstarrte. Mühsam stand das Schattenwesen auf, packte die Harpune selbst und entriss sie seiner Hand, erstaunlich kräftig. „Es war nie unsere Absicht, Zwietracht zwischen euch zu säen“, sagte es. „Es tut mir leid, dass wir euch nur Leid gebracht haben. Das alles war uns nicht bewusst. Wir verstehen wenig von euch Menschen, doch ich habe in unserer gemeinsamen Zeit viel gelernt.“ Klecks wandte sich an T.K. „Wir wollten niemandem etwas Böses. Wir waren glücklich, als die auserwählte Jungfrau zurückkehrte und unserem Leben einen neuen Sinn gab. Ich habe die Digimon reden gehört, die man hierher gebracht hat. Ihr kämpft gegen jenes Wesen, das an unserem Meer aufgetaucht ist. Wegen ihm verließ uns unser Gott. Wir sind froh, unseren Anteil daran geleistet zu haben, es zu besiegen.“ Er musterte Kari aus seinen Divermon-Augen. „Aber wir wollten unsere Lichtkönigin niemals unglücklich machen. Und ich sehe, dass wir das trotzdem taten, denn sie ist nun mit denen zerstritten, die sie ebenfalls brauchen. In deinen Augen lese ich deine Entschlossenheit, meine Königin. Du willst deinen Schwur nicht brechen. Also werde ich es sein, der ihn auflöst.“ Und damit stieß Klecks sich selbst die Harpune ins Herz.     Kari stand da wie gelähmt. Für einen Moment hielt Klecks sich aufrecht, und sie meinte kurz den ausdruckslosen Blick des Schattenwesens zu sehen, das sie am Meer der Dunkelheit geehelicht hatte. Dann kippte er hintenüber und löste sich in Daten auf, als wäre er ein richtiges Digimon. Ein Digimon, das niemals wiedergeboren werden würde … Schließlich stieß sie einen erstickten Schluchzer aus und sank auf die Knie. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Über Klecks. Über T.K. Über sich selbst. Sie war jetzt wieder frei? War es das, was sie gewollt hatte? Die Schattenwesen würden aussterben. Und jede Entscheidung war ihr abgenommen worden. Minutenlang standen sie in dem Raum. Niemand sprach ein Wort, stumm gedachten sie des Opfers des Schattenwesens. Kari erkannte, dass sie nie begriffen hatte, was in Klecks‘ Kopf vorgegangen war, dass sie nicht einmal daran gedacht hatte, dass er eine eigene Persönlichkeit haben könnte. Als sie den Blick hob, sah sie, dass T.K. seine Augen mit dem Unterarm verdeckte. Tränen liefen über sein Kinn. Er war bereit gewesen, so weit für sie zu gehen … Konnte sie ihm je vergeben? Konnte sie ihm je danken? Sie sah Yolei an, dass diese sie dazu drängen wollte, zu den anderen zurückzugehen, ihre Gedanken jedoch nicht stören wollte. Dafür war sie ihrer Freundin dankbar. Sie konnte erst weiterkämpfen, wenn sie sich ihrer eigenen Gefühle bewusst war. T.K. tat den ersten Schritt. Er kniete sich vor Kari auf den blanken Boden, alle Kraft war aus seinen Gliedern gewichen, und ließ den Kopf hängen. „Schlag mich. Bitte“, murmelte er. „So fest du kannst.“ Seine Tränen tropften auf die gestampfte Erde und versickerten langsam. Wieder schluchzte sie, presste die Augen zusammen. „Du … dummer Kerl“, stieß sie hervor, und bei jedem Wort schien ihre Seele leichter zu werden. „Du wolltest für mich so weit gehen … zum Mörder werden … und dich von mir hassen lassen …“ Sie schlug mit der flachen Hand zu, sein Kopf ruckte zur Seite. Die Stelle glühte rot. „Du bist gemein“, sagte sie weinerlich. „Als könnte ich dich jemals hassen.“ Sie kniete sich ebenfalls hin und drückte ihn fest an sich. Yolei entwich ein Seufzer der Erleichterung. Wieder verharrten sie minutenlang, während denen Kari T.K.s Tränen in ihrem Nacken spürte, wo er seinen Kopf vergraben hatte. Als könnte ich dich jemals hassen. Genau das war es. Sie hatten sich vor langer Zeit getrennt und vor noch längerer Zeit geliebt. Das war vorbei, und ob diese Zeit zurückkommen würde, wusste sie nicht. Mit Sicherheit konnte sie nur sagen, dass sie ihn niemals hassen würde, egal, was geschah. Und sie fand, dass das allein schon etwas Gewaltiges, Großartiges war.     „Zurück! Alle zurück!“ Wizardmon und Agunimon winkten die Kämpfenden vom Schlachtfeld. Hastig flüchteten sie, benutzten Erdspalten und Tunnel und schützten sich gegenseitig vor den Feuerstrahlen, die Deemon nach den Flüchtenden warf. Sie alle versammelten sich wieder am Rand von Little Edo. „Willst du Veemon nicht zu Magnamon digitieren lassen?“, fragte Willis Davis. Dieser grinste. „Wart’s ab, du wirst staunen.“ Auf Rapidmon, WarGreymon und MetallGarurumon hatten sie die Ebene wieder überquert. Die große Entscheidung stand bevor, und die Digimon, die eben noch bis zum Ende ihrer Kräfte gekämpft hatten, durften sich zurückziehen. Die eben noch wütende Horde war totenstill geworden. Bald würde sich zeigen, ob ihre Angriffe Deemon weit genug geschwächt hatten. Auch Michael und die Digimon, die die Brände bekämpft hatten, gesellten sich wieder zu den anderen an die Front. „Ihr habt also tatsächlich noch ein paar starke Digimon aufgetrieben“, stellte Deemon fest. Durch seinen Kapuzenschädel blitzte immer wieder die neue Gestalt, die es annehmen wollte. Der Schlamm an seinen Armen und Beinen war vollständig verschwunden, nur Brust und Flügel waren noch von dicken Schichten überzogen, in die die zahllosen Attacken Lücken gerissen hatten. „Bist du bereit, Ken?“, fragte Davis und hob sein DigiVice. Er sah ihn erwartungsvoll an. War er bereit? Ken wusste es nicht. Er hatte sich an dem Kampf bisher nicht beteiligt. Hatte er nicht genug getan? Nein, dachte er. Ein letztes Mal muss ich gegen Deemon kämpfen. „Komm schon“, sagte Davis, klang jedoch nicht drängend. Er sah ihn mit Augen an, in denen Flammen zu lodern schienen. „Ich weiß, du hast eine Menge durchgemacht, aber wir brauchen dich! Du warst es, der uns überhaupt erst ermöglicht hat, etwas gegen Deemon auszurichten. Ohne dich wäre die DigiWelt verloren. Wir müssen ihm nur noch den vernichtenden Schlag verpassen, dann ist es vorbei!“ Ken musterte ihn lange. Hätten seine Freunde sich nur schon früher erinnert … alles wäre dann so einfach gewesen … Er würgte den Gedanken entschlossen ab. Hätte, wäre! Er hatte doch die ganze Zeit nichts anderes getan, als in die Zukunft zu sehen! Er hatte wieder Dinge getan, die abscheulich waren, war bereit gewesen, alles zu opfern, um sein Ziel zu erreichen – dank seiner Freunde war dieses Ziel wieder in greifbarer Nähe! Er musste nur die Hand ergreifen, die Davis ihm anbot. Ein Angebot ohne Hintergedanken, ohne Lügen, ohne Zweifel, ohne Finsternis, die sich auf ihn stürzen würde. Er hatte wohl tatsächlich verlernt, an jemanden zu glauben. Wenn er jetzt noch zauderte, wären all seine Opfer vergebens. „Hier sind wir!