The Wolves among us von UrrSharrador ("Die Werwölfe erwachen. Sie wählen ihr heutiges Opfer ... Die Werwölfe schlafen wieder ein." [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 4: Lynchjustiz ---------------------- ~ 4 ~   „Diesmal gibt es zwei Opfer. Es sind … Hinata und Naruto! Beginnt mit der Abstimmung.“   Das Bett war blutbesudelt, das einst weiße Laken starrte vor dunklen Flecken. Sakura hatte noch nie in ihrem Leben so viel Blut gesehen. Es schien Narutos zu sein; er lag gekrümmt auf der rechten Betthälfte, die Kehle ein breites, rotes Lächeln. Seine Augen starrten ins Leere wie Glasperlen, seine Haut war kreideweiß. Sein Unterhemd war einst hellgrau gewesen, nun hatte es eine grässliche, rotbraune Farbe. Neben ihm lag Hinata. Wären ihre Augen geschlossen gewesen, hätte man meinen können, sie hätte geschlafen, während Naruto gestorben war. Auch ihr Hals war verletzt, allerdings war nur wenig Blut zu sehen. Sakura war keine Fachfrau, aber es sah aus, als wäre sie mit etwas sehr Dünnem, Stabilem erdrosselt worden. Obwohl sie außer dem Kaffee nichts zu sich genommen hatte, rebellierte Sakuras Magen, und sie presste sich die Hand vor den Mund, als sie Galle auf ihrer Zunge schmeckte. „Nein!“ Ino stieß sie grob zur Seite und ließ sich neben Hinata zu Boden fallen. „Hinata! Naruto! Das … Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße! Warum konnte das passieren? Warum haben wir das nicht kommen sehen?“ Ihr Schrei weckte Sakura aus ihrer Starre, und sie heulte auf. Erst Neji, dann der Unfall mit Kiba … und nun Hinata, und Naruto, ihr bester Freund! Sie lagen hier, tot, während sie unten auf sie gewartet, vielleicht sogar schon, als sie noch friedlich geschlafen hatten … Sakura brach vor Narutos Betthälfte zusammen. Tränen strömten über ihr Gesicht. Nicht auch noch diese beiden! Warum? Wer tut so etwas? Binnen zwei Tagen sollte nur noch die Hälfte ihrer Gruppe am Leben sein? So hatte sie sich diesen Urlaub nicht vorgestellt, ganz sicher nicht! Sie hatte es längst aufgegeben, auf ein Erwachen aus diesem Albtraum zu hoffen. Selbst wenn sie den Tod all ihrer Freunde nur träumte, würde sie auf ewig in diesem Traum gefangen sein. Nur ihr eigener Tod würde sie vermutlich retten. In diesem Moment zog sie sogar in Erwägung, sich einfach auch die Klippe hinunter zu stürzen. Tenten kam mit wackeligen Beinen näher. Sie war weiß wie die Wand und murmelte irgendetwas vor sich hin. „Verdammt“, murmelte auch Sasuke leise. „Verdammt?“, fuhr Ino ihn an. „Ist das alles, was dir dazu einfällt? Es ist schon wieder jemand von uns gestorben – zwei sogar!“ „Das sehe ich.“ Sasuke hob herausfordernd die Augenbrauen. „Und ich habe auch gesehen, wie du gestern um das Haus herumgeschlichen bist. Willst du uns nicht sagen, was du wirklich dort draußen getan hast?“ Ino schnappte empört nach Luft. „Was zum … Das stimmt doch gar nicht!“ „Dann hat wohl heute Nacht ein Geist angeklopft und mich gebeten, ihn rein zu lassen?“ „Was redest du da überhaupt? Versuchst du mir hier was in die Schuhe zu schieben?“, zischte Ino. „Ich war die ganze Zeit in unserem Zimmer! Wie hätte ich denn überhaupt nach draußen kommen sollen? Falls du die Tür ordentlich bewacht hast, heißt das.“ „Hört schon auf“, schluchzte Sakura. „Ich bin es leid, dass wir uns ständig gegenseitig beschuldigen. Habt ihr vergessen, was letztes Mal passiert ist?