Henkerslied von sissyphos (Die Wahrheit über H. Abernathy) ================================================================================ Prolog: Gefangen im Paradies ---------------------------- Gleißendes Licht dringt mir in die Augen. Um mich herum brechen die Bäume entzwei. Menschen schreien im Chor und mein Körper wird von dem Nachhallen des Donners erfasst. Zugedeckt ruhe ich auf dem Boden und beobachte meine Umgebung. Wir alle stehen in einem Meer aus Blumen. Jemand hat meerblaue Augen. Ein anderer feuerrote. Das Lodern in seinen Augen greift auf meine ganze Welt über, begräbt das unschuldige Blau und lässt den Wald mit einem Knall in Flammen aufgehen. Alles steht in Flammen. Meine Welt brennt. Als wäre sie Meilen weit entfernt, ertönt jetzt eine Stimme, die unser Unglück besingt. Sie lacht uns nicht aus. Sie spendet uns Trost. Dann halte ich eine Hand ganz fest. Ich sehe in ihre Augen. Solange, bis sie tot ist. Mir bleibt die Luft weg. Eine weitere Hand greift nach mir. Ich atme auf. Ein Gefühl der Erlösung durchzieht meinen gesamten Körper. Da ist Hoffnung am blutroten Horizont. Das helle Licht, das das sichere Ende bedeuten könnte, wird allmählich schwächer, bis ich sie erkennen kann: Mutationen, mit grünen und gelben Gesichtern, die direkt über mir thronen. Sie zerreißen meinen Körper. Stück für Stück. Ich schlage sie von mir. Immer wieder. Mit letzter Kraft bekämpfe ich sie. Es ist zwecklos. Sie kommen zurück. Immer wieder. Unermüdliche Kreaturen - selbst im Tod suchen sie mich heim. Mit einem Mal höre ich das Zischen einer Axt, die mit voller Wucht geschleudert wird und sich in den Kopf eines Mädchens bohrt. Dieses Geräusch schnürt mir die Luft ab. Und hier ist Rauch. Überall Rauch. Ich kann kaum noch atmen, so viel Rauch ist da. Blitzartig reiße ich meine Lider weit auf und merke, wie sich der Schleier von meinen Augen löst. Das Licht ist immer noch beißend hell. Aber nicht so hell, wie ich es mir gewünscht hätte. »Haymitch Abernathy, Sie befinden sich auf dem Weg nach Distrikt 12«, sagt eine dumpfe Stimme zu mir. Kurz darauf jagt man mir eine Spritze in den Oberarm. Der Schmerz sitzt tief. Ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, die sich nur mit höchster Anstrengung bewegen möchten. Ich kehre in meine Heimat zurück. Endlich. Am liebsten würde ich Freudentränen über mein Glück vergießen. Doch bevor es dazu kommen kann, gleite ich auch schon zurück in meine unruhige Realität. Kapitel 1: Ein steiniger Weg ---------------------------- Als ein Fremder stehe ich vor dieser Haustür, die mich in mein neues Zuhause führen soll. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe zum Himmel hinauf. Die Sonne versucht vergeblich, gegen die vielen Wolken anzukämpfen, die ihr die Sicht versperren. Das riesige Haus versperrt einem genauso die Sicht. Es sieht aus, als würde es in den Himmel hineinwachsen. Und es sieht aus wie neu, obwohl es seit Jahren leer steht. Schließlich bin ich erst der zweite Tribut aus Distrikt 12, der aus den Hungerspielen als Sieger heimkehrt. Jedem Gewinner steht eines dieser prunkvollen Häuser und ein Vermögen, das bis ans Lebensende reicht, zu. Ich bin nun auch einer von denen, die keine Sorgen mehr haben. Jedenfalls wird hier ein Teil meiner heißgeliebten Ruhe zurückkehren. Ich darf meine Familie und meine Freundin wiedersehen. Das ist weit mehr als ich mir zu Beginn der Spiele erhoffte. Seufzend drehe ich den Schlüssel in der Tür herum, den mir ein Mann im Hovercraft überreichte. Wobei »überreichen« zu viel des Guten ist. Er hat ihn mir missbilligend in die Hand gedrückt. Allgemein brachte man mir auf dem Flug wenig Sympathie entgegen. Jedenfalls in der kurzen Zeit, in der sie mich nicht betäubt hielten. Aber das interessiert mich gar nicht. Hauptsache ich bin endlich nach Hause zurückgekehrt. Mit einem unruhigen Pulsschlag drücke ich die Klinke herunter und will mich schon in Bewegung setzen, da muss ich noch einmal inne halten. Für einen Augenblick lehne ich mich gegen den Türrahmen und warte solange, bis das Schwindelgefühl wieder nachlässt. Dann setze ich langsam einen Fuß vor den anderen. Der leere Flur lässt mich allerdings schneller gehen. Meine Familie war nie sonderlich bekannt dafür, Überraschungen zu veranstalten. Dagegen ist es typisch meine Mutter mit einem, für unsere Verhältnisse, großen Kuchen in der Küche warten zu sehen, wie es zu Geburtstagen oftmals der Fall war. Freesia steht mit Sicherheit daneben und hat mir irgendetwas Schönes gebastelt. Vor allem für ihren Hang zu Blumenketten ist sie bekannt. Da ich sie liebe, nehme ich die bunten Schmuckstücke natürlich von Herzen gerne entgegen. Das werde ich auch jetzt wieder tun. Schnaufend erreiche ich die Küche und merke noch selbst, dass sich auf meinen Lippen ein sehnsüchtiges Lächeln breit macht, als ich auch schon feststellen muss, dass selbst dieser Raum wider Erwarten menschenleer ist. Es ist ungewöhnlich still hier. So still, wie man es als Mitglied einer Familie einfach nicht gewöhnt ist. Die große Fläche und die zwar wunderschönen, aber auch kalten Fliesen des Raumes machen alles nur noch schlimmer. Wenn ich mich jemals wirklich einsam und verlassen gefühlt habe, dann genau in diesem Moment. Ganz genau jetzt. Nicht einmal in den Nächten, in denen ich glaubte, jeden Augenblick von einem meiner Gegenspieler abgestochen zu werden, fühlte ich mich so schrecklich wie jetzt. »It's the silence before the storm, isn't it?«, flüstere ich altbekannte Worte und drehe mich dann langsam im Stand herum. Ich mache mir nicht die Mühe, das Haus weiter zu besichtigen, sondern finde direkt den Weg ins Wohnzimmer und lasse mich dort auf einen der gepolsterten Sessel sinken. Viele Minuten sitze ich hier stillschweigend und mustere lediglich meine unterkühlten Handflächen. Sie beginnen langsam aufzutauen. Auch mein Gesicht wird zunehmend wärmer. Als ich von der Hitze gekitzelt aufsehe, stelle ich fest, dass der Kamin fröhlich vor sich hin flackert. Wie von Geisterhand scheint er sich selbst entzündet zu haben und die Flammen tänzeln nur so miteinander. Sie spenden mir die Wärme, die ich bitter nötig habe. Um ehrlich zu sein, frage ich mich, wie viel von dem, was ich weiß und glaube, überhaupt der Wahrheit entspricht. Diese ganzen Bilder vor meinen Augen. Wie viele davon habe ich selbst gemalt? Durch das plötzliche Kribbeln in meinem Bauch, lege ich eine Hand darauf und entsinne mich postwendend an ein Fragment meiner Erinnerung. Mit einem Ruck ziehe ich den Pullover nach oben und fixiere die nackte Haut mit forschenden Blicken. Dort erkenne ich eine hauchzarte Narbe, die sich jedoch quer über meinen Rumpf erstreckt. Bei dem Anblick gefriert mir das Blut in den Adern. Dann schallt mit einem Mal ein Ton durch das Zimmer, den ich noch nie zuvor gehört habe. Panisch schrecke ich nach oben und fingere direkt an meiner Hüfte herum, um mein allzeit parates Messer zu ziehen. Dass dort weder ein Gürtel noch eine Waffe zu finden ist, treibt mich erst ab dem Moment nicht länger in den Wahnsinn, als ich das penetrante Geräusch identifiziere. Das Telefon klingelt. Aufgewühlt trample ich umgehend quer durch den Raum und finde schließlich das kleine Gerät, von dessen Sorte ich noch nie zuvor eines besaß. Ich drücke auf den Knopf zum Abheben und halte mir den Hörer ans Ohr. Anstatt nun irgendetwas zur Begrüßung zu sagen, räuspere ich mich lieber einmal ausführlich. Mein Herz hängt mir noch immer tief in den Kniekehlen. »Haymitch Abernathy«, quietscht eine mir unbekannte Stimme am anderen Ende. Sie lässt mich gar nicht erst zu Wort kommen. »Ihr Vorbereitungsteam wird in ein paar Stunden bei Ihnen eintreffen. Dann werden Sie auf die Feier des heutigen Abends vorbereitet. Freuen Sie sich darauf!« Nach diesen wenigen Sätzen ist die Leitung wieder tot. »Mein Vorbereitungsteam«, wiederhole ich und krame in meinem Gedächtnis. An ihre Gesichter kann ich mich noch grob erinnern. Auch, dass sie wahnsinnig oberflächlich waren und mir mit ihrem Gerede tierisch auf die Nerven gingen. Aber das beunruhigt mich weniger, als die Tatsache, dass heute meine Siegesfeier stattfinden soll. Schließlich weiß ich, was mich dort erwartet. Genauso wie ich weiß, was ich nicht erwarten kann. Es werden dort keine Wunder geschehen. Schließlich habe ich die Spiele in den letzten Jahren oft genug im Fernsehen verfolgt, um mir da ganz sicher sein zu können. Mich kann sowieso nichts mehr schocken. Weder der Verlust meiner Familie, noch der von Freesia. Trotzdem bin ich mir sicher, dass dies ein Empfang der ganz besonderen Art werden wird. Kapitel 2: Ein herrliches Festmahl ---------------------------------- Nach einigen Stunden der Vorbereitung und des sinnlosen Geplappers sitze ich hier auf dem gepolsterten Sessel, der etwas Königliches an sich hat, und folge Caesar Flickermans dramatischer Gestik soweit wie möglich. »Ach du liebe Güte! Das sieht ja in echt noch viel schlimmer aus, als im Fernsehen!«, schrie Cerenity aufgebracht bei unserer ersten Begegnung nach den Spielen. Ihr Entsetzen bezog sich ganz anscheinend auf meine Frisur, denn diese wurde von ihr allein die kompletten zweieinhalb Stunden in Beschlag genommen. Die anderen beiden, Lavius und Marlvin, kümmerten sich in der Zeit um das Erscheinungsbild meiner Haut und konnten es sich beim besten Willen nicht verkneifen, ungefähr alle fünf Minuten hoffnungslos zu seufzen. Meine Stylistin Rosalie setzte meinem Kostüm derweil das letzte i-Tüpfelchen auf und kleidete mich in einen bunten, seidenen Anzug, der von Caesars blauem Glitzeranzug jedoch komplett in den Schatten gestellt wird. Wenn man einmal das Gefühl kennt, Stofffetzen und Dreck in den verheilenden Wunden kleben zu spüren, dann ist selbst das sonst ekelhafte Empfinden von Seide eine wahre Wohltat auf der Haut. Dagegen tun mir das knallende Scheinwerferlicht und Caesars lautes Organ gar nicht gut. Ich stemme eine Faust gegen die Schläfe und presse sie unauffällig immer fester darauf, um meine aufquellenden Kopfschmerzen zu unterdrücken. »Was ist los, Haymitch?«, fragt Caesar mit einer Mischung aus Spaß und Vorwurf. »Ist dir etwa jetzt schon langweilig? Dabei unterhalten wir uns doch gerade einmal ein paar Minuten«, kichert er und funkelt mich aus seinen aufmerksamen Augen an. Ich wende kurz den Blick ab. »Ist das ein Wunder nach diesen Spielen?«, frage ich mit einem sarkastischen Lächeln und mein Gegenüber erwidert es. Auch die Ansammlung von bestimmt drei- oder vierhundert Menschen wirkt erheitert und lacht oder kichert über meine Aussage. Meine Augen wandern einmal quer durch die Menge und müssen aussehen, als wolle ich all ihre Reaktionen beobachten können. Weder meine Familie, noch meine Freundin ist hier. Da ist kein sanftes, aufbauendes Lächeln meiner Mutter, kein tadelnder Blick meines Vaters und auch kein hell blondes, schimmerndes Haar meiner Freundin. Dort, in der zweiten Reihe, steht Maysilees Mutter. Sie hat dieselben blonden Locken wie ihre Tochter. Ihr Blick wirkt seltsam ruhig. Ich wünschte, sie würde mich mit offensichtlichem Hass und Verachtung strafen, aber das tut sie nicht. Sie steht bloß da und starrt mich ungläubig an, als könne sie nicht begreifen, dass es nicht ihre Tochter ist, die meinen Platz einnimmt. Als wäre sie in einem Traum gefangen und sage sich selbst immer wieder: »Gleich wache ich auf und dann steht Maysilee neben mir.« Aber sie kommt nicht mehr zurück, Laureen. Sie kommt nie wieder zurück. Genauso wenig wie meine Eltern. Oder meine Freundin. Oder Liam. Die sind alle tot. Als nun ein Lächeln meine Mundwinkel umspielt, sehe ich die erste nennenswerte Regung auf ihrem Gesicht. Sie guckt irritiert und ich sehe im selben Moment weg. Das Lachen der Masse ebbt langsam ab und Caesar ergreift wie auf Kommando wieder das Wort: »Ein paar Worte von unserem diesjährigen Gewinner: Wie fühlst du dich heute?