“ Yolei kam mit T.K. und Kari angerannt. Sie schien etwas verstört, und die anderen hatten beide verquollene Augen, wie Ken erkannte, als hätten sie geweint. „Aquilamon!“, rief Yolei ihrem Digimon zu, dann tauschte sie mit Kari einen Blick. Ihre Digimon vollführten die DNA-Digitation und verschmolzen zu Silphymon. „Tut mir leid, Cody, aber meinst du, du kannst mit Digmon oder Ankylomon alleine kämpfen?“, fragte T.K. „Ich fürchte, Patamon bekommt so schnell keine Digitation mehr hin.“ „Klar“, meinte der Junge. „Es wird schon irgendwie gehen.“ „Ken?“ Nun sah auch Izzy ihn erwartungsvoll an. Er nickte. „Zeigen wir’s ihm.“ Davis strahlte über das ganze Gesicht. Wormmon digitierte zu Stingmon, Veemon zu Ex-Veemon. Dann war es wieder da, dieses seltsame Gefühl der Verbundenheit, wenn ihre Partner gemeinsam digitierten. Das Gefühl eines anderen Herzens, das im selben Takt schlug. Nach all der Zeit, in der er sich allein gefühlt hatte, kam es ihm wie ein Segen vor – und er meinte, nicht nur Davis‘ Herz zu fühlen, sondern auch die der anderen. Sie waren wieder ein Team, kämpften gemeinsam gegen die Dunkelheit … Und sie würden sie besiegen wie schon unzählige Male zuvor! Willis starrte mit offenem Mund, als Paildramon noch auf das Mega-Level zu Imperialdramon digitierte. „So eine Digitation habt ihr drauf?“, fragte er. „Ich hab doch gesagt, dass du staunen wirst“, grinste Davis. „Alles klar, machen wir es fertig!“, sagte Tai wild entschlossen. Matt nickte. Ihre Digimon digitierten ebenfalls, formten wieder Omnimon in seiner prächtigen, weißen Rüstung. Von Deemons riesiger Gestalt wehte Gelächter herüber. Es schien abzuwarten. „Lach du nur!“, rief Davis. „Diesmal bist du fällig! Heute bringen wir es zuende!“ Imperialdramons riesige Kanone lud sich auf und feuerte einen lodernden Strahl ab. Omnimon schoss ebenfalls eine Kugel aus reinem Licht aus seinem Arm, und Rapidmon jagte zwei Raketen hinterher. Deemon hob die Arme und ließ sie violett aufglühen, wie um sich – oder den schwarzen Schlamm auf seiner Brust – zu schützen. Die Attacken zerbarsten mit lauten Getöse, die Explosion musste meilenweit zu sehen sein, hell wie die Sonne, die so lange schon nicht mehr auf die DigiWelt herabgeblickt hatte. Als das Licht verglomm, rauchten Deemons Arme, aber es schien unversehrt. Nur wenige Spritzer Turmmaterial hatten seinen Körper verlassen und verdampften auf dem Ödland hinter ihm. „Ihr lasst euch so lange Zeit, um mir stärkere Digimon entgegenwerfen zu können, und das ist alles, was sie zu bieten haben?“, höhnte es und lachte. „Es hat immer noch nicht gereicht!“, rief Davis entsetzt. „Wir sollten versuchen, unsere Energie noch weiter zu bündeln“, meinte Ken. „Ken hat recht“, sagte Matt. „Hör zu, Davis, wir werden Imperialdramon all unsere Kraft geben, verstanden?“ „Geht klar.“ Wieder lachte Deemon. „Ihr betreibt wirklich einen beachtlichen Aufwand, das muss ich euch lassen. Ich werde euch für eure Mühen belohnen.“ Es streckte die Hand aus und die DigiRitter spannten sich an, doch die Handfläche wies nach oben. „Ihr wollt also nicht, dass ich mir Arkadimons Schwarze Türme einverleibe? Ich werde euch diesen Wunsch erfüllen.“ Mit offenem Mund verfolgte Ken, wie der schwarze Schlick sich von seiner Kutte zurückzog und zu seiner Hand wanderte. Auch Deemons Flügel wurden von dem Schlamm befreit. Er sammelte sich in seiner Handfläche und verformte sich dort zu einer winzigen Kugel –nein, eher einer Pyramide. Auf die Entfernung konnte man das Ding kaum erkennen, nur, dass es pechschwarz war. „Na, was sagt ihr? Ich werde aufhören, mir die Türme einzuverleiben, bis ich meine Digitation abgeschlossen und euch vernichtet habe.“ „Was hat es nun wieder vor?“, ächzte Davis. „Ich bin mir sicher, es plant etwas!“ „Vielleicht auch nicht“, überlegte T.K. „Vielleicht hat Deemon erkannt, dass wir es nicht noch mehr von der Masse aufnehmen lassen, und es hat sie sozusagen in Sicherheit gebracht.“ „Aber es scheint immer noch zu digitieren“, meinte Kari beklommen, als Deemons Gestalt erneut flackerte. Seine Flügel schienen sich zu verändern, die Krallen darauf wurden länger, furchterregender. Immer mehr Pelz blitzte um seine Hörner herum auf. „Wir sollten nicht länger warten! Zeigen wir ihm, was wir haben!“, rief Tai. Imperialdramon veränderte seine Form. Statt dem furchterregenden Drachenkörper schwebte nun ein schwer gepanzerter Krieger über den DigiRittern. Omnimons Arme erglühten, sein Körper löste sich auf. Das Licht zog sich zusammen, verformte sich zu einem grell leuchtenden, riesigen Schwert. Als Imperialdramon kraftvoll die Hände um den Griff schloss, strahlte sein Körper in hellem Glanz, seine Rüstung verfärbte sich weiß und golden. Zwei weiße Flügel legten sich von hinten um seine Schultern. Das Schwert in seinen Händen pulsierte, die Schriftzeichen darin glühten. Die Waffe war fast so groß wie Imperialdramon selbst. „Los, zeig’s ihm!“, brüllte Davis. Auch die anderen feuerten das Digimon an, als es das Schwert zu einem wuchtigen Schlag hob. Ken ertappte sich selbst dabei, ebenfalls all seine Hoffnungen mit einem Schrei in Imperialdramon zu legen. Der Hieb spaltete den Himmel. Ein Lichtstrahl, vom Boden bis zu den Sternen, wie es aussah, fegte auf Deemon zu, riss die Erde auf und ließ verbrannte Reispflanzen davon wehen. Ken fühlte die unglaubliche Macht, die von der Lichtsichel ausging; sie vibrierte angenehm in seiner Brust. Mit donnernder Urgewalt fuhr sie über Deemon hinweg, krachte hinter ihm in die Berge. Ein fürchterliches Getöse erfüllte die Ebene, als die Attacke die Steingiganten einfach zerschlug; Gipfel stürzten ein, Felsbrocken segelten meilenweit davon. Das Licht bildete einen letzten, grellen Streifen auf Kens Netzhaut, ehe es inmitten der Berge verglühte. Keiner der DigiRitter wagte zu atmen. Als Ken Deemon entdeckte, zersprang seine Hoffnung in tausend Scherben. „Das ist doch unmöglich!“, stieß Davis verzweifelt aus. „Wie kann es das überlebt haben?“ „Haben wir es vielleicht nicht genug geschwächt?“, fragte Yolei besorgt. Gelächter wehte zu ihnen herüber, als sich Stille auf das Nordheer senkte. Deemon war wieder kleiner als zuvor, schwebte aber noch auf derselben Stelle. Etwas schien nicht mit der Luft in seiner Nähe zu stimmen, denn sie flimmerte … Als würde sich eine andere Welt zwischen Deemon und die DigiRitter drängen. Izzy keuchte auf. „Die Phasen! Sie verschieben sich wieder!