“ Sie schüttelte sich. Was geschah hier? Vor wenigen Stunden noch hatten sie überlegt, wie ein Killer zuschlagen könnte. Dass es unsicher war, allein zu schlafen, wenn sich jemand ins Haus schlich oder der Wächter ein Mörder war. Dass es unsicher war, zu zweit zu schlafen, wenn der Zimmerkamerad sich als Mörder entpuppte. Aber diese grausige Szene warf alle Überlegungen über den Haufen und verarbeitete sie zu Kleinholz. Beide waren tot. Es war nicht etwa einer von ihnen ein Mörder, Hinata und Naruto waren definitiv beide tot. Schweigen breitete sich aus. Tenten, die Fäuste geballt, ging zum Fenster auf der rechten Seite des Raumes. „Seht mal“, sagte sie düster. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Sakura war aufgefallen, dass es recht kühl war, aber sie hatte dem Raum noch keine Beachtung geschenkt. Etwas mehr als einen Meter unter dem Fenster lag der Geräteschuppen. Im Wellblech, das ihn bedeckte, war eindeutig eine kleine Delle zu sehen. „Der Mörder ist durch das Fenster geflohen“, sprach Tenten das Offensichtliche aus. „Er ist hinausgesprungen, auf den Schuppen, und dann vermutlich auf den Boden.“ „Der Schuppen ist gute zwei Meter hoch“, sagte Ino. „Wenn er da hinuntergesprungen ist, hat er sicher Abdrücke im Gras hinterlassen, oder er hat sich sogar dabei verletzt … Vielleicht finden wir eine Spur, vielleicht erwischen wir ihn irgendwo im Wald!“ Sie wollte nach draußen laufen, doch Sasuke packte ihr Handgelenk. „Es wäre dumm, jetzt loszurennen“, sagte er drohend. „Außerdem bist du mir eine Antwort schuldig geblieben.“ „Fängst du schon wieder damit an?“, fauchte Ino ihn an. „Ich war nicht im Freien, zum Teufel noch mal!“ „Wir haben draußen etwas gehört“, warf Sakura ein. „Bist du sicher, dass es Ino gewesen sein soll?“ „So sicher, wie ich hier stehe.“ „Ach?“, machte Ino mit hohntriefender Stimme. „Und du bist nicht zufällig selbst draußen herumgeschlichen? Naruto hatte nach mir Wache. Ich hab ihm das Gewehr gegeben. Nach ihm warst du dran – seltsam, oder? Du hattest die perfekte Gelegenheit. Du könntest ihn bei der Wachablöse hinterrücks angegriffen haben, oder du hast dich während deiner Wache hier ins Zimmer geschlichen, was von beiden war’s?“  „Schalt doch mal dein Hirn ein“, knurrte Sasuke. „Wenn es meine Wache gewesen wäre, warum hätte ich dann durchs Fenster springen sollen? Ich hätte doch einfach wieder die Treppe hinunterspazieren müssen. Außerdem, glaubst du, ich hätte beide töten können, ohne dass sie zumindest schreien?“ Sakura warf einen Blick auf die beiden Leichen. Immer noch fand sie es eine schreckliche, tieftraurige Tragödie, die Gesichter der beiden leblos und von Entsetzen gezeichnet zu sehen, aber hinter all dem Schmerz lauerte bereits eine Wand aus Gleichgültigkeit, ein Schutzwall, den ihr Verstand ausfahren wollte. Sakura stumpfte ab. Vielleicht war das notwendig, um in diesen irren Bergen nicht wahnsinnig zu werden, aber Sakura wollte es nicht. Sie wollte weiterhin um ihre Freunde trauern können, den Schmerz spüren. Sonst, das wusste sie, hätte sie etwas davon verloren, was einen Menschen ausmachte, und sich unwiederbringlich verändert. „Können wir das vielleicht draußen besprechen?“, fragte sie mit erstickter Stimme. „Wartet noch.“ Tenten war an Naruto herangetreten und berührte ihn vorsichtig. „Was machst du da?“, rief Ino entsetzt. „Die Leichenstarre ist noch nicht sehr ausgeprägt, soweit ich das sagen kann“, murmelte die junge Frau, die bereits jegliche Hemmungen verloren zu haben schien. „Ihr Tod ist noch nicht lange her.“ Sakura schluckte. „Lass ihn los.“ Als Tenten weiterhin versuchte, Narutos Arme und Kopf zu verdrehen, sagte sie schärfer: „Lass ihn zufrieden!