« Kurz schließe ich meine Augen, setze mich ordentlich hin und nutze die Sekunden, um mir eine Lüge bereit zu legen. »Ziemlich hungrig, würde ich sagen. Momentan muss ich mich einfach noch schonen. Sennas Angriff ist mir wohl ganz schön auf den Magen geschlagen«, grinse ich leicht und die Menge tobt erneut, während meine Erinnerungen an das Gefühl aufgefrischt werden, den Bauch in einem Zug aufgeschlitzt zu bekommen. Ich weiß nicht, woher ich jetzt noch diesen Sarkasmus nehme. Die Worte sprudeln der Gewohnheit halber nur so aus meinem Mund heraus, während es mir bei dem bloßen Klang des Namens meiner verstorbenen Konkurrentin eiskalt den Rücken hinunter läuft. Caesar funkelt mich erneut mit seinen Augen an. Es gefällt ihm, dass ich jedes Mal so herrlich mitspiele und das Publikum durch meinen Zynismus zum Lachen bringe. »Immer für einen Scherz zu haben«, schmunzelt er ernsthaft amüsiert und fährt dann fort: »Deinen Hunger kannst du, sobald möglich, ja jetzt in Hülle und Fülle stillen. Freust du dich auf dein neues Leben, Haymitch?« Die Frage kommt unerwartet wie ein Faustschlag ins Gesicht. Meine Unsicherheit überspiele ich mit einem Lachen, das klingt, als habe Caesar soeben den Witz des Jahrhunderts gerissen. Schnell winke ich mit einer schlichten Geste ab und räuspere mich kurz. »Freut man sich denn nicht immer, wenn man neugeboren wird?«, antworte ich mit einer Gegenfrage und spüre bereits den Schweiß auf meinen Fingern, der zur Abwechslung nicht von den unmenschlichen Temperaturen des Scheinwerferlichts stammt. Caesar scheint zu verstehen und lächelt ebenfalls. »Da hast du recht«, sagt er und wendet sich in die Richtung der großen Leinwand. Durch die vergangenen Hungerspiele weiß ich natürlich, was jetzt kommt. Die alljährliche Zusammenfassung der besten – also grausamsten Szenen des Wettkampfs. Schlagartig fühle ich mich, als wäre mir alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Vielen Dank, Haymitch«, sagt er noch, als die Musik eingeleitet wird. Ich lächele noch einmal und starre dann wie alle anderen auf diesen Bildschirm, der alles wieder hochtreiben wird, was ich in der vergangenen Zeit versucht habe zu vergessen. Alte Wunden aufreißen und neue, tiefere graben, das ist für mich das eigentliche Ziel dieses bescheuerten Interviews. Früher habe ich immer grinsend den Kopf geschüttelt, wenn ich sah, wie die Sieger ihre eigene Psyche nur noch weiter zerstörten, indem sie sich diese Aufnahmen ansahen. »Guckt doch einfach weg, ihr Deppen«, war mein einziger Kommentar. Die Hymne wird jetzt angespielt und die Gesichter der wichtigsten Personen eingeblendet. Einige werden sogar komplett weggelassen, wenn sie zu schnell das Spiel verließen. »Guck doch einfach weg, du Depp«, rate ich mir noch einmal selbst, als mein Pulsschlag merklich an Schnelle gewinnt. Aber ich kann einfach nicht. Das liegt nicht bloß an der Tatsache, dass jedermann zusieht und mich als Feigling entlarven könnte, sondern auch an meinem ganz persönlichen Hang zur Selbstzerstörung, wie mir scheint. Während ich mich noch frage, ob dieses Verhalten wohl in der Natur des Menschen liegt, erkenne ich auch schon die erste bekannte Person: Nero aus Distrikt 1. Er war sozusagen der Anführer der Karrieros, bis schließlich der malerische Berg ausbrach, der ihn, das Mädchen Iris Odair und ein paar andere unter seiner Lava begrub. Den Opfern des Ausbruchs widmet man gerade einmal wenige Sekunden, dann sieht man auch schon Phenix. Den schlauen kleinen Jungen, der deutlich länger überlebte, als manch einer glauben wollte. Heute sehe ich auch den Grund für sein Ableben: Eine Horde der süßen, kleinen, aber auch Fleisch fressenden Eichhörnchen hatte ihn erwischt. Das ist ein Anblick, den ein normaler Mensch nicht genießen kann. Aber vielleicht bin ich auch nicht der beste Ansprechpartner um »normal« zu definieren. Es folgen noch einige weitere, deren Geschichte hier kurz präsentiert wird und ich bin schon fast so weit, wieder in meine gelangweilte Position zu verfallen, da ereilt mich eines der Bilder, das ich so gefürchtet habe: Maysilees Gesicht. Nicht verzerrt, verletzt oder gar starr und tot. Einfach nur ihr Gesicht. Ich beobachte sie erstmalig dabei, wie sie aus dem wenigen, das sie besaß – nicht mehr als ein Blasrohr, ein paar Dutzend Pfeile, eine Schale und ein wenig getrocknetes Rindfleisch – eine gefährliche Waffe baut. Sie tränkt die Pfeile in dem Saft einer wunderschön farbigen Frucht und schießt diese mit Hilfe des Blasrohrs auf ein kleines Tier ab. Nach wenigen Sekunden geht es zu Boden, kämpft noch kurz mit dem Tod und regt sich dann nicht mehr. In dieser Arena war nahezu alles giftig. Selbst das glasklare Wasser in den plätschernden Bächen. Auf Maysilees Gesicht bildet sich bei diesem Anblick ein zufriedenes Lächeln. Dieses Lächeln steht im direkten Kontrast zu meiner letzten Begegnung mit ihr: Sie stand im ersten Moment noch, während ein prächtig gefiederter Vogel mit langem Schnabel ihren Hals durchbohrte. Dann ging sie zu Boden wie dieses Tier, das sie erlegte, schrie wie am Spieß und ich konnte nichts weiter tun, als solange ihre Hand zu halten, bis sie das letzte Mal Luft holte. Für einen Moment erinnere ich mich wieder an ihre Mutter, die in der Menge steht. Ich frage mich, was sie gerade denkt und wie sie auf die Bilder reagiert, die sie sich abermals ansehen muss oder vielleicht sogar zum ersten Mal sieht. Auch wenn meine Neugierde vorhanden ist, traue ich mich dennoch nicht zur Seite zu blicken. Meine Augen kleben stattdessen regelrecht am Bildschirm fest, auf dem nun genau diese besagte Szene gezeigt wird. Nach allem, was passiert ist, bin ich dazu geneigt zu schreien. Dieses blonde Haar macht mich wahnsinnig. Es erinnert mich so sehr an Freesias. Freesias Haar, das mit Sicherheit seit Tagen von nichts als Dreck bedeckt ist. Genauso wie der Rest ihres Körpers. Schlag für Schlag sorgt mein Herz dafür, dass mir mit jedem Mal unwohler in meiner Haut wird. Nur noch wenige Millisekunden trennen mich von einem Nervenzusammenbruch vor versammelter Mannschaft. Doch wie auf Kommando durchströmt plötzlich etwas ganz anderes meine Gedankengänge: »Du musst die Leute täuschen, damit sie deine Schwächen nicht erkennen.« Die Stimme eines Menschen, der mir in den Spielen sehr vertraut wurde. Vielleicht der Einzige, dem ich in manchen Momenten sogar vertraut habe. »Wenn dir jemand den Tod eines geliebten Menschen verkündet, dann darfst du ihm nicht zeigen, dass du von dieser Neuigkeit in Stücke gerissen wirst. Gerade dann musst du nüchtern und mit gespielter Gleichgültigkeit reagieren. Selbst, wenn das noch so grausam und herzlos klingt. Glaub mir, ich weiß schon, wovon ich spreche.« Als wäre sie wirklich präsent, höre ich diese tadelnde Stimme noch einmal in meinem Ohr. Es war ein gut gemeinter Ratschlag. Einer, der ernst gemeint war und von Herzen kam. Etwas, das vor allem bei den Hungerspielen nichts Selbstverständliches ist. Dort kämpft jeder nur für sich selbst. Aber manchmal gibt es Ausnahmen. Diese Ausnahmen, die meist ein rebellisches Ziel verfolgen und für meinen Geschmack als törichte Idioten bezeichnet werden können, sind in den häufigsten Fällen einfach nur vorlaut, neunmalklug oder bei den Spielmachern erst beliebt und ab dem Moment äußerst verhasst, wenn sie nicht schnell das Zeitliche segnen. Auf Liam Odair trifft alles zu. Aber immerhin hatte er etwas, das ihm einen Antrieb verschaffte. Etwas, das es ihm nach dem Tod seiner Schwester noch ermöglichte weiterzumachen. Auch wenn das Gegenteil in meinem Interesse gewesen sein müsste. Doch schließlich habe ich ihm auch bei unserer ersten Begegnung in der Arena das Leben gerettet. Und Maysilee rettete meines. Also warum nicht noch mehr Widersprüche? Das macht doch alles keinen Unterschied mehr. Erstaunlich viele Bilder werden von ihm gezeigt. Im Verhältnis noch viel mehr, als von den anderen. Ein leichtes Grinsen kann ich mir bei dem Gedanken, dass das mit Sicherheit Snows Werk ist, nicht verkneifen. Doch dieser leichte Anflug von Sarkasmus verfliegt genau in dem Augenblick wieder, als Liam zu singen beginnt. Ein paar Strophen, die das Kapitol nicht in jeglicher Form verhöhnen, werden nun abgespielt. Es ist wie ein Déjà-vu. Diese Stimme, die mit so viel Kraft all ihre Wut und den Hass auf das System ausdrückt. Diese Stimme, die mir auf eine makabre Art sowohl Trost spendete, als auch Kraft schenkte, erklingt nun wieder in neuem Glanz. Ganz langsam sickert das, was ich fast vergessen hatte, wieder durch mein Gehör und bohrt sich darin fest. Ich lausche den Klängen in weiser Voraussicht, dass ich die darauffolgenden Nächte nicht schlafen werde. Dann beginnt endlich das wirkliche Schauspiel: Unser einziger Streit wird gezeigt. Und erst jetzt, wo ich selbst die Situation beobachten kann, stelle ich fest, dass wir beide nicht mehr so aussehen wie zu dem Zeitpunkt, als wir die Arena betraten. Diese ganze Ruhe, die er fälschlicherweise zu Beginn ausstrahlte, ist vollkommen dem Wahnsinn gewichen. Seine Pupillen sind leicht geweitet, der blaue Anzug hängt in Stücken herab und gibt fast die komplette Brust preis. Der Anblick von Striemen auf seinem Rücken ist auf Nox' Anschlag zurückzuführen, den ich im letzten Moment stoppte und somit Liams Leben rettete. Eigentlich war es mehr eine Art Kurzschluss, durch den ich handelte. Dieser Anblick von Folter erinnerte mich einfach zu sehr an eigene Erlebnisse in meinem Distrikt. Nur deshalb streckte ich Nox in Sekundenschnelle nieder und bewies dem Publikum damit meine Barmherzigkeit, die mir mit Sicherheit einige Pluspunkte bei den Zuschauern einheimste. Bei meinen nächsten Worten springt Liam wütend auf, fuchtelt wild mit seinen Händen durch die Luft und schreit mich an. Seine Stimme bebt. Bei genauerem Hinsehen erkennt man sogar ein leichtes Zittern der Gliedmaßen. Dann die zahlreichen Schrammen und Einstichwunden. Insgesamt scheint er ziemlich fertig zu sein. Daneben sehe ich aber auch nicht unbedingt besser aus. Durch seine Reaktion fletsche ich die Zähne wie ein wildes Tier, spanne meinen Körper bis aufs Äußerste an und starre mit angriffslustigem Blick direkt in seine Richtung. Ich erinnere mich noch daran, dass ich ihn am liebsten getötet hätte. Für das, was er in dem Moment zu mir sagte. Für das, was vielleicht wahr war. Vielleicht war es das. Aber selbst jetzt spüre ich diese Wut wieder in mir aufkochen. Nur gibt es nun nichts mehr, was ich töten könnte. Denn kurz darauf würde Liam Odair sterben. Es gibt kein alternatives Ende für ihn. Dieses Ende ist sein Ende. Doch zuvor wird mir noch die Szene gezeigt, die bisher im Verborgenen blieb. Während ich ein paar Tiere niederstrecke, sitzt Liam nach seiner wortlosen Verabschiedung, die ich als regelrechte Flucht bezeichne, vor einem Baum und starrt in den Himmel. Diese Szene wird komplett gezeigt. Ganz ohne Sprünge. Das soll mir wohl zeigen, wie entscheidend dieser Moment ist. Ich soll genau hinsehen und mir jeden Augenblick davon einprägen. Vermutlich wäre es klug, jetzt endlich einmal wegzusehen. Schon allein aus reinem Selbstschutz. Aber ich kann nicht. Ich kann das einfach nicht. Anstatt das vermeintlich Richtige zu tun, starre ich in das von Hass und Verzweiflung gezeichnete Gesicht dieses jungen Mannes, der mit seinen achtzehn Jahren, die er zu allem Übel auch noch mitten in den Spielen erreichte, wahrscheinlich viel mehr verlor als ich. Schließlich hatte er ein heroisches Ziel vor Augen, das ihm durch den Ausbruch des Berges zunichte gemacht wurde. Auf der Leinwand sitzt er ganz ruhig da, blinzelt ein paar Mal und die Menge droht im Hintergrund unruhig zu werden, als er plötzlich das Lied zu summen beginnt, das er mir und den Zuschauern sang. In diesem Augenblick geht ein leichtes Seufzen durch die Reihen. Ich dagegen, der nicht weiß, was nun kommt, lausche gebannt jedem seiner Atemzüge, als könnten dadurch ungestellte Fragen beantwortet werden. Bei seinen nachfolgenden Worten fühle ich mich so wie in dem Moment, als ich das Haus betrat und mir bewusst wurde, dass ich meine Lieben verloren hatte. Es fühlt sich an, wie ein Fass ohne Boden, in das man gestoßen wird. Da ist einfach kein Halt mehr. Da ist nur noch stetiges Fallen, bis man aus diesem tranceähnlichen Zustand erwacht und sich der Realität stellt. Eine Realität, die beschissener nicht sein könnte. »Tut mir leid, Haymitch. Ich mag dich auch. Und weil ich dich so mag, werde ich das alles jetzt beenden. Wir sind nur noch zu dritt. Du, Senna und ich. Ich hab nicht vor aufzugeben, okay? Ich mach das für uns alle nur einfacher. Für dich und für mich und für Senna.