Mirrors World - Dornenfluch von CharleyQueens (Winterwichteln 2012/13) ================================================================================ Kapitel 1: Verlorene Träume --------------------------- Er trat auf eine Bierflasche, als er die Tür öffnete. Seufzend kickte er sie weg und beobachtete, wie die Flasche den Flur entlangkullerte. Der Boden war schief gelegt worden, doch was erwartete man im schmutzigsten Viertel von Weither? Keiner hatte sich hier Mühe beim Bau gegeben, Hauptsache es war fertig und jemand konnte hier einziehen. Und der Vermieter verdiente sein Geld. Dabei hatten sie schon seit längerem die Mietrechnung nicht mehr bezahlt. Er hatte den Vermieter vertröstet, hatte ihn hingehalten und ihm versprochen, dass sein Vater die Rechnungen schon bezahlen würde. Im Moment ging es ihm nicht allzu gut, das ganze Geld würde für Medikamente draufgehen, aber nächsten Monat da hätten sie wieder etwas Kohle übrig, um die Miete zu bezahlen. Er wusste lange Zeit würde er diese Ausreden nicht mehr benutzen können. Irgendwann würde der Vermieter seinen Versprechen keinen Glauben mehr schenken und dann würde man ihn und seinen Vater aus der Wohnung schmeißen. Es war Zeit, sich nach noch einem Job umzusehen. Als Aushilfe im kleinen Stadtcafé verdiente er eindeutig zu wenig. Doch wenigstens verdiente er dort etwas Geld, ganz im Gegensatz zu seinem Vater. „Sieht man dich auch mal wieder?“, drang eine laute, barsche Stimme aus einer der angelehnten Türen. „Beweg dich her, aber zack!“ Er verdrehte die Augen und stellte seine Tasche auf dem Boden ab, bevor er langsam seinen Schal auszog und dann seine Jacke. Bis zehn zählend öffnete er die Knöpfe und ignorierte dabei die Rufe seines Vaters. Was hatte er ihm denn schon zu sagen? Als Alkoholiker, der seinen Job verloren hatte und nun von Hartz IV lebte? Und sein ganzes Geld war Alkohol ausgab, die Tatsache dass er einen Sohn hatte, dabei vergessend? Nein, dieser Typ hatte ihm rein gar nichts zu sagen. Die Zeiten, in denen er sich von diesem Nichtsnutz hatte einschüchtern lassen, waren endgültig vorbei. Als er seine Jacke dann endlich ausgezogen und aufgehängt hatte, begab er sich endlich ins Wohnzimmer. Die Stimme eines Sportreporters drang aus dem Raum und er wusste genau, wie er seinen Vater auffinden würde. Im Sessel sitzend vor dem Fernseher, auf dem gerade das unbedeutendste Fußballspiel aller Zeiten lief und das seinen Vater doch mehr interessierte als alles andere, abgesehen von der Bierflasche in seiner linken Hand. „Was willst du?“, fragte er und richtete seinen Blick auf einen Bierfleck hinter seinem Vater an der Wand, der dort hingekommen war, als dieser in einem Wutausbruch eine Flasche dort hingeworfen hatte. Sein Vater saß in dem aschgrauen Sessel, der von Zigarettenabdrücken übersät war, hielt wie üblich das Bier in der linken Hand. In der rechten Hand hielt er jedoch einen Umschlag, der geöffnet worden war. „Erik, kannst du mir das erklären?“ Er wedelte mit dem Brief in seiner Hand. Erik konnte den Briefstempel erkennen und schluckte heftig. Ein blaues Wappen mit einem silbernen, verschnörkelten W in der Mitte. Das Abzeichen der Winchester-Universität, eine der angesehensten Universitäten im ganzen Lande. Jeder, der etwas erreichen wollte, der bewarb sich, unter anderem bei dieser Uni. Die Winchester Uni hatte unter anderem berühmte Politiker und Ärzte hervorgebracht, ihr Sportteam gewann in allen Spielen und selbst auf den künstlerischen Gebieten waren sie kaum zu schlagen. Es war eine Schule für die Besten