Schillern von KaethchenvHeilbronn ================================================================================ Kapitel 2: Der Glaube an eine andere Realität --------------------------------------------- August saß verloren am Fenster. Der Frühling sah schon gar nicht mehr so schön aus, wie heute Morgen noch. Sein Vater hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen, war auch nicht zum Essen aufgetaucht. Die Mutter war wieder in die Stadt, sie konnte das nicht, hier tatenlos herumsitzen. Als es an der Haustür klopfte, sprang August sofort auf. Mit klopfendem Herzen lief er in den Flur, um zu sehen, wen der Diener eingelassen hatte. Karl stand da, der kleine zwölfjährige Junge, die dunklen Locken ungekämmt, die Haut noch blasser als sonst und dunkle Schatten unter seinen geröteten Augen. „A…August…“, brachte er heraus und fiel seinem Freund in die Arme. Dieser schloss die Tür und zog den Kleinen dicht an sich. Als sie im Wohnzimmer im großen Sessel saßen, ließ Karl seinen Tränen freien Lauf. „Das ist…das ist nicht gerecht…!“, schluchzte er. „Er hat mich…! Vater hat mich angelogen!“ August fuhr ihm beruhigend über den Rücken, mit der anderen Hand sanft durch die Haare. „Er hat dich sicher nicht belogen.“, flüsterte er, wobei er einfach nicht daran glauben konnte, dass Schiller wirklich behauptet hätte, ein Vampir zu sein. Schiller gab keine unhaltbaren Versprechen. „Aber…! Wieso ist er dann tot?!? Wieso, August?!“ Verzweifelt blickten die blauen Augen des Kleinen zum anderen auf. August hatte keine Antwort auf diese Frage, weshalb er seinem Freund einfach nur die Lippen an die Stirn legte. Karl war eiskalt. Seine Hände waren schon immer eiskalt gewesen. August hoffte, er hatte die labile Gesundheit nicht von seinem Vater geerbt und schloss Karl wieder in seine Arme. „Versuch ein wenig die Augen zuzumachen, Kleiner. Du bist sicherlich müde.“ Karl folgte dem Rat, und auch wenn es eine Weile dauerte, bis er sich beruhigt hatte, ging sein Atem schließlich immer regelmäßiger und er schlief tatsächlich in Augusts Armen ein. Es war wieder ein Tag im Frühling, aber aus dem zwölfjährigen kleinen Jungen, der vor August stand, war ein sechzehnjähriger junger Mann geworden, der den vier Jahre älteren mittlerweile um gute zehn Zentimeter überragte. „Karl, guten Abend.“ „Tut mir Leid, dass es so spät geworden ist, August, ich war noch…heute ist der Neunte.“ August nickte wissend. Ja, heute vor vier Jahren war Schiller gestorben. „Komm rein.“, sagte er. Als die beiden am kleinen Esszimmer vorbeigingen, fanden sie Augusts Vater vor, der mit einer Tasse Milch bei seiner abendlichen Lektüre saß. „Grüß dich, Karl.“ „Guten Abend, Herr Goethe.“ August fiel der melancholische Blick auf, mit dem sein Vater den Gast betrachtete. Er dachte bestimmt an Schiller. „Karl?“ „Äh, ja, ich komme schon.“ Sie liefen die Holztreppe hinauf und betraten Augusts Zimmer. Der Schreibtisch stand immer noch an gleicher Stelle, aber er wurde anscheinend häufiger benutzt, wie noch vor vier Jahren. Immerhin war August jetzt erwachsen und hatte schon einiges am Weimarer Hof zu tun. „Was ist?“, fragte er, als Karl an der Tür stehenblieb und unschlüssig zu ihm hinüberblickte. „Ich…“, fing der Schwarzhaarige an und griff in seinen Rock. Er holte ein Spielzeug hervor. Bei genauerem Hinsehen erkannte August die Spielzeugguillotine, die sein Vater Karl einmal geschenkt hatte und mit der sie als Kinder zusammen gespielt hatten. „Was willst du damit?“, fragte der Ältere mit einem Lachen. Auf Karls Gesicht legte sich ein Lächeln. „Vater ist nicht tot.“ August versuchte nicht genervt zu wirken. Karl war die ganzen Jahre über immer wieder darauf zurückgekommen, dass sein Vater noch lebte. Jedes mal musste er es ihm erneut ausreden. Das tat weh. „Karl…“, fing er an, doch der andere unterbrach ihn, so hitzig, wie es nur ein Schiller konnte. „Nein!