“ Obwohl sein Laptop zerstört war, hatte er sofort begriffen. Ken sah es nun auch mit freiem Auge – die schwarze Pyramide in Deemons Hand brachte erneut die Weltengrenzen durcheinander. Nacheinander flackerten vor dem Digimon schwarze wie bunte Welten in breit gefächerten Spalten in der Wirklichkeit auf. Schattenhafte Wesen versuchten in die DigiWelt zu gelangen, aber die Tore waren nie lange genug offen. Und noch etwas war geschehen. Ken erkannte es erst, als das Herumschieben der Welten sich langsam legte und Deemon wieder richtig zu sehen war. Es war digitiert. Deemons Kutte hatte sich aufgelöst, stattdessen war sein ganzer Körper mit zotteligem, braunem Fell überzogen. Die Hörner ragten nun aus einem knochigen Schädel mit einer schrecklichen Dämonenfratze, deren Maul klaffend aufgerissen war. Die Krallenauswüchse an seinen Flügeln waren größer geworden, seine Hände dünner, die Krallen länger. „Ihr seid so dumm.“ Die Stimme war noch dieselbe. „Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mir so einfach etwas anhaben?“ Die schwarze Pyramide schwebte in seiner Handfläche. Yolei schlug die Hand vor den Mund. Tai stieß einen wüsten Fluch aus, Matt zog die Brauen zusammen. „Es hat keinen einzigen Kratzer“, stellte T.K. düster fest. „Als hätten sie es überhaupt nicht getroffen.“ „Wenn ihr das schon beunruhigend findet, was haltet ihr dann hiervon?“ Deemon hob die Hand mit der Pyramide – und im gleichen Moment begannen sich die Digimon der internationalen DigiRitter zu krümmen, ebenso Ankylomon. Selbst MegaKabuterimon ließ ein ersticktes Stöhnen hören. „Was ist denn los mit euch?“, rief Cody. Silphymon antwortete, schwer atmend. „Etwas versucht, uns die Kraft zu entziehen. Wir können gerade verhindern, dass wir nicht zurückdigitieren.“ Es traf Ken wie ein Blitz. „Die Schwarzen Türme!“, rief er aus. „Deemon hat die Schwarzen Türme wieder aktiviert! Das würde die Phasenverschiebung erklären!“ Deemon – oder was auch immer es nun war – lachte. „Du bist ein schlaues Bürschchen, Ken. Glaubt ihr etwa, ich würde Arkadimons Türme nicht anderweitig nutzen, wenn ihr mich sie schon nicht einverleiben lasst?“ „Aber das da in seiner Hand … Das ist doch nur ein kleiner Turm“, meinte Yolei, obwohl sie ahnen musste dass dem nicht so war. „Ich fürchte, Deemons Macht ist mittlerweile so groß, dass es das Granulat von mehreren Türmen in eine einzige Pyramide hat verdichten können“, murmelte Ken. Deemon hatte ihn gehört. „So ist es. Arkadimon bestand aus tausend schwarzen Türmen. Vielleicht die Hälfte davon habe ich bereits in mich aufgenommen. Von den übrigen mögt ihr einige unschädlich gemacht haben, aber was ihr hier in meiner Hand seht, ist die verdichtete Form von mehreren hundert Türmen!“ „Darum ist die Phasenverschiebung auch viel stärker als damals bei BlackWarGreymon – wenn auch nicht ganz so stark wie bei Arkadimon“, stellte Izzy fest. „Wenn wir auf dieser Hand-Insel nicht die Macht erhalten hätten, im Schatten der Türme zu digitieren, wären unsere Digimon längst wieder auf dem Rookie-Level.“ „Aber auch so müssen sie ihre ganze Kraft aufbringen, um ihr Level zu halten“, meinte Kari. „Einfach weil die Macht dieser Pyramide so groß ist.“ „Kari hat recht“, sagte Imperialdramon vielstimmig. „Wir können noch einige Attacken fliegen, aber unsere Energie wird bald erschöpft sein.“ „Das ist unser Stichwort.“ Agunimon trat vor. „Wir werden uns nicht so einfach unterkriegen lassen! Alle Langstrecken-Kämpfer, Angriff!“ Es gab nur wenige Digimon, deren Kampfgeist noch nicht gebrochen war, aber es gab sie. Wizardmon war das Erste, dessen Lichtblitz auf Deemon zuflog. Auch Feuerbälle wurden in seine ungefähre Richtung geschleudert. „Wir geben auch nicht auf!“, sagte Garudamon, und gemeinsam mit MegaKabuterimon schleuderte es einen Doppelangriff auf das zottelige Dämonendigimon. Silphymon griff als Nächstes an. Die Attacken zeigten allesamt keine Wirkung – sie schienen Deemon gar nicht zu erreichen! Die Phasen verwirbelten wieder vor seinem Körper, Blitze wie Feuer wie Energie verschwanden in den Spalten zwischen den Welten, schlugen irgendwo entfernt ein, wo kein Mensch je einen Fuß hingesetzt hatte. Deemons Gelächter schmerzte bereits in Kens Kopf. „Sie können ihm nichts tun – diese Phasenverschiebung beschützt es“, sagte Matt. „Solange es diese Pyramide hat …“ Dieses schwarze Ding in dieser Hand, das aus demselben Material bestand wie Kens Türme … Er hätte nie gedacht, dass Deemon sich damit verteidigen könnte. „Können wir die Schwarzen Türme nicht irgendwie abschalten?“, fragte Yolei. „Ihr wisst schon, damals, als Ken aufgehört hat, der DigimonKaiser zu sein, haben sie auch ihre Wirkung verloren.“ „Nur für eine Weile“, erinnerte sie Kari. „Als Arukenimon gekommen ist, wurden die Türme wieder funktionsfähig.“ „Das stimmt“, meldete Arukenimon selbst sich zu Wort. Sein Spinnenkopf fixierte Ken. „Deemon kann die Türme zweifellos aktiv halten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es an deinem DigiVice liegt.“ „An meinem … DigiVice?“, wiederholte Ken verwundert. „So ist es“, dröhnte Deemons Stimme. Es hatte sie wieder gehört. „Dein DigiVice und die Schwarzen Türme sind aufeinander abgestimmt. Was glaubst du, warum es ebenfalls die Fähigkeit hat, Digimon am Digitieren zu hindern? Warum du damit die Türme schneller errichten lassen kannst? Dein schwarzes DigiVice sendet ein Signal von der gleichen Wellenlänge aus, die auch die Türme benutzen. Dein DigiVice ist es, das sie aktiv hält, Ken!“ Die anderen sahen ihn erschrocken an. Ken fühlte sich, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen fort. So etwas hätte er eigentlich ahnen müssen … Damals war es ihm ja nach seiner Zeit als DigimonKaiser auch nicht gelungen, die Macht der Türme vollständig abzuschalten. Nun wusste er, warum. „So, nachdem eure Attacken nichts als Verzweiflungsakte sind, bin ich nun an der Reihe“, verkündete Deemon. Sein Fell sträubte sich, die Stacheln auf seinen Flügeln leuchteten auf. „Passt auf!“, rief T.K. „Was immer es tut, es ist kein Feuerstrahl mehr!