“ Es schien ihr falsch, ihn anzufassen. Alles hier war falsch; es war falsch, dass die beiden hier tot vor ihnen lagen, und es war falsch, dass Tenten an ihnen herumwerkte! Die Ohnmacht und die Angst schwenkten in Ärger um, dem sie ein Ventil geben konnte. Tenten machte Anstalten, auch noch Hinatas Glieder zu verrenken, und Sakura stieß sie grob weg. „Du sollst das bleiben lassen, hab ich gesagt!“ Tenten starrte sie an, als wäre ein Wutausbruch das Letzte gewesen, das sie von Sakura erwartet hatte. „Ich versuche doch nur, den Mörder zu finden!“, rechtfertigte sie sich. „Hast du da etwa was dagegen?“ Ihre Augen blitzten kampfeslustig. Sakura war für den Moment sprachlos. „Wenn die Polizei kommt, wird sie den genauen Todeszeitpunkt schon feststellen“, sagte Ino schnell und warf Sasuke einen abschätzigen Blick zu. „Dann wissen wir ja, während wessen Wache es passiert ist.“ „Oder wir sind bis dahin alle tot.“ Tentens Miene wurde von Sekunde zu Sekunde düsterer, je länger sie in diesem Raum blieben. Wahrscheinlich war es kein Wunder. Sakura entdeckte etwas neben dem Bett, auf Hinatas Seite. Auf dem Boden war ein scheinbar leeres Wasserglas zerschellt, das vom Nachtkästchen gefallen sein musste. Daneben lag Hinatas Smartphone. Das Glas war zu einem feinen Spinnennetz zersprungen, aber ansonsten war das Gerät intakt. Sakura hatte irgendwie gehofft, die Zeitanzeige darauf wäre in dem Moment stehen geblieben, in dem das Handy zu Boden gefallen war. Als sie sich danach gebückt hatte, war ihr noch etwas aufgefallen. Halb unter dem Bett lag ein zerknülltes Blatt Papier. Sofort griff sie danach. Sie konnte nicht glauben, dass es zufällig hier lag – nichts in diesem Raum war zufällig. Vielleicht eine Nachricht von Hinata oder Naruto? Es war eine Nachricht des Mörders, zusammengesetzt aus kleinen Sternchen, die mit einem Kugelschreiber gezeichnet worden waren – keine Chance, eine Handschrift zu erkennen. Fehlen noch 2. Sakura lief es zum wiederholten Male eiskalt den Rücken runter. Tatsächlich. Es hatte schon bei der Entdeckung der jüngsten Leichen keinen Zweifel mehr daran gegeben, aber nun war es offiziell. Die Mörder lebten noch. Kiba war ein unschuldiges Opfer gewesen. Vielleicht wollte man sie tatsächlich gegeneinander aufstacheln, aber falls nicht … die Auswahl wurde immer kleiner, und wenn man annahm, dass zwei hier im Raum gegen die anderen arbeiteten, dann ließen sich die Morde tatsächlich einfacher erklären. Immerhin – ein Außenseiter hätte sich heute Nacht keinen Zutritt zu diesem Haus verschaffen können. Es musste einfach jemand von ihnen gewesen sein! Oh, verdammt! „Was hast du da?“ Tenten riss ihr den Zettel aus der Hand. „Fehlen noch 2? Die Bastarde geben es auch noch zu! Sie wollen uns alle umbringen!“ Ino und Sasuke waren immer noch damit beschäftigt, zu streiten. Mittlerweile pochte Sakuras Herz so schnell, dass sie gar nicht mehr versuchte, die beiden zu trennen. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt. Wie hatte sie es nur nicht sehen können? Einer von ihnen war der Täter. Zwei sogar, wenn die Nachricht stimmte. In der ersten Nacht hatte jemand das Telefon im Wohnzimmer manipuliert und die zweite Drohung darin platziert. Dafür musste er zumindest an Sasuke und Naruto vorbeigekommen sein. Und in dieser Nacht hatte immer einer von ihnen Wache gehalten – theoretisch jedenfalls. Jeder von ihnen hätte die Gelegenheit gehabt, Naruto und Hinata zu ermorden, außer denjenigen, die vor Naruto Wache geschoben hatten. Das ließ nur noch wenig Spielraum zu … „Naruto hat sich in der Nacht Reis gebraten, hast du gesagt“, sagte Sasuke soeben. „Von der Küchenzeile aus sieht man die Eingangstür, aber nicht den Flur. Du könntest dich an ihm vorbeigeschlichen haben, als er gerade mit Kochen beschäftigt war. Dann hast du Hinata ermordet, auf Naruto gewartet und auch ihn getötet, bist aus dem Fenster gesprungen und dann durch die Eingangstür spaziert. Du kannst nicht leugnen, dass das möglich wäre.