Henkerslied von sissyphos (Die Wahrheit über H. Abernathy) ================================================================================ Kapitel 3: Zurück ins Diesseits ------------------------------- Zum ersten Mal scheint es nicht bloß ein Traum zu sein. Wie gebannt starre ich in das Gesicht, von dem ich glaube, dass ich in der wenigen gemeinsamen Zeit nahezu alle möglichen Gesichtsausdrücke bei ihm gesehen habe. Allerdings weiß man nie so genau, was nur gestellt ist. Schließlich hat er durch die Schauspielerei, der er sich in seiner Freizeit widmete, einen entscheidenden Vorteil, wenn es darum geht, anderen einen Bären aufzubinden. Ich verharre noch einen Augenblick in meinem Sessel und vergewissere mich, dass es tatsächlich Liam ist, der zu mir gebracht wird. Alles – die gesamte Erscheinung - lässt darauf schließen. Seine leichten Sommersprossen, die ich in dem hellen Licht ausmachen kann, können mich fast restlos überzeugen. Doch als ich das unverkennbare Armband aus Holzperlen sehe, das er als Talisman mit in die Arena nahm, gibt es keinerlei Zweifel mehr. Unmittelbar springe ich mit einem ruckartigen Satz von meiner Sitzgelegenheit auf. Mit stürmischen Schritten nähere ich mich ihm an, überbrücke die letzten Meter zwischen uns und schließe ihn fest in die Arme. Ich halte ihn wie in einem Klammergriff. Mit vielen Griffen vergewissere ich mich, dass er real ist. Dass er hier ist. In Sicherheit und bei mir. Dann bekomme ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten weiche Knie und sacke in mir zusammen. Dennoch lasse ich nicht los, sondern ziehe ihn einfach mit in den Abgrund. Mein eigenes Schluchzen geht nun fast vollständig in den Seufzern der Menge unter. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor Freudentränen vergossen habe. Jetzt rinnt das Wasser unaufhörlich meine Wangen herunter. In diesem Moment bin ich nicht mehr ich selbst. »Das Wiedersehen der Seelenverwandten nach knapp zwei Monaten«, sagt Caesar in feierlichem Tonfall und ruft mir damit in Erinnerung, wie viel Zeit tatsächlich vergangen ist. Hier sitzen wir nun auf dem dreckigen Boden und halten einander ganz fest. Keiner von uns beiden hat jemals damit gerechnet, dass wir uns außerhalb der Arena noch einmal begegnen würden. Das war nie ein Thema. Es war nicht mehr als eine lächerliche Vorstellung. Nicht mehr als kindische Träume, für die wir längst zu alt sind. Es war schon immer so bei den Spielen: Man kommt als Kind und geht entweder tot oder als Erwachsener. Ausnahmslos. Es vergeht eine ganze Zeit, in der wir so dasitzen. Niemand unterbricht uns bei diesem herzlichen, aber auch schmerzlichen Wiedersehen. Gut so, das wäre auch schlecht für die Quoten. Widerstrebend löse ich mich von ihm, um in sein Gesicht zu sehen, das im Gegensatz zu meinem nicht tränenüberflutet ist. Er hat nicht eine einzige Träne vergossen. Nicht eine einzige. Meine Hand lege ich in seinem Nacken ab, um selbst etwas Halt zu finden und beginne mich dann mehrmals zu räuspern, ehe ich den ersten Versuch zu sprechen starte. Auch wenn ich darauf nicht achten will, so sitzen mir die Kameras doch als ständiger Begleiter im Nacken. Dieses Gefühl lässt mich einfach nicht los. »Es ist gut«, sage ich als Erstes. Dabei suche ich seinen Blick und erkenne darin das vertraute Glänzen von meerblauen Augen, wie es in Distrikt 4 üblich ist. Dieser Anblick verschafft mir ein gewisses Maß an Sicherheit. Das ermutigt mich dazu weiterzusprechen. »Du bist hier. Jetzt wird alles besser. Das verspreche ich dir«, formuliere ich die Worte, die mir in der Vergangenheit oft genug zu Ohren kamen. Liam scheinen meine Worte genauso anzuwidern, wie mich damals, denn er antwortet nicht darauf. Er sieht mich einfach nur mit einem intensiven Blick an, der mir jegliches Wegsehen verbietet und hält die Arme dabei starr an seinem Körper. Fast so, als wären sie ihm an den Seiten festgeklebt worden Diese Haltung nimmt er seit der ersten Sekunde unserer heutigen Begegnung ein. Eine Abwehrhaltung in Kombination mit Schweigen ist nichts, was ich momentan gebrauchen kann. Mir fehlt diese Stimme, die mir die wenigen Nächte, die wir gemeinsam in dieser Hölle verbracht haben, erträglich machte. Bis jetzt war alles noch still, doch nun kommt allmählich Unruhe im Publikum auf. Caesar greift direkt ein. »Was fühlst du im Moment, Haymitch? Lass es Liam wissen«, sagt er laut ins Mikrophon und ich hätte ihn am liebsten rücklings die Bühne hinunter katapultiert. Für die ist das alles hier ein Teil der Show. Nicht mehr und nicht weniger. »Wie geht es dir?