“ Tausend spitze Lichtnadeln schossen aus Deemons Flügeln und gingen wie ein Hagelschauer auf die Digimon und DigiRitter nieder. Heiles Chaos brach aus. Garudamon und MegaKabuterimon, die beiden größten Digimon, warfen sich nach vorne, um ihre Freunde zu schützen. Agunimon schrie etwas, und die Digimonsoldaten schossen ihre Attacken nach den Nadeln. Ankylomon stellte sich schützend vor Cody und Ken, Imperialdramon schwang sein neues Schwert. Irgendwie überstanden sie die Attacke. Digimon rings um sie herum starben, als sie von den Nadeln durchbohrt und gleich darauf in Stücke gerissen wurden. Sowohl Garudamon als auch MegaKabuterimon und Ankylomon digitierten getroffen zurück. Hinter ihnen krachte etwas; der Palisadenwall von Little Edo wurde regelrecht gesprengt. Einer der Türme ächzte und fiel dann krachend um. Einige verstreute Nadeln schlugen auch in der Stadt ein. „Nicht übel“, sagte Deemon. „Ich bin gespannt, wie lange ihr durchhaltet.“ „Und wenn wir mein DigiVice einfach zerstören?“, fragte Ken plötzlich. Wieder richteten sich die erschrockenen Blicke der anderen auf ihn. „Das würde die Macht der Türme brechen, oder? Vielleicht nicht Deemons Macht der Dunkelheit, aber die Wellenbewegungen, die die Weltengrenzen stören, würden vielleicht aufhören. Dann könnte sich Deemon nicht mehr vor uns schützen.“ „Du willst dein DigiVice zerstören?“, fragte Cody entsetzt. „Das kannst du doch nicht tun!“ „Imperialdramon würde dann doch zurückdigitieren, oder nicht?“ Yolei sah sich hilfesuchend um. Ken zog die Augenbrauen zusammen. „Wenn wir schnell genug sind, kann es vielleicht noch eine Attacke starten, ehe das passiert“, sagte er entschlossen. Wieder hatte Deemon nur ein Lachen dafür übrig. „Spar dir die Mühe, Ken“, meinte es süffisant. „Ihr seid so naiv. Denkt ihr, ihr könntet die DigiVices einfach so zerstören? Denkt ihr, das hätte nie jemand eurer Feinde versucht, wenn es so wäre? Ich weiß alles, was damals vorgefallen ist. Die Meister der Dunkelheit haben ebenfalls nur versucht, die DigiVices zu stehlen. Selbst Apocalymon konnte nur eure Amulette zerstören. Ihr glaubt vielleicht, dass es nur praktische Geräte sind, die ihr erhalten habt, weil ihr als DigiRitter erwählt wurdet, aber ganz so einfach ist es nicht! Die DigiVices sind eine Manifestation jener lächerlichen Macht, die diese Welt vor der Dunkelheit zu schützen versucht. Sie vereinen das Licht der DigiWelt mit den Wünschen und der Kraft, die sie aus euren Seelen schöpfen. Selbst wenn ihr ihre äußere Form zerschmettern könntet: Solange ihr euch mir entgegenstellt, werden eure DigiVices leuchten, immer und immer wieder, und solange sie leuchten, solange sind sie unzerstörbar.“ Hämisches Gelächter folgte dieser Verkündigung. „Ihr könnt mir dankbar sein, dass ich euch an dem Wissen teilhaben lasse, das ich hinter der Feuerwand erlangt habe. Seht es als mein Abschiedsgeschenk an, denn nun werdet ihr sterben.“ Deemon spannte die Flügel, bereit, Imperialdramon und alle, die noch hinter ihm standen, mit seinen Nadeln hinwegzufegen. Und plötzlich wusste Ken, was er zu tun hatte. „Davis!“, rief er. „Ihr alle, hört zu! Ihr müsst Deemon noch ein paar Minuten standhalten!“ „Was hast du vor?“, fragte Tai. „Keine Zeit für Erklärungen.“ Ken sah sich um und deutete dann auf die Pagode von Little Edo. Der Balkon auf der Nordseite war von hier aus gut zu sehen. „Behaltet die Pagode im Auge. Ich gebe euch von dort das Signal. Wenn das Licht meines DigiVices erlischt, muss Imperialdramon sofort alle Kraft in einen letzten Angriff legen!“ Er wollte schon loslaufen, doch Davis packte sein Handgelenk. „Erst sagst du uns, was du vorhast“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Sag es uns, Ken“, drängte ihn auch Izzy. „Wenn es nicht funktioniert … Wir müssen uns ganz sicher sein.“ Ken seufzte. „Mein DigiVice ist die Ursache von allem. Vielleicht kann ich es nicht zerstören, aber ich habe einen Plan. Es hat eine Funktion, mit der es dunkles Licht aussenden kann. Damit kann es eine Digitation verhindern.“ In der Vergangenheit hatte er Izzys Tentomon schon einmal diesem Licht ausgesetzt. Er hoffte, dass dieser sich erinnerte. „Und dann hat es noch die Kraft erhalten, die ihr gefunden habt, als ihr Gennais Rätsel gelöst habt. Diese Kraft lässt die Digimon trotz der schwarzen Energie digitieren!“ Kari horchte auf. „Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Das sind zwei komplett gegensätzliche Kräfte. Wir konnten damit sogar Schwarze Ringe deaktivieren.“ Ken nickte. „Umso besser. Ich werde diese beiden Kräfte gleichzeitig benutzen. Vermutlich muss ich mein DigiVice auf ein Digimon richten, um sie hervorrufen zu können, aber ich weiß schon, welches ich nehmen werde. Diese gegensätzlichen Funktionen, Licht und Dunkelheit, können garantiert nicht nebeneinander bestehen. Ich bin mir sicher, dass ich damit mein DigiVice überlasten – oder zumindest kurzschließen – und somit diese schwarze Pyramide abschalten kann!“ Und wieder lachte Deemon. „Welch nette Theorie. Das wird nie funktionieren, Ken.“ „Wart’s ab“, knurrte er. „Du magst ja viel wissen, aber ich hatte fünf Monate Zeit, die Funktionen meines DigiVices gründlich zu erforschen!“ Er sah seinen Freunden nacheinander fest in die Augen. „Vertraut mir. Ich weiß, dass es klappen wird.“ Und nacheinander nickten sie. „Ich begleite dich“, bot Tai an. „Ich auch!“, sagte Kari. Ken lächelte schwach und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Eure DigiVices besitzen nur die helle Macht. Ihre Nähe könnte das Gleichgewicht der Kräfte in meinem stören. Darum gehe ich in die Pagode. Haltet einfach Ausschau nach dem Licht. Davis, Imperialdramon muss treffen!“ Davis schlug sich gegen die Brust. „Du kannst dich auf uns verlassen!“ Ken nickte den anderen erneut zu, dann lief er in die Stadt hinein. Hinter sich sah er das Glühen von Deemons nächster Attacke. Er biss die Zähne zusammen. Haltet bitte durch!     Spadamon fand die Geräusche beunruhigend. Hier unten zwischen festgestampftem Lehm, unter Schichten aus Holz und Erde, klang alles dumpf und dröhnend, was draußen geschah. Seit zwei Tagen war es nun schon hier eingesperrt, und seit gestern war niemand mehr gekommen, um nach den Gefangenen zu sehen oder ihnen Essen zu bringen. Stattdessen schienen alle Ninjamon-Wachen plötzlich viel zu tun zu haben. Musyamon war auch nicht gerade die beste Gesellschaft. Das Digimon saß die ganze Zeit im Schneidersitz in der Mitte der Zelle, die Augen geschlossen. Die Tür war zwar stabil und sie hatten dem gestürzten Usurpator sein Schwert abgenommen – Spadamon hatte es draußen in einem Vorraum an der Wand hängen sehen –, aber an seiner Stelle hätte der Spion des DigimonKaisers zumindest versucht, allein mit Körperkraft auszubrechen. Musyamon rührte sich jedoch nicht und schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Spadamon seufzte eben herzhaft – es konnte seine Seufzer schon gar nicht mehr zählen –, als plötzlich wieder Schritte erklangen. Es spitzte die Ohren. Als die eisernen Riegel der Tür zurückgezogen wurden und sie quietschend aufschwang, grinste es. Der DigimonKaiser war doch immer für Überraschungen gut! Es brannte darauf zu erfahren, wie er es angestellt hatte, nach Little Edo zu gelangen. Seine Kleidung war übel verbrannt; einfach dürfte es nicht gewesen sein. Der Kaiser nickte Spadamon jedoch nur beiläufig zu und wandte sich an Musyamon, das die Augen geöffnet hatte und ihn stumm ansah. Er warf ihm sein Krummschwert vor die Füße. „Ich brauche noch einmal Eure Hilfe, Musyamon.