Henkerslied von sissyphos (Die Wahrheit über H. Abernathy) ================================================================================ Kapitel 2: Ein herrliches Festmahl ---------------------------------- Nach einigen Stunden der Vorbereitung und des sinnlosen Geplappers sitze ich hier auf dem gepolsterten Sessel, der etwas Königliches an sich hat, und folge Caesar Flickermans dramatischer Gestik soweit wie möglich. »Ach du liebe Güte! Das sieht ja in echt noch viel schlimmer aus, als im Fernsehen!«, schrie Cerenity aufgebracht bei unserer ersten Begegnung nach den Spielen. Ihr Entsetzen bezog sich ganz anscheinend auf meine Frisur, denn diese wurde von ihr allein die kompletten zweieinhalb Stunden in Beschlag genommen. Die anderen beiden, Lavius und Marlvin, kümmerten sich in der Zeit um das Erscheinungsbild meiner Haut und konnten es sich beim besten Willen nicht verkneifen, ungefähr alle fünf Minuten hoffnungslos zu seufzen. Meine Stylistin Rosalie setzte meinem Kostüm derweil das letzte i-Tüpfelchen auf und kleidete mich in einen bunten, seidenen Anzug, der von Caesars blauem Glitzeranzug jedoch komplett in den Schatten gestellt wird. Wenn man einmal das Gefühl kennt, Stofffetzen und Dreck in den verheilenden Wunden kleben zu spüren, dann ist selbst das sonst ekelhafte Empfinden von Seide eine wahre Wohltat auf der Haut. Dagegen tun mir das knallende Scheinwerferlicht und Caesars lautes Organ gar nicht gut. Ich stemme eine Faust gegen die Schläfe und presse sie unauffällig immer fester darauf, um meine aufquellenden Kopfschmerzen zu unterdrücken. »Was ist los, Haymitch?«, fragt Caesar mit einer Mischung aus Spaß und Vorwurf. »Ist dir etwa jetzt schon langweilig? Dabei unterhalten wir uns doch gerade einmal ein paar Minuten«, kichert er und funkelt mich aus seinen aufmerksamen Augen an. Ich wende kurz den Blick ab. »Ist das ein Wunder nach diesen Spielen?«, frage ich mit einem sarkastischen Lächeln und mein Gegenüber erwidert es. Auch die Ansammlung von bestimmt drei- oder vierhundert Menschen wirkt erheitert und lacht oder kichert über meine Aussage. Meine Augen wandern einmal quer durch die Menge und müssen aussehen, als wolle ich all ihre Reaktionen beobachten können. Weder meine Familie, noch meine Freundin ist hier. Da ist kein sanftes, aufbauendes Lächeln meiner Mutter, kein tadelnder Blick meines Vaters und auch kein hell blondes, schimmerndes Haar meiner Freundin. Dort, in der zweiten Reihe, steht Maysilees Mutter. Sie hat dieselben blonden Locken wie ihre Tochter. Ihr Blick wirkt seltsam ruhig. Ich wünschte, sie würde mich mit offensichtlichem Hass und Verachtung strafen, aber das tut sie nicht. Sie steht bloß da und starrt mich ungläubig an, als könne sie nicht begreifen, dass es nicht ihre Tochter ist, die meinen Platz einnimmt. Als wäre sie in einem Traum gefangen und sage sich selbst immer wieder: »Gleich wache ich auf und dann steht Maysilee neben mir.« Aber sie kommt nicht mehr zurück, Laureen. Sie kommt nie wieder zurück. Genauso wenig wie meine Eltern. Oder meine Freundin. Oder Liam. Die sind alle tot. Als nun ein Lächeln meine Mundwinkel umspielt, sehe ich die erste nennenswerte Regung auf ihrem Gesicht. Sie guckt irritiert und ich sehe im selben Moment weg. Das Lachen der Masse ebbt langsam ab und Caesar ergreift wie auf Kommando wieder das Wort: »Ein paar Worte von unserem diesjährigen Gewinner: Wie fühlst du dich heute?