«, frage ich stattdessen, auch wenn ich genau weiß, dass es im Moment nicht die beste Idee ist, sich mit dem Kapitol in irgendeiner Form anzulegen. Liam antwortet auch jetzt nicht. Irgendetwas scheint ihn gewaltig zu stören. Ich weiß nur nicht was. »Ich habe gefragt, wie es dir geht«, wiederhole ich etwas eindringlicher und greife seinen Nacken unbewusst fester. Mein Tun führt dazu, dass er sich erst verkrampft und schließlich komplett von mir löst. Meine Verwirrung steht mir ins Gesicht geschrieben. »Ihr scheint beide nicht mehr ganz die Alten zu sein«, kommentiert Caesar mit einem Lacher, der auch in der Menge für leichte Erheiterung sorgt. Zum ersten Mal huschen Liams Augen aufmerksam in Caesars Richtung und beweisen somit, dass er sehr wohl noch Teilhaber am Geschehen ist. Dann beugt er sich zu mir, nimmt mein Gesicht in seine zittrigen Hände und gibt mir zuerst einen Kuss auf die rechte, dann auf die linke Wange und schlussendlich noch einen auf die Stirn. Jeder Zuschauer der Hungerspiele des diesjährigen Jubel-Jubiläums weiß sofort, worum es geht: Es ist die Geste, die er stets bei seiner zwölfjährigen Schwester vollzog, bis diese unter Lava begraben wurde. Liam gab sich für ihren Tod die Schuld. Dabei konnte er nichts dafür, dass sie zu Beginn durch eine Feuerwand voneinander getrennt wurden. Aber das spielt keine Rolle. Niemand kann diese Last von seinen Schultern nehmen und ich weiß genau, was es bedeutet, dass er mir diese Form von Zuneigung zukommen lässt. Dann lächelt er. Ganz ohne dieses Schelmische in seinem Grinsen. Er lächelt ganz gewöhnlich, irgendwie auch außergewöhnlich und versucht mir dabei etwas begreiflich zu machen, das ich bisher nicht verstehen wollte. In dem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Der Grund für sein Verhalten. Schließlich war Liam nie von der stillen Sorte. Das hat er zur Genüge in der Arena bewiesen. Mit seinen Liedern, die das Kapitol nicht nur kritisieren, sondern auch verspotten. Die es regelrecht an den Pranger stellen. Mir war es immer ein Rätsel, warum sie ihn solange am Leben ließen. Wie konnte ich nur so verdammt blind sein? »Manchmal ist der Tod nicht Strafe genug«, sagt Caesar neben mir geheimnisvoll und spricht meine Gedanken somit aus. Ohne mir weitere Überlegungen zu gestatten, beginnt Caesar Liams Geschichte zu erzählen. Er berichtet in tragischem Tonfall davon, dass es unmöglich war diesen Verrat zu ignorieren und Liam ein Exempel darstellen soll, dass man sich - sinngemäß - nicht mit dem Kapitol anlegen sollte. Er verpackt es natürlich mit blumigen Worten, mit Übertreibungen und Metaphern, aber die Aussage bleibt dennoch die gleiche. Anstatt ihn zu töten, hat man ihn lieber entwaffnet. In Panem existiert keine Gnade für Staatsfeinde. Das hier ist die Höchststrafe. Sie haben ihm das Wichtigste für seine gesamte Existenz genommen. Etwas, das noch viel wichtiger ist, als das Leben seiner Schwester oder meines oder das seiner Eltern. Sie haben ihn zu einem Avox gemacht und ihm somit das einzige Mittel zur Gegenwehr genommen: Seine fabelhafte, provokante Stimme. Irgendwie starre ich geradewegs an ihm vorbei in das Nichts. Dabei lasse ich das Scheinwerferlicht ungebremst auf mein Gesicht knallen. Da sind doch keine roten Haare gewesen, durch die ein Avox normalerweise gekennzeichnet wird. Kein einziges rotes Haar. Langsam fange ich an zu begreifen. Es sollte schließlich eine Überraschung sein. Kurz fliegt mein Blick noch über Liams Hand, die auch jetzt noch unentwegt zittert. Das hat rein gar nichts mit Furcht zu tun. Das hier ist sein Dauerzustand. Diese Form der stillen, widerstandslosen Vegetation ist sein neues Ich. Das Ich, das er von Präsident Snow erhalten hat. Dann flippe ich von dem einen auf den anderen Moment völlig aus. Mit einem Satz erhebe ich mich, schlage zunächst Caesar nieder und gehe anschließend auf die Männer los, die Liam umzingeln. Die ganzen Menschen hier sind nicht mehr wert, als widerliche Mutationen. Für mich nicht. Ich hasse sie. Und vor allem hasse ich das Kapitol. Im Hintergrund höre ich die Leute lauter werden. Die einen aus Wut, die anderen aus Angst. Die Menschen aus den Distrikten erheben sich vielleicht erstmalig gegen das Kapitol. Ein unfassbares Gefühl breitet sich dabei in mir aus und treibt mich weiter voran. Meine Faust schnellt durch die Luft, doch trotz meines Muts macht Liam keinerlei Anstalten mir zu helfen. Er ist dem Widerstand träge geworden. Diese Gewissheit lässt mich nur noch wütender werden. Er soll sich zur Wehr setzen! Aber mein ganzer Zorn hilft dennoch nichts, denn mit einem Mal spüre ich nur noch einen kleinen scharfen Einstich, dann wird mir schlagartig schwindelig und nur Bruchteile später wird mir schwarz vor Augen. Wieder einmal. Gescheitert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)