Masquerade, Masquerade von UrrSharrador (Ahh!! It’s Halloween …) ================================================================================ Kapitel 6: The spirits will arise --------------------------------- Keuchend und schwitzend erreichten Ken und Izzy die Mauer des Gebäudes, das sie ins Auge gefasst hatten. Die Feuerleiter wand sich erst etwa im dritten Stock um die Front und begann in Wahrheit irgendwo in der Gasse daneben. Die beiden DigiRitter schoben sich an den letzten kopflos herumrennenden Geistern vorbei und taumelten in die Häuserschlucht. „Da vorne“, sagte Ken und steuerte die rostige Eisentreppe an, die hinter ein paar Mülltonnen den Boden erreichte. „Wenn wir da oben sind, sind wir ein leichtes Ziel“, keuchte Izzy, der eine viel schlechtere Kondition als der ehemalige Fußballspieler hatte. „Du meinst, sie schießen auf uns?“ „Wir sollten zurückgehen und die anderen in der Menge suchen!“ „Ich glaube nicht, dass wir sie so einfach finden.“ Ken war schon halb an den Mülltonnen vorbei. Izzy mochte vielleicht recht haben, aber er machte sich große Sorgen um die anderen – und nicht, weil ein offensichtlich Wahnsinniger in der Gegend herum ballerte. Der hatte schließlich hundert andere Ziele, auf die er schießen konnte, und er war vielleicht immer noch in dem Gebäude gegenüber und würde sie vielleicht gar nicht sehen, wenn sie hoch oben auf der Feuerleiter waren. Nein, gefährlicher war das LadyDevimon. Yolei und Kari hatten damals gegen eines gekämpft, und Yolei hatte die Sache ziemlich aufgewühlt. Es war der schlimmste Digimonkampf ihres Lebens gewesen, hatte sie gesagt, als sie ihm die Geschehnisse einmal in aller Ausführlichkeit beschrieben hatte. Er wusste nicht, ob dieses rote LadyDevimon hier so grausam war wie seine schwarze Artgenossin, aber es würde sicher ein Lillymon erkennen, wenn es eines sah. Ken hatte das Gefühl, dass Mimi wie auf dem Präsentierteller lag, denn dass sich LadyDevimon gemeinhin gut mit Lillymon verstanden, wagte er zu bezweifeln. „Ken, warte! Mimi und die anderen haben sicher die Nerven behalten. Sie sind bestimmt die Straße runter und dann weg von der Hauptstraße!“ Izzy hatte ihn eingeholt, als er die unterste Stufe der Feuerleiter auf ihre Stabilität prüfte. Etwa auf Augenhöhe saß eine schwarze Katze und sah ihn mit Karfunkelaugen an, aber ob das alte Ding auch einen Menschen tragen würde … „In Ordnung“, räumte Ken ein. „Nur einen kurzen Blick. Wir sehen nach, ob wir sie in dem Getümmel erkennen können, sonst rufen wir sie …“ Er hätte sich ohrfeigen können. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht, Davis oder Yolei einfach anzurufen? Bei all dem Lärm konnte er wohl nicht verstehen, was sie zu ihm sagten, aber wenn sie abhoben, bedeutete das, dass es ihnen gut ging … Allerdings müssten sie ihre Handys dazu erst mal klingeln hören … oder sie spürten sie vibrieren. Aber wie konnten sie ihnen dann ihren Standort mitteilen? Es sei denn, sie waren schon weit weg aus der Gefahrenzone, aber dann brauchte er sich ohnehin keine Sorgen zu machen … Kens Gedanken waren ein Schlachtfeld. Er hasste den nicht gerade klein geratenen, rationalen Teil seines Denkens, der ihn alle möglichen Szenarien durchleben ließ, im Moment sehr – er hielt ihn vom Handeln ab! Entschlossen packte er das Geländer der Feuerleiter. Er musste da hoch! Dann konnten sie weitersehen. Izzy gab sich schließlich mit einem Murmeln geschlagen, und Ken erklomm die Leiter als Erstes. Die große, schwarze Streunerkatze hatte sich mitten auf einer Stufe zusammengerollt, sodass er den Fuß hob, um über sie hinwegzusteigen – und erschrocken zusammenzuckte, als sie einen Buckel machte und ihn anfauchte. „Was ist?“, fragte Izzy. Ken wollte eben antworten, als ihn ein plötzlicher Windstoß erfasste und mit einem Ruck die Stufen hinunterkatapultierte. Er prallte gegen Izzy, dessen Ächzen wie der abschließende Takt seines eigenen Schreis war, und sie gingen beide zu Boden. Stöhnend rappelte Ken sich wieder auf und hielt sich die schmerzende Schulter. Was war das eben gewesen? Ein Kichern ließ ihn auffahren. Wie aus dem Nichts war eine Gestalt auf der Treppe erschienen: eine rotgewandete Hexe mit blondem Haar. „Nanunana, du wolltest doch wohl nicht gerade auf meine kleine Mauzimauz treten, oder?“ Während Ken die Frau noch verblüfft anstarrte und als die fliegende Hexe von vorhin erkannte, huschte die Katze an ihrem Kostüm hoch und hockte sich schnurrend auf ihre Schulter, wo sie von einer riesigen, behandschuhten Hand getätschelt wurde. „Wer bist du?