« Kurz schließe ich meine Augen, setze mich ordentlich hin und nutze die Sekunden, um mir eine Lüge bereit zu legen. »Ziemlich hungrig, würde ich sagen. Momentan muss ich mich einfach noch schonen. Sennas Angriff ist mir wohl ganz schön auf den Magen geschlagen«, grinse ich leicht und die Menge tobt erneut, während meine Erinnerungen an das Gefühl aufgefrischt werden, den Bauch in einem Zug aufgeschlitzt zu bekommen. Ich weiß nicht, woher ich jetzt noch diesen Sarkasmus nehme. Die Worte sprudeln der Gewohnheit halber nur so aus meinem Mund heraus, während es mir bei dem bloßen Klang des Namens meiner verstorbenen Konkurrentin eiskalt den Rücken hinunter läuft. Caesar funkelt mich erneut mit seinen Augen an. Es gefällt ihm, dass ich jedes Mal so herrlich mitspiele und das Publikum durch meinen Zynismus zum Lachen bringe. »Immer für einen Scherz zu haben«, schmunzelt er ernsthaft amüsiert und fährt dann fort: »Deinen Hunger kannst du, sobald möglich, ja jetzt in Hülle und Fülle stillen. Freust du dich auf dein neues Leben, Haymitch?« Die Frage kommt unerwartet wie ein Faustschlag ins Gesicht. Meine Unsicherheit überspiele ich mit einem Lachen, das klingt, als habe Caesar soeben den Witz des Jahrhunderts gerissen. Schnell winke ich mit einer schlichten Geste ab und räuspere mich kurz. »Freut man sich denn nicht immer, wenn man neugeboren wird?«, antworte ich mit einer Gegenfrage und spüre bereits den Schweiß auf meinen Fingern, der zur Abwechslung nicht von den unmenschlichen Temperaturen des Scheinwerferlichts stammt. Caesar scheint zu verstehen und lächelt ebenfalls. »Da hast du recht«, sagt er und wendet sich in die Richtung der großen Leinwand. Durch die vergangenen Hungerspiele weiß ich natürlich, was jetzt kommt. Die alljährliche Zusammenfassung der besten – also grausamsten Szenen des Wettkampfs. Schlagartig fühle ich mich, als wäre mir alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Vielen Dank, Haymitch«, sagt er noch, als die Musik eingeleitet wird. Ich lächele noch einmal und starre dann wie alle anderen auf diesen Bildschirm, der alles wieder hochtreiben wird, was ich in der vergangenen Zeit versucht habe zu vergessen. Alte Wunden aufreißen und neue, tiefere graben, das ist für mich das eigentliche Ziel dieses bescheuerten Interviews. Früher habe ich immer grinsend den Kopf geschüttelt, wenn ich sah, wie die Sieger ihre eigene Psyche nur noch weiter zerstörten, indem sie sich diese Aufnahmen ansahen. »Guckt doch einfach weg, ihr Deppen«, war mein einziger Kommentar. Die Hymne wird jetzt angespielt und die Gesichter der wichtigsten Personen eingeblendet. Einige werden sogar komplett weggelassen, wenn sie zu schnell das Spiel verließen. »Guck doch einfach weg, du Depp«, rate ich mir noch einmal selbst, als mein Pulsschlag merklich an Schnelle gewinnt. Aber ich kann einfach nicht. Das liegt nicht bloß an der Tatsache, dass jedermann zusieht und mich als Feigling entlarven könnte, sondern auch an meinem ganz persönlichen Hang zur Selbstzerstörung, wie mir scheint. Während ich mich noch frage, ob dieses Verhalten wohl in der Natur des Menschen liegt, erkenne ich auch schon die erste bekannte Person: Nero aus Distrikt 1. Er war sozusagen der Anführer der Karrieros, bis schließlich der malerische Berg ausbrach, der ihn, das Mädchen Iris Odair und ein paar andere unter seiner Lava begrub. Den Opfern des Ausbruchs widmet man gerade einmal wenige Sekunden, dann sieht man auch schon Phenix. Den schlauen kleinen Jungen, der deutlich länger überlebte, als manch einer glauben wollte. Heute