der Besten. Und für die Reichsten der Reichsten. Das Studiengeld schwebte in Summen, von denen so normale Menschen wie Erik nicht einmal träumen konnten. Ohne ein Stipendium würde er die Universität immer nur aus der Ferne beobachten können, denn er selbst könnte sich das Geld niemals leisten. Und so hatte er eine Bewerbung abgeschickt mit der Bitte ihn bei der diesjährigen Stipendienprüfung aufzunehmen. Die Hoffnung aufgenommen zu werden, war gering. Wieso sollten sie auch ihn, einen Niemand, zur Prüfung vorladen? „Das ist ein Brief!“, entgegnete er auf die Frage. Mein Brief, fügte er in Gedanken hinzu, war jedoch klug genug diesen nicht laut auszusprechen, hätte er doch sonst nur wieder einen Streit vom Zaun gebrochen. „Ich weiß, dass das ein Brief ist. Ich wollte eigentlich wissen, was dich dazu bringt, so einen Brief zu erhalten? Denkst du wirklich, wir könnten uns das leisten?“ Während sein Vater redete, flogen Spucketropfen durch die Luft und trafen den jungen Schüler im Gesicht, die er sich mit dem Ärmel wieder wegwischte. Wenn du dein Geld nicht ständig für Bier ausgeben würdest und dir einen anständigen Job suchst, dann Ja, dachte er zornig, entgegnete jedoch etwas anderes. „Deswegen habe ich mich ja um ein Stipendium beworben!“, erklärte er ruhig. „Ein Stipendium?“ Sein Vater lachte laut auf. „Als ob du jemals ein Stipendium bekommen könntest. Für so etwas musst du ein Genie sein, selbst die Klügsten der Klügsten können da durchfallen und du, du hast doch eh keine Chance. Denkst du wirklich, die wollen da so einen wie dich? Was willst du denn bei diesen ganzen Schicki-micki-Typen? Du passt da doch niemals rein. Bleib lieber zuhause!“ „Damit ich so ende wie du?“ Die Worte kamen, bevor Erik sie aufhalten konnte. Für einen Moment blickte er erschrocken auf und es war, als würde sich ein Schalter umlegen. Es machte klick und… „Damit ich vor dem Fernseher ende und meine einzigen Freunde die Bierflasche und der Sessel sind? Nein, niemals. Bloß weil ich etwas erreichen will, musst du dich mir nicht in den Weg stellen. Ich will meine eigenen Träume verwirklichen, sieh endlich ein, dass ich nicht so bin wie du. Ich hasse dieses Leben hier und ich will etwas anderes haben. Ich will mehr. Und ich werde das kriegen, denn ich bin im Gegensatz zu dir nicht so dumm und faul. Seit Mutter tot ist, lässt du dich total gehen. Jahrelang habe ich mir das mitangesehen und dich dafür gehasst.“ Er drehte auf dem Absatz um und stürmte aus dem Raum. Er hielt das nicht mehr aus. Wenn er jetzt nicht verschwand, würde er nicht wissen, was er tun würde. Er hörte, wie sein Vater etwas rief, doch es war ihm egal. Hinter sich knallte er die Tür zu und stürzte die Stufen hinunter. Er musste hier weg. Unbedingt. Draußen angekommen schlug er Richtung Stadtpark ein. Hier ging er immer hin, wenn er Ruhe wollte. Und wenn er seine Ruhe wollte, ging er joggen. Und zum Joggen ging er in den Stadtpark. Zum Glück lag der Stadtpark ganz in seiner Nähe. Nachdem er durch das Tor gelaufen war, rannte er Richtung Westen. Im Sportunterricht gab er sich nie wirklich Mühe, denn er sah keinen Sinn darin, einfach grundlos zu rennen. Sein Sportlehrer hatte ihm zwar des Öfteren angeboten, in die Leichtathletik-Gruppe einzutreten, doch Erik hatte einfach kein Interesse daran. Er joggte nur, wenn ihm danach war. So wie jetzt. Wenn er schlecht gelaunt war. Wenn ihn etwas aufregte. So wie jetzt. „Der Schuh ist mir zu klein.