“ „Klar, weil ich ja die ganze Nacht warten würde, ob Naruto nicht vielleicht rein zufällig auf die Idee kommt, sich mal kurz was zu essen zu machen“, spottete Ino. „Jaja, ich weiß, du hältst ihn nicht für besonders helle, aber er würde nie so lange in der Küche verschwinden, ohne nicht ab und zu in den Flur zu spähen! Wieso bist du so fixiert auf mich?“ „Dir gehört das Haus. Allein das macht dich verdächtig“, mischte sich Tenten ein. Ino lachte trocken, fast hysterisch auf. „Jetzt macht aber mal ‘nen Punkt, ja? Das Haus ist so klein, dass auch jeder, der zum ersten Mal hier ist, sich sofort zurechtfindet. Wenn ihr mich schon beschuldigt, dann bringt wenigstens irgendwelche Beweise vor!“ Sie hielt abwechselnd ihr Messer in Tentens und Sasukes Richtung. „Ich warte!“ Tenten war zurückgewichen. Vermutlich ging ihr erst jetzt auf, dass sie als Einzige in diesem Raum unbewaffnet war. „Nimm das runter“, murmelte sie. „Du benimmst dich wie Kiba.“ „Wer sagt, dass Kiba nicht unschuldig war? Und du hast ihn über die Klippe gestoßen!“ Ino streckte das Messer nach Tenten aus, die sich auf die Unterlippe biss. „Und ich verrate euch noch was. Als ich heute Morgen aufgestanden bin und Frühstück machen wollte, was habe ich da vor der Tür angetroffen?“ Tenten öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Ino redete einfach weiter. „Richtig! Eine seelenruhig schlafende Tenten! Du hast so schön gepennt, dass du fast vom Stuhl gefallen wärst – oder hätte ich das nicht verraten sollen?“ Tenten schnappte nach Luft und lief rot an. „Ich … Das war …“ „Jaja, ich weiß schon. Der Tag war anstrengend, und du hast sowohl die erste als auch die letzte Wache übernommen. Zumindest scheinst du bei der ersten alles richtig gemacht zu haben – oder hat sie da auch geschlafen, Sakura?“ Sakura brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie gemeint war. „Äh, nein. Sie war wach.“ „Wenigstens etwas. Aber da war Naruto noch am Leben, und Hinata höchstwahrscheinlich auch!“ Tenten schluckte. „Worauf willst du hinaus?“, murmelte sie kleinlaut, obwohl ihr klar sein musste, was Ino meinte. „Während du geschlafen hast, hätte sich jeder hier raufschleichen und die beiden im Schlaf töten können. Das ganze Wacheschieben war für die Katz!“ „Ich habe nicht lange geschlafen!“, protestierte Tenten. „Höchstens ein paar Minuten! Und wenn jeder die Gelegenheit gehabt hätte, schließt das dich mit ein, Frau Frühaufsteher!“ „Wie gesagt, ich glaube nicht, dass ein einzelner Angreifer beide hätte töten können, auch nicht im Schlaf“, sagte Sasuke. „Hinata ist erwürgt worden, allein das braucht Zeit.“ „Dann ist das der Beweis, dass die Angreifer zu zweit sind“, sagte Ino. „Es würde eine Menge erklären.“ „Ich habe Narutos Leiche überprüft“, sagte Tenten und zwang sich zur Ruhe. „Ja, das habe ich gesehen. Schon mal was von Totenruhe gehört?“ „Es ist nicht mal eine Stunde her, seit du mich geweckt hast; wenn jemand diesen Moment genutzt hätte, gäbe es noch keine Leichenstarre!“ „Du kannst behaupten, was du willst, du hast schließlich als Einzige diese angebliche Leichenstarre bemerkt“, zischte Ino. „Dann sieh dir die beiden doch selbst an!“ „Niemand rührt die beiden an!“, rief Sakura dazwischen. „Das reicht jetzt wirklich! Wir überlassen das der Polizei, und fertig!“ „Du scheinst nicht zu verstehen, Sakura“, erwiderte Sasuke. Er hob kaum merklich die Spitze seines Messers, und man spürte immer deutlicher die Spannung, die in der Luft lag. „Wir können nicht einfach warten. Ino ist die Täterin. Ich bin mir sicher. Sie wird uns auch noch töten, wenn sie die Gelegenheit dazu hat.