“ „Die Hilfe eines Versagers braucht niemand“, sagte Musyamon heiser. Es sagte das nicht aus Selbstmitleid, so gut kannte Spadamon es. Es meinte die Worte ganz im Ernst. „Wenn ein Versager die DigiWelt rettet, ist er dann ein Versager? Kommt mit.“ Der DigimonKaiser gab ihm einen Wink. Spadamon fiel auf, dass sein Wormmon nicht bei ihm war. Musyamon blickte nachdenklich auf das Schwert, das vor seinen Knien lag. Draußen krachte etwas ohrenbetäubend laut. Wieder bebte die Erde. „Ich schwor Euch einst meine Treue“, sagte es schließlich. „Ich vermute, Ihr wollt erneut etwas Großes verbringen?“ Der Kaiser nickte. Schließlich hob Musyamon sein Schwert auf und folgte ihm.     Eine neue Welle aus Lichtnadeln war überstanden. Es gab weitere Opfer unter den Digimon, und Imperialdramon hatte viele der Stacheln abgefangen, um die DigiRitter zu beschützen. Der strahlende Ritter wankte bereits. „Du darfst nicht aufgeben, Imperialdramon!“, rief Davis zu ihm hoch. „Ken wird es schaffen! Wir müssen an ihn glauben!“ „Das tun wir doch“, sagte Tai und wuchtete ächzend einen breiten, abgeknickten Bambusstamm von seiner Brust, unter dem er nach dem letzten Angriff fast begraben worden wäre. „Ich wünschte nur, er würde sich beeilen.“ Der Wall hinter ihnen war fast vollständig eingestürzt, die ersten Gebäude dahinter so voller Löcher, dass auch sie bald zusammenbrechen würden. Die Digimon hatten behelfsmäßige Schutzmechanismen aufgebaut. Monochromon und Tyrannomon hatten Gräben ausgehoben, in denen sie Zuflucht vor Deemons Attacken suchen konnten. Tortomon schützten sie zusätzlich mit ihren harten Rückenpanzern, doch selbst sie hielten direkten Treffern nicht stand. Arukenimon und Mummymon spannten Netze aus Spinnenfäden und Mullbinden, ohne die sie den letzten Stachelhagel wohl nicht überlebt hätten. Andere Digimon hatten zusammengebundene Fragmente der Bambusmauer herangeschleppt, um sie als Schild zu benutzen – doch selbst das war nur ein Ausdruck ihrer Verzweiflung. Bestenfalls belustigten sie Deemon damit. „Ich habe mich lange genug mit euch aufgehalten“, sagte das Dämonendigimon und schwebte näher. Die Pyramide in seiner Hand zog dunkle Schlieren nach sich. Es war immer noch unangreifbar. Der Bruchteil ihrer Attacken, der es erreichte, reichte nicht aus, um es zu verletzen. „Es wird nicht wahr werden“, hörte Davis Kari neben sich flüstern. Sie schien wie in ein Gebet versunken, die Hände ineinander verkrampft, die schmutzige Stirn voller Schweiß, der Blick starr, aber entschlossen. „Es wird nicht wahr werden. Es stimmt nicht. Wir können es ändern.“ Je näher Deemon kam, desto stärker wirkte sich das geballte Turmmaterial auf ihre Digimon aus. Von den Partnern der DigiRitter hielten mittlerweile nur noch Lillymon, Silphymon, Rapidmon und Imperialdramon ihr Level. Die anderen konnten dem Kampf nur mehr hilflos zusehen oder waren bewusstlos. Ihre Partner kümmerten sich mit bedrückten Gesichtern um sie, aber der Mut hatte sie noch nicht verlassen. Sie haben bereits ihr Bestes gegeben. Sie haben gekämpft, um zu verhindern, dass Deemon mehr von der Masse aufnimmt. Sonst wäre es jetzt noch stärker, oder unsere Digimon würden noch mehr geschwächt werden. Davis‘ Herz hämmerte zum Zerspringen. Er wollte, dass dieser verdammte Kampf endlich vorbei und wieder alles normal war. Wie es gewesen war, ehe er plötzlich mit falschen Erinnerungen in der DigiWelt aufgewacht war. Wie es sein sollte! Sie hatten Tais Geburtstag gefeiert, erinnerte er sich. Er wollte weiterhin etwas mit seinen Freunden unternehmen, wieder mit ihnen feiern, mit ihnen lachen! Deemon sollte es gefälligst nicht wagen, ihre Verbundenheit zu zerstören, weder mit falschen Erinnerungen noch sonstwie! „Ken!“, brüllte Davis in die qualm- und staubverhangene Nacht. „Beeil dich!“     „Ich nehme an, Ihr habt Euch das gut überlegt.“ „Das habe ich.“ Musyamon und Ken stiegen die Treppen in der verlassenen Pagode hoch. Sie war von den Bränden verschont geblieben. Dass sie völlig leer war, schien nur noch zu verdeutlichen, dass die Zeit der Shogune und Königinnen und Könige und Kaiser, der Fürsten und Daimyos und Vasallen in der DigiWelt endgültig vorbei war. Ken ging voraus, seine Stiefel erklommen Stufe um Stufe. Hinter sich hörte er Musyamons schwere Schritte und das Scheppern seiner Rüstung. „Und wie komme ich zu dieser zweifelhaften Ehre?“, fragte es. „Weil ich weiß, dass Ihr mir diesen Gefallen tun werdet“, sagte Ken schlicht. Und weil man Euch bereits als Feind ansieht. Genau wie mich. Als er das obere Stockwerk erreichte und sich nach dem Balkon umwandte, stand plötzlich Nadine vor ihm. Elecmon war bei ihr. Sie wich seinem Blick aus. „Ich … habe gehört, dass du hierher kommen würdest.“ Ken schwieg. Sie musste mit Cody aus der Festung geflohen sein, aber er hatte sie bisher nicht gesehen. Er machte Anstalten, an ihr vorbeizugehen. „Bitte – warte“, sagte sie. Ihre Augen schimmerten, aber vielleicht sah das nur in dem Lichthagel so aus, der wieder draußen vor der Stadt aufloderte. „Ich muss mit dir reden.“ „Das muss warten. Geh zu den anderen, ich habe etwas zu tun“, sagte er kühl. „Nein!“, sagte sie heftig und biss sich auf die Lippen. „Es muss jetzt sein. Später sind wir vielleicht alle … wenn wir es nicht schaffen …“ Sie strich sich fröstelnd über die Unterarme. „Dein DigiVice müsste noch in den Trümmern meiner Festung liegen“, sagte Ken. „Wenn das, was Deemon sagt, stimmt, ist es unversehrt. Und ich glaube nicht, dass es gelogen hat.“ „Darum geht es mir nicht.“ Wieder wich sie seinem Blick aus. „Ich … weiß jetzt, dass es kein Spiel ist“, sagte sie schließlich. „Das habe ich erwartet. Lass mich jetzt vorbei.