« Danach steht er einfach auf und verschwindet im Wald. Er bewegt sich nicht schnell, aber er zögert auch nicht. Er geht dem entgegen, was er für das Richtige hält. Die nächste Szene zeigt den Kampf gegen Senna. Tatsächlich kämpft er mit seiner kompletten verbliebenen Kraft und fügt ihr einige tiefe Wunden zu, bis er schließlich selbst zu Boden geht. In dem Moment, als die Kanone ertönt, deren Klang den Tod eines Tributs verkündet, schwenkt die Kamera auf mich um. Sie zeigt, wie ich wie von Sinnen losstürme und letztlich auch wie von Sinnen auf Senna losgehe, als ich die Situation begreife. Zur Strafe für mein übereiltes Handeln, zieht sich die Spitze ihrer Axt quer durch meinen Bauch und sorgt dafür, dass ich mich für einen lebensentscheidenden Moment zu Boden krümme. Dank meinen Unmengen an Adrenalin verliere ich jetzt nicht das Bewusstsein. Ich weiß, dass ich sonst tot bin. Deshalb hole ich mit voller Kraft aus und schlage ihr mein Messer direkt ins Gesicht, erwische ihr linkes Auge. Die verschaffte Zeit nutze ich, um mich zum Kraftfeld zu schleppen, das ich gemeinsam mit Maysilee erreichte und als tödliche Waffe enttarnte, bevor wir getrennter Wege gingen. Trotz meines Vorsprungs ist mir Senna dicht auf den Fersen und als ich sie immer deutlicher und lauter hinter mir höre, schmeiße ich mich auf den Boden. Nur Sekunden später saust ihre Axt über meinen Kopf hinweg. Auch jetzt rutscht mir das Herz bei dieser Szene wieder halb in die Hose. Ich hatte einfach nur Glück. Mehr nicht. Ihre Axt hätte sich in meinen Kopf bohren können – mühelos. Doch stattdessen wird jene vom Kraftfeld zurückgeschleudert und trifft die Werferin mit tödlicher Wucht. Sie geht zu Boden und die Fanfaren ertönen. Dann ist der kurze Film zu Ende, die Musik geht aus und das Publikum applaudiert wie bei einem vollbrachten Theaterstück. Das hier ist mein zusammengerafftes Leben. Vom Rest ist nicht mehr als eine verblasste Erinnerung geblieben. Der Bildschirm wird schwarz und ich entspanne augenblicklich. Ich kann nichts dafür, doch plötzlich fällt mit einem Schlag die Anspannung von meinen Schultern und lässt mich im Sessel einsacken. »Das war also dein großer Auftritt, Haymitch«, sagt Caesar zum Abschluss und mustert mich mit seltsamer Miene. »Aber da wäre noch etwas...Eine Art Überraschung für dich«, erzählt er weiter und dreht seinen Stuhl leicht, um zum Bühnenausgang zu sehen. »Eine Überraschung für mich«, wiederhole ich monoton und grinse ihn an. Meine Finger verschränke ich miteinander, während in meinem Kopf Bilder von abgehackten Gliedmaßen meiner Liebsten auf einem Silbertablett umher tänzeln. Kurz schließe ich die Augen, um diesen Anblick auf mich wirken zu lassen, da erreicht mich abermals Caesars Stimme: »Ich würde dir gerne noch eine Frage stellen, Haymitch.« »Warum auf einmal so förmlich? Immer nur raus mit der Sprache, damit ich wieder zu deinen Gunsten und auf meine Kosten einen dieser blöden, schlechten Witze reißen darf, über den mindestens die Hälfte dieser einfältigen Idioten lachen kann.« Mein abruptes Lächeln deutet Caesar wohl als Zustimmung. »Wart ihr Freunde? Du und Liam?« Mir friert das Gesicht ein. Für einen Augenblick starre ich völlig irritiert in das Gesicht dieses Mannes, der mir im Laufe der Zeit schon so einige merkwürdige Fragen stellte, aber nie eine, die mir auch nur annähernd die Sprache verschlug. Kurz darauf ertönen leise Schritte, die meine Aufmerksamkeit vielleicht mehr auf sich lenken, als es laute, polternde jemals könnten. Bei uns Zuhause wurde niemals getrampelt. Weder bei einer freudigen, noch bei einer schlechten Nachricht. Mein Blick fällt zuerst auf zwei riesige Gestalten, die einen dritten umrahmen. Einen Augenblick betrachte ich die mittlere Person, ehe meine Augen nicht mehr mitmachen und mein Sichtfeld trüb werden lassen. Es gibt nichts, was dieses Gefühl beschreiben könnte, als ich in das vertraute Gesicht blicke. Einen Menschen wiederzusehen, den man tot glaubte, ist nun mal nichts, worauf man ernsthaft hofft. Man träumt zwar Tage und Nächte ausschließlich davon, doch mit einem halbwegs intakten Verstand weiß man dennoch nach dem Aufwachen, dass Wünsche nicht immer zur Realität werden können. Es gibt Dinge, die unmöglich sind und für mich gehörte es bis heute auch dazu, Tote zum Leben wiederzuerwecken. Mir entfahren plötzlich Laute, die ich noch nie zuvor von mir gegeben habe. Endlich wieder ein Gefühl der Freude. Endlich wieder ein wenig Hoffnung auf eine schönere Zukunft. Das hier ist meine Überraschung. Mein ganz persönlicher und spektakulärer Empfang. Etwas, das es in der Geschichte von Panem noch nie gegeben hat. Sie haben zwei Menschen die Arena überleben lassen. Sie haben mir das Leben eines Menschen zum Geschenk gemacht, der mir etwas bedeutet. Sie haben mir einen Freund gelassen. Vielleicht sogar meinen besten. Sie haben mir Liam gelassen. Kapitel 3: Zurück ins Diesseits ------------------------------- Zum ersten Mal scheint es nicht bloß ein Traum zu sein. Wie gebannt starre ich in das Gesicht, von dem ich glaube, dass ich in der wenigen gemeinsamen Zeit nahezu alle möglichen Gesichtsausdrücke bei ihm gesehen habe. Allerdings weiß man nie so genau, was nur gestellt ist. Schließlich hat er durch die Schauspielerei, der er sich in seiner Freizeit widmete, einen entscheidenden Vorteil, wenn es darum geht, anderen einen Bären aufzubinden. Ich verharre noch einen Augenblick in meinem Sessel und vergewissere mich, dass es tatsächlich Liam ist, der zu mir gebracht wird. Alles – die gesamte Erscheinung - lässt darauf schließen. Seine leichten Sommersprossen, die ich in dem hellen Licht ausmachen kann, können mich fast restlos überzeugen. Doch als ich das unverkennbare Armband aus Holzperlen sehe, das er als Talisman mit in die Arena nahm, gibt es keinerlei Zweifel mehr. Unmittelbar springe ich mit einem ruckartigen Satz von meiner Sitzgelegenheit auf. Mit stürmischen Schritten nähere ich mich ihm an, überbrücke die letzten Meter zwischen uns und schließe ihn fest in die Arme. Ich halte ihn wie in einem Klammergriff. Mit vielen Griffen vergewissere ich mich, dass er real ist. Dass er hier ist. In Sicherheit und bei mir. Dann bekomme ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten weiche Knie und sacke in mir zusammen. Dennoch lasse ich nicht los, sondern ziehe ihn einfach mit in den Abgrund. Mein eigenes Schluchzen geht nun fast vollständig in den Seufzern der Menge unter. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor Freudentränen vergossen habe. Jetzt rinnt das Wasser unaufhörlich meine Wangen herunter. In diesem Moment bin ich nicht mehr ich selbst. »Das Wiedersehen der Seelenverwandten nach knapp zwei Monaten«, sagt Caesar in feierlichem Tonfall und ruft mir damit in Erinnerung, wie viel Zeit tatsächlich vergangen ist. Hier sitzen wir nun auf dem dreckigen Boden und halten einander ganz fest. Keiner von uns beiden hat jemals damit gerechnet, dass wir uns außerhalb der Arena noch einmal begegnen würden. Das war nie ein Thema. Es war nicht mehr als eine lächerliche Vorstellung. Nicht mehr als kindische Träume, für die wir längst zu alt sind. Es war schon immer so bei den Spielen: Man kommt als Kind und geht entweder tot oder als Erwachsener. Ausnahmslos. Es vergeht eine ganze Zeit, in der wir so dasitzen. Niemand unterbricht uns bei diesem herzlichen, aber auch schmerzlichen Wiedersehen. Gut so, das wäre auch schlecht für die Quoten. Widerstrebend löse ich mich von ihm, um in sein Gesicht zu sehen, das im Gegensatz zu meinem nicht tränenüberflutet ist. Er hat nicht eine einzige Träne vergossen. Nicht eine einzige. Meine Hand lege ich in seinem Nacken ab, um selbst etwas Halt zu finden und beginne mich dann mehrmals zu räuspern, ehe ich den ersten Versuch zu sprechen starte. Auch wenn ich darauf nicht achten will, so sitzen mir die Kameras doch als ständiger Begleiter im Nacken. Dieses Gefühl lässt mich einfach nicht los. »Es ist gut«, sage ich als Erstes. Dabei suche ich seinen Blick und erkenne darin das vertraute Glänzen von meerblauen Augen, wie es in Distrikt 4 üblich ist. Dieser Anblick verschafft mir ein gewisses Maß an Sicherheit. Das ermutigt mich dazu weiterzusprechen. »Du bist hier. Jetzt wird alles besser. Das verspreche ich dir«, formuliere ich die Worte, die mir in der Vergangenheit oft genug zu Ohren kamen. Liam scheinen meine Worte genauso anzuwidern, wie mich damals, denn er antwortet nicht darauf. Er sieht mich einfach nur mit einem intensiven Blick an, der mir jegliches Wegsehen verbietet und hält die Arme dabei starr an seinem Körper. Fast so, als wären sie ihm an den Seiten festgeklebt worden Diese Haltung nimmt er seit der ersten Sekunde unserer heutigen Begegnung ein. Eine Abwehrhaltung in Kombination mit Schweigen ist nichts, was ich momentan gebrauchen kann. Mir fehlt diese Stimme, die mir die wenigen Nächte, die wir gemeinsam in dieser Hölle verbracht haben, erträglich machte. Bis jetzt war alles noch still, doch nun kommt allmählich Unruhe im Publikum auf. Caesar greift direkt ein. »Was fühlst du im Moment, Haymitch? Lass es Liam wissen«, sagt er laut ins Mikrophon und ich hätte ihn am liebsten rücklings die Bühne hinunter katapultiert. Für die ist das alles hier ein Teil der Show. Nicht mehr und nicht weniger. »Wie geht es dir?«, frage ich stattdessen, auch wenn ich genau weiß, dass es im Moment nicht die beste Idee ist, sich mit dem Kapitol in irgendeiner Form anzulegen. Liam antwortet auch jetzt nicht. Irgendetwas scheint ihn gewaltig zu stören. Ich weiß nur nicht was. »Ich habe gefragt, wie es dir geht«, wiederhole ich etwas eindringlicher und greife seinen Nacken unbewusst fester. Mein Tun führt dazu, dass er sich erst verkrampft und schließlich komplett von mir löst. Meine Verwirrung steht mir ins Gesicht geschrieben. »Ihr scheint beide nicht mehr ganz die Alten zu sein«, kommentiert Caesar mit einem Lacher, der auch in der Menge für leichte Erheiterung sorgt. Zum ersten Mal huschen Liams Augen aufmerksam in Caesars Richtung und beweisen somit, dass er sehr wohl noch Teilhaber am Geschehen ist. Dann beugt er sich zu mir, nimmt mein Gesicht in seine zittrigen Hände und gibt mir zuerst einen Kuss auf die rechte, dann auf die linke Wange und schlussendlich noch einen auf die Stirn. Jeder Zuschauer der Hungerspiele des diesjährigen Jubel-Jubiläums weiß sofort, worum es geht: Es ist die Geste, die er stets bei seiner zwölfjährigen Schwester vollzog, bis diese unter Lava begraben wurde. Liam gab sich für ihren Tod die Schuld. Dabei konnte er nichts dafür, dass sie zu Beginn durch eine Feuerwand voneinander getrennt wurden. Aber das spielt keine Rolle. Niemand kann diese Last von seinen Schultern nehmen und ich weiß genau, was es bedeutet, dass er mir diese Form von Zuneigung zukommen lässt. Dann lächelt er. Ganz ohne dieses Schelmische in seinem Grinsen. Er lächelt ganz gewöhnlich, irgendwie auch außergewöhnlich und versucht mir dabei etwas begreiflich zu machen, das ich bisher nicht verstehen wollte. In dem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Der Grund für sein Verhalten. Schließlich war Liam nie von der stillen Sorte. Das hat er zur Genüge in der Arena bewiesen. Mit seinen Liedern, die das Kapitol nicht nur kritisieren, sondern auch verspotten. Die es regelrecht an den Pranger stellen. Mir war es immer ein Rätsel, warum sie ihn solange am Leben ließen. Wie konnte ich nur so verdammt blind sein? »Manchmal ist der Tod nicht Strafe genug«, sagt Caesar neben mir geheimnisvoll und spricht meine Gedanken somit aus. Ohne mir weitere Überlegungen zu gestatten, beginnt Caesar Liams Geschichte zu