“, fragte er. „Bist du für die Schießerei verantwortlich?“ Die Gestalt ließ ein kristallenes Lachen hören und trommelte mit dem Ende ihres Besens auf die Metalltreppe. Die Katze miaute genüsslich. „Ken“, murmelte Izzy. Er hatte sein Handy und sein DigiVice mit einem Kabel verbunden. „Das ist ein Digimon. Witchmon.“ „Jetzt hat der kleine Rotschopf es herausgefunden, wie drollig“, säuselte Witchmon. Seine Augen funkelten gefährlich. „Ihr wisst also Bescheid, ihr zwei Hübschen. Aber das macht ja nichts, nicht? Ist das nicht nett, meine kleine Mauzimauz? Ein roter und ein schwarzer Junge, das gibt ein richtig feines Happihappi.“ „Was machst du hier?“, platzte Ken heraus. „Wie kommst du in unsere Welt?“ „Ja, wie wohl?“, grinste das Digimon. „Wie komme ich wohl hier her? Das zu erklären ist mir zu langwierig. Aber was ich hier mache, sag ich dir gern. Wir haben einen Riesenspaß hier, Asta-Asta und ich. Menschen erschrecken, ein paar davon abmurksen. Wusstet ihr, dass Menschen gar nicht zu Staub zerfallen, wenn sie sterben? Sicher wisst ihr das, oder? Digimon werden immer zu so einem hübschen Glitzer-Glitzer, aber Menschen bleiben liegen mit dem ganzen Zeug, das vorher aus ihnen herausgespritzt ist – das sieht richtig witzig aus.“ „Du … Du bist ja verrückt!“, keuchte Ken. Er hatte noch nie ein dermaßen krankes Digimon getroffen, dabei wirkte es tatsächlich wie ein Kleinkind, das einen Heidenspaß hatte. „Asta-Asta und ich haben übrigens eine Wette am Laufen“, erklärte Witchmon süffisant und richtete seinen Besen auf die beiden. „Wer zuerst einen Menschen findet, der nicht rot blutet, hat gewonnen.“ „Ken, dein DigiVice!“, rief Izzy plötzlich. Im nächsten Moment schwang Witchmon den Besen und eine heftige Böe erfasste sie beide und schleuderte sie gegen die Backsteinwand. Aus Kens Lungen wurde sämtliche Luft gepresst, und der schneidende Sturm verunmöglichte ihm das Atmen. Er fühlte, wie der Wind mit feinen Klingen in seine Wangen schnitt. Warmes Blut sickerte aus den Wunden, als der Sturm nachließ. „Schade, sogar der schwarzhaarige Junge hat rotes Blut“, meinte Witchmon enttäuscht, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Ah! Vielleicht muss ich einfach tiefer schürfen!“ „Ken, schnell“, ächzte Izzy, der sich an der Wand abstützte. „Dein DigiVice! Öffne das Tor!“ „Was für ein Tor?“, rief Ken kurzatmig, als Izzy mit dem Handy vor seinem Gesicht herumfuchtelte. „Das hier! Das Tor in meinem Handy! Schnell!“ „Du hast ein Tor in deinem …“ „Ja doch! Mach schon!“ „Schsch, nicht so laut schreien, am Ende hören uns diese lästigen Leute mit ihren Blinkeblinke-Lichtern und den Bumstibums-Pistolen“, gluckste Witchmon und holte erneut mit dem Besen aus, weiter diesmal. Ken blieb nichts anderes übrig, als Izzy zu vertrauen. Er fischte sein schwarzes DigiVice, das er immer bei sich trug, aus der Hosentasche, richtete es auf Izzys Handydisplay und betete inständig, dass etwas geschah – am besten, dass wirklich ein Tor aufging und sie von Witchmon erlöste. Ein sanfter Ton erklang und Izzys Handy begann in einem Licht zu strahlen, das das kleine Ding niemals selbst erzeugt haben konnte. Witchmon hielt in der Bewegung inne und starrte die beiden Jungen an. „Ihr könnt doch nicht wirklich …“ Izzy sprang das Digimon regelrecht an, das Handy von sich gereckt. Witchmon stieß einen kurztatmigen Schrei aus, dann wurde es samt der schwarzen Katze dünn wie eine Bandnudel und verschwand in dem Licht. Izzy tippte eine Taste und seufzte dann schwer. „Geschafft.“ „Was … war das gerade? Haben wir es zurückbefördert?“ „Ja“, seufzte Izzy erneut. „Es ist wieder in der DigiWelt. Ich hab ein wenig an dem Handy und meinem DigiVice herumgespielt. Ich dachte mir, wenn man von Computern und Laptops aus ein Tor zur DigiWelt öffnen kann, warum soll es dann mit einem Mobiltelefon nicht auch gehen? Das war zwar erst die Alpha-Version von dem Tor, aber es hat funktioniert.“ Ken starrte auf die Stelle, wo Witchmon gestanden war. Es hätte ein verschrobener Traum sein können, wäre da nicht das Blut, das ihm aus vielen kleinen Schnitten im Gesicht lief. „Ich frage mich eher, warum das Tor überhaupt aufgegangen ist“, murmelte er. „BlackWarGreymon hat das Tor im Westendviertel doch damals komplett versiegelt? Und wir wissen, dass es seither nicht mehr aufgegangen ist. Wie kommen die Digimon also in unsere Welt? Und warum haben wir Witchmon wieder zurückschicken können?