Henkerslied von sissyphos (Die Wahrheit über H. Abernathy) ================================================================================ Kapitel 5: Alte Bekannte ------------------------ Mitten in der Nacht werde ich wach. Prompt flattern meine Augen aufgebracht durch das stockfinstere Zimmer und mein Puls schlägt mir bis zum Hals. Ein Geräusch, das einem durch Mark und Bein geht, erfüllt den Raum. Da schreit doch jemand. Das ist meine Mutter. Meine Mutter schreit. Ich schlage die Decke zurück und steige sprunghaft aus dem Bett, poltere über die knarrenden Dielen. Mein Vater muss wieder die Besinnung verloren haben. Er schlägt wieder zu. Das muss ich verhindern! Zuerst stürme ich in die leere Küche und wirble herum, als ich den Klang erneut hinter mir vernehme. Rasend schnell flüchte ich ins Wohnzimmer. Doch auch hier ist niemand. Alles steht ganz unberührt an Ort und Stelle. Rein gar nichts deutet auf einen Kampf hin oder ist ansonsten auf irgendeine Weise ungewöhnlich. Lediglich der dunkle Schemen vor dem großen Fenster irritiert mich. Wieder erklingt ein Ton, der mich ähnlich in den Wahnsinn treibt, als würde jemand kontinuierlich mit den Fingernägeln die Schultafel entlang kratzen. Verzweifelt presse ich mir die Hände auf die Ohren. Doch das Geräusch wird gerade einmal um ein Minimum gedämpft. Ich kämpfe darum, die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben, die mir bei den Schreien unweigerlich in den Sinn kommen. Es hat alles keinen Zweck. Entschieden schütze ich weiterhin meine Ohren, während mich meine Beine ins angrenzende Badezimmer tragen. Dort drehe ich sofort den schön verzierten Hahn auf und halte meinen Kopf unter den harten Wasserstrahl. Ich tue also das, was ich seit zwei Monaten nahezu jede Nacht tun muss. »Verdammt«, grummle ich hervor und spucke das Blut ins Waschbecken, das mir aus der aufgerissenen Lippe tropft. Ich drehe den Hahn wieder zu und nehme mir ein Handtuch, das ich mir sofort um die Haare wickle. Halt suchend nehme ich auf dem Rand der Badewanne Platz und lasse den Kopf leicht hängen. Mit einer Hand fixiere ich das Handtuch, während die andere immer wieder das nachlaufende Wasser aus meinem Gesicht wischt. »Verdammt, verdammt«, stöhne ich erneut und presse meine Knie fest aneinander. Endlich wird mir bewusst, dass es nicht wirklich meine Mutter war, die dort schrie. Auch, wenn ich nahezu jede Nacht auf denselben Trick hereinfalle. Trotzdem weiß ich, dass sie diese Töne irgendwoher haben müssen. Ich weiß nur nicht, woher. Und diese Ungewissheit bringt mich noch um den Verstand. Ich weiß bloß, dass diese Laute aus dem Schnabel eines Vogels kommen, der sich Spotttölpel nennt. Der Vorläufer dieser Art wurde vom Kapitol sogar im Krieg eingesetzt, um den Gegner auszuspionieren, indem der Vogel die Laute kopierte und übermittelte. Heute kann man ihn ganz offensichtlich auch wunderbar als eine Art Foltermittel verwenden. Natürlich versuchen sie meinen Willen jetzt zu brechen. Schließlich habe ich vor knapp zwei Monaten begonnen, weitere Aufstände aktiv anzuzetteln. Zwar kommt trotz meiner zahlreichen Versuche und Unternehmungen nicht so viel dabei herum, wie ich mir anfangs erhoffte, doch es genügt, um Snow ein klarer Dorn im Auge zu sein. Einleuchtend, wenn man bedenkt, dass er meinetwegen meine gesamte Familie und meine Liebste umbringen ließ. Inzwischen