“ „Ich bin Sasukes Meinung“, erklärte Tenten und stellte sich neben ihn. Vielleicht hatte sie gemerkt, dass ihr gar nichts anders übrig blieb, als für eine Seite Partei zu ergreifen. Die Messer waren blitzend scharf und spitz. „Kiba hatte euch beide schon in Verdacht“, murmelte Ino düster. „Und ihr habt ihn mehr oder weniger zum Schweigen gebracht. Oder bist du nur auf Sasukes Seite, weil er nach der ersten Nacht für dich ausgesagt hat, Tenten?“ „Vielleicht spielt das auch eine Rolle, immerhin weiß ich, dass er in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt hat. Und was er sagt, klingt logisch“, sagte die andere Frau. „Gib’s zu, Ino. Ich habe dich heute Nacht gesehen. Du hattest auch Gelegenheit, den Zettel im Satellitentelefon zu verstecken“, fügte Sasuke hinzu. „Ihr verdammten Lügner“, stieß Ino hervor. „Und was ist mit Neji? Glaubt ihr, ich hätte ihn alleine und in einen verdammten Teppich gewickelt bis zum See schleppen können? Und wie bin ich eurer Meinung nach an den Autoschlüssel gekommen, den er angeblich im Wohnzimmer abgelegt hat? Das Ganze stinkt doch zum Himmel!“ Beide Messerspitzen zeigten nun aufeinander. Ino sah aus, als würde sie bald auf Sasuke losgehen, und Sasuke sah aus, als würde er das begrüßen. Hört doch auf, dachte Sakura. Ist in diesem Zimmer nicht schon genug Blut geflossen? Doch sie brachte diese Worte nicht hervor. In ihrem Kopf drehte sich alles. Ihr war übel, und sie hatte das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen. Irgendetwas stimmte hier nicht, etwas Verdrehtes, Verkehrtes war hier im Gange, doch ihre Gedanken waren zu sehr von Blut und Entsetzen belegt, als dass sie herausfinden könnte, was. „Sakura, komm hier herüber“, sagte Sasuke. „Man kann ihr nicht trauen.“ „Sakura, lass dich bloß nicht von ihren Worten einlullen!“, warnte Ino. Sakura sah auf. Wie war das? Sie musste sich also zwischen einem der beiden Lager entscheiden? Zwischen ihren Freunden? „Sasuke war nach Naruto für die Wache eingeteilt“, sagte Ino. Ihr Atem ging schnell. „Tenten hat gleich in seiner Nähe im Gästezimmer geschlafen. Die beiden hatten mehr als genug Gelegenheit, Hinata und Naruto zu überraschen und sich eine Geschichte auszudenken, in der ich angeblich als Todesfee ums Haus geschlichen bin!“ „Das bist du auch“, beharrte Sasuke und klang nun zornig. „Ich habe um vier Uhr Naruto abgelöst, und zwanzig Minuten später bist du vor der Tür gestanden.“ Da fiel es Sakura wie Schuppen von den Augen. „Nein“, hauchte sie. Durch ihre Hand, die das Messer hielt, ging ein Zucken. „Du bist es, Sasuke.“ Seine Augen wurden schmal. „Wie war das?“ Jetzt trat sie näher, stellte sich an Inos Seite. „Ino kann gar nicht um diese Zeit vor der Tür gewesen sein. Sie war bei mir im Zimmer, wir waren wach und haben geredet!“ Ino sah Sakura dankbar an. Tenten zuckte zusammen und sah zwischen den anderen dreien hin und her, doch sie fing sich schnell. „Das habt ihr euch ja fein ausgedacht“, sagte sie böse. „Warum sollten wir dir glauben? Du warst bisher immer seelenruhig, hast nur zugesehen, während wir einander beschuldigt hatten!“ „Ich habe immer wieder versucht, euch zu trennen, aber es hört ja niemand auf mich!“, brauste Sakura auf. „Dann steckt ihr offensichtlich unter einer Decke.“ Sasuke seufzte. „Das hätte ich nicht von dir gedacht, Sakura.“ „Was ist denn das für eine Einstellung?“, empörte sich Sakura, die spürte, wie der Streit und der Misstrauensstrudel sie mehr und mehr erfasste. „Was ist mit dir und deinen Anschuldigungen?