“ Nicht, dass er sich beschweren wollte. Izzy sah auch einen Moment ratlos drein, dann klingelte plötzlich das Handy, das er immer noch in Händen hielt. Vor Schreck hätte er es beinahe fallengelassen. Kens Magen zog sich zusammen, als er den Anruf entgegennahm – irgendwie erwartete er, Witchmon könnte wieder aus dem kleinen Ding hervorbrechen, kaum dass er es ans Ohr hielt. „Mimi? Gottseidank, wo seid ihr? Was? Nein, wir sind in einer Gasse … Ja, ich weiß, dass wir so schnell wie möglich … Nun hör mal auf, wir haben uns auch Sorgen gemacht! Ja, Ken ist bei mir. Okay. Stell dir vor, hier ist ein  … Was? Davis? Ja, ist gut. Wir treffen uns dort.“ Izzy legte auf und atmete tief durch. „Also, das war Mimi. Ihnen ist nichts passiert. Sie sind ein paar Blocks weiter bei einem kleinen Platz mit einem Denkmalbrunnen – der sollte nicht schwer zu finden sein. Und Davis ist losgelaufen, um uns zu suchen. Mimi ruft ihn an und sagt ihm, wo wir sind. Wir sollen von hier weg und uns auf der nächsten Straße mit ihm treffen.“ Auch Ken atmete nun erleichtert auf. Eine Nacht wie heute hatte er schon lange nicht mehr erlebt – oder überhaupt noch nicht. Nur ein paar Straßen weiter war vielleicht etwas Schlimmes im Gange, das sie selbst als DigiRitter nicht bereinigen konnten – das konnte nur die Polizei. Man hörte keine Schüsse mehr, aber immer noch Rufe und anderen Lärm. Und hier standen sie, allein in einer Gasse, versuchten aus einer Gefahrenzone zu gelangen, von der sie nicht wussten, wo sie begann und wo sie endete, und liefen mit jedem Schritt Gefahr, mit irgendjemandem – oder irgendetwas – zusammenzustoßen. Wer sagte schließlich, dass es nicht doch auf der Hauptstraße sicherer war? Ihn fröstelte. „Was meinst du, warum tauchen plötzlich wieder Digimon auf?“, fragte er Izzy, um sich abzulenken. Nun war es vielleicht wieder ganz nützlich, rational zu denken. „Ich weiß es nicht. Ich stehe da vor einem Rätsel, genau wie du.“ „Meinst du … es hängt mit Halloween zusammen?“ Izzy runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf?“ „Das ist nur eine wilde Idee“, sagte Ken, „aber ich habe erst kürzlich etwas über Halloween gelesen. Warum es gerade Ende Oktober gefeiert wird und was der ursprüngliche Zweck davon war.“ „Hat es nicht damit zu tun, dass die Kelten früher Geister vertreiben wollten und sich deshalb selbst als Geister verkleidet haben?“ „Schon, aber es gibt einen Grund, warum sie das gerade um diese Zeit des Jahres gemacht haben. Sie haben daran geglaubt, dass neben dieser Welt noch eine Anderswelt existiert, eine Geisterwelt, in der die Seelen der Verstorbenen eingegangen sind oder die von bösen Wesen bewohnt wird. Die Welten werden von einer Art Schleier voneinander getrennt, sodass die Geister der Toten und die Fabelwesen keine Macht über die Lebenden haben. Zwischen der Tagnachtgleiche im September und der Wintersonnenwende, also wenn die Nächte länger sind als die Tage, wird der Schleier zwischen den Welten besonders dünn. In der Nacht auf den ersten November ist er fast durchlässig, und die Geister können unter den Lebenden wandeln. Und darum wird um diese Zeit Halloween gefeiert.“ Izzy legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Mehrere Welten, die nebeneinander existieren … Das erinnert mich doch an etwas.“ „Meinst du, die alten Kelten hatten recht?“ „Im Moment kommt mir das gar nicht so unwahrscheinlich vor“, murmelte Izzy. „Wenn die Grenzen zwischen unserer Welt und irgendeiner Geisterwelt verschwimmen, warum dann nicht auch die Grenze zur DigiWelt?“, führte Ken seinen Gedankengang weiter aus. „Vielleicht brauchen die Digimon an Halloween gar kein Tor mehr, das sie herüberbringt. Vielleicht wandern sie einfach in unsere Welt, wie wir unter einem leeren Türsturz hindurchgehen würden?“ „Das wäre eine Katastrophe“, sagte Izzy beunruhigt. „Aber das ist doch noch nie zuvor passiert, oder? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es so einfach sein soll.“ „Hoffentlich hast du recht“, meinte Ken kleinlaut. „Wie gesagt, es ist nur eine Theorie.“ Die er trotzdem mit jeder Minute, die verstrich, mehr glaubte. „Wollen wir?