erzählen. Er berichtet in tragischem Tonfall davon, dass es unmöglich war diesen Verrat zu ignorieren und Liam ein Exempel darstellen soll, dass man sich - sinngemäß - nicht mit dem Kapitol anlegen sollte. Er verpackt es natürlich mit blumigen Worten, mit Übertreibungen und Metaphern, aber die Aussage bleibt dennoch die gleiche. Anstatt ihn zu töten, hat man ihn lieber entwaffnet. In Panem existiert keine Gnade für Staatsfeinde. Das hier ist die Höchststrafe. Sie haben ihm das Wichtigste für seine gesamte Existenz genommen. Etwas, das noch viel wichtiger ist, als das Leben seiner Schwester oder meines oder das seiner Eltern. Sie haben ihn zu einem Avox gemacht und ihm somit das einzige Mittel zur Gegenwehr genommen: Seine fabelhafte, provokante Stimme. Irgendwie starre ich geradewegs an ihm vorbei in das Nichts. Dabei lasse ich das Scheinwerferlicht ungebremst auf mein Gesicht knallen. Da sind doch keine roten Haare gewesen, durch die ein Avox normalerweise gekennzeichnet wird. Kein einziges rotes Haar. Langsam fange ich an zu begreifen. Es sollte schließlich eine Überraschung sein. Kurz fliegt mein Blick noch über Liams Hand, die auch jetzt noch unentwegt zittert. Das hat rein gar nichts mit Furcht zu tun. Das hier ist sein Dauerzustand. Diese Form der stillen, widerstandslosen Vegetation ist sein neues Ich. Das Ich, das er von Präsident Snow erhalten hat. Dann flippe ich von dem einen auf den anderen Moment völlig aus. Mit einem Satz erhebe ich mich, schlage zunächst Caesar nieder und gehe anschließend auf die Männer los, die Liam umzingeln. Die ganzen Menschen hier sind nicht mehr wert, als widerliche Mutationen. Für mich nicht. Ich hasse sie. Und vor allem hasse ich das Kapitol. Im Hintergrund höre ich die Leute lauter werden. Die einen aus Wut, die anderen aus Angst. Die Menschen aus den Distrikten erheben sich vielleicht erstmalig gegen das Kapitol. Ein unfassbares Gefühl breitet sich dabei in mir aus und treibt mich weiter voran. Meine Faust schnellt durch die Luft, doch trotz meines Muts macht Liam keinerlei Anstalten mir zu helfen. Er ist dem Widerstand träge geworden. Diese Gewissheit lässt mich nur noch wütender werden. Er soll sich zur Wehr setzen! Aber mein ganzer Zorn hilft dennoch nichts, denn mit einem Mal spüre ich nur noch einen kleinen scharfen Einstich, dann wird mir schlagartig schwindelig und nur Bruchteile später wird mir schwarz vor Augen. Wieder einmal. Gescheitert. Kapitel 4: Ein gerechtes Urteil ------------------------------- Gefühlte Sekunden danach wache ich wieder auf. In diesem Raum hier ist es unnatürlich dunkel. Ich kann die Hand vor Augen nicht erkennen. Außerdem dröhnt mein Kopf mit einer Intensität, als hätte jemand seinen Hammer mehrmals dagegen geschlagen. Vorsichtig setze ich mich auf und taste nach dem Blut, das ich nicht finden kann. Erst jetzt bemerke ich, dass man mir die Augen verbunden hat. Mit neu aufkeimender Wut reiße ich mir den Stoff vom Kopf und schmeiße ihn zur Seite. Dennoch bleibt es dunkel in meinem Zimmer. Es scheint eine beträchtliche Zeit seit dem Interview vergangen zu sein. Mein Pulsschlag geht ungewöhnlich schnell. Hier drin ist es viel zu still. Ich will nach meinem Messer tasten, das ich immer am Bund meiner Hose trug. Aber da ist kein Messer. Auch kein Gürtel, den ich damals über meinem blauen Anzug in der Arena befestigte. Langsam realisiere ich, dass das hier mein neues Zuhause sein muss. Das wunderschöne und teure Haus mit fließendem Wasser. Ein Haus, das für eine Person viel zu groß ist und einem deshalb nur noch mehr in Erinnerung ruft, wie allein man eigentlich ist. Für einen Moment denke ich darüber nach, mich wieder hinzulegen und nie wieder aufzustehen. Das wäre eine simple Lösung für mich. Ich könnte mich einfach aus allem raushalten und den Dingen ihren Lauf lassen. »Du hast dich doch für dieses Spiel genauso verbogen wie der Rest. Ein beschissener, heuchelnder Feigling bist du.« »Vielleicht bin ich das ja tatsächlich. Man soll doch bekanntlich immer den Weg des geringsten Widerstands gehen. Den bist du selbst gegangen«, sage ich leise und kann mein Schmunzeln nicht unterdrücken. Damit sich ein weiterer Gefühlsausbruch vermeiden lässt, stehe ich nun doch auf und schlurfe langsam über den Boden hinweg. Mir ist kalt. Doch ich bin mir sicher, dass auch dieses Mal unten der Kamin flackern wird. Als ich schließlich vor dem Feuer stehe, muss ich wahnsinnig lachen. So laut, dass mir zunächst gar nicht die Geräuschquelle bewusst wird, die sich direkt daneben befindet. Erst nach einigen Augenblicken, die ich benötige, um mich zu beruhigen, sehe ich, dass auch der Fernseher läuft. Eigentlich würde mich das nicht interessieren, aber da Snows grässliche Visage das Erste ist, was ich erkenne, kann ich nicht anders, als mich davor zu setzen und ihm in Gedanken die Pest an den Hals zu wünschen. In meinem Kopf stirbt er mehrere Tode. Einer grausamer, als der andere. »...beläuft sich auf mehrfachen Diebstahl von Essensgütern, der Hurerei in Distrikt 4 und den Vorwurf der Verleumdung des Systems, insbesondere an Präsident Snow und einigen weiteren Personen des Kapitols. Allgemein wurde das Kapitol durch Lieder und verschiedene Aussagen in seiner Gesamtheit beleidigt und erniedrigt. Es liegen Beweismittel vor, die der Angeklagte nicht leugnen kann. Aus den genannten Punkten ergibt sich der Antrag...« , rattert diese Art Staatsanwalt herunter und klingt dabei, als würde er die Anleitung für den Zusammenbau eines Tischs verlesen. Gedankenversunken starre ich auf den Bildschirm und mache dort nun erstmalig Liam aus. Die ersten beiden Anklagepunkte ergeben sich aus dem, was er mir in der Arena berichtete. Dass das alles aus dem Tod seines Vaters resultierte, der nach Liams Ansicht vom Kapitol aufgrund seiner kritischen Lieder mitsamt seiner Flotte ermordet wurde, tut hier nichts zur Sache. Dass er dadurch unfreiwillig zum alleinigen Ernährer der Familie wurde, der er in seinem Alter nicht legitim sein konnte, ist genauso irrelevant. Das einzig Wichtige ist, dass er klaute und bei Frauen für Geld die Nächte verbrachte. Hartnäckig konzentriere ich mich wieder auf den Prozess. Liam hat einen Verteidiger, der augenscheinlich aus dem Kapitol stammt. Das ist ungefähr so, als hätten sie ihm gesagt, dass er sich selbst zu den Vorwürfen äußern soll. Das Ganze umfasst eine Prozedur von ungefähr zehn Minuten. Dann wird das Urteil verkündet. Mit der Todesstrafe ist nicht zu rechnen, dafür kenne ich die Mittel des Kapitols längst zu gut. Vor allem hätten sie ihn dafür nicht am Leben erhalten müssen. »Der Angeklagte Liam Odair wird in den genannten Punkten für schuldig befunden. Er wird deshalb zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren verurteilt«, verkündet der Richter, ohne, dass vorher über seine Strafe verhandelt wurde. Das hier ist reine Willkür. Sie hätten ihm auch fünf oder zehn Jahre geben können, das Ergebnis bliebe das gleiche: Er wird diese Zeit nicht überleben. Von seiner herausgeschnittenen Zunge ist insgesamt keine Rede. Nicht ein einziges müdes Wort wird darüber verloren. Mit hochrotem Kopf wechsle ich schließlich den Sender und erkenne zu meinem großen Erstaunen, dass darauf einige Männer und Frauen zu sehen sind, die von Friedenswächtern niedergeschlagen werden. Natürlich ist das hier kein schöner Anblick. Aber es zeigt doch, dass Liam etwas in den Menschen bewegt. »Warum sollte ich meine wahren Gedanken verschweigen, wenn ich doch sowieso draufgehe? Ich sag dir was: Ich verachte das Kapitol und seine Bewohner bis aufs Blut! Die sind eine nicht zu bekämpfende Pest für unser aller Leben. Sollen sie mich doch hier auf der Stelle töten. Ob jetzt oder in ein paar Stunden durch einen von euch, das ändert auch nichts mehr.« Für einen Moment schließe ich zufrieden die Augen, als ich mich an diese wahren Worte erinnere, die dennoch niemals ein anderer von uns auszusprechen wagte. Selbstverständlich war es letztendlich egal, ob sofort oder in ein paar Minuten. Dennoch hatten wir alle diesen Wunsch danach weiterzuleben. »Nur noch diese Nacht. Nur noch ein paar Minuten«, war es, was man sich selbst sagte, sobald man einigermaßen zur Ruhe kam. Immer und immer wieder. Bis einem diese wenigen Worte zu den Ohren wieder herauskamen. »Für das Ende des Kapitols, dafür würde ich mit Freuden sterben.« Das, was er so mühelos aussprach, hätte ich nicht im Traum über die Lippen gebracht. Vielleicht ist er deshalb eine Art Hoffnungsträger für die unzähligen Menschen, die unter der Regierung des Kapitols Qualen leiden. Die Bereitschaft für das Wohl der anderen das eigene Leben zu geben. Für meine Begriffe ist diese Einstellung nicht nur heroisch, sondern auch töricht. Das Ergebnis sehen wir jetzt alle. Liam hatte keine Chance. Die hatte er nie, dieser Idiot. Das hier ist alles nicht mein Kampf. Es ist seiner und er hat ihn nun mal verloren. Das muss man einfach akzeptieren. »Ich liebe dich. Für mich bist du wie ein Bruder, der über mich wacht und den ich gleichzeitig auch beschützen muss. Nein. Nein, nein. Wir sind viel mehr als das. Wie Seelenverwandte. Ich will dich hier nicht verlieren.« Ich krümme mich auf meinem Stuhl und schlage die Hände vors Gesicht. Das habe ich wirklich gesagt, nicht wahr? Wir müssen einander beschützen. Er hat mich beschützt, indem er gegen Senna kämpfte und sie schwer verwundete. Andernfalls wäre ich jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht hier. Kopfschüttelnd stehe ich auf und beschließe, im Distrikt ein paar Einkäufe zu tätigen. Ich muss irgendetwas Sinnvolles tun, sonst drehe ich noch durch. Sonst drehe ich durch. Der Weg dorthin zieht sich an diesem Abend bis ins Unendliche. Ich wohne jetzt ein paar Straßen weiter entfernt vom Schwarzmarkt, als zuvor. Trotzdem erscheint es mir nicht bloß wie ein paar Meter, sondern viel eher wie Kilometer, die zwischen mir und dem Rest liegen. Schlotternd erreiche ich den mir wohl bekannten Ort, den ich in der Vergangenheit nicht selten für etliche Täusche nutzte. Hier konnte ich unserem schlichten Leben ein wenig mehr Wohlstand verschaffen. Nicht viel, aber es reichte, um meine Mutter das ein oder andere Mal lächeln zu sehen. Das allein war alles wert, was ich dafür ertragen musste. Einige Menschen haben sich hier versammelt, auch wenn sie heute vorsichtiger wirken. Häufig sieht man Männer, die sich unsicher umblicken, als befürchteten sie, von hinten angegriffen werden. Sie halten sich auch mehr in der Nähe von dunklen Gassen auf. Das Gesamtbild irritiert mich. Früher wirkte dieser Ort nie wie ein echter Schwarzmarkt. Früher hat es auch nie jemanden interessiert, was hier gehandelt wird. Anscheinend ändern sich die Gegebenheiten mit der Zeit. Schließlich war ich seit Monaten nicht mehr hier. »Das ist alles Wahnsinn. Was in Distrikt 4 vor sich geht, ist unglaublich. Nicht zu fassen. Wenn wir uns nicht bald am Riemen reißen, wird's uns auch nicht besser gehen. Merk dir meine Worte, Brutus. Merk sie dir«, sagt einer von den Männern, die sich des Öfteren unruhig umschauen, zu einem anderen, der dort mit einer Zigarre in der Hand steht und bloß den Kopf schüttelt. Mein Blick wandert von ihnen zu der Frau, die wie an jedem Tag auf ihrem Stuhl sitzt und die Hände gefaltet hält. Das ist Jaynee Burc. Sie ist dafür bekannt, dass sie einem gegen die entsprechende Menge Geld nahezu alles besorgen kann. Mit ihr habe ich in der Vergangenheit bereits einige Geschäfte gemacht. Manchmal hatte sie sogar so etwas wie ein gutes Herz. Auch wenn ihr Äußeres, mit den grauen, ungekämmten Haaren und den vielen Kerben, Narben und Falten im Gesicht, nicht gerade auf eine angenehme Zeitgenossin schließen lässt. Trotz alledem haben ihre Züge auch etwas Katzenhaftes. Vielleicht war sie früher einmal eine schöne Frau. Als ich nur noch wenige Schritte von ihr entfernt bin, zeigt sie erstmalig, dass sie mich sieht, straft mich aber unmittelbar mit einem bösen Blick. Vermutlich, weil ich sie so ungeniert angestarrt habe. Sofort neige ich entschuldigend den Blick, denn mit Jaynee legt man sich nicht an. Das weiß jeder Trottel. Ansonsten braucht man sich hier nicht mehr blicken zu lassen. Sie ist sozusagen ein Urgestein dieses Markts. »Na, brauchst du eine Jacke, mein Junge?