habe ich keinen Zweifel mehr, dass sie tot sind. Dafür ist einfach zu viel Zeit vergangen. Und das alles nur, weil sie demjenigen wichtig waren, der das Kapitol durch stillschweigen verhöhnte und sich Waffen zunutze machte, die er niemals als solche enttarnen durfte. Genauso muss Liam buchstäblich Höllenqualen leiden, nur weil er ein paar spöttische Lieder sang und sich gegen das System äußerte. Kein Wunder, dass Snow versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben. Mit Sicherheit ist es sein Ziel, mich für unzurechnungsfähig zu erklären, damit mir die Menschen nicht mehr trauen und sich wieder einmal seinem Willen beugen. Doch das wird nicht passieren. »Ich hasse dich. Warum sollte ich dir irgendwelche Zugeständnisse machen?«, sage ich und verlasse schweren Schrittes das Badezimmer. Mir ist wohl bewusst, dass ich in letzter Zeit viele Selbstgespräche führe. Aber das ist ja auch nur normal, wenn man das eigene Haus nur dazu verlässt, um schnell ein paar Lebensmittel und Unmengen Alkohol zu beschaffen. Diese klare Flüssigkeit stapelt sich mittlerweile sogar bei mir Zuhause. Ich habe einen riesigen Vorrat gehortet, auch wenn ich so gut wie nie davon koste. Jedenfalls könnte ich damit bestimmt ein paar Familien für einige Wochen beliefern. Im Wohnzimmer riskiere ich einen Blick auf die Uhr: Es ist bereits vier Uhr morgens. Hinlegen hat jetzt auch keinen Sinn mehr. Also gehe ich direkt in die Küche und koche mir eine ganze Kanne Kaffee. Das und trockenes Brot sind zu meinen Hauptnahrungsmitteln geworden. Zwischendurch verzehre ich noch etwas gekauftes Fleisch, aber selbst jagen gehört für mich schon lange nicht mehr zum Tagesplan. Ich kann das auch gar nicht mehr. Nachdem ich meiner morgendlichen Prozedur nachgegangen bin, sitze ich auf dem Sofa und warte inbrünstig auf die kommenden Nachrichten. Jeden Tag wird in irgendeiner Form über die Aufstände, Liams Zustand oder sogar über beides berichtet. Natürlich immer zum Vorteil des Kapitols, doch ein geschulter Zuhörer kann genau herausfiltern, was echt ist und was einer geringen bis ordentlichen Übertreibung bedarf. Jetzt sehe ich dort eine Nachrichtensprecherin, die ausschweifend davon erzählt, dass die Rebellen in Distrikt 4, sowie in 5 und 6 niedergeschlagen wurden. Es bestehe nun kein Grund mehr zur Unruhe. Die Sicherheit des Kapitols sei wiederhergestellt. »So ein Schwachsinn. Ihr redet reichlich viel Müll«, grummle ich hinzu, als meine Augen die Toten erblicken und das Wappen des Kapitols wahrnehmen. Sie sind zu euphorisch. Das kann nur bedeuten, dass es längst nicht so rosig aussieht, wie sie es gerne hätten. »Es ist nur noch eine geringe Frage der Zeit, bis auch die letzten ihre Niederlage einsehen«, sagt die Frau mit der aufwändigen Hochsteckfrisur und lächelt dabei breit in die Kamera. Ihre Schminke glitzert wie ein Kristall im hellen Lichtschein und lässt sie künstlich erscheinen. Das soll neuerdings in Mode sein. »Kommen wir nun zu den Geschehnissen direkt im Kapitol«, kündigt sie an und riskiert dabei einen kurzen Blick auf ihre Unterlagen. »Präsident Snow unternimmt zur jetzigen Zeit eine Rundreise in ganz Panem, um sich selbst einen Überblick der aktuellen Lage zu verschaffen. Genaueres ist noch nicht bekannt«, sagt sie und neigt ihren Kopf leicht zur Seite. »Hoffen wir alle, dass er gesund zurückkehrt.