“ Izzy nickte. Sie folgten der Gasse von der Hauptstraße weg, zwei zerschlagene Gestalten im Dunkel der Nacht. Das Licht der Laternen blieb hinter ihnen zurück. Direkt vor ihnen lag ein Bereich von gut fünf Metern, der in tintenschwarzen Schatten versunken dalag, als hätte sich die Finsternis wie Ausschlag auf den Boden und die Hauswände gesetzt. Weiter vorne lockte das Licht der Lampen aus der nächsten Straße, aber die beiden DigiRitter blieben unbehaglich stehen. Keiner wollten diesen schwarzen Bereich betreten. Es schien, als gäbe es gar keinen Boden dort – als wäre hier ein unendlich tiefer, saugender Sumpf, der sie verschlucken würde, sobald sie den Fehler machten, ihn zu betreten. In dieser unheimlichen Nacht hatte Ken das Gefühl, als würde dort etwas lauern, das allen irdischen Gesetzen widersprach. Als würde Logik dort nicht gelten, als könnte absolut alles dort passieren … In dem Versuch, Licht zu machen, zog Izzy sein Handy wieder hervor. Das Display leuchtete so matt, dass man es kaum wahrnahm. „Fast kein Akku mehr“, sagte er. Seine Stimme klang rau, als knirschten Kieselsteine in seiner Kehle. „Wenn wir noch einem Digimon begegnen, ist mein Handy unsere einzige Chance. Was ist mit deinem?“ Ken tastete nach seinem eigenen Mobiltelefon und weckte es aus dem Standby-Modus. Stirnrunzelnd betrachtete er die Anzeige. „Seltsam. Es bleibt finster. Ich habe es doch erst heute Nachmittag aufgeladen.“ Er tippte auf den Tasten herum. Das Gerät gab ein leichtes Vibrieren von sich, war also eingeschaltet. War das Display kaputt? Als er aufsah, bemerkte er etwas aus den Augenwinkeln. Ein sanftes Licht schwebte neben ihnen, von dem er nicht sicher war, ob es vorher schon da gewesen war. Es kam vom Deckel einer alten Mülltonne. Schließlich erkannte er, was das war. „Die kommt wie gerufen. Sie ist zwar nicht sonderlich hell, aber besser als nichts. Ich hätte mir nie gedacht, mal mit einer Kerze durch die Gassen im Westendviertel zu laufen. Hast du sie im Müll gefunden?“ Ken nahm an, dass Izzy die Kerze entzündet hatte, da er direkt daneben stand. Aber als er das Gesicht seines Freundes sah, erkannte er maßloses Entsetzen in dessen Augen. „Izzy?“   Sie alle fühlten sich erschöpft wie schon lange nicht mehr. Tai saß auf dem Boden und brütete schweigend vor sich hin. Matt kauerte an dem Schornstein, an den er T.K. gelehnt hatte. Kari saß neben ihm, und die beiden hielten ihn fest, als versuchten sie ihn daran zu hindern, in irgendeine Parallelwelt abzudriften. Kari fürchtete, dass tatsächlich etwas an T.K.s Bewusstsein zog – etwas, das ihn ihnen wieder entreißen wollte. Er schien im Halbschlaf, aber sie bildete sich ein, dass immerhin sein Gesicht wieder an Farbe gewann. Ab und zu murmelte er Worte vor sich hin, die niemand von ihnen verstand. Nur Sora konnte ihre Füße nicht stillhalten. Leise klackerten ihre Vampirstiefel über die Dachterrasse, vor und zurück, links und rechts. Immer wieder bedachte sie Matt mit einem langen Blick. Sie hatte vorgeschlagen, einen Krankenwagen zu rufen. Tai hatte dagegengeredet. „Und was sollen wir den Sanitätern sagen?“, hatte er gefragt. „Dass eine Riesenspinne ihn gebissen hat? Die liefern uns eher in die Klapse ein.“ „Dann sagen wir, dass wir nicht wissen, was mit ihm los ist!“, hatte Sora vorgeschlagen. „Und jedes heutige Krankenhaus hat was gegen Dokugumon-Gift. Schon klar.“ „Seid doch mal ruhig“, hatte Matt da gesagt. „Ich glaube, er versucht noch etwas zu sagen.“ T.K. hatte nur einige Silben gebrabbelt, aber es war offensichtlich, dass es ihm besser ging. Stillschweigend hatten sie sich darauf geeinigt, dass die einzige Gefahr, die ihm noch drohte, nicht von dieser Welt war und somit nichts, was sich mit einem Krankenwagen lösen ließ. Kari kam fast um vor Sorge, und Matt musste es genauso gehen – dennoch war es vielleicht besser, einfach ein paar Minuten zu warten. Schließlich stand Tai auf und ging wie Sora auf und ab. „Dieser dämliche Nebel“, schimpfte er. „Man sieht nicht mal zurück zum Treppenhaus. Und den Laptop müssen wir auch noch zurückbringen.“ Er fuhr sich seufzend durch das Haar. „Mann, was für eine Nacht.“ Kari kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er einfach nur vor sich her plapperte, um sich abzulenken. Gerade, als T.K. wieder etwas an seinen Bruder gerichtet murmelte, hörte sie es. Das Rauschen. Das Rauschen eines Meeres. Wie von einer glühenden Nadel gestochen stand sie auf. Nein … bitte nicht … Wie von selbst führten ihre Beine sie an den Rand der Dachterrasse, wo eine schulterhohe Brüstung Unvorsichtige vor dem Fallen bewahrte. Die fragenden Blicke der anderen nahm sie kaum wahr. Der Nebel hier war nicht so dicht, und unter ihr lagen Straßen mit weichen Lichtern und vielen bunten Menschen, die noch nichts vom Albtraum dieser Nacht mitbekommen hatten … Und dann schwappten riesige Wellen über die Gebäude herein, schaumiges schwarzes Wasser spülte durch die Häuserschluchten, bedeckte Menschen und Laternen und Stände und Fahrzeuge und Straßenschilder und Telefonzellen und … Karis Hände schlossen sich fest um die obere Kante der Brüstung. Sie blinzelte, um die Szenen vor ihren Augen fortzuwischen. Es gelang ihr – allerdings nicht so, wie sie es gewollt hatte. Denn was verschwand, war die Stadt. Das Meer der Dunkelheit blieb. „Bitte nicht … Was willst du schon wieder von mir?