“ „Das ist nicht alles!“, sagte sie und leckte sich über die Lippen. „Es … tut mir unendlich leid, Ken.“ Er sah ihr ernst in die Augen, und diesmal begegnete sie seinem Blick voller Schmerz. „Alles, was ich dir angetan habe … alles. Ich habe mich abscheulich benommen. Wenn ich daran denke, dass ich dich umbringen wollte … dass ich dich so betrogen habe … Ich …“ Sie kniff die Augen zusammen und schluckte hart. An ihren Wangen glitzerten Tränen. Sie schien gar nicht mehr daran zu denken, wie er sie im Gegenzug behandelt hatte. Ken konnte sich irgendwie zu einem Lächeln durchringen. „Wir haben alle schreckliche Dinge getan“, sagte er mit rauer Stimme. „Ich mehr als ihr alle zusammen.“ Er strich ihr sanft über die Wange, bis sie ihn wieder ansah. „Geh wieder nach unten. Wenn wir hier fertig sind … dann können wir uns von mir aus wirklich mal in der Realen Welt treffen. Wenn du doch Lust dazu hast.“ Sie blinzelte und starrte ihn aus großen Augen an. Tränen hingen noch in ihren Wimpern. „Ich …“, murmelte sie gepresst und brachte schließlich ebenfalls ein leichtes Lächeln zustande. Sie nickte. „Das wäre … Ich meine, ja, okay.“ Ken nickte ihr zu und trat auf den Balkon hinaus. Als er noch einmal über die Schulter sah, begegnete er Nadines Blick, die tatsächlich langsam die Treppe hinunterstieg, Elecmon im Schlepptau. Auch sie sah noch einmal zurück, lächelte ihm schwach zu, und ging dann weiter. Ken tat es leid, sie belogen zu haben, doch er konnte sie hier nicht gebrauchen. Als ihre Schritte verklungen waren, wandte sich Ken dem Spektakel vor der Stadt zu. Deemon war erschreckend nahe an seine Freunde herangekommen. Etwas krampfte sich in ihm zusammen, als er den schrecklichen Zustand des letzten Aufgebots der DigiWelt gegen Deemon sah. Imperialdramon stand vor ihnen, musste sich auf sein Schwert stützen. Seine Freunde hatten alles getan, was in ihrer Macht stand. Nun lag es an ihm. Als Deemon Arkadimon verschlungen hatte, hatte Ken schon geglaubt, dass alles umsonst gewesen wäre. All die Kämpfe, all die Schlachten, alle Intrigen, Winkelzüge und das Blut an seinen Händen – nichts als ein Zeitvertreib für Deemon, das ihn in Verzweiflung hatte ertränken wollen. Doch es war nicht umsonst. Nichts war umsonst, wenn es in ihm die Entschlossenheit anfachte. Vielleicht hatte er all diese Finsternis kennen lernen müssen, hatte sie gebraucht, um jetzt zu tun, was getan werden musste. „Es wird Zeit“, sagte er, als Deemon die Flügel für einen neuen Angriff spreizte. „Und Ihr seid Euch sicher?“, fragte Musyamon hinter ihm. „Ja. Mein DigiVice wird hier und heute aufhören zu leuchten.“ Er hob das DigiVice in die Höhe und aktivierte seine dunkle Macht. Violette Lichtwellen strahlten daraus hervor, die sie unten vor der Stadt hoffentlich gegen die hellen Mauern der Pagode sehen würden. Ken glaubte nicht an die Theorie, die er seinen Freunden vor wenigen Minuten erzählt hatte. Versucht bitte, mir zu verzeihen, dachte er. Ein letztes Mal. Aber wenn ihr es nicht könnt, bin ich euch auch nicht böse. „Ich bin so weit“, murmelte er, sein Hals war wie ausgedörrt. „So sei es“, brummte Musyamon. Die Schwertklinge fühlte sich kalt an in seiner Brust, aber der Schmerz währte nur ganz kurz.     „Da! Das ist da Licht! Ken hat angefangen!“, rief Davis plötzlich aus. Die anderen fuhren herum, sahen das violette Glühen auf dem Balkon der Pagode. Deemon war mittlerweile so nah, dass die verschwimmenden Weltengrenzen die ganze Front in verschwommene Finsternis tauchten. „Okay, macht euch bereit“, sagte Matt. Imperialdramon holte zum letzten Schlag aus. Die Schriftzeichen auf seinem Schwert glühten auf, allerdings nicht mehr so stark wie zuvor. T.K. hatte die Idee, sein DigiVice auf die Klinge zu richten. Es mochte zu wenig Energie haben, um Patamon die Digitation zu ermöglichen, aber vielleicht würde es dem geschwächten Imperialdramon helfen. Die anderen sahen, wie sich ein dünner Lichtstrahl aus seinem DigiVice in den Schwertknauf bohrte, und taten es ihm gleich. Dadurch digitierten ihre Digimon endgültig zurück, aber schließlich flackerten die Symbole in der Klinge wieder genauso wie bei Imperialdramons erstem Angriff. Kurz darauf erlosch Kens violettes Licht. Im gleichen Moment verwirbelten die Weltenspalten, die Deemon beschützten, und verschwanden. Es schwebte allein auf einer von vielen Attacken und Feuer verwüsteten Ebene. „Wie ist das möglich?“, stieß es aus, und zum ersten Mal schwang Erschrecken in seiner Stimme mit. „Los!“, brüllten Tai, Matt und Davis aus voller Kehle. Imperialdramon schickte mit einem gewaltigen Senkrechthieb eine helle Lichtsichel auf Reisen, dann glühte es in flackerndem Licht auf und digitierte zurück. Alle anderen Digimon, auf welchem Level auch immer, schleuderten Deemon ihre stärksten Attacken entgegen, selbst wenn es nur Tropfen im Meer von Imperialdramons Kräften waren. T.K. biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie schmerzten. Es musste dieses Mal einfach gelingen! Und das tat es auch. „Nein“, hörte man Deemon noch murmeln, doch es konnte nicht einmal ausweichen. Wie schon einmal zuvor überrollte Imperialdramons Angriff es mit blendender Helligkeit, doch diesmal sah T.K, wie schwarze Partikel nach allen Seiten spritzten. Ein unmenschlicher, dröhnend lauter Schrei ertönte, der sich schließlich in dem Krachen verlor, als die Lichtsichel weit in der Ferne einen weiteren Berg spaltete. Dann war es so still, dass T.K. sich wie betäubt fühlte. „Es ist vorbei“, flüsterte Kari. Sie wankte, als würde sie gleich ohnmächtig werden, doch ein glückliches Lächeln hatte sich auf ihr Gesicht gezeichnet. „Es ist vorbei! Es ist vorbei!