« »Hoffen wir alle, dass sein verdammtes Hovercraft abstürzt«, erwidere ich und schalte wütend den Fernseher aus. In Panem herrscht das Chaos und der Kerl nimmt sich erst einmal Urlaub. Oder er haut ab. Das würde auch zu ihm passen. Einfach verschwinden und andere die Probleme beheben lassen. Ein schöner Präsident ist das. Das Klingeln der Haustür lenkt mich von meinen Gedanken ab. Es ist Zeit für den einzigen Kontakt, den ich nahezu täglich pflege. Denn jetzt kommt der Postbote vorbei. Eigentlich hat er meist nur Werbung für mich, doch das Ganze vermittelt mir zumindest ein gewisses Gefühl von Alltag und Normalität. Also gehe ich mit einem Anflug von guter Laune zur Haustür und drehe zweimal den Schlüssel herum. Beim Öffnen erklingt ein leises Knartschen. Fast so, wie damals in der Schule. Heute muss und will ich da gar nicht mehr hin. »Hallo«, begrüße ich die Person vor mir, die an diesem Tag irgendwie anders aussieht, als sonst. Da steht ein Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar vor mir. Ich will schon die Tür zuschlagen, da lässt mich seine Stimme an Ort und Stelle erstarren. »Hallo, Haymitch. Lang nicht gesehen«, sagt er mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen und bittet sich selbst herein. Als wären wir gute alte Freunde. So verhält er sich. Er geht bereits den Flur entlang ins Wohnzimmer, während ich noch immer keinen Finger rühre. Das muss ein Scherz sein. In den Nachrichten wurde gerade erst von seiner Abreise berichtet und jetzt soll er ausgerechnet hier vor meiner Haustür stehen? Anscheinend bekommt mir die Einsamkeit nicht gut. Der Typ ist nicht hier. Nicht wirklich zumindest. Das sind lediglich die Nachwirkungen der verschiedenen Medikamente. Langsam fange ich mich und steuere direkt das Zimmer an, indem meine Halluzination soeben verschwunden ist. Da sitzt er auf einem Sessel und hält die Beine übereinandergeschlagen. Der Geruch von Rosen und Blut steigt mir in die Nase – Snows Markenzeichen. Dieser Duft hatte sich damals überall in meinem Körper verankert. Jetzt quillt er wieder nach oben. Skeptisch nehme ich ihm gegenüber Platz und versuche mir einen Reim auf das Ganze zu machen. Mir fällt aber beim besten Willen keine logische Erklärung ein. Außer eben, dass mich die momentane Situation sehr mitnimmt. »Wie geht es dir?«, fragt er mich und ich sinke leicht in dem Sessel ein. »Gut und selbst?«, antworte ich darauf. »Das freut mich. Mir auch«, erwidert er. Dann kehrt kurz Ruhe zwischen uns ein. Ich rege mich keinen Millimeter, während Snow meine Einrichtung mustert. »Möchtest du mich etwas fragen?«, kommt es über seine Lippen und ich hätte auf Anhieb tausende Fragen, die ich ihm nur allzu gerne stellen würde. Aber von einem Hirngespinst erfährt man eh nie die Wahrheit. Deshalb schüttle ich abweisend den Kopf. Eine ganze Weile bleibt es still. »Weißt du, ich habe das alles nicht gerne getan. Aber ich musste auch meinen Ruf wahren. Darum konnte ich dich nicht damit durchkommen lassen, dass du in den Spielen einfach einen deiner Konkurrenten mit der Wucht des Kraftfelds getötet hast. Du hast dich damit über uns lustig gemacht, das muss dir bewusst sein. Genauso hast du Liam unterstützt in dem, was er sagte. Darauf mussten Konsequenzen folgen. Du hattest die Fäden selbst in der Hand«, erzählt er ausschweifend. Während er spricht, mustere ich seine Züge genauer. Erstaunlich, wie