Schillern von KaethchenvHeilbronn ================================================================================ Kapitel 12: Geisterstunde ------------------------- Am Abend saß August alleine auf dem Sofa. Karl war sozusagen ausgeflogen, nach seinem Abendessen suchen. Der Ältere schüttelte den Kopf. Immer noch fühlte er sich schuldig, da er Karl gestern Morgen doch tatsächlich als Mörder beschimpft hatte. Noch mehr bereute er die unschönen Dinge, die er über Schiller Senior gesagt hatte. Sein eigener Vater hätte ihm sicherlich den Kopf abgerissen, wäre er dabei gewesen. August drehte die weiße Maske in seinen Händen. Eines verstand er nicht. Wieso war Schiller aus Weimar geflüchtet? Wieso hatte er seinen Tod vorgetäuscht? Und das alles, obwohl Goethe ja Bescheid wusste. Schiller war doch in Weimar sicher gewesen, bei Goethe. Wieso war er also von dort fort gegangen?, nach Korinth aufgebrochen? August hätte gerne noch einmal einen Blick in Vaters Ballade geworfen, aber den Zettel hatte Karl. Er seufzte. Alles Überlegen, es half wohl nichts; sie mussten Karls Vater finden, das war der einzige Weg, die Wahrheit zu erfahren. Plötzlich krachte es im Flur, und Karl fiel mit der Tür ins Zimmer. „Wir müssen weg, August! Lauf! Iffland ist hinter mir her!“ „W– was?!?“, rief der Ältere entsetzt, doch da ertönte schon ein Schuss auf der Straße, der die Fensterscheibe zerspringen ließ. „Komm!“ Karl packte den anderen am Arm, der sich die Maske aufs Gesicht drückte. Unter Ifflands Fluchen ließ sich August von seinem Freund über die Dächer tragen, die Pistolenkugeln schlugen links und rechts in der schwarzen Nacht ein. „Verteufelt!“, zischte Karl und setzte den Älteren auf der Straße ab. So schnell sie ihre Füße tragen konnten, rannten sie die Gasse hinab. „Ich – ich hätte ihn nicht zu dir führen sollen…!“ „Red nicht, lauf!“, entging August Karls, seiner Meinung nach, unangebrachter Entschuldigung. „Da runter!“ Sie stolperten die Treppen zum Kanal hinab, krochen unter der Brücke hindurch, um auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern. „Hier rein!“ August schob den anderen durch eine offen stehende Tür und verriegelte sie hinter ihnen. Schnaufend sah sich Karl um. „Wir…wir sind in einem Theater?“ „Das Teatro La Fenice.“, bestätigte August und lief voran in den großen Saal. Gleich nach der ersten Sitzreihe ließ er sich außer Atem auf den Boden sinken. Karl konnte die gewaltige Größe des Saals mit Bühne, Orchestergraben und Logen gar nicht richtig genießen, so angespannt war er. „Wir sollten uns irgendetwas ausdenken. Wer weiß, wie schnell Iffland wieder unsere Fährte aufgenommen hat.“ Als er keine Zustimmung vom anderen hörte und sich herumdrehte, sah er, wie August sich die Maske abnahm. „Komm her.“ Verwirrt sah der Jüngere in die ausdrucksstarken, braunen Augen. „Komm her.“, wiederholte August seine Forderung, wobei er sich die weißen Samthandschuhe auszog. „Was…?“ Überfordert nahm Karl neben seinem Freund auf dem Boden Platz. „Hast du deinen Hunger stillen können, bevor Iffland dich gefunden hat?“ „Wie – ? Nein – was…?“ „Beiß mich.“ Entsetzt weiteten sich Karls blaue Augen. Grüne Punkte tauchten in seiner Iris auf. „August, ich sagte doch…!“, rief er, wollte aufspringen, um Abstand zu gewinnen, doch da packte ihn der Ältere am Arm und zog ihn zu sich. „August, ich kann nicht…!“ „Iffland tötet dich, wenn du es nicht tust, Karl!“ „Aber ich bring dich nicht um!“ „Du bringst mich ja auch sicher nicht um!“ Karl verkrampfte, als der andere ihm eine Hand an die Wange legte. Er fluchte innerlich, dass er sich von Iffland hatte erwischen lassen müssen, bevor er etwas gegen seinen Hunger unternommen hatte. Hilflos begann er zu zittern. Augusts Geruch…das war einfach nicht auszuhalten. „Lass mich los.“, keuchte er, die Augen fest zugekniffen. „Karl.“ „August…lass los…“ „Karl, sieh mich an!“ Widerwillig öffnete der Dunkelhaarige seine Augen. Sie schillerten dunkelblau. Türkis. Intensiv. „Es kann jede Sekunde zu spät sein! Beiß mich!“ Karl entriss sich Augusts Griff und warf sich nach hinten an die Sitzlehnen, wo er schnaufend sitzen blieb. Der andere war immer noch viel zu nah, aber einen Meter hatte er damit zwischen sie gebracht. Einen Meter, der ihm sagte, wie falsch das Ganze war. „August…ich kann wirklich nicht…“, brachte er heraus, eine zitternde Hand an seiner Stirn. Da schmiss August seine Maske weg und riss sich das Tuch vom Hals, die oberen Knöpfe seines Hemdes auf. „Hier“, sagte er, und Karls Augen betrachteten wie hypnotisiert die nackte Haut, wie sie zart das Schlüsselbein bedeckte und so wunderschön weich aussah. Ihm war fast, als könnte er das Blut in der Halsschlagader pochen hören. „A– “ Karls Stimme versagte, der Rausch hatte ihn gepackt, Augusts Geruch war überall, und seine Worte – „Ich vertrau dir, Karl. Tu es. Bitte. Ich bitte dich darum.