Henkerslied von sissyphos (Die Wahrheit über H. Abernathy) ================================================================================ Kapitel 1: Ein steiniger Weg ---------------------------- Als ein Fremder stehe ich vor dieser Haustür, die mich in mein neues Zuhause führen soll. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe zum Himmel hinauf. Die Sonne versucht vergeblich, gegen die vielen Wolken anzukämpfen, die ihr die Sicht versperren. Das riesige Haus versperrt einem genauso die Sicht. Es sieht aus, als würde es in den Himmel hineinwachsen. Und es sieht aus wie neu, obwohl es seit Jahren leer steht. Schließlich bin ich erst der zweite Tribut aus Distrikt 12, der aus den Hungerspielen als Sieger heimkehrt. Jedem Gewinner steht eines dieser prunkvollen Häuser und ein Vermögen, das bis ans Lebensende reicht, zu. Ich bin nun auch einer von denen, die keine Sorgen mehr haben. Jedenfalls wird hier ein Teil meiner heißgeliebten Ruhe zurückkehren. Ich darf meine Familie und meine Freundin wiedersehen. Das ist weit mehr als ich mir zu Beginn der Spiele erhoffte. Seufzend drehe ich den Schlüssel in der Tür herum, den mir ein Mann im Hovercraft überreichte. Wobei »überreichen« zu viel des Guten ist. Er hat ihn mir missbilligend in die Hand gedrückt. Allgemein brachte man mir auf dem Flug wenig Sympathie entgegen. Jedenfalls in der kurzen Zeit, in der sie mich nicht betäubt hielten. Aber das interessiert mich gar nicht. Hauptsache ich bin endlich nach Hause zurückgekehrt. Mit einem unruhigen Pulsschlag drücke ich die Klinke herunter und will mich schon in Bewegung setzen, da muss ich noch einmal inne halten. Für einen Augenblick lehne ich mich gegen den Türrahmen und warte solange, bis das Schwindelgefühl wieder nachlässt. Dann setze ich langsam einen Fuß vor den anderen. Der leere Flur lässt mich allerdings schneller gehen. Meine Familie war nie sonderlich bekannt dafür, Überraschungen zu veranstalten. Dagegen ist es typisch meine Mutter mit einem, für unsere Verhältnisse, großen Kuchen in der Küche warten zu sehen, wie es zu Geburtstagen oftmals der Fall war. Freesia steht mit Sicherheit daneben und hat mir irgendetwas Schönes gebastelt. Vor allem für ihren Hang zu Blumenketten ist sie bekannt. Da ich sie liebe, nehme ich die bunten Schmuckstücke natürlich von Herzen gerne entgegen. Das werde ich auch jetzt wieder tun. Schnaufend erreiche ich die Küche und merke noch selbst, dass sich auf meinen Lippen ein sehnsüchtiges Lächeln breit macht, als ich auch schon feststellen muss, dass selbst dieser Raum wider Erwarten menschenleer ist. Es ist ungewöhnlich still hier. So still, wie man es als Mitglied einer Familie einfach nicht gewöhnt ist. Die große Fläche und die zwar wunderschönen, aber auch kalten Fliesen des Raumes machen alles nur noch schlimmer. Wenn ich mich jemals wirklich einsam und verlassen gefühlt habe, dann genau in diesem Moment. Ganz genau jetzt. Nicht einmal in den Nächten, in denen ich glaubte, jeden Augenblick von einem meiner Gegenspieler abgestochen zu werden, fühlte ich mich so schrecklich wie jetzt. »It's the silence before the storm, isn't it?«, flüstere ich altbekannte Worte und drehe mich dann langsam im Stand herum. Ich mache mir nicht die Mühe, das Haus weiter zu besichtigen, sondern finde direkt den Weg ins Wohnzimmer und lasse mich dort auf einen der gepolsterten Sessel sinken. Viele Minuten sitze ich hier stillschweigend und mustere lediglich meine unterkühlten Handflächen. Sie beginnen langsam aufzutauen. Auch mein Gesicht wird zunehmend wärmer. Als ich von der Hitze gekitzelt aufsehe, stelle ich fest, dass der Kamin fröhlich vor sich hin flackert. Wie von Geisterhand scheint er sich selbst entzündet zu haben und die Flammen tänzeln nur so miteinander. Sie spenden mir die Wärme, die ich bitter nötig habe. Um ehrlich zu sein, frage ich mich, wie viel von dem, was ich weiß und glaube, überhaupt der Wahrheit entspricht. Diese ganzen Bilder vor meinen Augen. Wie viele davon habe ich selbst gemalt? Durch das plötzliche Kribbeln in meinem Bauch, lege ich eine Hand darauf und entsinne mich postwendend an ein Fragment meiner Erinnerung. Mit einem Ruck ziehe ich den Pullover nach oben und fixiere die nackte Haut mit forschenden Blicken. Dort erkenne ich eine hauchzarte Narbe, die sich jedoch quer über meinen Rumpf erstreckt. Bei dem Anblick gefriert mir das Blut in den Adern. Dann schallt mit einem Mal ein Ton durch das Zimmer, den ich noch nie zuvor gehört habe. Panisch schrecke ich nach oben und fingere direkt an meiner Hüfte herum, um mein allzeit parates Messer zu ziehen. Dass dort weder ein Gürtel noch eine Waffe zu finden ist, treibt mich erst ab dem Moment nicht länger in den Wahnsinn, als ich das penetrante Geräusch identifiziere. Das Telefon klingelt. Aufgewühlt trample ich umgehend quer durch den Raum und finde schließlich das kleine Gerät, von dessen Sorte ich noch nie zuvor eines besaß. Ich drücke auf den Knopf zum Abheben und halte mir den Hörer ans Ohr. Anstatt nun irgendetwas zur Begrüßung zu sagen, räuspere ich mich lieber einmal ausführlich. Mein Herz hängt mir noch immer tief in den Kniekehlen. »Haymitch Abernathy«, quietscht eine mir unbekannte Stimme am anderen Ende. Sie lässt mich gar nicht erst zu Wort kommen. »Ihr Vorbereitungsteam wird in ein paar Stunden bei Ihnen eintreffen. Dann werden Sie auf die Feier des heutigen Abends vorbereitet. Freuen Sie sich darauf!« Nach diesen wenigen Sätzen ist die Leitung wieder tot. »Mein Vorbereitungsteam«, wiederhole ich und krame in meinem Gedächtnis. An ihre Gesichter kann ich mich noch grob erinnern. Auch, dass sie wahnsinnig oberflächlich waren und mir mit ihrem Gerede tierisch auf die Nerven gingen. Aber das beunruhigt mich weniger, als die Tatsache, dass heute meine Siegesfeier stattfinden soll. Schließlich weiß ich, was mich dort erwartet. Genauso wie ich weiß, was ich nicht erwarten kann. Es werden dort keine Wunder geschehen. Schließlich habe ich die Spiele in den letzten Jahren oft genug im Fernsehen verfolgt, um mir da ganz sicher sein zu können. Mich kann sowieso nichts mehr schocken. Weder der Verlust meiner Familie, noch der von Freesia. Trotzdem bin ich mir sicher, dass dies ein Empfang der ganz besonderen Art werden wird. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)