“ Sie seufzte und legte den gläsernen Pantoffel beiseite. Ein Glasschuh, was für eine lächerliche Idee. Und der Prinz wollte die zur Frau nehmen, der der Glasschuh passte. Nun, sie war es eindeutig nicht. Aber, so winzig wie dieser Schuh war, wer hatte schon den passenden Fuß dafür? Außer einem Kleinkind natürlich. Niemand, den sie kannte. „Dann hack dir die Zehen ab!“, drang die kalte Stimme ihrer Mutter zu ihr herüber und sie drückte ihr ein silbernes Messer in die Hand. „Tu es, Drisella.“ Drisella wich erschrocken zurück. Ihre Zehen abhacken? Nein, so etwas konnte sie nicht tun. Sie mochte ihre Füße. Auch wenn sie nicht so winzig waren, wie die vom Glasschuh, so waren sie doch schlank und weich. Vor allem ihre Zehen mochte sie aus irgendeinem Grunde sehr gerne. Manchmal malte sie sich heimlich ihre Zehennägel an, nur um diese noch weiter zur Geltung zu bringen. Und jetzt sollte sie so ein Opfer bringen? Für was eigentlich? Doch einzig und alleine nur für den Prinzen, damit er sie heiratete. Doch, war es das wirklich wert? Sie würde in einem Schloss wohnen, würde im Luxus ertrinken und der Prinz würde ihr jeden Wunsch von den Augen lesen und sie wie eine Prinzessin behandeln. Sie würde eine Prinzessin sein. Das, was sie schon immer wollte. Dann würde sie nicht mehr im Schatten von Anastasia stehen, sondern selbst jemand sein. Eine Prinzessin. Und wie erklärte sie dem Prinzen dann ihre „Behinderung“? Was sollte sie ihm sagen, wenn er sie in der Hochzeitsnacht nach ihren fehlenden Zehen fragte? Ein Unfall, der ihr das angetan hatte, doch ob er ihr das auch glauben würde, das bezweifelte Drisella doch sehr. Denn, war es nicht großer Zufall, dass ausgerechnet der behinderte Fuß der Fuß war, welcher in den Glasschuh passte? „Drisella, worauf wartest du noch?“ Es gab Momente, in denen Drisella Angst vor ihrer eigenen Mutter hatte. Sie war eine kalte, erbarmungslose Frau, die sich an dem Leid anderer erfreute. Eigentlich wollte sie nur das Beste für ihre beiden Töchter, doch dass sie dafür selbst ihnen Schmerzen und Leid aufbürden wollte… Drisella hatte zwar keine Ahnung von Kindererziehung und war sich auch noch nicht sicher, ob sie jemals Kinder haben würde … jedoch war sie klug genug, um zu wissen, dass so etwas einfach falsch war. Und außerdem, was hatte der Prinz gleich nochmal gesagt? „Keine andere soll meine Gemahlin werden als die, an deren Fuß dieser goldene Schuh passt!“ Was aber, wenn die Frau nun aber ein entstelltes Gesicht hatte? Oder gar ein Junge war? Drisella biss sich auf die Unterlippe um sich ein Lachen zu verkneifen, konnte aber nicht verhindern, dass ein kaum hörbares Glucksen nach außen drang. Und den scharfen Ohren ihrer Mutter entging dieser Ton natürlich nicht. „Was lachst du so vor dich hin, Drisella?“ fragte sie erzürnt und ihre Augen wurden noch kälter, ihre Lippen noch dünner, falls das überhaupt noch möglich war. „Nun, schlag sie dir schon ab, deine Zehen. Wenn du erst einmal Königin bist, wirst du nicht mehr zu Fuß gehen müssen!“ Die Härte ihrer Worte und der Blick ihrer Augen verriet, dass sie keine Widerrede gelten ließ. Nichts und niemand konnten sich ihr in den Weg stellen. Sie war grausamer als der Teufel höchstpersönlich. Mit zitternden Händen nahm Drisella den juwelenbesetzten Dolch entgegen. Sie hatte Tränen in den Augen und wischte sie heimlich weg, denn sie wollte nicht, dass ihre Mutter dieses Zeichen der Schwäche mitbekam. Als kleines Mädchen hatte sie heimlich immer mit dem Dolch gespielt. Früher hatte sie davon geträumt, einmal als Ritter zu kämpfen. Diese Wünsche waren lächerlich, Frauen wurden keine Ritter. Sie wurden Prinzessinnen