“, flüsterte sie. Sie fühlte die Tränen erst, als sie kalte Spuren über ihre Wangen zogen. Kari fröstelte. „Kari? Was ist los?“, fragte Tai neben ihr. Er schien nichts von den Wellen zu bemerken … natürlich nicht. Es war doch immer nur sie, die von dem Meer angezogen wurde. Die Angst unterdrückend, die sie schon so lange nicht mehr hatte fühlen müssen, ergriff sie seine Hand. „Halt mich fest, bitte“, murmelte sie. „Sonst werde ich von hier fortgezogen …“ Er packte sie so fest, dass ihre Knöchel schmerzten. „Keine Sorge, das wird nicht geschehen. Ist es wieder das Meer der Dunkelheit? Siehst du es dort unten?“ Kari nickte zittrig. Sie hatte die Angst eigentlich schon besiegt, damals … Sie hoffte, dass es nur ein kleines Aufflackern von Panik war, das schnell wieder ersticken würde. „Dachte ich’s mir doch“, sagte er grimmig. „Was?“ Er lächelte schief. „Ich glaube, ich kann es rauschen hören.“ „Wirklich?“ „Na komm.“ Mit sanfter Gewalt zog er sie von der Brüstung weg und drehte sie herum. „Aber vielleicht bedeutet es etwas, dass ich es wieder sehe“, protestierte sie schwach, als er sie zu den anderen zurückzerren wollte. „Vielleicht will es mir etwas sagen …“ „Das Einzige, was uns das Meer sagt, ist, dass heute Nacht etwas nicht stimmt. Und das haben wir vorher auch schon gewusst.“ Als Kari sich noch einmal zu der Brüstung zurückdrehte, stellte sie fest, dass das Meer fürs Erste wieder verschwunden war.   „Wir gehen“, sagte Tai, als er und Kari zurückkamen. Etwas an seiner Tonlage hatte sich verändert – Sora spürte, dass er sich nun auch noch um Kari Sorgen machte. Auch sie selbst fand es hier mehr als unheimlich, mit dem gigantischen Spinnennetz als ständige Erinnerung an die gespenstischen Vorkommnisse dieser Nacht. Matt bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Er kann noch nicht wieder gehen.“ „Dann stützen wir ihn. Willst du noch ein paar Stunden hier hocken bleiben? Glaubst du, das bekommt ihm gut?“ Matt stierte ihn noch einen Moment aus purem Trotz an, dann seufzte er. „Du hast ja recht. Tut mir leid. Es ist sicher besser, wenn wir ihn hier fortschaffen.“ Er und Tai halfen T.K. in die Höhe. Wie durch ein Wunder flatterten dadurch erneut seine Lider und es wirkte, als würde er sich umsehen. „Komm, Bruderherz“, sagte Matt leise. „Wir gehen nachhause.“ Sora verkniff es sich, noch einmal auf das Krankenhaus hinzuweisen. Menschliche Ärzte hatten noch nie geholfen, wenn es um die Missetaten von Digimon ging. Als sich die Tür zum Stiegenhaus aus den letzten Nebelschwaden schälte, sahen die Freunde Takumi wieder. Er stand vor der offen stehenden Tür und schien auf sie zu warten. Sein Gesichtsausdruck ließ sich nicht deuten, weil er immer noch seine goldene Fuchsmaske aufhatte, aber er schien ihnen gar nicht richtig aufs Dach gefolgt zu sein. Hatte er vielleicht eine Spinnenphobie? „Na, auch noch da?“, rief Tai ihm zu. „Was ist los, hast du dir plötzlich in die Hosen gemacht oder was?“ „Tai“, zischte Sora ihm warnend zu. Im Grunde hatte ihnen Takumi schon mehr geholfen, als es ein Durchschnittsmensch vermutlich getan hätte. Sie sollten lieber dankbar dafür sein. Takumi antwortete nicht, was Tai als Vorwurf auffasste. „Okay, sorry. War nicht so gemeint“, brummte er. „Ist … alles in Ordnung, Takumi?“, fragte Kari, als der junge Mann weiterhin nichts sagte. „Wartet“, sagte Matt und blieb stehen. „Irgendwas stimmt mit ihm nicht.“ Sie hielten inne. Der Wind blies ein paar Nebelfetzen vorbei. Takumi stand stumm da, kerzengerade, ganz schwarz bis auf die goldene Maske, die matt im Mondlicht glänzte. „Hey, hast du deine Zunge …“ Tai kam nicht dazu, auszureden. Takumi regte sich wieder. Im ersten Moment sah es aus, als beugte er sich zurück wie jemand, der sich strecken wollte. Dann aber erkannte Sora, dass sich sein Bauch aufblähte. Sie schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Takumis Hände zuckten, als versuchte er nach etwas zu greifen, sein Kopf sank in den Nacken – seine Lederjacke platzte auf und etwas Schwarzes, Zappelndes quoll aus seiner Bauchgegend. Sora schrie; die anderen ebenfalls. Tai, der ihm am Nächsten gestanden war, landete auf seinen vier Buchstaben. Die dunkle Wolke wuselte und schnappte in ihre Richtung, und