«, fragt sie mit ihrer eingerosteten Stimme, die nach viel Tabak klingt und ruft mir auch direkt wieder ihren schlechten Humor in Erinnerung. Wie auf Kommando schlinge ich aber auch die Arme um meinen Oberkörper, da ich nebenbei realisiere, dass ich meine eigene Zuhause vergaß. »Nein«, antworte ich knapp, aber entschieden. »Sondern?«, fragt sie direkt weiter und ich überlege einen Moment. Genaue Pläne hatte ich von Anfang an nicht, weshalb ich mich betont ruhig umsehe und nach einem Aufhänger suche. Mein Blick fällt auf einen bulligen Kerl, der ein kleines Fläschchen aus seiner Jackentasche zieht und einen viel zu großen Schluck davon nimmt. »Alkohol«, erwidere ich genauso knapp und darf dabei zusehen, wie sie doch tatsächlich kurz auflacht. Das ist ein Lachen, das mir in einer anderen Situation durchaus Angst und Bange machen könnte. »Eine halbe Portion wie du braucht keinen Alkohol«, grinst sie und ich ziehe die Augenbrauen leicht zusammen. »Ich weiß selbst, was ich brauche und was nicht«, sage ich mit bitterer Miene und hole ein paar Münzen aus der Hosentasche, die ich ihr am liebsten vor die Füße geworfen hätte. Mein gesunder Menschenverstand rät mir jedoch, mich zu beherrschen und so halte ich ihr das Geld nur mit ausdrucksstarker Geste vors Gesicht. Wortlos nimmt sie nun die Münzen, steckt sie ein und kramt in ihrem Mantel herum. Dabei nuschelt sie: »Hast die Spiele anscheinend doch nicht so gut verkraftet, wie alle meinen.« Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, Ruhe zu bewahren. So sehr ging sie mir noch nie auf die Nerven. Was hat sie bloß, dass sie mich so verspottet? Dann hält sie mir zumindest zwei kleine Flaschen mit klarer Flüssigkeit entgegen. »Aber übertreib's nicht«, fügt sie mit mütterlicher Sorge hinzu, ehe sie mir die Flaschen endlich aushändigt. »Danke«, sage ich, verstaue sie mehr schlecht als recht in meinen Hosentaschen und bin gewillt zu gehen. Doch im letzten Moment erinnere ich mich an etwas, von dem mir Jaynee vielleicht am meisten berichten kann. »Was geht in Distrikt 4 vor sich?«, frage ich leise, als dürfe es sonst niemand hören. Dabei weiß mit Sicherheit jeder mehr, als ich. Sie hat den Blick bereits von mir abgewandt und sieht auch nicht noch einmal zu mir. »In Distrikt 4 gibt es einige Aufstände. Die werden natürlich von den Friedenswächtern niedergeschlagen. Totale Idioten, die Leute«, erzählt sie und legt wieder die Hände ineinander, wobei sie die Menschen auf dem Markt zu beobachten scheint. Dann sind die Aufnahmen aus dem Fernsehen also von Distrikt 4 gewesen. »Nur dort?«, frage ich weiter. »Auch woanders. Aber eben vor allem dort«, erläutert sie und an ihrem Blick erkenne ich, dass sie überlegt, ob sie dem noch etwas hinzufügen soll. »Aber die Menschen haben eben niemanden, der sie anführt. Es ist unkoordiniert und deshalb zum Scheitern verurteilt. Sie kämpfen für den Jungen. Aber eigentlich kämpfen sie doch eher gegen ihn«, sagt sie mit einem bitterbösen Lächeln auf den Lippen und wendet sich dann ihrem nächsten Kunden zu. Warum sollten sie gegen ihn kämpfen? Diese Frage lässt mich nicht los, doch Jaynee kann ich danach schlecht fragen. Sie würde mir regelrecht den Kopf abreißen, wenn ich sie bei einer ihrer Verhandlungen störe. Deshalb nehme ich die Beine in die Hand und schlendere weiter durch Gassen und über kleinere Plätze, bis ich schließlich auf dem größten Platz unseres Distrikts ankomme. Auch hier herrscht noch ein reges Treiben von Händlern und anderen, die unruhig tuschelnd über die Steine hinweg trampeln. »Gleich ist es wieder soweit«, schnappe ich bei den vielen Unterhaltungen auf. Dazu unruhige Blicke und Mütter, die ihre Kinder an den Händen packen. »Als würden die die Uhr danach stellen. Jeden Tag um dieselbe Zeit«, sagt eine weitere Frau und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. »Immer gegen Feierabend. Damit es viele sehen, ist doch klar«, antwortet ihr die andere, die sie begleitet und ihr Blick fällt dann mehr zufällig auf mich. Kurz weiten sich ihre Pupillen, dann sieht sie wieder starr geradeaus. Offensichtlich hat man hier nicht mit mir gerechnet. Ich nehme mir vor, auf das zu warten, was von allen Seiten angekündigt wird. Doch das muss ich gar nicht. Denn plötzlich beginnt das Bild auf dem riesigen Monitor zu flackern, der ansonsten nur für die Ausstrahlung der Spiele oder wichtige Durchsagen benutzt wird. Auf dem schwarzen Bildschirm erscheint das Wappen des Kapitols. Danach für einige Momente das Gesicht des Präsidenten Snow. Das ist der Mann, der alle Entscheidungen trifft. Der Mann, der Gott spielt. »Und du? Hältst du dich für Gott? Das kann ich so nur unterschreiben. Du bist genauso göttlich wie die Scheiße, die unter meinen Füßen klebt.« Wäre mir im ersten Augenblick noch danach gewesen, die Visage dieses Kerls zu belächeln, so ist das, was ich zustande bringe, jetzt auf das bloße Atmen beschränkt. Um mich herum ist es ungewöhnlich still. Und das von einem Schlag auf den anderen. Das, was ich sehe, kann man nicht richtig in Worte fassen. Die Kamera filmt ein großes Zimmer. Dieser steril weiße Raum ist überall mit Blut gesprenkelt. Dazu ertönt das kehlige Schreien eines Menschen, dem die Zunge rausgeschnitten wurde. Die Kamera schleicht nahezu durch den Raum. Man hört nur das Schlucken und Schreien eines Mannes. Immer und immer wieder Schreie. Das Zischen und Knallen von einem Gegenstand, der auf den Knochen eines Körpers aufschlägt. Als ich ihn schließlich sehe, setzt auch mein Atmen aus. Mir kommen beinah selbst die Tränen, als ich ihn erstmalig weinen sehe. Liam hat nie geweint. Aber wer kann ihm das jetzt noch verübeln? Sein Körper ist entstellt. Vermutlich noch von ganz anderen Folterungen. Wunden, die auf viele verschiedene Vorgehensweisen hindeuten. Diesen Anblick sauge ich in mir auf. Das alles frisst sich in mich hinein. Was könnte man tun, um dieses Leiden zu beenden? Ich kann gar nichts tun. Niemand kann etwas tun. Vor meinen Augen erscheint ein mehr als abstruses Bild: Der Mann, der Liam dieses Leid zufügt, steht jetzt direkt vor ihm, sodass er gezwungen ist, ihn anzusehen. Mit der blutigen Hand fährt er durch sein von Schweiß getränktes Haar, weshalb Liam die Hände an den Fesseln reckt und mit seiner letzten Kraft nach diesem Monster greifen will. Ich verstehe nicht, was dort vor sich geht. Nicht einmal ein winziges bisschen. Vielleicht ist es ein kläglicher Verteidigungsversuch. Ich weiß es nicht. Aber es macht mich wütend. So wütend, dass mein ganzer Körper unkontrolliert zu beben beginnt. Etwas von diesem Wilden, das ich in der Arena hatte, steigt wieder in mir auf. »Du hast den Falschen angekettet«, knurre ich hervor und balle aus meinen eisigen Händen zwei schmerzende Fäuste. Noch einmal sehe ich das gezeichnete Gesicht auf dem riesigen Bildschirm, dann brülle ich heraus: »Du hast den Falschen!« Kapitel 5: Alte Bekannte ------------------------ Mitten in der Nacht werde ich wach. Prompt flattern meine Augen aufgebracht durch das stockfinstere Zimmer und mein Puls schlägt mir bis zum Hals. Ein Geräusch, das einem durch Mark und Bein geht, erfüllt den Raum. Da schreit doch jemand. Das ist meine Mutter. Meine Mutter schreit. Ich schlage die Decke zurück und steige sprunghaft aus dem Bett, poltere über die knarrenden Dielen. Mein Vater muss wieder die Besinnung verloren haben. Er schlägt wieder zu. Das muss ich verhindern! Zuerst stürme ich in die leere Küche und wirble herum, als ich den Klang erneut hinter mir vernehme. Rasend schnell flüchte ich ins Wohnzimmer. Doch auch hier ist niemand. Alles steht ganz unberührt an Ort und Stelle. Rein gar nichts deutet auf einen Kampf hin oder ist ansonsten auf irgendeine Weise ungewöhnlich. Lediglich der dunkle Schemen vor dem großen Fenster irritiert mich. Wieder erklingt ein Ton, der mich ähnlich in den Wahnsinn treibt, als würde jemand kontinuierlich mit den Fingernägeln die Schultafel entlang kratzen. Verzweifelt presse ich mir die Hände auf die Ohren. Doch das Geräusch wird gerade einmal um ein Minimum gedämpft. Ich kämpfe darum, die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben, die mir bei den Schreien unweigerlich in den Sinn kommen. Es hat alles keinen Zweck. Entschieden schütze ich weiterhin meine Ohren, während mich meine Beine ins angrenzende Badezimmer tragen. Dort drehe ich sofort den schön verzierten Hahn auf und halte meinen Kopf unter den harten Wasserstrahl. Ich tue also das, was ich seit zwei Monaten nahezu jede Nacht tun muss. »Verdammt«, grummle ich hervor und spucke das Blut ins Waschbecken, das mir aus der aufgerissenen Lippe tropft. Ich drehe den Hahn wieder zu und nehme mir ein Handtuch, das ich mir sofort um die Haare wickle. Halt suchend nehme ich auf dem Rand der Badewanne Platz und lasse den Kopf leicht hängen. Mit einer Hand fixiere ich das Handtuch, während die andere immer wieder das nachlaufende Wasser aus meinem Gesicht wischt. »Verdammt, verdammt«, stöhne ich erneut und presse meine Knie fest aneinander. Endlich wird mir bewusst, dass es nicht wirklich meine Mutter war, die dort schrie. Auch, wenn ich nahezu jede Nacht auf denselben Trick hereinfalle. Trotzdem weiß ich, dass sie diese Töne irgendwoher haben müssen. Ich weiß nur nicht, woher. Und diese Ungewissheit bringt mich noch um den Verstand. Ich weiß bloß, dass diese Laute aus dem Schnabel eines Vogels kommen, der sich Spotttölpel nennt. Der Vorläufer dieser Art wurde vom Kapitol sogar im Krieg eingesetzt, um den Gegner auszuspionieren, indem der Vogel die Laute kopierte und übermittelte. Heute kann man ihn ganz offensichtlich auch wunderbar als eine Art Foltermittel verwenden. Natürlich versuchen sie meinen Willen jetzt zu brechen. Schließlich habe ich vor knapp zwei Monaten begonnen, weitere Aufstände aktiv anzuzetteln. Zwar kommt trotz meiner zahlreichen Versuche und Unternehmungen nicht so viel dabei herum, wie ich mir anfangs erhoffte, doch es genügt, um Snow ein klarer Dorn im Auge zu sein. Einleuchtend, wenn man bedenkt, dass er meinetwegen meine gesamte Familie und meine Liebste umbringen ließ. Inzwischen habe ich keinen Zweifel mehr, dass sie tot sind. Dafür ist einfach zu viel Zeit vergangen. Und das alles nur, weil sie demjenigen wichtig waren, der das Kapitol durch stillschweigen verhöhnte und sich Waffen zunutze machte, die er niemals als solche enttarnen durfte. Genauso muss Liam buchstäblich Höllenqualen leiden, nur weil er ein paar spöttische Lieder sang und sich gegen das System äußerte. Kein Wunder, dass Snow versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben. Mit Sicherheit ist es sein Ziel, mich für unzurechnungsfähig zu erklären, damit mir die Menschen nicht mehr trauen und sich wieder einmal seinem Willen beugen. Doch das wird nicht passieren. »Ich hasse dich. Warum sollte ich dir irgendwelche Zugeständnisse machen?