“, rief er und schritt auf ihn zu. „Mein Vater lebt, ich weiß es! Er hätte mich nie belogen! Niemals! Die ganzen Jahre über bin ich mir sicherer geworden: Er ist ein Vampir und so lebendig, wie ein Untoter es eben sein kann.“ August konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen. „Karl, komm zu Sinnen. Weißt du, was du da redest? Wen bitte hat der Arzt für tot erklärt? Welchen Leichnam haben wir begraben?“ „Nicht meinen Vater!“ August seufzte. „Was willst du mit der Guillotine?“ „Dein Vater hat mich darauf gebracht.“ Fragend sah der junge Goethe sein Gegenüber an. „Mein Vater?“ „Ja, als ich vorgestern zu Besuch war und du nicht zuhause, haben wir uns unterhalten. Er sprach immer von meinem Vater, dass er ihn vermisse, und er dachte an die schönen Zeiten zurück, als er zu Besuch war – die Guillotine erwähnte er – Unsere Väter haben gedichtet und wir saßen zusammen auf dem Boden und haben gespielt, erinnerst du dich?“ „Ja, ich erinnere mich. Und…?“, hakte August nach, denn er verstand immer noch nicht, auf was der andere hinauswollte. „Hier ist des Rätsels Lösung!“, rief Karl und hob die Spielzeugguillotine wie einen gefundenen Schatz in die Höhe, um sie zu schütteln. „Hörst du das? Da ist etwas drin eingeschlossen!“ „Karl, das ist lächerlich.“ „Ist es nicht!“ Der Jüngere trat heftig mit dem Fuß auf. „All die Jahre willst du es mir ausreden! Wieso tust du das?!“ „Weil es die Wahrheit ist!“ Der Dunkelhaarige biss sich trotzig auf die Unterlippe, seine Finger fest um die Guillotine geschlossen, die Augen starr auf August gerichtet. Er zitterte vor Zorn. „Karl“, fing August beschwichtigend an. „Ich will doch nur nicht, dass du dich unglücklich ma– “ Da schmetterte ihm Karl mit einem Mal das Spielzeug vor die Füße, dass es in tausend Stücke zersprang. Ungewöhnlich ruhig war August geblieben, sah auf den Splitterhaufen hinab, und da erst nahm sein Herzschlag an Geschwindigkeit zu. „Karl…“, sagte er abermals und warf sich auf die Knie, um eine bleistiftgroße Schriftrolle aus den Trümmern zu fischen. Schuldig sah er zu seinem Freund auf. Er hatte also all die Jahre Recht gehabt. „Das…was…?! Zeig her!“, befahl Karl und entriss dem anderen das Papier. Hastig rollte er es aus und begann zu lesen. Es war die Schrift Goethes. Nach Korinthus von Athen gezogen Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt. Einen Bürger hofft' er sich gewogen; Beide Väter waren gastverwandt, Hatten frühe schon Töchterchen und Sohn Braut und Bräutigam voraus genannt. Aber wird er auch willkommen scheinen, Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft? Er ist noch ein Heide mit den Seinen, Und sie sind schon Christen und getauft. Keimt ein Glaube neu, Wird oft Lieb' und Treu Wie ein böses Unkraut ausgerauft. Und schon lag das ganze Haus im stillen, Vater, Töchter, nur die Mutter wacht; Sie empfängt den Gast mit bestem Willen, Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht. Wein und Essen prangt, Eh er es verlangt; So versorgend wünscht sie gute Nacht. Aber bei dem wohlbestellten Essen Wird die Lust der Speise nicht erregt; Müdigkeit läßt Speis' und Trank vergessen, Daß er angekleidet sich aufs Bette legt; Und er schlummert fast, Als ein seltner Gast Sich zur offnen Tür herein bewegt. Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer Tritt, mit weißem Schleier und Gewand, Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer, Um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band. Wie sie ihn erblickt, Hebt sie, die erschrickt, Mit Erstaunen eine weiße Hand. Bin ich, rief sie aus, so fremd im Hause, Daß ich von dem Gaste nichts vernahm? Ach, so hält man mich in meiner Klause! Und nun überfällt mich hier die Scham. Ruhe nur so fort Auf dem Lager dort, Und ich gehe schnell, so wie ich kam. Bleibe, schönes Mädchen! ruft der Knabe, Rafft von seinem Lager sich geschwind: Hier ist Ceres', hier