sehe ich auch den Grund für sein Ableben: Eine Horde der süßen, kleinen, aber auch Fleisch fressenden Eichhörnchen hatte ihn erwischt. Das ist ein Anblick, den ein normaler Mensch nicht genießen kann. Aber vielleicht bin ich auch nicht der beste Ansprechpartner um »normal« zu definieren. Es folgen noch einige weitere, deren Geschichte hier kurz präsentiert wird und ich bin schon fast so weit, wieder in meine gelangweilte Position zu verfallen, da ereilt mich eines der Bilder, das ich so gefürchtet habe: Maysilees Gesicht. Nicht verzerrt, verletzt oder gar starr und tot. Einfach nur ihr Gesicht. Ich beobachte sie erstmalig dabei, wie sie aus dem wenigen, das sie besaß – nicht mehr als ein Blasrohr, ein paar Dutzend Pfeile, eine Schale und ein wenig getrocknetes Rindfleisch – eine gefährliche Waffe baut. Sie tränkt die Pfeile in dem Saft einer wunderschön farbigen Frucht und schießt diese mit Hilfe des Blasrohrs auf ein kleines Tier ab. Nach wenigen Sekunden geht es zu Boden, kämpft noch kurz mit dem Tod und regt sich dann nicht mehr. In dieser Arena war nahezu alles giftig. Selbst das glasklare Wasser in den plätschernden Bächen. Auf Maysilees Gesicht bildet sich bei diesem Anblick ein zufriedenes Lächeln. Dieses Lächeln steht im direkten Kontrast zu meiner letzten Begegnung mit ihr: Sie stand im ersten Moment noch, während ein prächtig gefiederter Vogel mit langem Schnabel ihren Hals durchbohrte. Dann ging sie zu Boden wie dieses Tier, das sie erlegte, schrie wie am Spieß und ich konnte nichts weiter tun, als solange ihre Hand zu halten, bis sie das letzte Mal Luft holte. Für einen Moment erinnere ich mich wieder an ihre Mutter, die in der Menge steht. Ich frage mich, was sie gerade denkt und wie sie auf die Bilder reagiert, die sie sich abermals ansehen muss oder vielleicht sogar zum ersten Mal sieht. Auch wenn meine Neugierde vorhanden ist, traue ich mich dennoch nicht zur Seite zu blicken. Meine Augen kleben stattdessen regelrecht am Bildschirm fest, auf dem nun genau diese besagte Szene gezeigt wird. Nach allem, was passiert ist, bin ich dazu geneigt zu schreien. Dieses blonde Haar macht mich wahnsinnig. Es erinnert mich so sehr an Freesias. Freesias Haar, das mit Sicherheit seit Tagen von nichts als Dreck bedeckt ist. Genauso wie der Rest ihres Körpers. Schlag für Schlag sorgt mein Herz dafür, dass mir mit jedem Mal unwohler in meiner Haut wird. Nur noch wenige Millisekunden trennen mich von einem Nervenzusammenbruch vor versammelter Mannschaft. Doch wie auf Kommando durchströmt plötzlich etwas ganz anderes meine Gedankengänge: »Du musst die Leute täuschen, damit sie deine Schwächen nicht erkennen.« Die Stimme eines Menschen, der mir in den Spielen sehr vertraut wurde. Vielleicht der Einzige, dem ich in manchen Momenten sogar vertraut habe. »Wenn dir jemand den Tod eines geliebten Menschen verkündet, dann darfst du ihm nicht zeigen, dass du von dieser Neuigkeit in Stücke gerissen wirst. Gerade dann musst du nüchtern und mit gespielter Gleichgültigkeit reagieren. Selbst, wenn das noch so grausam und herzlos klingt. Glaub mir, ich weiß schon, wovon ich spreche.