“ „Ich hätte es wissen müssen.“ Tenten ballte die Fäuste. „Jeder, der in einem Zweierzimmer schläft, ist doch automatisch verdächtig!“ „Du meinst, so verdächtig wie diese beiden?“ Ino nickte in Narutos und Hinatas Richtung. „Wahrscheinlich hatten wir einfach Glück, dass ihr nicht in unser Zimmer gekommen seid, was? Ich hätte euch beide nie hierher bringen dürfen!“ „Jetzt ist das Maß voll!“, spie Tenten ihr entgegen. „Leg das verdammte Messer weg, dann sehen wir ja, wie mutig du bist!“ „Kein Interesse“, höhnte Ino. „Sasuke, du legst das Messer weg. Wir sind zwei gegen einen. Wir fesseln euch beide und lassen euch hier zurück. Soll die Polizei entscheiden, was mit euch geschieht.“ Ja, bitte, ergebt euch doch einfach, dachte Sakura. In ihrem Kopf drehte sich alles, als wäre sie betrunken. War das der Schlafmangel? Nein, wohl eher psychische Erschöpfung. Seit gestern tat sie nichts als grübeln, grübeln, grübeln. Und daran zu verzweifeln, dass absolut nichts, was sie sagte oder tat, ihre Lage verbessern konnte. Sasuke, wie konntest du? Wir haben dir vertraut! Wir hatten gehofft, dass du noch derselbe bist, als du nach so langer Zeit zurückgekommen bist. Was waren wir doch dumm. „Wenn ich mich ergeben soll, versuch doch, mir das Messer abzunehmen“, sagte Sasuke überheblich. „Aber glaub nicht, dass ich mich nicht wehre. Ich werde auch mit euch beiden fertig.“ In Inos Augen blitzte eine Wut auf, die Sakura nicht gefiel. „Tu, was sie sagt, Sasuke!“, rief sie hysterisch. „Das ist doch alles lächerlich!“ Sasuke blieb stur. „Leg. Das. Messer. Weg.“ Inos Stimme wurde schrill. „Sasuke, komm, wir hauen ab!“, rief Tenten. Sakura hoffte inständig, dass niemand durchdrehte, obwohl sie spürte, dass sie selbst am Limit war. Sasuke ist ein Lügner … Wie gefährlich ist Tenten? Ich kann keinem von beiden trauen. „Wenn du willst, dass ich das Messer weglege, musst du mir wohl die Hand abschneiden“, provozierte sie Sasuke. „Wie du willst“, zischte Ino kaum hörbar und schoss davon wie eine Pistolenkugel. „Nein!“, keuchte Sakura, doch ihre Hand griff ins Leere. Tenten wollte hinzustürzen, aber Sasuke stieß sie weg. Sakura widerstand dem Impuls, das Gesicht in den Händen zu vergraben. Zwei Körper prallten gegeneinander, zwei Klingenspitzen stießen in Fleisch, eine knirschend, eine schmatzend. Inos Schrei gellte misstönend durch das Haus, Sasukes Knurren war der Bass. Sakura wusste nicht, wer wen wo getroffen hatte, dann sah sie das Blut zu Boden tropfen. Tenten sog scharf die Luft ein. Mit erhobenen Fäusten sprang sie auf die beiden zu, aber Sakura schnitt ihr den Weg ab, das Messer drohend erhoben. „Zurück!“, keuchte sie. Tenten öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann hob sie nur entwaffnend die Hände und wich zurück, bis sie gegen die Wand stieß. Sakura ging tiefer in den Raum hinein, um sie im Auge zu behalten und einen Blick auf Sasuke und Ino zu werfen. Es graute ihre davor, genau zu erkennen, was geschehen war. Noch mehr Blut platschte in die Pfütze, die sich zwischen den beiden bildete. Sasuke hustete, und als er das nächste Mal Luft holte, begleitete ein grässliches Rasseln den Atemzug. Ino wich zurück, wimmernd, sank auf das Fußende des Bettes. Sasukes Messer hatte eine breite Wunde in ihre Hüfte geschlagen, aus der sich frisches Blut ergoss. Sasuke hatte es schlimmer erwischt. Das eigene Messer immer noch in der Hand, griff er mit zitternden Fingern nach dem Messergriff, der aus seiner Brust ragte, nahe des Brustbeins. Mit einem schmerzerfüllten Keuchen, das eher ein Blubbern war, zog er es heraus. Rosa Schaum bildete sich um seine Wunde und drang aus seinen Mundwinkeln. Sein Brustkorb hob und senkte sich asymmetrisch; der rechte Lungenflügel schien den linken verdrängen zu wollen. Mit beiden blutigen Klingen in den Händen, trat Sasuke drohend auf Ino zu, die die Hand in die verletzte Seite presste und das Gesicht verzerrte. „Ino!