Sora konnte erst auf den zweiten Blick feststellen, dass sie aus vielen kleinen, hektischen Tieren bestand. Plötzlich wurde ihr speiübel. Unter Takumis Maske ergoss sich ein Bach aus hellrotem Blut, während er langsam, wie in Zeitlupe, nach hinten sackte, dann fing etwas seinen Sturz ruckartig auf und hob ihn wieder hoch. Entweder der drehende Wind oder die peitschenden Flügel der kleinen Wesen, die nur Fledermäuse sein konnten – auch wenn sie kein Gesicht hatten und nur aus Umrissen zu bestehen schienen –, reichten aus, um die letzten Nebelschleier zu zerreißen. Nun wurde die Gestalt sichtbar, die hinter Takumi im Schatten des Türsturzes stand und ihn an nur einem Arm in die Höhe streckte. „Köstlich“, erklang eine weibliche Stimme, triefend vor Bosheit. „Als ich gespürt habe, dass sich hier ein Tor zur DigiWelt geöffnet hat, war ich einfach nur neugierig, ob wir noch mehr Gesellschaft bekommen haben. Aber was sehe ich da? Es waren Menschen, die das Tor geöffnet haben. Und hier ist ein Dokugumon-Nest ohne Dokugumon.“ Das Gesicht, das neben Takumis Körper vorbeispähte, trug einen zinnoberroten Helm und eine gleichfarbige, zerrissene Montur. Ein rotes LadyDevimon! „Der hier hat regelrecht auf mich gewartet. Wirklich nicht übel. Ich mag Blut, wisst ihr? Und ich habe wohl meine Vorliebe für Menschenblut entdeckt.“ Keiner von ihnen brachte vor Entsetzen auch nur ein Wort heraus. Takumi hing schlaff in LadyDevimons Armen, seine Magengegend nur ein schwarzes Loch, aus dem noch dann und wann Fledermausflügel peitschten. Etwas Dunkles, Zähflüssiges tropfte auf den Boden, aber obwohl Sora es erwartet hatte, sah sie kein Blut. Überraschenderweise war es gerade T.K, der als Erstes reagierte. „Du …“, hauchte er. „Du bist …“ „Ja, ja“, sagte LadyDevimon süffisant. „Und du bist nur knapp Dokugumons Speisekammer entronnen, nicht wahr?“ „Du verdammtes Miststück“, knurrte Tai und ballte die Fäuste. „Ich bring dich um!“ „Was denn, wegen dem hier?“ Das Digimon schüttelte Takumi wie eine Puppe. „Ich gebe zu, ich bin außer Übung. Sonst hätten meine kleinen Biester ihn viel schneller leergesaugt. Ein wenig Blut kann ich sicher noch aus ihm rausbekommen.“ „Du Monster!“ Tai fegte sich T.K.s Arm von der Schulter und wollte sich auf LadyDevimon stürzen. „Tai!“, rief Kari erschrocken. „Nicht, Tai!“, fiel auch Sora in den Chor der Schreie mit ein, den Tai wohl am meisten verstärkte: Mit wildem Kampfgebrüll schlug er mit der Faust nach der Dämonenfrau. Er hatte LadyDevimons Fledermäuse nicht bedacht. Ehe er es erwischen konnte, traf ihn die schwarzrote Wolke mit der Wucht eines Hammerschlags und schleuderte ihn meterweit nach links über das Dach. Kari kreischte seinen Namen, LadyDevimon lachte. „Dein Blut ist sicher auch köstlich, heiß und hell. Aber fürs Erste mach ich mich wohl besser mit meiner Beute aus dem Staub.“ Die dunkelroten Flügel, die wie schlaffe Pfauenfedern von den Schultern des Digimon hingen, richteten sich auf und es schwebte in den Nachthimmel hinauf, die große, krallenbewehrte Hand um Takumis Brustkorb geschlungen. „Wenn ich die Szene hier nämlich richtig einschätze, seid ihr es gewesen, die Dokugumon in die DigiWelt zurückgeschickt haben – und darauf habe ich im Moment noch gar keine Lust“, rief es zu ihnen herab. Kari lief zu ihrem Bruder. Sora gelang es immer noch nicht, den Blick von Takumi abzuwenden. Ob er noch lebte? Es war schwer vorstellbar, oder? LadyDevimon schien ihre Gedanken gelesen zu haben. „Und wenn ich die Szene hier wirklich richtig einschätze, würde ich sagen, ihr seid alle hier hochgekommen, um euren blonden Freund aus Dokugumons Netz zu befreien. Damit ihr nicht auf die Idee kommt, mir zu folgen und den hier zu retten, zeige ich euch, dass es vergeblich wäre.“ Unter dem Nachthimmel ertönte ein schreckliches, reißendes Geräusch, das Sora in all ihre Albträume verfolgen würde. Dann ertönte ein dumpfes Poltern, als Takumis Kopf auf dem Dach aufschlug und ihr direkt vor die Füße rollte. Während Sora schwarz vor Augen wurde und die bittere Galle auf ihrer Zunge sie würgen ließ, entschwand LadyDevimon mit einem grausamen Lachen am Nachthimmel.   In Izzys Kopf drehte sich alles. Konnte es sein, dass er sich täuschte? Dass das hier nur eine ganz normale Kerze war? Eine Spaßkerze, mit der man kleinen Kindern auf der Geburtstagstorte ein Lachen entlockte, weil sie sich wieder entzündete, sobald man sie ausblies? Konnte das sein? Sein Verstand versuchte krampfhaft eine Lösung für dieses Problem zu finden, als wäre es wie eine mathematische Gleichung dazu gemacht worden, gelöst zu werden. Aber das hier war nichts dergleichen. Es war wie eine Gleichung ohne jegliches Rechenzeichen, einfach nur eine Ansammlung von Zahlen und Buchstaben, die alles und nichts bedeuten konnten, und tief im Inneren wusste er das. „Izzy? Was hast du?