« Als wäre sie wirklich präsent, höre ich diese tadelnde Stimme noch einmal in meinem Ohr. Es war ein gut gemeinter Ratschlag. Einer, der ernst gemeint war und von Herzen kam. Etwas, das vor allem bei den Hungerspielen nichts Selbstverständliches ist. Dort kämpft jeder nur für sich selbst. Aber manchmal gibt es Ausnahmen. Diese Ausnahmen, die meist ein rebellisches Ziel verfolgen und für meinen Geschmack als törichte Idioten bezeichnet werden können, sind in den häufigsten Fällen einfach nur vorlaut, neunmalklug oder bei den Spielmachern erst beliebt und ab dem Moment äußerst verhasst, wenn sie nicht schnell das Zeitliche segnen. Auf Liam Odair trifft alles zu. Aber immerhin hatte er etwas, das ihm einen Antrieb verschaffte. Etwas, das es ihm nach dem Tod seiner Schwester noch ermöglichte weiterzumachen. Auch wenn das Gegenteil in meinem Interesse gewesen sein müsste. Doch schließlich habe ich ihm auch bei unserer ersten Begegnung in der Arena das Leben gerettet. Und Maysilee rettete meines. Also warum nicht noch mehr Widersprüche? Das macht doch alles keinen Unterschied mehr. Erstaunlich viele Bilder werden von ihm gezeigt. Im Verhältnis noch viel mehr, als von den anderen. Ein leichtes Grinsen kann ich mir bei dem Gedanken, dass das mit Sicherheit Snows Werk ist, nicht verkneifen. Doch dieser leichte Anflug von Sarkasmus verfliegt genau in dem Augenblick wieder, als Liam zu singen beginnt. Ein paar Strophen, die das Kapitol nicht in jeglicher Form verhöhnen, werden nun abgespielt. Es ist wie ein Déjà-vu. Diese Stimme, die mit so viel Kraft all ihre Wut und den Hass auf das System ausdrückt. Diese Stimme, die mir auf eine makabre Art sowohl Trost spendete, als auch Kraft schenkte, erklingt nun wieder in neuem Glanz. Ganz langsam sickert das, was ich fast vergessen hatte, wieder durch mein Gehör und bohrt sich darin fest. Ich lausche den Klängen in weiser Voraussicht, dass ich die darauffolgenden Nächte nicht schlafen werde. Dann beginnt endlich das wirkliche Schauspiel: Unser einziger Streit wird gezeigt. Und erst jetzt, wo ich selbst die Situation beobachten kann, stelle ich fest, dass wir beide nicht mehr so aussehen wie zu dem Zeitpunkt, als wir die Arena betraten. Diese ganze Ruhe, die er fälschlicherweise zu Beginn ausstrahlte, ist vollkommen dem Wahnsinn gewichen. Seine Pupillen sind leicht geweitet, der blaue Anzug hängt in Stücken herab und gibt fast die komplette Brust preis. Der Anblick von Striemen auf seinem Rücken ist auf Nox' Anschlag zurückzuführen, den ich im letzten Moment stoppte und somit Liams Leben rettete. Eigentlich war es mehr eine Art Kurzschluss, durch den ich handelte. Dieser Anblick von Folter erinnerte mich einfach zu sehr an eigene Erlebnisse in meinem Distrikt. Nur deshalb streckte ich Nox in Sekundenschnelle nieder und bewies dem Publikum damit meine Barmherzigkeit, die mir mit Sicherheit einige Pluspunkte bei den Zuschauern einheimste. Bei meinen nächsten Worten springt Liam wütend auf, fuchtelt wild mit seinen Händen durch die Luft und schreit mich an. Seine Stimme bebt. Bei genauerem Hinsehen erkennt man sogar ein leichtes Zittern der Gliedmaßen. Dann die zahlreichen Schrammen und Einstichwunden. Insgesamt scheint er ziemlich fertig zu sein. Daneben sehe ich aber auch nicht unbedingt besser aus. Durch seine Reaktion fletsche ich die Zähne wie ein wildes Tier, spanne meinen Körper bis aufs Äußerste an und starre mit angriffslustigem Blick direkt in seine Richtung. Ich erinnere mich noch daran, dass ich ihn am liebsten getötet hätte. Für das, was er in dem Moment zu mir sagte. Für das, was vielleicht wahr war. Vielleicht war es das. Aber selbst jetzt spüre ich diese Wut wieder in mir aufkochen. Nur gibt es nun nichts mehr, was ich töten könnte. Denn kurz darauf würde Liam Odair sterben. Es gibt kein alternatives Ende für ihn. Dieses Ende ist