“, schrie Sakura panisch, baute sich vor ihrer Freundin auf und hielt Sasuke ihr eigenes Messer unter die Nasenspitze. So weit ist es also mit unserer Freundschaft gekommen. Jetzt bedrohen wir uns gegenseitig mit Messern. „Aus … dem … Weg, oder ich töte dich“, stieß Sasuke kalt hervor. Mehr Bläschen vor seinem Mund. „Das alles … endet jetzt!“ „Ja“, murmelte Sakura unter Tränen. „Es ist vorbei.“ Sie senkte das Messer – und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn. Als sie gegen ihn prallte, hörte sie die Haut auf seiner Brust knistern. Sasuke konnte das Gleichgewicht nicht behalten und schlug hart auf dem Boden auf. Ein Messer entglitt ihm, das andere trat Sakura aus seiner Hand. Er ächzte rasselnd. Der Schaum vor seiner Brust zog sich bei jedem seiner unregelmäßigen Atemzüge zurück und quoll wieder hervor. Sakuras Kopf war wie mit Nebel gefüllt. Was hatte sie nur getan? Sie wusste, sie hatte Ino wahrscheinlich das Leben gerettet, und dennoch … Es war einfach alles zu furchtbar. Wer oder was hatte da von ihnen allen Besitz ergriffen? „Ihr seid ja beide wahnsinnig!“ Tenten schnappte sich eines der Messer. „Bleibt mir vom Leib, alle beide!“ Sakura sah, dass Ino sich aufgerappelt hatte. Sie knickte beinahe ein, und ein alarmierend starker Blutstrom lief an ihrem Bein hinab. „Gib auf, Tenten“, keuchte sie. „Wir sind zu zweit. Du kannst nicht gewinnen. Es ist aus. Der Spuk ist vorbei.“ „Gehörst du zu ihm?“, fragte Sakura und deutete auf Sasuke, der sich immer noch am Boden krümmte. Es tat ihr weh zu hören, wie es ihm schwerer und schwerer fiel, Atem zu schöpfen. „Verdammt, ich weiß doch selbst nicht, was hier los ist!“ Tenten klang plötzlich weinerlich. „Sasuke war der Mörder? Oder seid ihr die Verrückten? Ich weiß nicht mehr, was was ist!“ „Es hat keinen Sinn, Sakura“, ächzte Ino. „Sie wird es uns nicht sagen. Vielleicht wollte Sasuke … uns tatsächlich nur gegeneinander ausspielen und hatte gar nicht damit gerechnet, dass sie sich … auf seine Seite schlagen würde. Oder sie waren tatsächlich von … Anfang an ein Killerpaar … wie Kiba gesagt hat.“ „Unsinn!“, rief Tenten. „Ich habe niemanden umgebracht, ich schwör’s!“ „Niemanden außer Kiba“, sagte Sakura düster. Der nächste Stich in ihrem Herzen. Sie hatte es nicht bemerkt, aber sie hatte bereits all ihre Freunde verloren. Die einen durch eine Reihe grausamer Tode, die anderen, weil sie ihnen einfach nicht mehr vertrauen konnte. Tenten biss die Zähne zusammen, haderte mit sich selbst, dann stieß sie ein gutturales Stöhnen aus, schleuderte das Messer von sich und stürmte aus dem Zimmer. Sakura hörte sie die Treppe hinunterrennen, dann wurde die Tür aufgestoßen. „Sie … sie wird …“ Ino keuchte auf, ging in die Knie und presste die Hand auf ihre Wunde. „Ino!“ Sakura brauchte nur einen Blick auf die Verletzung zu werfen, um zu wissen, dass höchste Eile geboten war. Wenn sie Inos Hüfte nicht schnell verband, würde Ino verbluten … und wenn der Stich irgendwelche wichtigen inneren Organe getroffen hatte, war wohl selbst das nutzlos. Sie warf einen Blick auf Sasuke, dessen Atmung ruhiger geworden war. Er schien kaum noch bei Bewusstsein. Ein weiterer Blick galt den beiden Toten auf dem Bett. Dieses Zimmer war ein einziger Albtraum. Das Ende eines jungen Paares, das Ende einer tiefen Freundschaft, das Ende jeglichen Vertrauens, das Sakura je wieder für einen anderen Menschen würde empfinden können. Und sie hatte das Gefühl, selbst daran mitgearbeitet zu haben, dieses Vertrauen zu zerstören.   