«, sage ich und verlasse schweren Schrittes das Badezimmer. Mir ist wohl bewusst, dass ich in letzter Zeit viele Selbstgespräche führe. Aber das ist ja auch nur normal, wenn man das eigene Haus nur dazu verlässt, um schnell ein paar Lebensmittel und Unmengen Alkohol zu beschaffen. Diese klare Flüssigkeit stapelt sich mittlerweile sogar bei mir Zuhause. Ich habe einen riesigen Vorrat gehortet, auch wenn ich so gut wie nie davon koste. Jedenfalls könnte ich damit bestimmt ein paar Familien für einige Wochen beliefern. Im Wohnzimmer riskiere ich einen Blick auf die Uhr: Es ist bereits vier Uhr morgens. Hinlegen hat jetzt auch keinen Sinn mehr. Also gehe ich direkt in die Küche und koche mir eine ganze Kanne Kaffee. Das und trockenes Brot sind zu meinen Hauptnahrungsmitteln geworden. Zwischendurch verzehre ich noch etwas gekauftes Fleisch, aber selbst jagen gehört für mich schon lange nicht mehr zum Tagesplan. Ich kann das auch gar nicht mehr. Nachdem ich meiner morgendlichen Prozedur nachgegangen bin, sitze ich auf dem Sofa und warte inbrünstig auf die kommenden Nachrichten. Jeden Tag wird in irgendeiner Form über die Aufstände, Liams Zustand oder sogar über beides berichtet. Natürlich immer zum Vorteil des Kapitols, doch ein geschulter Zuhörer kann genau herausfiltern, was echt ist und was einer geringen bis ordentlichen Übertreibung bedarf. Jetzt sehe ich dort eine Nachrichtensprecherin, die ausschweifend davon erzählt, dass die Rebellen in Distrikt 4, sowie in 5 und 6 niedergeschlagen wurden. Es bestehe nun kein Grund mehr zur Unruhe. Die Sicherheit des Kapitols sei wiederhergestellt. »So ein Schwachsinn. Ihr redet reichlich viel Müll«, grummle ich hinzu, als meine Augen die Toten erblicken und das Wappen des Kapitols wahrnehmen. Sie sind zu euphorisch. Das kann nur bedeuten, dass es längst nicht so rosig aussieht, wie sie es gerne hätten. »Es ist nur noch eine geringe Frage der Zeit, bis auch die letzten ihre Niederlage einsehen«, sagt die Frau mit der aufwändigen Hochsteckfrisur und lächelt dabei breit in die Kamera. Ihre Schminke glitzert wie ein Kristall im hellen Lichtschein und lässt sie künstlich erscheinen. Das soll neuerdings in Mode sein. »Kommen wir nun zu den Geschehnissen direkt im Kapitol«, kündigt sie an und riskiert dabei einen kurzen Blick auf ihre Unterlagen. »Präsident Snow unternimmt zur jetzigen Zeit eine Rundreise in ganz Panem, um sich selbst einen Überblick der aktuellen Lage zu verschaffen. Genaueres ist noch nicht bekannt«, sagt sie und neigt ihren Kopf leicht zur Seite. »Hoffen wir alle, dass er gesund zurückkehrt.« »Hoffen wir alle, dass sein verdammtes Hovercraft abstürzt«, erwidere ich und schalte wütend den Fernseher aus. In Panem herrscht das Chaos und der Kerl nimmt sich erst einmal Urlaub. Oder er haut ab. Das würde auch zu ihm passen. Einfach verschwinden und andere die Probleme beheben lassen. Ein schöner Präsident ist das. Das Klingeln der Haustür lenkt mich von meinen Gedanken ab. Es ist Zeit für den einzigen Kontakt, den ich nahezu täglich pflege. Denn jetzt kommt der Postbote vorbei. Eigentlich hat er meist nur Werbung für mich, doch das Ganze vermittelt mir zumindest ein gewisses Gefühl von Alltag und Normalität. Also gehe ich mit einem Anflug von guter Laune zur Haustür und drehe zweimal den Schlüssel herum. Beim Öffnen erklingt ein leises Knartschen. Fast so, wie damals in der Schule. Heute muss und will ich da gar nicht mehr hin. »Hallo«, begrüße ich die Person vor mir, die an diesem Tag irgendwie anders aussieht, als sonst. Da steht ein Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar vor mir. Ich will schon die Tür zuschlagen, da lässt mich seine Stimme an Ort und Stelle erstarren. »Hallo, Haymitch. Lang nicht gesehen«, sagt er mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen und bittet sich selbst herein. Als wären wir gute alte Freunde. So verhält er sich. Er geht bereits den Flur entlang ins Wohnzimmer, während ich noch immer keinen Finger rühre. Das muss ein Scherz sein. In den Nachrichten wurde gerade erst von seiner Abreise berichtet und jetzt soll er ausgerechnet hier vor meiner Haustür stehen? Anscheinend bekommt mir die Einsamkeit nicht gut. Der Typ ist nicht hier. Nicht wirklich zumindest. Das sind lediglich die Nachwirkungen der verschiedenen Medikamente. Langsam fange ich mich und steuere direkt das Zimmer an, indem meine Halluzination soeben verschwunden ist. Da sitzt er auf einem Sessel und hält die Beine übereinandergeschlagen. Der Geruch von Rosen und Blut steigt mir in die Nase – Snows Markenzeichen. Dieser Duft hatte sich damals überall in meinem Körper verankert. Jetzt quillt er wieder nach oben. Skeptisch nehme ich ihm gegenüber Platz und versuche mir einen Reim auf das Ganze zu machen. Mir fällt aber beim besten Willen keine logische Erklärung ein. Außer eben, dass mich die momentane Situation sehr mitnimmt. »Wie geht es dir?«, fragt er mich und ich sinke leicht in dem Sessel ein. »Gut und selbst?«, antworte ich darauf. »Das freut mich. Mir auch«, erwidert er. Dann kehrt kurz Ruhe zwischen uns ein. Ich rege mich keinen Millimeter, während Snow meine Einrichtung mustert. »Möchtest du mich etwas fragen?«, kommt es über seine Lippen und ich hätte auf Anhieb tausende Fragen, die ich ihm nur allzu gerne stellen würde. Aber von einem Hirngespinst erfährt man eh nie die Wahrheit. Deshalb schüttle ich abweisend den Kopf. Eine ganze Weile bleibt es still. »Weißt du, ich habe das alles nicht gerne getan. Aber ich musste auch meinen Ruf wahren. Darum konnte ich dich nicht damit durchkommen lassen, dass du in den Spielen einfach einen deiner Konkurrenten mit der Wucht des Kraftfelds getötet hast. Du hast dich damit über uns lustig gemacht, das muss dir bewusst sein. Genauso hast du Liam unterstützt in dem, was er sagte. Darauf mussten Konsequenzen folgen. Du hattest die Fäden selbst in der Hand«, erzählt er ausschweifend. Während er spricht, mustere ich seine Züge genauer. Erstaunlich, wie gut ich mir sein Gesicht eingeprägt habe. Und das, was er jetzt zu mir sagt, habe ich schon viele Male genau so geträumt. Er berichtet mir nichts Neues. »Haymitch, aus den Gründen musste ich deine Mutter, deinen Vater und deine Freundin verhaften lassen. Sonst wäre es im Kapitol zu Unruhen gekommen. Als Präsident darf man nun mal nicht inkonsequent sein. Und ich bekleide mein Amt noch nicht lange genug, um da Ausnahmen zu machen. Ich kann dir aber versichern, dass sie einen schnellen und schmerzlosen Tod hatten.« Im Hintergrund höre ich die Uhr ticken. Ich starre ihn weiter an. Am liebsten würde ich ihm den Hals umdrehen. Meine Vorstellung von Snow ist ganz schön unvorsichtig, wenn er es wagt, hier ohne seine Friedenswächter aufzutauchen. »Möchtest du wissen, wie es Liam geht?«, fragt er mich und wechselt dabei seine Sitzposition. »Danke. Aber ich habe selbst Augen im Kopf«, sage ich dazu und drehe meinen Kopf zur Seite. Aus seiner Richtung ertönt ein Geräusch, das klingt, als würde er über mich kichern. »Ich hoffe, dir ist bewusst, dass deine Dickköpfigkeit alles nur noch schlimmer für ihn macht. Oder ist dir das egal?«, fragt er und ich höre deutlich heraus, dass er von meinem Verhalten amüsiert ist. Ich rede nicht mit Einbildungen. Schon gar nicht mit denen, die Präsident Snow in mein Wohnzimmer bringen. Das ist der Mann, der an allem schuld ist. »Ich habe dich etwas gefragt. Oder hat man dir den Mund zugeklebt?«, fragt er weiter und trifft damit einen wunden Punkt. Meine Finger graben sich tief in das Leder des Sessels. Mir fällt es schwer, noch die Fassung zu wahren. »Pass auf, Haymitch. Für so etwas habe ich keine Zeit. Ich mache dir jetzt ein Angebot: Du sorgst dafür, dass diese Bauern mit ihren Fackeln zuhause bleiben und ich sorge im Gegenzug dafür, dass Liam nicht mehr so viel weinen muss«, schlägt er mir einen Handel vor und stellt mich vor eine wichtige Entscheidung. »Niemals«, kontere ich direkt und starre weiterhin die Wand an, wo ich erstmals ein Bild von einem Wald ausmache. »Also ist es dir doch egal. Kaum zu glauben, dabei hast du die Aufstände doch seinetwegen begonnen, oder nicht? Und jetzt interessiert es dich nicht mehr, was mit deinem ach so teuren Freund geschieht? Das verwundert mich aber«, sagt er mit betroffener Miene und ich höre anschließend, wie er sich erhebt und ein paar Schritte auf dem Holzfußboden geht. »Eins noch, Haymitch. Vielleicht interessiert dich das ja mehr. Vor seiner Zeremonie wollte er noch etwas singen. Das hat er dir gewidmet«, meint er und als er weitergeht, summt er eine mir wohlbekannte Melodie. Mein Schädel fängt an zu pochen. »Ich will ihn sehen«, platze ich mit bröckelnder Stimme heraus und richte meinen Blick in seine Richtung. Er kehrt mir zwar den Rücken zu, hält aber inne. »Ich will ihn sehen und dann entscheiden, was ich tun muss«, sage ich und verschränke die Finger miteinander. Snow scheint seine Vor- und Nachteile gründlich gegeneinander abzuwägen, denn er braucht eine beträchtliche Zeit, ehe er mir antwortet: »Morgen Abend bringe ich ihn zusammen mit ein paar Wächtern für, sagen wir, vier Stunden hierher. Wenn auch nur eine weitere Person davon Wind bekommt, platzt unser Deal.« Wieder erfüllen Schritte das Haus. »Schönen Abend noch, Haymitch.« Danach fällt eine Tür ins Schloss. Stille. Kapitel 6: Eine Frage der Ehre ------------------------------ Seit einer guten Stunde sitze ich im Wohnzimmer auf dem Sessel und starre unentwegt auf die Zeiger der antiken Wanduhr. Bald reißt mir der Geduldsfaden. Ich weiß nicht, wann bei diesem Mensch Abend sein soll. Würde ich mir selbst nicht trauen, dann säße ich jetzt mit Sicherheit nicht hier. Ordnungsgemäß habe ich heute Morgen alle Jalousien heruntergelassen und alle Türen, die aus dem Wohnzimmer führen, sorgfältig verschlossen. Nur die Tür, die an den Flur angrenzt, ist jetzt noch geöffnet. Mir wurde gesagt, die Wächter würden nicht klingeln. Sie besäßen selbst einen Schlüssel. Gut zu wissen. Gar nicht gut ist es dagegen, so lange untätig herum zu sitzen. Deshalb stehe ich auf und drehe ein paar Runden in meinem Wohnzimmer, das ich mir bislang nicht genauer angesehen habe. Da ist der Kamin und auch ein Fernseher. Daneben hängt das Bild, das einen Wald mit einer Lichtung zeigt. Die tickende Wanduhr, deren Zeiger auf viertel nach Sieben weisen. Noch ein paar Tischaccessoires und ein Teppich, der unter dem Sofa und den Sesseln liegt. Das Ganze beleuchtet von gedämpftem Licht. Ansonsten ist nichts Interessantes in diesem Raum vorzufinden. Außer vielleicht, dass der Tisch zum ersten Mal mit Gläsern und Tellern gedeckt ist. Ich habe Kuchen gekauft. Erdbeerkuchen. Den hat meine Mutter früher immer gebacken. Dann klopft es plötzlich dreimal an der einzigen Tür, die nicht verschlossen ist und ich drehe mich mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen in diese Richtung. Wieder bietet sich mir das Bild von zwei Männern, die einen dritten umrahmen. Ich atme einmal tief ein und wieder aus. Dann lasse ich mich in den Sessel gleiten und nicke auf den Platz mir gegenüber. Liam wird von den beiden Gestalten dorthin gezerrt, dann wendet sich der Dunkelhaarige an mich. »Vier Stunden. Nicht mehr. Keine Spielchen.« Ich nicke den Wichtigtuern kurz zu, dann machen die beiden kehrt und verlassen den Raum. Natürlich warten sie vor der Tür. Und natürlich ist das Haus von weiteren Friedenswächtern umgeben. Aber das macht nichts. »Hallo, Liam«, sage ich und greife nach der Kanne, die auf dem Tisch steht. »Tee?«, frage ich und halte die Öffnung bereits leicht über seine Tasse geneigt. »Magst du überhaupt Tee?«, frage ich, dann stelle ich die Kanne resigniert beiseite. Für einige weitere Minuten unternehme ich keinen Versuch mehr, irgendeine Form von Konversation zu betreiben. Stattdessen richte ich meinen Blick starr auf meine Handflächen und verschränke die Finger miteinander. Nachdem noch mehr Zeit verstrichen ist, sehe ich schließlich auf. Sie haben sich keine Mühe gemacht, ihn durch Schminke noch einmal schön herzurichten. »Liam«, sage ich und warte auf eine Reaktion. Doch seine Augen kleben weiterhin an irgendeinem Punkt im Zimmer. Seufzend schenke ich mir selbst etwas Tee ein und trinke einen Schluck. Wenn ich die Tasse in der Hand behalte, droht die Flüssigkeit überzuschwappen, deshalb stelle ich sie sorgfältig wieder auf den Tisch und mustere erneut meinen ehemaligen Freund und Gegenspieler. An seinem Handgelenk befindet sich vermutlich noch immer das Armband. Ich kann es zwar nicht sehen, aber er verdeckt genau diese Stelle mit seiner anderen Hand. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Eigentlich könnten wir uns auch die gesamte Zeit anschweigen. Aber das bringt niemandem von uns etwas. »Willst du, dass die Aufstände aufhören?