gut ich mir sein Gesicht eingeprägt habe. Und das, was er jetzt zu mir sagt, habe ich schon viele Male genau so geträumt. Er berichtet mir nichts Neues. »Haymitch, aus den Gründen musste ich deine Mutter, deinen Vater und deine Freundin verhaften lassen. Sonst wäre es im Kapitol zu Unruhen gekommen. Als Präsident darf man nun mal nicht inkonsequent sein. Und ich bekleide mein Amt noch nicht lange genug, um da Ausnahmen zu machen. Ich kann dir aber versichern, dass sie einen schnellen und schmerzlosen Tod hatten.« Im Hintergrund höre ich die Uhr ticken. Ich starre ihn weiter an. Am liebsten würde ich ihm den Hals umdrehen. Meine Vorstellung von Snow ist ganz schön unvorsichtig, wenn er es wagt, hier ohne seine Friedenswächter aufzutauchen. »Möchtest du wissen, wie es Liam geht?«, fragt er mich und wechselt dabei seine Sitzposition. »Danke. Aber ich habe selbst Augen im Kopf«, sage ich dazu und drehe meinen Kopf zur Seite. Aus seiner Richtung ertönt ein Geräusch, das klingt, als würde er über mich kichern. »Ich hoffe, dir ist bewusst, dass deine Dickköpfigkeit alles nur noch schlimmer für ihn macht. Oder ist dir das egal?«, fragt er und ich höre deutlich heraus, dass er von meinem Verhalten amüsiert ist. Ich rede nicht mit Einbildungen. Schon gar nicht mit denen, die Präsident Snow in mein Wohnzimmer bringen. Das ist der Mann, der an allem schuld ist. »Ich habe dich etwas gefragt. Oder hat man dir den Mund zugeklebt?«, fragt er weiter und trifft damit einen wunden Punkt. Meine Finger graben sich tief in das Leder des Sessels. Mir fällt es schwer, noch die Fassung zu wahren. »Pass auf, Haymitch. Für so etwas habe ich keine Zeit. Ich mache dir jetzt ein Angebot: Du sorgst dafür, dass diese Bauern mit ihren Fackeln zuhause bleiben und ich sorge im Gegenzug dafür, dass Liam nicht mehr so viel weinen muss«, schlägt er mir einen Handel vor und stellt mich vor eine wichtige Entscheidung. »Niemals«, kontere ich direkt und starre weiterhin die Wand an, wo ich erstmals ein Bild von einem Wald ausmache. »Also ist es dir doch egal. Kaum zu glauben, dabei hast du die Aufstände doch seinetwegen begonnen, oder nicht? Und jetzt interessiert es dich nicht mehr, was mit deinem ach so teuren Freund geschieht? Das verwundert mich aber«, sagt er mit betroffener Miene und ich höre anschließend, wie er sich erhebt und ein paar Schritte auf dem Holzfußboden geht. »Eins noch, Haymitch. Vielleicht interessiert dich das ja mehr. Vor seiner Zeremonie wollte er noch etwas singen. Das hat er dir gewidmet«, meint er und als er weitergeht, summt er eine mir wohlbekannte Melodie. Mein Schädel fängt an zu pochen. »Ich will ihn sehen«, platze ich mit bröckelnder Stimme heraus und richte meinen Blick in seine Richtung. Er kehrt mir zwar den Rücken zu, hält aber inne. »Ich will ihn sehen und dann entscheiden, was ich tun muss«, sage ich und verschränke die Finger miteinander. Snow scheint seine Vor- und Nachteile gründlich gegeneinander abzuwägen, denn er braucht eine beträchtliche Zeit, ehe er mir antwortet: »Morgen Abend bringe ich ihn zusammen mit ein paar Wächtern für, sagen wir, vier Stunden hierher. Wenn auch nur eine weitere Person davon Wind bekommt, platzt unser Deal.« Wieder erfüllen Schritte das Haus. »Schönen Abend noch, Haymitch.« Danach fällt eine Tür ins Schloss. Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)