“ Wie in einem Traum kam er dem anderen näher, legte seine zittrigen Finger an dessen Brust. August neigte seinen Kopf zur Seite, ließ den Dunkelhaarigen das Gesicht in seine Halsbeuge senken. Der Ältere unterdrückte einen Schrei, als sich die spitzen Eckzähne in seine Haut bohrten, er griff nach Karls Hand an seiner Brust. Sein Hals brannte, auch als der andere nun zu saugen begann. Der fremde Vampir von der Straße hatte August mit ‚zum Anbeißen lecker‘ nicht annähernd richtig beschrieben. Alles in Karl verlangte nach mehr von dieser Süße, von diesem betörenden Geruch und unwiderstehlichen Geschmack. So sehr er auch nach mehr lechzte, seine Zähne noch tausendmal in dieses sündhaft reizende Fleisch bohren könnte, war ihm stets bewusst, dass das August war, sein bester Freund, und er rang mit sich, brachte all seine Willensstärke auf und riss sich vom Älteren los. Es war Instinkt, dass Karl noch einmal über die blutende Wunde leckte, die sich daraufhin bis auf zwei gerötete Punkte schloss. Als er dem Älteren wieder ins Gesicht blickte, wurde er von einem Lächeln überrascht. Es war ein müdes Lächeln, aber es war ehrlich, und August beugte sich nach vorne, um dem Dunkelhaarigen das Blut von Kinn und Lippen zu küssen. Immer noch mit zittrigen Fingern fasste sich Karl an den Hals, um seine Kette auszuziehen und sie August umzulegen. Danach nahm er sein Taschenmesser hervor und schnitt dem anderen eine Locke vom Haupt, die er zum Balladenzettel in seine Tasche steckte. Aus irgendeinem Grund erschöpft ließ sich Karl neben seinen Freund sinken und legte seine Arme um ihn. „Geht…geht es dir gut?“ Der Ältere hatte die Augen geschlossen und seinen Kopf an die Stuhlreihe hinter ihnen gelehnt. „Ja. Könnte mir nicht besser gehen.“ Karl lächelte zufrieden und schmiegte seine Wange an die Schulter des anderen. „Ich danke dir, August. Für alles danke ich dir.“ Als er selbst die Augen schloss, spürte er, wie ihm der Ältere mit einer Hand in die Haare fuhr. „Kannst du dir vorstellen, Karl, wie sich ein kleiner Junge fühlt, der stets mit seiner Mutter hinter Schloss und Riegel gehalten wird, weil er ‚unehrlich‘ ist, eine Schande für die Gesellschaft, wenn eines Tages der Vater sagt: ‚Komm, August, wir gehen einen Freund besuchen.’? Es war der schönste Tag in meinem Leben, als wir in Jena ankamen und mich deine großen blauen Augen so zutraulich angeblickt haben. Endlich war da jemand, mit dem ich spielen konnte, jemand, der nicht vor mir weglief.“ Wie um wirklich sicher zu gehen, den anderen bei sich zu haben, nahm August die Hand des Jüngeren, bevor er weiter sprach. „Die vier Lebensjahre, die zwischen uns liegen, haben mich immer Verantwortung für dich fühlen lassen. Ich sah es als meine Aufgabe, Vater daran zu erinnern, dass er dir auch ja etwas zum Spielen mitbrachte, wenn er zu Besuch nach Jena kam.“ Karl lachte leise. „Er hat dich gelegentlich mitgebracht. Das war alles, was ich brauchte.“ August ließ seine Hand aus Karls Haaren auf dessen Bauch wandern. „Was macht der Magen? War ich bekömmlicher als das Pferd?“ Der Dunkelhaarige rückte noch näher, um seinen Kopf in die Halsbeuge des Älteren zu legen. Die Augen geschlossen, sog er den wohligen Geruch in sich ein. „Meinem Magen ging es nie besser; du bist perfekt.“ „Aber…“, fing August an, etwas unbeholfen, da sein Freund nun fast auf ihm saß, mit dem Gesicht seinem Hals so gefährlich nah, „Du…du willst doch nicht schon wieder…?“ „Ich will, aber ich tu es nicht.“, nuschelte Karl gegen die zarte Haut. „Gut. Aber wenn du vorhast, die ganze Nacht hindurch auf mir zu liegen und an mir zu riechen, dann…dann…“ „Wieso? Stört es dich?“ „Nun…Solange ich mich am Tage dann wieder ungehindert bewegen kann, nein.“ „Siehst du.“ Als Karl Augusts Hemd noch einen Knopf weiter öffnete, hörte er den Älteren lachen. „Was ist?“ „Ich stell mir gerade vor, wie mein Vater damit umgegangen ist.“ „Och, bestimmt auch nicht so schlecht.“ „Hm, wer weiß, vielleicht sollte ich morgen mal schauen, ob ich ein paar verfaulte Äpfel* auftreiben kann. Gut möglich, dass die den gleichen Effekt haben, und du so nicht dauernd an mir hängen musst.“ Karl sah August an und fuhr ihm durch das volle Haar. „Du findest mich jetzt schon lästig?“, fragte er enttäuscht. Ein bisschen zu echt enttäuscht, fand August, und zog seinen Freund in eine innige Umarmung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)