“, hörte er Ken wie durch Watte. Die Erinnerungen an das, was er heute in seiner neuen Wohnung erlebt hatte, kamen an die Oberfläche wie Blasen mit Giftgas aus einem Sumpf und legten sein Denken lahm. Stück für Stück eroberte die Angst sein Gehirn. „Wir … wir müssen hier weg“, erklärte er mit klammer Stimme. „Was? Wieso?“ War Ken denn so schwer von Begriff? „Die Kerze hat niemand von uns hier hingestellt, geschweige denn angezündet!“, sage er und seine Stimme klang schrill. „Sie war einfach nicht da!“ Ken zuckte mit den Achseln. „Merkwürdig ist es schon“, räumte er ein, „aber vielleicht irren wir uns einfach.“ „Nein.“ Izzy schluckte hart. „Ich hab so etwas heute schon mal erlebt … Komm einfach mit.“ Er schickte sich an, durch den Streifen aus purer Schwärze zu treten, der sie von der nächsten Straße trennte. Kurz überlegte er sogar, zurück zur Hauptstraße zu gehen, aber so sehr hatte die Panik ihn noch nicht im Griff. Ken folgte ihm argwöhnisch. Die beiden wateten durch die Schwärze, die nicht ganz so finster schien, wenn man mittendrin war. Dennoch schien sie sich in die Länge zu ziehen wie Gummi, das Licht am anderen Ende war ewig weit entfernt … Und dann, direkt neben ihnen! Ein Licht flammte auf, wieder einen Kerzenflamme, und auf der anderen Seite der Gasse auch. Izzy unterdrückte ein entsetztes Stöhnen und beschleunigte seine Schritte. Als würden die Flammen einen Spalier bilden, erschienen sie immer gerade neben ihm, erhellten die bodenlose Schwärze zu seinen Füßen, aber dennoch waren sie weit davon entfernt, ihm in irgendeiner Form Erleichterung zu bringen. Kens Schritte hinter ihm wurden ebenfalls schneller. Dann lag der schwarze Bereich endgültig hinter ihm und nur noch ein paar Meter trennten ihn vom Ende der Gasse, von der richtigen Straße mit ihren warmen Lichtern und dem pulsierenden Leben und von Davis und den Mädchen … Dort vorn war die Welt wieder in Ordnung, Schießereien und Digimon hin oder her. Er warf einen Blick über die Schulter. Ken war dicht hinter ihm. Da stieß Izzy mit dem Fuß gegen etwas und kam ins Straucheln. Er fing sich schnell wieder, und dabei streifte sein Blick wieder den Boden unter seinen Füßen. Die sumpfige Schwärze war wieder da. Izzy traute seinen Augen nicht. Er hatte den finsteren Bereich doch schon verlassen! Direkt unter ihm befand sich wieder ein undurchdringlicher Schatten, der ihn nicht einmal die Pflastersteine erkennen ließ! Die Kerzen waren plötzlich wieder alle verschwunden. Der Schatten schien dick und zäh. Izzy biss die Zähne zusammen und rannte los, das Ende des finsteren Kreises im Auge behaltend – und tatsächlich! Der Schatten folgte ihm, als klebte er an seinen Fußsohlen! Als würde Izzy etwas von oben beleuchten und seinen eigenen Schatten irgendwie riesengroß auf den Boden projizieren … Mit einem ohnmächtigen, verzweifelten Schrei legte er noch einen Zahn zu. Der Schatten hielt nicht nur Schritt, er überholte ihn sogar. Kurz bevor er das Ende der Gasse erreichte, huschte er vor ihm davon, tauchte die Häuserwände kurz in Tintenschwärze und legte sich dann wie eine dunkle Folie über das Licht, das von der Straße her drang. Sofort wurde es noch dunkler in der Gasse. Izzy blieb abrupt stehen und Ken stolperte gegen ihn. „Was ist das?“, flüsterte Ken unbehaglich. „Wenn ich das wüsste …“ „Sieh nach, ob es ein Digimon ist.“ „Das hab ich schon mal! Es ist keines!“ Izzy holte Handy und DigiVice heraus und richtete es auf den zuckenden Schatten. „Siehst du?“ „Aber was ist es dann?“, fragte Ken kleinlaut. „Willst du mir etwa sagen, dass es ein Geist ist?“ Das Wort Geist ließ einen sichtbaren Schauer über den Schatten wandern, wie Wellen auf einem Teich. Täuschte sich Izzy, oder kam er näher, jetzt, da er ihnen den Weg abgeschnitten hatte? „Hier rein, komm!“ Er zerrte Ken unter einem gemauerten Rundbogen hindurch, der einen kleinen Hinterhof mit ihrer Gasse verband. Er war nicht asphaltiert oder gepflastert, stattdessen bedeckten Erde und borstiges, ungesundes Gras die drei mal drei Meter messende Fläche. Eine stabil aussehende Tür führte in den Keller eines Gebäudes, ansonsten gab es hier noch ein niedriges Baugerüst, das entweder nicht fertig aufgestellt oder nicht fertig wieder abgebaut worden war. Ein von der Nacht feuchter Erdhaufen döste daneben. „Und wohin jetzt?