ist Bacchus' Gabe, Und du bringst den Amor, liebes Kind! Bist vor Schrecken blaß! Liebe, komm und laß, Laß uns sehn, wie froh die Götter sind! Ferne bleib, o Jüngling! bleibe stehen, Ich gehöre nicht den Freuden an. Schon der letzte Schritt ist, ach! geschehen Durch der guten Mutter kranken Wahn, Die genesend schwur: Jugend und Natur Sei dem Himmel künftig untertan. Und der alten Götter bunt Gewimmel Hat sogleich das stille Haus geleert. Unsichtbar wird Einer nur im Himmel Und ein Heiland wird am Kreuz verehrt; Opfer fallen hier, Weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört. Und er fragt und wäget alle Worte, Deren keines seinem Geist entgeht. Ist es möglich, daß am stillen Orte Die geliebte Braut hier vor mir steht? Sei die Meine nur! Unsrer Väter Schwur Hat vom Himmel Segen uns erfleht. Mich erhälst du nicht, du gute Seele! Meiner zweiten Schwester gönnt man dich. Wenn ich mich in stiller Klause quäle, Ach! in ihren Armen denk an mich, Die an dich nur denkt, Die sich liebend kränkt; In die Erde bald verbirgt sie sich. Nein! bei dieser Flamme sei's geschworen, Gütig zeigt sie Hymen uns voraus, Bist der Freude nicht und mir verloren, Kommst mit mir in meines Vaters Haus. Liebchen, bleibe hier! Feire gleich mit mir Unerwartet unsern Hochzeitschmaus! Und schon wechseln sie der Treue Zeichen: Golden reicht sie ihm die Kette dar, Und er will ihr eine Schale reichen, Silbern, künstlich, wie nicht eine war. Die ist nicht für mich; Doch, ich bitte dich, Eine Locke gib von deinem Haar. Eben schlug dumpf die Geisterstunde, Und nun schien es ihr erst wohl zu sein. Gierig schlürfte sie mit blassem Munde Nun den dunkel blutgefärbten Wein; Doch vom Weizenbrot, Das er freundlich bot, Nahm sie nicht den kleinsten Bissen ein. Und dem Jüngling reichte sie die Schale, Der, wie sie, nun hastig lüstern trank. Liebe fordert er beim stillen Mahle; Ach, sein armes Herz war liebekrank. Doch sie widersteht, Wie er immer fleht, Bis er weinend auf das Bette sank. Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder: Ach, wie ungern seh' ich dich gequält; Aber, ach! berührst du meine Glieder, Fühlst du schaudernd, was ich dir verhehlt. Wie der Schnee so weiß, Aber kalt wie Eis Ist das Liebchen, das du dir erwählt. Heftig faßt er sie mit starken Armen, Von der Liebe Jugendkraft durchmannt: Hoffe doch bei mir noch zu erwarmen, Wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt! Wechselhauch und Kuß! Liebesüberfluß! Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt? Liebe schließet fester sie zusammen, Tränen mischen sich in ihre Lust; Gierig saugt sie seines Mundes Flammen, Eins ist nur im andern sich bewußt. Seine Liebeswut Wärmt ihr starres Blut; Doch es schlägt kein Herz in ihrer Brust. Unterdessen schleichet auf dem Gange Häuslich spät die Mutter noch vorbei, Horchet an der Tür und horchet lange, Welch ein sonderbarer Ton es sei: Klag- und Wonnelaut Bräutigams und Braut Und des Liebestammelns Raserei. Unbeweglich bleibt sie an der Türe, Weil sie erst sich überzeugen muß, Und sie hört die höchsten Liebesschwüre, Lieb' und Schmeichelworte mit Verdruß- Still! der Hahn erwacht!- Aber morgen Nacht Bist du wieder da? - und Kuß auf Kuß. Länger hält die Mutter nicht das Zürnen, Öffnet das bekannte Schloß geschwind: Gibt es hier im Hause solche Dirnen, Die dem Fremden gleich zu Willen sind?