«, frage ich gerade heraus und warte seine Reaktion ab. Keine Ahnung, was er verstanden hat, doch mit einem Mal fängt er an, wie wild an dem Faden des Armbands zu reißen. Schnell springe ich auf und packe ihn an beiden Armen. Ich weiß doch, was ihm dieses Armband bedeutet. Aber es hilft nichts. Perle um Perle segelt schließlich zu Boden und ich vernehme wieder dieses kehlige Schreien, das mir selbst durch Mark und Bein geht. Ich versuche ihn zu beruhigen, doch er schreit immer und immer weiter. In meinen Ohren fängt es an zu klingeln. Dann verpasse ich ihm von jetzt auf gleich einen Schlag auf die Wange. Nicht mit voller Wucht, aber hart genug, um seine Haut rot anlaufen zu lassen. Augenblicklich kehrt Ruhe ein. Mit einer Hand umfasse ich einen seiner Arme, mit der anderen packe ich sein Kinn und drehe sein Gesicht in meine Richtung. Sein Atem geht unregelmäßig. Unsere Blicke treffen aufeinander. Bruchteile später durchzieht ein beißender Schmerz meinen rechten Oberarm, lässt mich aufschreien und zurückweichen. Eine Hitze breitet sich an der betroffenen Stelle aus. Er hat mir doch tatsächlich die Gabel in den Oberarm gerammt. Dieser Idiot. Dieser verfluchte Idiot. Mit zusammengebissenen Zähnen umfasse ich den Griff und ziehe das Metall mit nur einem Ruck aus der Wunde heraus. Mit einem dumpfen Klang schlägt die Gabel auf dem Boden auf. Niemand greift ein. Trotz unserer Schreie. Es ist denen scheißegal, ob wir uns hier drinnen gegenseitig die Köpfe einschlagen oder nicht. Unser Tod würde dem Kapitol viel mehr so einige Probleme ersparen. »Was ist denn nur los mit dir?«, schreie ich durch das Zimmer und trete wieder an ihn heran. Ich beginne an ihm zu rütteln, doch er hält sein Gesicht in den Händen begraben. »Reiß dich endlich mal zusammen, Liam! Ich bin's. Haymitch. Verflucht, du musst mich doch noch erkennen oder etwa nicht?« Zur Antwort wird er langsam ruhiger. Dann nimmt er sogar die Hände von seinem Gesicht und sieht mich an. Er sieht mich intensiv an. Mit Augen, die längst nicht mehr wachsam geöffnet sind. Sie sind fast geschlossen. Als würde er jeden Moment einschlafen. Oder einfach nur nichts mehr sehen wollen. Vor ihm gehe ich langsam in die Hocke und greife seinen Oberarm, der zwar von Kleidung bedeckt ist, aber seltsam uneben wirkt. Insgesamt ist der Liam vor mir nicht mehr mit dem zu vergleichen, den ich in den Spielen kennenlernte. Früher galt er als schöner Mann. Außergewöhnlich schön sogar, fanden einige Frauen. Heute sieht er aus wie jemand, der einfach nur noch wartet. Er wartet vermutlich, seit er in diese Hölle geschickt wurde. Mit einer gewissen Hoffnung in seinem Blick sieht er mich jetzt auch an. Ich weiß nicht, wie viel von dem, was hier passiert, bei ihm noch ankommt. Ich weiß ja nicht einmal mehr selbst, ob er hier ist oder nicht. Aber ich glaube schon. Und ich hoffe es. Zum ersten Mal formt er mit seinen Lippen ein paar stumme Worte, die ich so schnell nicht greifen kann. Meine Augen wissen nicht mehr, wohin sie gucken sollen. Auf seine Augen, die mich durchdringend ansehen. Seinen Mund, der noch einmal mit mir sprechen soll oder auf seine Gliedmaßen, die immer stärker zu zittern beginnen. Zumindest weiß ich jetzt, was er mir mit all dem sagen möchte. Ich weiß, worum er mich bittet. »Ich kann das nicht«, sage ich leise, doch er wendet den Blick nicht ab. »Tut mir leid. Ich kann das wirklich nicht. Ich kann das nicht mehr«, erkläre ich weiterhin und stehe dann auf, um ihn einmal in die Arme zu schließen. Ich drücke nicht fest zu, weil ich nicht weiß, wo er Knochenbrüche oder Verletzungen hat. Eigentlich wollte ich ihn bitten, mir die Entscheidung abzunehmen. Er sollte mir aufschreiben, was er von allem hält. Dafür liegen Papier und Stift bereit. Ich wusste nicht, dass es so schlimm um ihn steht. Das, was man im Fernsehen sieht, wirkt einfach immer so weit entfernt und unrealistisch. Aber jetzt weiß ich zumindest, was ich tun muss. Das ist für mich ganz offensichtlich. Meine Entscheidung ist gefallen. Kapitel 7: Ein Ausdruck der Liebe --------------------------------- Heute ist mein Geburtstag. An diesem Tag bin ich siebzehn Jahre alt geworden. Vor etwa acht Monaten fanden die letzten Spiele statt. Bald sind die nächsten dran. Die Zeit rennt. Sie rennt. Mein Morgen beginnt, indem ich eine Kanne Kaffee fülle und einen Schuss Alkohol hinzu kippe. Der bittere Geschmack ist schon seit Langem vergangen. Hier trinke ich die ersten zwei Tassen. Leicht erhitzt, leicht frierend mache ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer und nehme dort auf dem Sessel Platz, um den Fernseher zu beobachten. Gerade wird eine lange Rede vom Präsidenten gehalten. Ich nehme die nächste dampfende Tasse in Angriff und starre eisern auf die Bilder vor meinen Augen. Das hier ist nicht nur mein Geburtstag. Mir ist klar, dass dieses Datum nicht ohne Grund ausgewählt wurde. Alles andere wäre völlig untypisch für das Kapitol. Das Geschirr klirrt, wann immer ich die Tasse auf ihren Untersatz zurückstelle. Dieses Geräusch macht mich unruhig. Alle paar Sekunden muss ich mich anders hinsetzen. Die Worte, die dort gesprochen werden, sind für mich nahezu unerheblich. Wichtig sind die Gesichter, die ich sehe. Auf einem großen Platz wird eine aus Holz geschaffene Bühne gezeigt. Nichts Spektakuläres, sie ist ganz schlicht gehalten. Das Entscheidende ist das, was sich auf der Bühne befindet. Was in den nächsten Sekunden geschieht, ist die Konsequenz aus meiner Entscheidung, die schon vor Wochen fiel. Nächte habe ich mich gefragt, ob es die richtige ist, bis ich mir schließlich sicher war. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Die Finger meiner linken Hand zittern wieder. Sofort schnappt meine rechte Hand danach und drückt fest zu. Solange, bis das Schlottern irgendwann nachlässt. Ich sehe bronzefarbenes Haar und ein Gesicht, das keine Freude zeigt. Viel mehr eines, das nicht darauf schließen lässt, dass es jemals so etwas wie Freude zeigen konnte. Meine Entscheidung ist die einzig richtige. Ich hatte gar keine andere Wahl. Auch wenn ich innerhalb der Distrikte zu einer Art Verräter gekürt wurde. Das interessiert mich nicht. Weil mich die Leute nicht interessieren. Mich interessiert das hier. Nur noch ein paar Schritte, ein paar müde Worte, dann geht alles ganz schnell vorüber. Die Klappe fällt und die Schlinge zieht sich zu. Ein Geräusch, das in dem tosenden Applaus völlig erstickt wird. Noch nie hatte ich jemanden, den ich meinen Freund nennen konnte. Liam war nur eine Zuflucht für mich. An einen Freund habe ich niemals gedacht. Sonst wäre ich nicht so egoistisch gewesen. Mein Gesicht sinkt in meine Hände, als Snow wieder das Wort ergreift und seinen Untertanen Mut zuspricht. Seinen Marionetten, deren Schlinge auch jederzeit zugezogen werden könnte. Aber das bemerken sie nicht. »Das Kapitol hat wieder einmal bewiesen, dass wir allein die Macht besitzen. Daran kann niemand etwas rütteln. Ich verspreche euch, dass sich daran niemals etwas verändern wird.« Kurz ist es still in meinem Zimmer, während den Worten aus dem Fernseher Beifall geklatscht wird. Dann schleicht sich ein müdes Lächeln auf meine Lippen. »Als ob Versprechen etwas für die Ewigkeit wären.« Epilog: Zwischen Himmel und Hölle --------------------------------- Viele Tage und Nächte sind seit den Ereignissen vergangen. An meinem Alltag hat sich seitdem nicht viel verändert. Auch die Übertragung der Hungerspiele schaue ich mir nicht mehr an. Ich weiß bloß, dass ich ab dem nächsten Jahr die Tribute aus meinem Distrikt trainieren muss. Wie ich das überstehen soll, weiß ich allerdings nicht. Ich will die Menschen, die dort auf grausame Art und Weise ihr Leben lassen, nicht näher kennenlernen. Ich will ihnen keine Hoffnungen machen. Und ich will ihnen auch keine Tipps geben, wie sie ihre Gegner – andere, oftmals gleichaltrige Kinder – bestmöglich umbringen können. Da mir aber ohnehin keine Wahl bleibt, kann ich auch das Beste daraus machen. Es geht ja nicht darum, was ich will oder was die Tribute wollen. Dann sollen sie zumindest eine Chance haben. Wenn möglich, eine bessere als Liam und ich. Trotz meiner Abneigung weiß ich schon jetzt ganz genau, welche Tipps ich ihnen mit auf den Weg geben werde. Distanz zu allen zwischenmenschlichen Beziehungen wahren, ist eine der wichtigsten Regeln. Zumindest dann, wenn sie einem keinen nennenswerten Vorteil beim eigenen Überleben einbringen. So viel steht schon einmal fest. Plötzlich klingelt es an der Tür. Völlig verschreckt springe ich von meinem Sessel auf und ziehe im selben Moment mein Messer. Ich habe mir bei Jaynee ein neues besorgt. Jetzt bin ich nicht mehr nackt. Mich werden diese Bastarde niemals entwaffnen! Mit tiefen Atemzügen schleiche ich auf die Haustür zu und riskiere einen Blick durch den Türspion, den ich vor einiger Zeit für mich entdeckte. Da steht ein Mann, der mir auf eine seltsame Art und Weise bekannt vorkommt. Meine Augen verenge ich zu Schlitzen und grüble darüber, ob ich ihn reinlassen soll oder nicht. Vielleicht hat er mir etwas Wichtiges zu sagen. Zur Not könnte ich ihm später immer noch die Kehle durchschneiden. Meine Zweifel kehre ich also beiseite und drehe den Schlüssel ein paar Mal herum. Einmal, zweimal, dreimal. Dann klackt es und mir kommt eine leichte Windböe entgegen. Es ist nicht mehr so kalt. Das Frühjahr rückt langsam näher. »Haymitch Abernathy?«, fragt er mit einer Stimme, die mich an die eines Soldaten erinnert. Sie klingt antrainiert. Ich antworte nicht. Trotzdem fährt er fort: »Darf ich reinkommen?« Auch darauf sage ich nichts, sondern versperre ihm nur mit meiner verbliebenen Körpermasse jeglichen Zutritt zu meinem Haus. Es ist mein Haus. Es ist meins. »Es geht um Liam«, sagt er und versucht mich damit wohl zu überzeugen. Natürlich, für alle ist Liam mein Schwachpunkt. Aber das stimmt so nicht. Ganz und gar nicht. »Der ist tot«, antworte ich und will die Tür schon zuschlagen, da drückt er sie mit eigener Kraft wieder auf. »Ich habe nicht den ganzen Weg auf mich genommen, um mit so einer Aussage abgespeist zu werden«, grummelt er und muss sich sichtlich zurückhalten, mir diese Worte nicht ins Gesicht zu brüllen. »Für mich ist das hier gefährlicher, als du vielleicht glaubst. Aber ich will dir etwas zeigen und erzählen. Also lass mich endlich rein«, fordert er und in dem Moment, als er zur Verstärkung mit seiner Hand wild gestikuliert, fällt es mir wieder ein. Das ist der Mann, der Liam so schrecklich zugerichtet hat. Der, der ihn zu diesem Wrack machte. »Warum sollte ich dir schon zuhören?«, keife ich ihm entgegen und merke selbst, dass mein Puls wieder höher schlägt. Den Griff meines Messers packe ich immer fester. Wenn er jetzt keine gute Antwort gibt, dann schlage ich ihm die Klinge direkt ins Gesicht. »Weil du es bereuen würdest, wenn du es nicht tust«, sagt er den Klischeesatz schlechthin und hält meinem finsteren Blick stand. »Du weißt, dass ich dich töten werde, wenn es nicht so ist«, quetsche ich mit Mühe hervor und funkle ihn an. Ein Lächeln macht sich auf dem Gesicht des Mannes breit. »Das macht auch keinen Unterschied mehr.« In dem Moment bin ich so überrascht, dass ich einfach nur die Tür aufreiße, sodass sie mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand knallt und stampfe zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin spreche ich ein paar leise Flüche aus und reiße fast eine der halb vertrockneten Pflanzen zu Boden. Ich lasse mich in den Sessel fallen und nehme meinen lauwarmen Kaffee zur Hand. Den brauche ich jetzt. Hinter mir ertönen viel gemäßigtere Schritte und sorgen dafür, dass meine Finger wieder zu zittern beginnen. Klirrend stelle ich die Tasse zurück auf den Tisch und drehe mich zu dem Mann, der bereits an meinem Fernseher herum werkelt. »Was machst du da?«, will ich wissen und kreuze meine Arme vor der Brust. »Deinen Blutdruck möchte ich nicht wissen, Haymitch«, kommentiert er das Ganze und erlaubt sich damit beinah zu viel. Doch ehe ich ausflippen kann, nimmt er das Ruder auch schon selbst in die Hand. »Ich will dir einen Film zeigen, den Liam und ich aufgenommen haben, als er gerade rehabilitiert war. Und ich will dir sagen, was du den Fernsehberichten niemals entnehmen konntest.