“, fragte Ken. Izzy rüttelte an der Türklinke, doch ohne einen Schlüssel sah er schwarz. Ken inspizierte hektisch das Gerüst. „Vielleicht können wir ein Fenster einschlagen und über das Gerüst hineinklettern“, überlegte Izzy. Ken biss sich auf die Unterlippe und sah absolut nicht begeistert aus. Hier standen sie nun, planlos und in der Falle, und sie beide waren eher passive Typen und alles andere als kurzentschlossen. Wäre Tai hier gewesen, hätte er längst entschieden, was zu tun wäre. Izzy grübelte zu lange über alle möglichen Probleme nach und kam zu keiner Lösung … Eine weitere Erinnerung von heute wühlte ihn auf. Der Typ in der Straßenbahn, der Mimi angemacht hatte. Auch da hatte er einfach nicht energisch genug reagiert. Das war nicht einfach nur eine Frage von Passivität oder Spontanität! Sein voriger Gedanke kam ihm plötzlich wie eine Ausrede vor. Er brauchte doch Tai nicht, um sich aus dieser Situation zu winden! Er hatte etwas, das er tun wollte – von hier fliehen –, und alles, was er tun musste, war zu handeln. Denk nach, zum Kuckuck! Was kannst du tun? Izzy war der Typ, der gern Für und Wider abwog, also würde seine Entscheidung davon beeinflusst werden, aber wieso sollte das ein Problem sein? Er musste sich nur beeilen. Die Tür aufbrechen? Das würde nicht funktionieren, dazu war sie zu massiv. Auf das Gerüst klettern und ein Fenster einschlagen? Dazu bräuchten sie ein Werkzeug. Auch wenn sie nicht so aussahen, entlang der Hauptstraße des Westend-Viertels waren die Gebäude gut in Schuss und auch die Fenster modern genug, einem einfachen Schlag mit einem Schuh oder etwas Ähnlichem zu widerstehen. In die DigiWelt fliehen? Das wäre vielleicht eine Option – aber keine gute. Wer wusste schon, wie sie wieder zurückkämen, und ohne ihre Partner lauerten da vielleicht noch ganz andere Gefahren … Nach dem Ausschlussverfahren blieb ihnen nur eine einzige Wahl. „Ken“, sagte Izzy mit leicht zittriger Stimme. „Wir stellen uns ihm.“ Er starrte ihn entgeistert an. „Bist du sicher? Wir wissen nicht, was das ist.“ „Eben. Es hat uns bisher Angst eingejagt, aber noch nicht angegriffen. Vielleicht können wir mit ihm reden. Furcht entsteht aus Mangel an Informationen; wenn wir wissen, was es ist, brauchen wir vielleicht gar nicht mehr zu fliehen.“ Ken verstand. Die beiden standen mitten in dem Innenhof, als der Schatten hereinraste, ihnen auf den Fersen. Es war wie ein Tornado aus purer Schwärze, die durch den Torbogen quoll. Die Finsternis verdickte sich und ergoss sich schließlich auch auf das Gras und die Erde. Der Schatten floss über ihre Schuhe und Izzy musste sich zwingen, nicht davonzuspringen. Er erwartete, die Berührung zu spüren, doch dem war nicht so. Einzelne Schattententakel waberten die Hauswände hoch, und überall vor den Fenstern glommen Funken auf: Auf den Fensterbrettern waren Kerzen erschienen. Nach wenigen Sekunden verschwanden sie wieder und das Dunkel kroch wieder in die Tiefe, umrundete die beiden. Izzy und Ken standen Rücken an Rücken und machten sich so schmal wie möglich. Es sah aus, als würde der Schatten sie irgendwie einzuschätzen versuchen, schneller und schneller umkreiste er sie. Ein Blitzschlag erhellte die Nacht, obwohl der Himmel kaum bewölkt war. Für einen kurzen Moment wurden die Konturen des Schattens noch schärfer, obwohl das Licht ihn eigentlich vertreiben müsste. Donner folgte. Dann hielt das Gespenst direkt vor Izzys Füßen inne und schien zitternd auf etwas zu warten. Wieder erglomm eine winzige Flamme, die dann in einem blauen, elektrischen Zucken verging – dann war das blaue Licht überall, als hätte es die Flammen abgelöst. Izzy kniff die Augen zusammen, als ihn das Geblitze fast wahnsinnig machte – es musste schlimmer sein als jede Discobeleuchtung. Donner krachte, leiser als gewöhnlich, dann hörte er Ken flüstern: „Izzy, ist das nicht doch ein Digimon?“ Er riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er den Atem angehalten hatte. Ken spähte über seine Schulter. Das Ding vor ihm hatte sich verändert – genauer gesagt hatte es den Körper, der ihm gefehlt hatte, nun erhalten und dafür seinen Schatten eingetauscht. Bleich und durchscheinend schwebte eine kleingewachsene Gestalt vor ihnen, in weiten Pluderhosen, zerrissenem Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und mit einem riesigen Hexenhut, unter dem ihn zwei große, durchdringende Augen anstarrten. Wizardmon. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)