“, wiederholte Yolei ihre Worte als Ruf. Die DigiRitter und ihre Partner brachen in Jubel aus. Die übrigen Digimon stimmten mit ein, aber nur für einen Moment: Eines nach dem anderen zuckten sie zusammen und sahen sich verwirrt um. Die Erde rumorte, aber nur ganz leicht. T.K. hatte zuerst Angst, dass sie doch noch nicht gewonnen hatten, doch dann erkannte er, was los war. Wie sich die DigiWelt damals nach dem Fall der Meister der Dunkelheit zurückverändert hatte, so geschah dasselbe nun nach Deemons Tod. Die Digimon erlangten endlich ebenfalls ihre Erinnerungen zurück, Erinnerungen an die frühere, wirkliche DigiWelt. Das Rumoren bedeutete wohl, dass auch die Landschaft, die Deemon verändert hatte, an ihren angestammten Platz zurückkehrte. In unmittelbarer Nähe geschah gar nichts; viel hatte es ja an der DigiWelt an sich nicht verwandelt. Aber all die Kleinigkeiten, mit denen Deemon sein Spiel aufpoliert hatte, mussten sich nun einrenken. Die allgemeine Verwirrung dauerte noch eine Weile an, aber die DigiRitter ließen die Soldaten, die plötzlich keine mehr waren, alleine. Ogremon schimpfte und spuckte, als es Tai und die anderen erkannte und bemerkte, dass es schon wieder gemeinsame Sache mit ihnen gemacht hatte. Agunimon überraschte sie alle, indem es eines der Ersten war, die plötzlich darüber lachten und sich bei den DigiRittern bedankten, in denen sie nun mehr sahen als nur in der DigiWelt aufgewachsene Menschen. Viele hatten von ihrem Sieg über MaloMyotismon gehört. „Wird wohl eine Menge Arbeit, nachzusehen, welche Teile der DigiWelt jetzt noch stehen und welche nicht. Ein wenig mehr Ordnung in meinem Kopf wäre auch schön“, meinte Agunimon zu Tai. „Das wird schon wieder“, erklärte dieser grinsend. „Es wird viel los sein in der Stadt des Ewigen Anfangs“, bemerkte Wizardmon und ließ den Blick über das ehemalige Heer schweifen. „Wir haben trotz allem einen hohen Preis bezahlt.“ „Aber wir haben eine Zukunft gewonnen“, erinnerte Frigimon es und legte ihm seine eisige Pranke auf die Schulter. „Das ist besser als nichts.“ Oikawa stand mit Arukenimon und Mummymon daneben und schien darauf zu warten, dass sein Körper sich auflöste. „Seltsam“, murmelte er irgendwann und rieb die Finger aneinander, als erwartete er, seine Haut abblättern zu sehen. „Die DigiWelt scheint sich weit genug erholt zu haben, dass meine Energie nicht mehr gebraucht wird. Kann das sein?“ „Theoretisch schon“, meinte Izzy, der ihn gehört hatte. „Ihre Energie war damals notwendig, um die DigiWelt wieder aufzubauen, aber ich schätze, mittlerweile kann sie sich von alleine regenerieren. Es funktioniert sicher so wie ein Serum in einem geschwächten Organismus.“ „Ich verstehe“, murmelte Oikawa. Cody lief zu ihm. „Das bedeutet, Sie können jetzt als Mensch die DigiWelt betreten und verlassen?“ Der Mann schenkte ihm ein breites Lächeln. „Im Moment sieht es danach aus. Offenbar hat mir diese fremde Welt, in die mich Myotismon damals geführt hat, doch noch einen zweiten Wunsch erfüllt.“ Da verbeugte sich Cody plötzlich förmlich. „Wenn das so ist, dürfte ich Sie dann einmal zu mir nachhause einladen? Ich weiß noch, dass mein Großvater gern mit Ihnen sprechen wollte.“ Oikawa sah ihn verwundert an, dann lächelte er erneut. „Ich freue mich sehr darauf, dieses Angebot anzunehmen.“ Cody wandte sich an Arukenimon und Mummymon. „Ihr könnt gern auch mitkommen.“ „Ich verzichte“, meinte Arukenimon sofort, das wieder menschliche Gestalt angenommen hatte, und verschränkte die Arme. „Das werden nur Gefühlsduseleien sein, die ihr da austauscht. Ohne mich.“ „A-Arukenimon!“, rief Mummymon. „Vielleicht sollten wir uns mehr mit solchen Gefühlsduseleien beschäftigen, um auch unsere Gefühle füreinander zu vertiefen …“ „Halt‘s Maul, du Blödmann“, fuhr die Spinnenfrau ihren Begleiter an. Cody und Oikawa lachten. Endlich, nach viel zu langer Zeit, lugte nun auch die Sonne zaghaft wieder über den Horizont, als wolle sie einen neuen Versuch wagen. Die DigiRitter waren die gefeierten Helden der Stunde, und nachdem sich Davis vergewissert hatte, dass es seinen Freunden und deren Digimon gut ging, machte er sich auf den Weg, um Ken zu suchen, damit auch dieser seine Lorbeeren abbekam.     Spadamon und Musyamon betrachteten die johlenden Digimon, die ihren Sieg auskosteten, aus der Ferne. Erstes graues Dämmerlicht tastete über die Reisfelder im Westen von Little Edo, wo sie beide auf einem der schmalen Wege standen. Eine Weile sah Musyamon noch auf die verbrannten Felder, auf denen nun Frohsinn und eine Zukunft gediehen. Dann wandte es sich mit einem Ruck um und ging weiter. Spadamon trippelte ihm hinterher. „Willst du mir noch länger folgen?“, fragte der Samurai. Unfassbar, dass er Daimyo und Fürst gewesen war. In seinem früheren Leben hätte er sich so etwas nie träumen lassen. Es war eine gewaltige Leistung, fand er. „Warum nicht?“ Spadamon ließ die Ohren hängen. „Ich werde wohl nicht mehr als Spion gebraucht.“ Musyamon schnaubte. Es klang wie ein Knurren. „Wenn du mich begleiten willst, erwartet dich ein hartes Leben. Diese Welt scheint keinen Bedarf mehr an Rittern oder Adligen zu haben.“ Und wenn sich andere Digimon daran erinnerten, was es alles getan hatte, war es vermutlich nirgendwo wirklich willkommen, wenn man es erkannte. Spadamon hatte nie lange schlechte Laune. „Das macht nichts. Solange es interessant ist und wir ab und zu etwas Süßes essen können. Man muss die Zuckerstücke im Leben herauspicken“, sagte es. „Weise Worte für einen solchen Zwerg“, kommentierte Musyamon. Sie gingen weiter. „Ich werde ihn allerdings vermissen“, meinte Spadamon plötzlich. „Der DigimonKaiser war eine beeindruckende Person“, murmelte das Kriegerdigimon. „Und er war weit weniger boshaft, als alle Welt glaubt. Lass uns sein Andenken in Ehren halten.“     Sie fanden Ken, als die ersten Strahlen der Sonne das Land berührten. Alle DigiRitter und ihre Digimon stießen auf dem Balkon der Pagode zu Davis, der sich über seinen besten Freund gebeugt hatte und ein lautes Heulen ausstieß. „Ich hätte es wissen müssen! Verdammt, ich hätte wissen müssen, was er vorhat!“ Dass Kens Schicksal ein zufälliger Racheakt eines wahnsinnigen Digimons war, glaubte niemand. Sein DigiVice lag neben ihm, genauso tot wie er selbst. Ein Spinnennetz aus hellen Rissen zierte das Display. An seinen DigiRitter gebunden, hatte es all seine Macht verloren, helle wie dunkle, als Kens Herz durchbohrt wurde. Jede Freude über ihren Sieg war wie weggewischt. Sie alle trauerten um ihren Freund, der alles gegeben hatte, um sie zu retten. Davis stieß eine Mischung aus schmerzerfülltem Knurren und Stöhnen aus, der Blick von Tränen verschleiert. Er weinte am lautesten. Tai fluchte unentwegt, drosch mit zusammengebissenen Zähnen gegen die Wand, bis seine Knöchel blutig waren. Matt stand verkrampft und betroffen da, Sora musste sich am Balkongeländer abstützen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Yolei und Kari hielten sich gegenseitig im Arm. „Warum hast du das gemacht? Es hätte doch wohl eine andere Lösung gegeben! Wie konntest du so tun, als würde damit alles gut werden?