sein Ende. Doch zuvor wird mir noch die Szene gezeigt, die bisher im Verborgenen blieb. Während ich ein paar Tiere niederstrecke, sitzt Liam nach seiner wortlosen Verabschiedung, die ich als regelrechte Flucht bezeichne, vor einem Baum und starrt in den Himmel. Diese Szene wird komplett gezeigt. Ganz ohne Sprünge. Das soll mir wohl zeigen, wie entscheidend dieser Moment ist. Ich soll genau hinsehen und mir jeden Augenblick davon einprägen. Vermutlich wäre es klug, jetzt endlich einmal wegzusehen. Schon allein aus reinem Selbstschutz. Aber ich kann nicht. Ich kann das einfach nicht. Anstatt das vermeintlich Richtige zu tun, starre ich in das von Hass und Verzweiflung gezeichnete Gesicht dieses jungen Mannes, der mit seinen achtzehn Jahren, die er zu allem Übel auch noch mitten in den Spielen erreichte, wahrscheinlich viel mehr verlor als ich. Schließlich hatte er ein heroisches Ziel vor Augen, das ihm durch den Ausbruch des Berges zunichte gemacht wurde. Auf der Leinwand sitzt er ganz ruhig da, blinzelt ein paar Mal und die Menge droht im Hintergrund unruhig zu werden, als er plötzlich das Lied zu summen beginnt, das er mir und den Zuschauern sang. In diesem Augenblick geht ein leichtes Seufzen durch die Reihen. Ich dagegen, der nicht weiß, was nun kommt, lausche gebannt jedem seiner Atemzüge, als könnten dadurch ungestellte Fragen beantwortet werden. Bei seinen nachfolgenden Worten fühle ich mich so wie in dem Moment, als ich das Haus betrat und mir bewusst wurde, dass ich meine Lieben verloren hatte. Es fühlt sich an, wie ein Fass ohne Boden, in das man gestoßen wird. Da ist einfach kein Halt mehr. Da ist nur noch stetiges Fallen, bis man aus diesem tranceähnlichen Zustand erwacht und sich der Realität stellt. Eine Realität, die beschissener nicht sein könnte. »Tut mir leid, Haymitch. Ich mag dich auch. Und weil ich dich so mag, werde ich das alles jetzt beenden. Wir sind nur noch zu dritt. Du, Senna und ich. Ich hab nicht vor aufzugeben, okay? Ich mach das für uns alle nur einfacher. Für dich und für mich und für Senna.« Danach steht er einfach auf und verschwindet im Wald. Er bewegt sich nicht schnell, aber er zögert auch nicht. Er geht dem entgegen, was er für das Richtige hält. Die nächste Szene zeigt den Kampf gegen Senna. Tatsächlich kämpft er mit seiner kompletten verbliebenen Kraft und fügt ihr einige tiefe Wunden zu, bis er schließlich selbst zu Boden geht. In dem Moment, als die Kanone ertönt, deren Klang den Tod eines Tributs verkündet, schwenkt die Kamera auf mich um. Sie zeigt, wie ich wie von Sinnen losstürme und letztlich auch wie von Sinnen auf Senna losgehe, als ich die Situation begreife. Zur Strafe für mein übereiltes Handeln, zieht sich die Spitze ihrer Axt quer durch meinen Bauch und sorgt dafür, dass ich mich für einen lebensentscheidenden Moment zu Boden krümme. Dank meinen Unmengen an Adrenalin verliere ich jetzt nicht das Bewusstsein. Ich weiß, dass ich sonst tot bin. Deshalb hole ich mit voller Kraft aus und schlage ihr mein Messer direkt ins Gesicht, erwische ihr linkes Auge. Die verschaffte Zeit nutze ich, um mich zum Kraftfeld zu schleppen, das ich gemeinsam mit Maysilee erreichte und als tödliche Waffe enttarnte, bevor wir getrennter Wege gingen. Trotz meines Vorsprungs ist mir Senna dicht auf den Fersen und als ich sie immer deutlicher und lauter hinter mir höre, schmeiße ich mich auf den Boden. Nur Sekunden später saust ihre Axt über meinen Kopf hinweg. Auch jetzt rutscht mir das Herz bei