und blieben zuhause. Drisella wusste, dass sie niemanden von diesem Wunsch erzählen durfte, wenn sie nicht ausgestoßen werden wollte. Und so hatte sie hübsch das kleine süße Mädchen gespielt, dass unbedingt einmal Prinzessin sein wollte. Nur nachts hatte sie sich rausgeschlichen und heimlich mit dem Dolch gespielt, wenn niemand sie sah. Und nun sollte ausgerechnet dieser Dolch, der mehr Geheimnisse von ihr wusste, als ihre eigene Mutter, ihr so etwas antun? Drisellas Hände zitterten noch stärker, während sie langsam den Dolch an ihre Zehen führte und die Spitze über den Fuß gleiten ließ. „Nun tu es endlich!“, rief ihre Mutter barsch. „Der Prinz wird nicht ewig warten!“ Drisella atmete tief ein und verabschiedete sich in Gedanken von all den Dingen, die sie nun nie wieder tun würde. Nie wieder tanzen, nie wieder laufen ohne bei jedem Schritt an diesen Schmerz erinnert zu werden. Mit einem einzigen, entschlossenen Schnitt schlug sie sich die Zehen ab. In hohem Bogen flogen diese durch die Luft und landeten auf dem teuren Perserteppich. Drisella wagte es kaum, die Augen zu öffnen. Teils vor Abscheu, teils vor Schmerz. Ihre Mutter trat hervor und wickelte ein Stück Stoff um ihren verletzten Fuß. „Nun geh, Kindchen!“ Sie hielt ihr den gläsernen Schuh entgegen. „Geh und werde eine Königin!“ Kein Wort des Trostes, kein liebevolles Wort einer besorgten Mutter. Nur der kalte Blick in ihren Augen. Drisella schluckte und schlüpfte vorsichtig in den Schuh rein. Ihr Fuß tat so weh. Vorsichtig stand sie auf und hinkte zur Tür hin. Und auch diesmal machte ihre Mutter keine Anstalten ihr zu helfen, sondern rief ihr noch hinterher, sie solle normal laufen, sonst würde der Prinz Verdacht schöpfen. An der Tür lehnte ihre ältere Schwester Anastasia. Tränen standen ihr in den Augen, doch sie wischte sie hastig weg, als ihre Mutter aus dem Raum trat. Anastasia hatte es nicht geschafft, der Prinz hatte den Betrug bemerkt und war zurückgekommen. Für einen Moment loderte Hass in Drisella auf. Wenn Anastasia sich nicht so dumm angestellt hätte, wäre Drisella dieses Schicksal erspart geblieben. Doch dann blickte sie in das schmerzverzogene Gesicht ihrer Schwester, zu der sie immer aufgeblickt hatte und bereute diesen Gedanken. Es war nicht ihre Schuld. „Du bist eine Schande für mich!“ Ihre Mutter ließ kein gutes Wort an ihr aus. Drisella ballte die Hände zusammen. Die Einzige, die Schuld hatte war ihre Mutter. Diese grauenvolle, erbarmungslose Frau. „Es tut mir Leid, Mutter!“ Anastasia wischte sich die Tränen aus den Augen und senkte ihren Kopf. Sie wusste, sie würde ihre Strafe kriegen. Schläge mit der Gerstenpeitsche. So wie immer wenn sie etwas Unartiges getan hatten. „Ich kümmere mich später um dich!“ Ihre Mutter umfasste Drisellas Oberarm und ihre spitzen Fingernägel kniffen in ihr Fleisch und entlockten der jüngeren Tochter einen kleinen Schmerzensschrei, während sie zum Wohnzimmer, wo der Prinz wartete, gezerrt wurde. „Warte hier auf mich, damit du deine gerechte Strafe bekommen kannst!“ „Jawohl, Mutter!“, war alles was Anastasia entgegnete. „Wie Ihr wünscht, Mutter!