“ T.K.s Schultern bebten, als er hilflos Kens letzte Entscheidung verwünschte. Er wusste selbst, dass es vermutlich eben doch keinen anderen Weg gegeben hatte. Trotzdem konnte und wollte er Kens Tod nicht akzeptieren. Nicht nach alledem! Cody machte Ken ähnliche Vorwürfe, konnte die Tränen aber nicht zurückhalten. Izzys Gesicht war gequält, auch seine Augen schimmerten feucht. Willis schien gefasst, doch er konnte den Blick nicht auf Ken und das schreckliche, dunkle Loch in seiner Brust richten. Mimi presste sich an Michael und schluchzte laut, und er schloss sie bedrückt in die Arme. Joe lief auf dem Balkon hin und her, versuchte, noch irgendetwas für Ken zu tun, und brach dann verzweifelt in die Knie. Ihre Digimonpartner weinten ebenfalls, trauerten auf ihre Weise oder versuchten sie zu trösten, obwohl sie wussten, dass es vergeblich war. Auch Laura, Tatum, Steve, Mina, Yuehon und die Hoi-Brüder, die internationalen DigiRitter, machten betroffene Gesichter oder weinten. Chichos, die die Jüngste von ihnen war und Ken von früher kannte, versuchte durch wütendes Geschrei, mit ihrer Trauer fertig zu werden. Als Nadine Ken auf dem Balkon liegen sah, stieß sie einen Schrei aus und brach neben ihm zusammen. „Lügner!“, stieß sie weinend hervor. „Du verdammter Lügner!“ Oikawa stand daneben. Er schwieg, doch aus seinem Gesicht sprach derselbe Schmerz wie aus denen der anderen. Selbst Arukenimon und Mummymon störten die Trauer der DigiRitter nicht. Am allermeisten trauerte jedoch Wormmon. Es saß neben Kens Kopf, von Weinkrämpfen geschüttelt, und vergoss bittere Tränen. T.K. hatte nie jemanden gesehen, der so verzweifelt war. Von unten wehte immer noch das Lachen der Digimon zu ihnen herauf. Die ganze DigiWelt schien im Siegestaumel, und hier waren sie, die DigiRitter, die sie alle wieder einmal gerettet hatten und nun in einem Meer aus Trauer und Leid ertranken. T.K. glaubte nicht, dass irgendein Digimon dort unten um Ken trauern oder ihn auch nur als Helden feiern würde, selbst wenn sie ihre Erinnerungen zurück hatten. Zumindest niemand von seinen einstigen Feinden. Er sah wieder zu Ken, der ruhig dalag, von seinen Freunden umringt, und aus dessen Gesicht all die Anspannung, das Leid und die verzweifelte Verbitterung gewichen waren, die T.K. bei ihrer letzten Begegnung darin gesehen hatte. Du wirst vielleicht trotzdem immer als Feind angesehen werden, dachte er. Aber ich schätze, das hast du gewusst und bereitwillig hingenommen, oder, Ken? Epilog: Ein ewiges Lied ----------------------- Das sanfte Wellenrauschen hatte etwas Beruhigendes. Der Nebel über den trägen, dunklen Wogen war heute nicht ganz so dicht. Kühles Wasser kroch auf das schmale Atoll, umspülte Karis Knöchel. Die Luft war genauso salzig wie immer, doch in diesem Moment kam sie ihr frisch und belebend vor. Vor ihr funkelte etwas im ewigen Dunkelgrau des Meeres, in kaum einem halben Meter Tiefe; man konnte es gut von hier aus sehen. „Das ist er“, sagte T.K. neben ihr. Er trug sein Haar inzwischen länger, fast so lang wie Matt. „Ja“, sagte Kari nur. Der Schlüssel, den sie so lange gesucht hatten. Es war tatsächlich eher ein formloser Schemen, glitzernd und unberührt von den Gezeiten. Neben ihm schwammen die sechs überlebenden Schattenwesen in den Fluten. Sie hatten bei der Suche geholfen, obwohl Klecks seinen Bund mit Kari aufgelöst hatte. Wahrscheinlich würden sie aussterben. Nicht sofort, aber irgendwann in absehbarer Zeit. Daran ließe sich nichts ändern, meinten sie. Ihre Art wäre eben dazu bestimmt, zu verschwinden. Und da ihr Gott bereits fort war, hätten sie ohnehin keinen Grund, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Kari hatte es wehgetan, das zu hören, doch die Schattenwesen nahmen ihr Schicksal gleichmütig hin. „Bei Ebbe zieht sich das Wasser zurück, bei Flut steigt es wieder“, hatte eines von ihnen gesagt. „Nach uns wird eine neue Art kommen, die sich besser behaupten kann. Und vielleicht geschieht bis dahin noch irgendein Wunder.“ Dass es Wunder gab, daran wollte Kari ganz fest glauben. Zwei Jahre hatten sie gebraucht, um den Schlüssel endlich zu finden. Vielleicht lag es an den Schattenwesen oder an Deemons Tod, aber Izzy war es gelungen, ein dauerhaftes Tor zum Meer der Dunkelheit zu öffnen. Und unermüdlich hatten sie gesucht. Immer wieder hatte einer von ihnen die Hoffnung verloren, immer wieder hatte sich jemand gefunden, der ihm wieder Mut gemacht hatte. Und nun lag der rätselhafte Gegenstand vor ihnen im seichten Wasser. Sie drehte sich zu den anderen um. Alle waren heute hier: Davis, Yolei, Cody, Tai, Matt, Sora, Izzy, Mimi, Joe, Willis, Michael, Nadine, Keiko, Hiroshi, Takashi und ihre Digimon, sogar Oikawa, Lalamon, Arukenimon und Mummymon, und natürlich Wormmon. Sie alle standen auf diesem Atoll irgendwo in den Weiten des Meers der Dunkelheit und blickten Kari und T.K. erwartungsvoll an. „Mit diesem Schlüssel ist Deemon seinerzeit von hier geflohen und hinter die Feuerwand gelangt“, fasste Kari noch einmal zusammen, was sie alle wussten. „Wahrscheinlich funktioniert er wie ein Tor, und wir müssen ihn nur berühren.“ „Überlegt euch noch einmal alle gut, ob ihr wirklich mitkommen wollt“, sagte T.K. „Wenn das, was Deemon Ken erzählt hat, die Wahrheit ist, befindet sich hinter der Feuerwand ein höllischer Ort, der ihm alle Kräfte geraubt hat.“ „Und wir wissen nicht, ob wir je wieder einen Weg zurück finden“, fügte Kari leise hinzu. Diese Worte brachten die anderen nicht ins Wanken. Einige lächelten sogar; ob grimmig, vorfreudig oder erlöst, sie hatten keine Angst. „Mach dir keine Gedanken, Schwesterherz“, sagte Tai grinsend. Seine neue, kürzere Frisur war ebenso zerzaust wie seine alte Mähne, und gemeinsam mit seiner Augenklappe verlieh sie ihm etwas Wildes. „Wir sind uns alle bewusst, wie gefährlich es wird.“ Kari lächelte ihn kurz an, dann nickte sie T.K. zu. Er begegnete ihrem Blick voller Entschlossenheit. „Dann lasst uns gehen“, sagte sie. „In diesen geheimnisvollen Raum hinter der Feuerwand.“ „Von wo aus Deemon Zeit und Raum in der DigiWelt verformen und sogar Tote wieder zum Leben erwecken konnte“, ergänzte T.K. „Es wird sicher nicht leicht.“ „Das war es nie.“ Kari nahm seine Hand und zückte aus alter Gewohnheit ihr DigiVice. Auch die anderen fassten sich an den Händen. Sie würden alle gemeinsam gehen. Jeder würde dem anderen Mut machen. Die DigiRitter stiegen in die dunklen Fluten, wateten auf den Schlüssel zu, und dieses Mal ließ das kalte Wasser Kari nicht frösteln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)