dieser Szene wieder halb in die Hose. Ich hatte einfach nur Glück. Mehr nicht. Ihre Axt hätte sich in meinen Kopf bohren können – mühelos. Doch stattdessen wird jene vom Kraftfeld zurückgeschleudert und trifft die Werferin mit tödlicher Wucht. Sie geht zu Boden und die Fanfaren ertönen. Dann ist der kurze Film zu Ende, die Musik geht aus und das Publikum applaudiert wie bei einem vollbrachten Theaterstück. Das hier ist mein zusammengerafftes Leben. Vom Rest ist nicht mehr als eine verblasste Erinnerung geblieben. Der Bildschirm wird schwarz und ich entspanne augenblicklich. Ich kann nichts dafür, doch plötzlich fällt mit einem Schlag die Anspannung von meinen Schultern und lässt mich im Sessel einsacken. »Das war also dein großer Auftritt, Haymitch«, sagt Caesar zum Abschluss und mustert mich mit seltsamer Miene. »Aber da wäre noch etwas...Eine Art Überraschung für dich«, erzählt er weiter und dreht seinen Stuhl leicht, um zum Bühnenausgang zu sehen. »Eine Überraschung für mich«, wiederhole ich monoton und grinse ihn an. Meine Finger verschränke ich miteinander, während in meinem Kopf Bilder von abgehackten Gliedmaßen meiner Liebsten auf einem Silbertablett umher tänzeln. Kurz schließe ich die Augen, um diesen Anblick auf mich wirken zu lassen, da erreicht mich abermals Caesars Stimme: »Ich würde dir gerne noch eine Frage stellen, Haymitch.« »Warum auf einmal so förmlich? Immer nur raus mit der Sprache, damit ich wieder zu deinen Gunsten und auf meine Kosten einen dieser blöden, schlechten Witze reißen darf, über den mindestens die Hälfte dieser einfältigen Idioten lachen kann.« Mein abruptes Lächeln deutet Caesar wohl als Zustimmung. »Wart ihr Freunde? Du und Liam?« Mir friert das Gesicht ein. Für einen Augenblick starre ich völlig irritiert in das Gesicht dieses Mannes, der mir im Laufe der Zeit schon so einige merkwürdige Fragen stellte, aber nie eine, die mir auch nur annähernd die Sprache verschlug. Kurz darauf ertönen leise Schritte, die meine Aufmerksamkeit vielleicht mehr auf sich lenken, als es laute, polternde jemals könnten. Bei uns Zuhause wurde niemals getrampelt. Weder bei einer freudigen, noch bei einer schlechten Nachricht. Mein Blick fällt zuerst auf zwei riesige Gestalten, die einen dritten umrahmen. Einen Augenblick betrachte ich die mittlere Person, ehe meine Augen nicht mehr mitmachen und mein Sichtfeld trüb werden lassen. Es gibt nichts, was dieses Gefühl beschreiben könnte, als ich in das vertraute Gesicht blicke. Einen Menschen wiederzusehen, den man tot glaubte, ist nun mal nichts, worauf man ernsthaft hofft. Man träumt zwar Tage und Nächte ausschließlich davon, doch mit einem halbwegs intakten Verstand weiß man dennoch nach dem Aufwachen, dass Wünsche nicht immer zur Realität werden können. Es gibt Dinge, die unmöglich sind und für mich gehörte es bis heute auch dazu, Tote zum Leben wiederzuerwecken. Mir entfahren plötzlich Laute, die ich noch nie zuvor von mir gegeben habe. Endlich wieder ein Gefühl der Freude. Endlich wieder ein wenig Hoffnung auf eine schönere Zukunft. Das hier ist meine Überraschung. Mein ganz persönlicher und spektakulärer Empfang. Etwas, das es in der Geschichte von Panem noch nie gegeben hat. Sie haben zwei Menschen die Arena überleben lassen. Sie haben mir das Leben eines Menschen zum Geschenk gemacht, der mir etwas bedeutet. Sie haben mir einen Freund gelassen. Vielleicht sogar meinen besten. Sie haben mir Liam gelassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)