“ Drisella senkte den Kopf vor Zweifeln. Wie konnte ihre Schwester bloß noch so reagieren, nachdem was Mutter ihnen angetan hatte? Sie hatte sie verkrüppelt, sie zu Invaliden gemacht. Doch Anastasia war ihrer Mutter noch immer blind ergeben. Sie blickte in die Augen ihrer Schwester und sah in denen zwar den Schmerz, jedoch keinerlei Vorwürfe gegenüber ihrer Mutter. Enttäuscht sah Drisella eilig weg. Dieser Blick ihrer Schwester schmerzte viel mehr als ihr verkrüppelter Fuß. Endlich erreichten sie das Wohnzimmer. Drisella verachtete diesen Ort, denn er war immer kalt, trotz des steinernen Kamins am Ende des Raums. Der Prinz hatte auf einem mit samtbezogenen Sessel Platz genommen und sprang nun auf, als Mutter und Tochter hereintraten. Sofort fiel sein Blick auf ihren Fuß und als er dort den gläsernen Schuh sah, nahm er ihre Hand und küsste sie sanft. „Meine Gemahlin!“, sprach er dabei zärtlich. „Endlich habe ich dich wiedergefunden. Nun komm, lass uns in mein Schloss zurückkehren!“ Und mit diesen Worten hob er sie auf und trug sie nach draußen. Dort hob er sie dann auf sein Pferd, einen gefleckten Apfelschimmel und schwang sich hinter ihr auf den Rücken des Tieres. Er nickte ihrer Mutter zu und versprach, dass er jemanden vorbeischicken würde, der sich um die ganzen Formalitäten kümmern würde. Drisella hielt er dabei fest im Arm, doch sie konnte seine Nähe nicht genießen, schmerzte ihr Fuß doch noch zu sehr. Ihre Mutter ließ ein kaltes Lächeln zeigen, doch Drisella erwiderte es nicht. Hoffentlich würde der Prinz diesen Betrug nicht auch noch merken. Und dann ritt er los. Langsam näherten sie sich dem Grab von Aschenputtels Mutter. Auf dem Haselnussstrauch, der dort wuchs, saßen zwei Tauben. Drisella blickte nervös auf die beiden Vögel. Mit einem Male lief eine Gänsehaut über ihren Rücken. Sie wollte nicht dort lang reiten. Es würde alles zerstören, wenn sie da langritten. „Rucke Di Guck, Rucke Die Guck Blut ist im Schuck Der Schuck ist zu klein Die rechte Braut sitzt noch daheim!“, zwitscherten die Vögel leise. Der Prinz hielt sofort an, als er dies hörte und sprang vom Pferd. Mit einem einzigen Ruck riss er ihr den Schuh vom Fuß. Und dabei löste sich auch der Stoff und entblößte ihre Wunde. Wütend zerrte er sie vom Pferd und stieß sie zu Boden. „Wie dreist kann man eigentlich sein und diesen Trick zweimal anwenden?“ Er griff nach dem Glasschuh und betrachtete das blutige Schuhwerk eingehend. „Gut, dann halt nicht!“ Und mit einer raschen Bewegung schlug er den Pantoffel auf den Boden, wo dieser in tausend Stücke brach. Und ohne ein weiteres Wort schwang er sich auf sein Pferd und ritt davon. Drisella blickte auf die Scherben des Glasschuhs. Nun hatte sie alles verloren. Was sollte sie jetzt machen? Weinend brach sie zusammen. Alles war verloren. Erschöpft blieb Erik stehen und sein Blick glitt über den See, der rund um den Park angelegt war. Neben ihm watschelten einige Enten vorbei und er atmete schwer ein und aus. Er war die ganze Zeit gerannt, jetzt brauchte er erst einmal eine Pause. Zielstrebig steuerte der Junge eine Bank an, die ganz in der Nähe des Wassers stand. Nur eine alte Frau saß dort, die Enten fütternd. Er ließ sich am anderen Ende der Bank neben ihr nieder und beobachtete die Enten, die um die Frau herumwatschelten und nach den Brotkrumen schnappten, die sie ihnen entgegenwarf, während sie sanft mit ihnen redete. Das alte Brot holte sie aus einer Tasche hervor und brach es immer in kleine Stücke mit ihren faltigen, von Altersflecken übersäten Händen. Sie trug eine viel zu große, grüne Jacke, deren Ärmel sie sich mehrmals nach oben gekrempelt hatte und eine graue Samthose. Er beobachtete sie eine Weile lang und dachte nach. Was sollte er jetzt tun? Zurück wollte er auf keine Fälle, er würde es nicht länger dort aushalten. Es waren nur noch wenige Monate bis er endlich volljährig wurde und dann würde er endlich aus diesem Haus verschwinden. Doch bis dahin brauchte er Geld und da