Tenten stieß tief die Luft aus und lehnte sich grinsend zurück. „Jetzt wird’s haarig. Darf ich eigentlich auch aussteigen?“ Die anderen lachten. „Natürlich nicht. Niemand verlässt das Dorf, es sei denn, er wird explizit verbannt“, erinnerte sie Sphinx. „Willst du abhauen, weil du ein Werwolf bist?“, feixte Ino. Sakura dachte angestrengt nach. Sie waren nur noch zu dritt – aber welche Karten waren noch im Spiel? Die Hexe? Die Seherin war vermutlich tot – oder sie kümmerte sich nur um ihr eigenes Überleben. Es war schließlich kompliziert für sie, ihre Stärken auszuspielen, wenn geheim blieb, welche Karten die Toten gehabt hatten. Wahrscheinlich war Neji die Seherin gewesen. Dann war es ein lästiger Zufall, dass er als erstes Opfer ausgewählt worden war. „Von wegen! Wenn ich ein Werwolf wäre, hätte ich so gut wie gewonnen. Immerhin wäre ich dann jetzt wieder am Zug.“ Tenten beäugte Ino und Sakura über den Rand ihrer Karte. „Und genau das macht mir Sorgen.“ „Nachdem wir Sasuke gelyncht haben, gibt es nur mehr einen Werwolf“, sagte Ino. „Und ich glaube, dass die Hexe noch lebt. Der verbleibende Wolf ist also im Nachteil.“ Da hatte sie nicht Unrecht. Sakura kratzte sich an der Nasenspitze. Die Hexe hatte ihre Fähigkeiten noch nicht ausgespielt. Bisher war in jeder Nacht jemand gestorben, in der letzten sogar zwei auf einmal. Sakura glaubte aber nicht, dass das dem Gifttrank der Hexe zuzuschreiben war. Da nur noch sie, Ino und Tenten übrig waren, war es viel wahrscheinlicher, dass Hinata und Naruto das Liebespaar gewesen waren. „Das Liebespaar stirbt immer gemeinsam, oder? Bei Tag wie bei Nacht?“, fragte sie Sphinx. „Genau. Wenn der eine stirbt, stirbt der andere automatisch an gebrochenem Herzen.“ „Das waren Hinata und Naruto, eindeutig“, meinte auch Tenten. Sie schien zu demselben Schluss gekommen zu sein wie Sakura. „Das heißt, es gibt noch einen Dorfbewohner, einen Werwolf, und die Hexe mit beiden Tränken. Sie kann jeden Trank nur einmal benutzen, oder? Auch gleichzeitig?“ „Genau, die Hexe hat genau einen Heil- und genau einen Gifttrank. Sie kann sie nach Belieben einsetzen, aber nur nachts, und sie kann auch beide Tränke in derselben Nacht aufbrauchen.“ „Und die Hexe sieht jedes Mal das Opfer der Werwölfe“, erinnerte sich Sakura. Sie strich mit dem Finger über ihre Dorfbewohner-Karte. Wer auch immer von den beiden anderen die Hexe war, sie war so schlau gewesen, ihre Tränke aufzubewahren. Jetzt konnten sie den verbleibenden Werwolf in die Ecke drängen. Die anderen beiden dachten dasselbe, das sah sie ihren Gesichtern an. Wenn die Nacht hereinbrach, würde der Werwolf den Dorfbewohner oder die Hexe als Opfer wählen. Egal, welche von ihnen es war, die Hexe konnte sie retten. Und wenn das Opfer nicht sie selbst war, wusste die Hexe dann automatisch nach dem Ausschlussprinzip, wer der Werwolf war. Und den konnte sie dann mit dem Gifttrank zur Strecke bringen, noch bevor die nächste Abstimmung stattfand! Das bedeutete, in der nächsten Nacht würde es sich entscheiden. Wenn jemand anderes als Sakura starb, war das der Werwolf. „Der Werwolf kann sich nicht selbst als Opfer aussuchen, oder?“, fragte sie sicherheitshalber nach. Sphinx lächelte sein rätselhaftes Lächeln. „Wenn ihr wollt, können wir das in einem späteren Spiel so einrichten. Für den Moment darf er das jedenfalls nicht.“ Sakura lächelte. Das Spiel war so gut wie gewonnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)