- So zur Tür hinein. Bei der Lampe Schein Sieht sie - Gott! sie sieht ihr eigen Kind. Und der Jüngling will im ersten Schrecken Mit des Mädchens eignem Schleierflor, Mit dem Teppich die Geliebte decken; Doch sie windet gleich sich selbst hervor. Wie mit Geists Gewalt Hebet die Gestalt Lang und langsam sich im Bett empor. Mutter! Mutter! spricht sie hohle Worte, So mißgönnt ihr mir die schöne Nacht! Ihr vertreibt mich von dem warmen Orte, Bin ich zur Verzweiflung nur erwacht? Ist's Euch nicht genug, Daß ins Leichentuch, Daß Ihr früh mich in das Grab gebracht? Aber aus der schwerbedeckten Enge Treibet mich ein eigenes Gericht. Eurer Priester summende Gesänge Und ihr Segen haben kein Gewicht; Salz und Wasser kühlt Nicht, wo Jugend fühlt; Ach! die Erde kühlt die Liebe nicht. Dieser Jüngling war mir erst versprochen, Als noch Venus' heitrer Tempel stand. Mutter, habt Ihr doch das Wort gebrochen, Weil ein fremd, ein falsch Gelübd' Euch band! Doch kein Gott erhört, Wenn die Mutter schwört, Zu versagen ihrer Tochter Hand. Aus dem Grabe werd' ich ausgetrieben, Noch zu suchen das vermißte Gut, Noch den schon verlornen Mann zu lieben Und zu saugen seines Herzens Blut. Ist's um den geschehn, Muß nach andern gehn, Und das junge Volk erliegt der Wut. Schöner Jüngling! kannst nicht länger leben; Du versiechest nun an diesem Ort. Meine Kette hab' ich dir gegeben; Deine Locke nehm' ich mit mir fort. Sieh sie an genau! Morgen bist du grau, Und nur braun erscheinst du wieder dort. „1797“, las August das am unteren Rand vermerkte Datum. „Das ist eine Ballade meines Vaters.“ „Die er geschrieben hat, als er meinen Vater schon fünf Jahre kannte.“, ergänzte Karl. „Als er wusste, dass er ein Vampir ist. Hier ist der Beweis.“ August ließ die Schriftrolle sinken. „Aber…“, fing er an. „Wieso hat Vater nie etwas gesagt? Wieso sitzt er jetzt da unten, immer noch jedes Mal betrübt, wenn die Sprache auf Schillern fällt, obwohl er weiß, dass er noch irgendwo da draußen ist?“ Karl nahm das Papier wieder an sich und steckte es sich in die Innentasche seines Gehrocks. „Er weiß nicht nur, dass er irgendwo da draußen ist, sondern er weiß auch genau wo.“ „Wo er ist?!“, wiederholte August. Der Dunkelhaarige nickte. „In Korinth.“ Die erste Zeile der Ballade. Der Jüngling, der nach Korinth kommt. Das leuchtete dem Älteren ein. Als er zu Karl aufsah, ahnte er, was in dessen Kopf gerade vorging. „Karl, du willst doch nicht…? Das ist…“ „Doch“, meinte der Größere bestimmt. „Ich werde aufbrechen nach Korinth und beweisen, dass mein Vater kein Lügner ist. Und ihn zur Rede stellen, wieso er seine Familie verlassen hat.“ „Wir könnten auch einfach meinen Vater fragen.“, schlug August vor, so geradlinig, wie er immer dachte. Karl schüttelte den Kopf. „Er hätte uns auch gleich alles erzählen können, aber was hat er stattdessen gemacht? Mir als kleines Kind diese Ballade versteckt in einer Spielzeugguillotine geschenkt. Er darf oder will es mir also unter keinen Umständen persönlich sagen.“ August sah verblüfft zum anderen auf. „Er darf nicht?“ Karl antwortete nicht, sondern trat einen Schritt an seinen Freund heran. „Wirst du mich begleiten?“ „Nach Korinth?“ „Ja.“ August wusste nicht, was er darauf antworten sollte. „Karl, wir können doch nicht einfach…Wir haben hier Verpflichtungen…“ Der Schwarzhaarige lachte. „Dein Vater hat vor vielen Jahren auch einfach alles hingeschmissen und ist seine Italienreise angetreten.“ „Das ist doch etwas völlig anderes!“, widersprach August. „Ja, immerhin geht es hier um einen Vampir.“, entgegnete Karl. Der Ältere seufzte und raufte sich die Haare. „Ich werde gehen.“, sprach Karl weiter. „Auf jeden Fall. Und ich würde es nur allzu lieb begrüßen, wenn du mit mir kämest. Ich kenne dich jetzt schon so lange, seit meiner Geburt bist du für mich da gewesen. Darum verlange ich viel, ich weiß, wenn ich dich auch noch um so etwas bitte, August, aber…gerade das hier würde mir sehr viel bedeuten.“ Ehrlich sahen die blauen Augen in die braunen hinab. „Überleg es dir.“, meinte der Dunkelhaarige. „Du hast einen Tag. Ich werde morgen Abend um Neun bei euch hinterm Haus sein. Wenn du dich dazu entschließt, mit mir zu kommen, dann werde ich dich finden.“ Mit diesen Worten ließ er August in dessen Zimmer stehen, die Splitter der Guillotine überall auf dem Boden zerstreut, genauso wie dessen Gedanken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)