« Kurz lausche ich dem Rattern, als er den Rekorder in Betrieb setzt, dann kommen meine Zweifel auf: »Warum solltest du das schon tun? Und die Wahrheit sagst du mit Sicherheit auch nicht.« Er dreht sich nicht zu mir um. »Vielleicht war ich ja nicht immer ein Friedenswächter? Und vielleicht habe ich das, was ich tat, nicht gerne getan. Aber hätte ich es nicht gemacht, dann wäre doch ein anderer zur Stelle gewesen. Und außerdem hing ich an meinem Leben«, erklärt er und lässt mich gehässig grinsen. »Also ein Anflug von Reue, oder was?« Der Sarkasmus keimt wieder in mir auf. Das Zittern in meinen Händen wird währenddessen immer schlimmer. Ich verliere die Kontrolle. »Wenn du es so nennen willst«, erwidert er und dreht sich dann doch zu mir. »Aber hier geht es ja nicht um mich. Also: Willst du hören, was ich zu sagen habe oder mir lieber weiterhin Vorwürfe machen? Das liegt ganz bei dir.« Zur Antwort senke ich die Lider und ziehe kurz die Augenbrauen nach oben. »Die Aufnahmen waren manipuliert«, wirft er in den Raum und lenkt dabei meine Aufmerksamkeit auf sich. Meine Blicke durchbohren ihn fast. »Man hat es bis zum Extremsten überspitzt. Ich will nicht sagen, dass es nicht schlimm für ihn war. Es war die Hölle. Trotzdem hat er keine Tränen vergossen. Nicht bei den Aufnahmen. Das war das Einzige. Er hat immer nur geschrien. Bis er heiser war. Aber das hat Snow nicht gereicht. War nicht dramatisch genug. Hätten wir ihn wirklich zum Weinen gebracht, wäre er vermutlich zu früh gestorben. Deshalb hat man das einfach gefälscht«, sagt er und lässt sich mir gegenüber im Sessel nieder. Er nimmt eine nachdenkliche, aber auch betroffene Pose ein. »Und man hat ihn ständig unter Drogen gesetzt. Snow bestand darauf, dass er nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden kann. Darum auch dieses ganze Getue, das ich veranstalten musste. Wenn ich ihm den Kopf streichelte, obwohl ich ihn fast umbringe. Hast du dich nie gefragt, warum ich das mache?« Er sieht mich an. Doch ich starre nur wortlos zurück. »Soweit ich weiß, hat er mich dann für seinen Vater gehalten, den er sehr liebte. Genau weiß ich das aber auch nicht. Vielleicht dachte er auch, ich sei ein Engel, der ihn erlöst. Was weiß ich«, lächelt er betrübt und fasst sich mit der Hand an die Stirn, um die Schläfen leicht zu massieren. »Snow hat viel gemacht. Alle Grausamkeiten kenne ich auch nicht«, sagt er leise und denkt nach. Vermutlich grübelt er, ob er noch etwas Wichtiges vergessen hat. Mein Hass wächst. »Willst du den Film sehen?«, fragt er nach kurzer Zeit und ich nicke daraufhin knapp. Er nimmt die Fernbedienung vom Tisch und betätigt einen Knopf, woraufhin das Bild zu flackern beginnt. Zuerst ist es schwarz, aber es folgt kein Wappen. Stattdessen sehe ich direkt einen kleinen Raum, in dem sich nichts befindet, mit Ausnahme einer Pritsche und eines Stuhls, auf dem Liam sitzt. Das Bild wackelt leicht. »Ich habe das aufgenommen«, erklärt der Mann noch kurz. Nicht einmal seinen Namen weiß ich. Aber das ist jetzt vollkommen egal. Ich versinke in diesem Video. Erstmalig sehe ich Liams Gesicht wieder mit etwas anderem als Ausdruckslosigkeit versehen. Kurz wandern seine Augen in dem Raum umher, dann sieht er starr in die Kamera. »Haymitch«, fängt er an und stützt sich mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab. Er sieht ernst aus. Irgendwie aber auch äußerst verwirrt. »Ich weiß zwar nicht, was hier genau vor sich geht, aber ich hoffe, dass du das hier irgendwann zu Gesicht bekommst. Du glaubst gar nicht, wie überrascht ich war, als ich feststellte, dass ich noch am Leben bin. Aber das ist nur ein taktischer Spielzug von Snow und seiner Bande. Sie werden mit Sicherheit versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Das dürfen wir nicht zulassen«, redet er in einem Schwall. Für mich ist es ein komisches Gefühl wieder seine Stimme zu hören. Aber es ist eines, an das ich mich durchaus gewöhnen könnte. »Hör zu, sie werden dich bestimmt wahnsinnig machen wollen. Das versuchen sie bei mir auch schon. Die setzen mir die ganze Zeit diese verdammten Vögel ins Zimmer«, erzählt er unter Zähneknirschen und erinnert mich an den alten Liam. Während er spricht, deutet er in eine Ecke des Raums. »Da kommen dann Töne raus, als würdest du schreien und gequält werden. Manchmal auch meine Mutter. Meine Schwester. Oder meine Freundin. Dabei weiß ich doch, dass Saratea schon lange tot ist. Fünf Jahre sind das nun schon. Diese elenden Schweine. Sie haben ihr damals das Armband abgenommen, das ich ihr geschenkt habe, nachdem sie in der Arena starb. Und dann haben sie mir das nach Hause geschickt«, knirscht er hervor und hält seinen rechten Arm nach oben. Er driftet vollkommen ab mit seinen Erzählungen. »Schau, das haben sie mir gelassen. Nur das. Ist das nicht nett?«, grinst er spöttisch, legt dann aber seine linke Hand darauf und hält es wie ein Heiligtum fest. Anschließend schüttelt er resigniert den Kopf. »Haymitch, egal was kommt, du musst dafür sorgen, dass das alles ein Ende findet. Snow muss von der Bildfläche verschwinden und die Hungerspiele beendet werden. Die Distrikte müssen frei sein. Damit mein kleiner Bruder eine bessere Zukunft haben kann, als ich«, stellt er Forderungen, die ich im Traum nicht hätte erfüllen können. Seine Augen schweifen jetzt unkontrolliert durch den Raum. Fast so, als wäre er auf der Suche nach irgendwas. »Es ist völlig egal, was dabei aus mir wird. Ein Toter mehr oder weniger, das macht nichts mehr. Ich habe mich eh in der Arena für den Tod entschieden. Ich sollte gar nicht mehr hier sein. Du musst dafür sorgen, dass es nicht immer mehr und mehr werden«, sagt er und lehnt sich weiter nach vorne. Dann streicht er sich mit einer Handbewegung die länger werdenden Haare aus dem Gesicht. »Ich habe eine böse Vorahnung, was noch passieren wird. Deshalb habe ich mir etwas überlegt«, meint er mit einem Lächeln auf den Lippen, das ich sofort wieder aufsauge. »Du hast mir doch gerne beim Singen zugehört, nicht? Zumindest hatte es den Anschein.« Dann setzt er sich aufrecht auf seinen Stuhl und legt kurz den Kopf in den Nacken. Er faltet die Hände und lässt meine Anspannung wachsen. Sekunden später ertönt die Stimme, nach der ich mich seit jenen Nächten regelrecht verzehrt habe. »If you just could see the moon. This prettiness is breathtaking. Together with this calm there is a unique feeling. A feeling of weightlessness. Why I sing this song? Let me tell you: Maybe I've always known the truth about this game.« Seine Stimme ist noch immer kräftig und klar. Seine Worte bringen alte Erinnerungen hoch. Merkwürdigerweise sind es heute gute Erinnerungen. Einige Momente vermisse ich sogar. Das, obwohl ich auf die gesamten Spiele hätte verzichten können. »It's the silence before the storm, isn't it? I wish you could be here with me. Holding me tight. Just one more time. The past never comes back, does it? This game won't let anything of me remain. Neither of me, nor the other. Nor their families. All that will be left is a sea of red roses. Roses, whose bloody smelling leaks into every nursery. But the moment counts.« Den Text hatte ich nicht mehr im Kopf, aber doch nie ganz vergessen. Das hier ist ein Moment voller Nostalgie für mich. Ich erinnere mich noch daran, als er dieses Lied bei unserer ersten Begegnung sang. Wir saßen gemeinsam in einem Graben versteckt und keiner von uns wollte schlafen. Keiner von uns hat dem anderen vertraut. Nach diesem Lied, das trotz des Textes so viel Ruhe auf mich ausgewirkt hat, bin ich eingeschlafen. Das war die einzige Nacht von vielen, in der ich mehr als drei Stunden geschlafen habe. »Now I'm sitting here being glad to have met you. You were strong all the time. Thus I'm trying to be as strong as you are. You are my paragon and my engine. It sounds foolish, doesn't it? Whatever you want to say me – your voice has been taken. Forever. But with you, there is only winnig for me. Either I live or we will meet again. Time is running for everyone of us, isn't it? The time of red roses. And the insane stench of blood. That is inevitable.« »Haymitch«, sagt jemand neben mir und rüttelt an meiner Schulter. »Haymitch, es ist gut«, sagt ein Mann, der sich nach einem kurzen Blinzeln als mein Besuch entpuppt. Seine Hand bleibt auf meiner Schulter ruhen. »Du musst mir schon Bescheid sagen, wenn du eine Pause brauchst«, murmelt er und ich bemerke, dass der Film gestoppt wurde. Bevor ich nachhaken kann, warum er das getan hat, wird mir bewusst, dass ich völlig verkrampft auf meinem Platz sitze und meine Hände wieder zittern. Mit einem Satz springe ich auf und stürme direkt in die Küche. Die Tür schlage ich hinter mir zu und haste dann zur Theke. In der rechten, kleinen Tür befindet sich ein Teil meines Vorrats. Ich reiße sie auf und durchwühle die vielen Flaschen. Meine zittrigen Finger machen das Ganze nicht leichter. Es klirrt und scheppert, als eine nach der anderen auf dem Küchenboden aufschlägt. Eine geht sogar kaputt und mit einem Mal stehe ich in einer streng riechenden Pfütze. Bis dahin wusste ich nicht genau, wonach ich suche, doch als ich die Flasche mit der braunen Flüssigkeit in den Händen halte, fällt es mir sofort ein. Das Zeug trinke ich immer dann, wenn ich etwas brauche, das einer Betäubung gleicht. Es beruhigt mich. Eilig drehe ich den Verschluss auf, versuche mir einen kräftigen Schuss in ein bereitstehendes Glas zu gießen und kippe die Hälfte daneben. Ich verfluche die ganze Welt, setze die Öffnung entschieden an meinen Mund und nehme einen großzügigen Schluck. Dann noch einen. Mein Hals beginnt zu brennen und mein Gesicht verzieht sich. Doch mein Puls geht für einen Moment runter. Ich knalle die Flasche auf die Ablage und höre meinen Herzschlag in den Ohren pulsieren. In meinem Kopf sind tausende Bilder und Geräusche. Vor allem das Geräusch von unzähligen Perlen, die auf dem Boden aufschlagen, hebt sich von den Übrigen ab. Aber jetzt sind sie in Sicherheit. Gut versteckt vor den Blicken Fremder ruhen sie in einer kleinen Schachtel auf meinem Schlafzimmerschrank. Ich selbst betrachte sie nie. In diesem Moment sehe ich dagegen jede einzelne. Sie verstreuen sich überall. Alles reißt auseinander. Dieser Anblick macht mich wahnsinnig. Ich muss ruhiger werden. Ich muss ganz schnell ruhiger werden. Doch der Alkohol schlägt noch immer nicht an. Mit einem Mal entgleitet mir die Kontrolle meines Körpers und ich sinke in mir zusammen, bis ich mit den Knien in der Flüssigkeit hocke. Ich zittere und meine Wangen werden feucht. Aus meiner Kehle dringen erst raue Töne, dann einzelne Worte und schließlich ganze Sätze, die meine Ohren so schnell gar nicht aufnehmen können. Meine Hände graben sich tief in mein Haar und drücken gegen meine Schläfen. Dieses verdammte Pochen. Ich will, dass es aufhört! Lass es aufhören! Es dauert eine ganze Zeit, bis ich diesem Zustand entfliehen kann. Noch lange sitze ich in dem Dreck und lehne meinen Kopf gegen den Rand der Ablage. Ich lausche dem Geräusch eines nicht ganz zugedrehten Wasserhahns. Langsam werde ich ruhiger und richte mich auf. Auch, wenn meine Welt sich dreht, suche ich den Weg zurück ins Wohnzimmer. Das ist jetzt alles egal. So was von scheißegal. Ich will den Rest des Films sehen. Als ich in die Stube zurückkehre, ist der Mann nicht mehr da. Der Raum ist völlig leer und still. Bereits in diesem Augenblick bin ich mir sicher, dass ich ihn kein zweites Mal sehen werde. Es wird keine Gelegenheit geben, um ihm zu danken. Ich setze mich wieder in meinen Sessel und starre auf das angehaltene Bild. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass dort noch weitere Videos und ein Zettel liegen. »Auch wenn ich dir sonst nicht viel versprechen konnte, werde ich dafür sorgen, dass das alles ein Ende findet. Alles, worum du mich gebeten hast. Unsere Geschichte war dafür nicht geschaffen. Um die Menschen in Aufruhr zu versetzen, brauchen wir etwas Extremeres. Und ich werde auf die Hungerspiele warten, bei denen es soweit ist. Das schwöre ich dir.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)