er zusammen mit seinem besten Freund Victor zusammenziehen wollte, musste er solange warten. Seine Eltern erlaubten ihm erst, von Zuhause auszuziehen, sobald er volljährig war. Und das war glücklicherweise einen Tag vor Eriks eigenem Geburtstag. Doch bis dahin waren es noch zwei Monate. Zwei Monate, in denen er jeden Tag nach Hause kommen sollte, seinen Vater betrunken vorfinden würde und sich ständig anschreien lassen würde. So wollte er nicht weitermachen. Am liebsten würde er gar nicht mehr nach Hause kommen. Es war nicht so, dass Erik Angst vor seinem Vater hatte. Er schlug ihn nie, jedoch kümmerte er sich nicht um seinen Sohn. Seit Eriks Mutter vor zehn Jahren bei einem Unfall gestorben war, hatte sein Vater sich gehen lassen. Er hatte seinen Job verloren, nachdem er betrunken zur Arbeit erschienen war. Und mit dem Trinken hatte er angefangen, nachdem seine Frau verstorben war. Erik hatte früh lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Er fälschte die Unterschrift seines Vaters und ließ sich Ausreden einfallen, weshalb dieser nicht zu den Elternsprechtagen kommen konnte. Zu viel Arbeit. Zu viele Termine. Ja, beim nächsten Mal würde er bestimmt kommen. Erik lernte zu lügen. Zu sich nach Hause lud er niemals Freunde ein, sein Vater wolle bei seiner Arbeit nicht gestört werden. Niemand bemerkte das Lügengebilde, das Erik sich aufbaute. Es war ein Wunder, dass es so lange hielt. Schon öfters drohte es einzustürzen, doch er riss es immer wieder rum. Dabei hatte er oft genug darüber nachgedacht, sich endlich Hilfe zu holen. Selbst zum Jugendamt zu gehen, doch was sollten sie schon machen? Bei denen würde der Papierkram monatelang dauern, bis irgendjemand mal in die Gänge kam. Darauf konnte Erik wirklich verzichten. Und außerdem, bald hatte er es ja endlich überstanden. Nur noch ein paar Monate. Und dann würde er diesem Menschen den Rücken zukehren. Für immer. Das laute Husten der alten Dame neben ihn weckte ihn aus seinen Gedanken. Wie lange saß er schon hier? Die Frau jedenfalls packte ihre leere Tüte zusammen und schob sie in eine ihrer Jackentaschen. „Nun geht schon, ich habe nichts mehr!“, rief sie den Enten zu und tatsächlich watschelten sie davon, so als hätten sie die alte Frau verstanden. Aber das konnte ja nicht sein, dachte Erik amüsiert. Enten konnten Menschen nicht verstehen. Er stand auf und streckte sich, während er überlegte, was er nun tun sollte. „Du solltest vorsichtig sein mit dem was du dir wünschst. Es könnte sonst in Erfüllung gehen!“ Die Frau blickte auf. Sie war alt, uralt. Ihr Gesicht war von Falten durchzogen und ihre Augen so blass, das Erik sich fragte, ob sie nicht blind war. Schlohweißes Haar blickte unter ihrem Hut hervor und als sie sprach, entblößte sie vereinzelt fehlende Zähne. Erik blickte sie erstarrt an. Wie konnte die Frau nur wissen, was er sich gedacht hatte? Ach, wahrscheinlich hatte sie bloß geraten. „Manchmal ist es besser, wenn man redet. Und zwar die Wahrheit sagen!“, fügte die Frau hinzu. „Denn mancher Wunsch ist gefährlich…“ Und dann kramte sie in ihrer Tasche herum, bis sie eine Kette hervorholte, an der ein Amulett hing. Verschnörkelungen umrahmten das silberne Schmuckstück, in dessen Mitte ein blauer Edelstein eingefasst war. Sie drückte ihm die Kette in die Hand. „Du musst für dein Happy End kämpfen, mein Junge!“, flüsterte sie dabei und sah ihn mit festem Blick an, sodass Erik nicht wegsehen konnte. „Denn manchmal ist der richtige Weg nicht immer der Helle!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)