In der Kulisse von Melange ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Lièvre!“ Der Gerufene wendet sich vom Kameramann ab, den er eben mit glitzernden Augen und weit ausholenden Gesten bearbeitet hat, und gleitet herüber. Papillon fragt sich, wie sein Kollege besser stolzieren kann als er, obwohl Lièvre vor der Kamera den Männlichen und Dominanten spielt. Er hält ihm einen Becher dampfenden Cappuccinos hin. Einige Schritte weiter setzt er sich vorsichtig auf eine Kiste, in der wohl Equipment verstaut war, und hebt den anderen Becher an die kirschroten Lippen. Lièvre bedankt sich mit einer theatralischen Verbeugung und folgt ihm. „Die Szene ist schwieriger als ich dachte.“ Papillon wedelt mit der Hand in der Luft herum. „Komm schon. Du weißt, ich mag es nicht, in den Pausen über die Arbeit zu sprechen.“ „Wenn nicht jetzt, wann dann? Du studierst doch, oder?“ „Da hast du Recht.“ Papillons graue Augen bohren sich in Lièvres blassgrüne. Schließlich zuckt dieser die Schultern und senkt den Blick. „Wie du willst ...“ Und setzt sich vor Papillon im Schneidersitz auf den Teppich. Unter seinem nackten Hinterteil winden sich weiße und silberne Linien und Schleifen auf weinrotem Untergrund. „Ich sage nur, dass ein Porno über Homosexuelle ein gewagtes Experiment ist.“ Papillon hofft, durch Gleichgültigkeit das Thema vom Tisch zu schieben. Sie kennen sich nur über zwei Ecken, aber Lièvres Ruf als flatterhaftes Plappermaul eilt ihm voraus. „Welches Fach? Mein Hirn ist ein Sieb, was persönliche Einzelheiten Bekannter betrifft.“ Papillon wirft dem anderen einen kurzen Blick zu. Der grinst wie ein Kobold, der gerade einen Streich ausheckt. Er kennt diesen Gesichtsausdruck. „Psychologie.“ Er schlürft Kaffee, um nichts sehen zu müssen, bis Lièvres Gesicht jenseits des Becherrandes wieder auftaucht. Seine Züge sind ausdruckslos. Diesem Ernst traut Papillon nicht. „Was denkst du über mich?“ Er zieht eine Augenbraue hoch. „Du hast weniger Selbstbewusstsein als ich dachte.“ Lièvres Hand wedelt durch die Luft. „Das hat nichts damit zu tun. Ich will wissen, wie gut du bist. Stelle ich eine zu große Herausforderung dar?“ Ein boshaftes Glitzern tritt in seine Augen. Er trinkt einen Schluck. Vielleicht nur, um den Blick auf sein baumelndes Geschlecht freizugeben. Papillon seufzt. „Wie kindisch. Du bist ein Spieler, du hasst Ernst. Abgesehen davon hüllst du dich in eine Illusion, nicht nur vor der Kamera, sondern auch im Alltag. Du zeigst niemandem dein wahres Ich.“ Kurz zögert er. „Ich kenne Menschen wie dich.“ Lièvre spitzt die Lippen und schmollt in seinen halbleeren Becher. „Oh, ich bin untröstlich.“ „Du spielst Theater. Das ist dein Leben, deshalb passt du so gut hierher.“ Er breitet die Arme aus und umfasst die ganze Umgebung in einer demonstrativen Geste: das weinrote Ledersofa, den 3D-Fernseher, die geschmackvollen Lampen in den Ecken, den Arbeitstisch vor den großen Fenstern, die roten Vorhänge. Die Hotelsuite eines wohlhabenden Liebhabers. Lièvre schüttelt den Kopf, täuscht Unglauben vor, aber sein Blick verrät, dass er jedes Wort aufsaugt. Papillon will aufhören, aber es ist, als würde der andere die Worte aus ihm heraus ans Licht zerren. „Und dein Pseudonym, das ist die größte Illusion an dir.“ „Ein Paradox“, murmelt Lièvre, der Hase. Papillon nickt. Ihre Blicke kreuzen sich in momentanem Verständnis. „Darf ich etwas sagen?“, fragt der andere mit sarkastischem Unterton. Papillon nickt. Im nächsten Moment erkennt er den Fehler. „Sie hat dich nicht verdient, Papillon.“ „VIPs, bewegt eure süßen Ärsche hierher! Es geht weiter! Habt ihr gehört, es geht weiter!“ Fast gleichzeitig schießen beide in die Höhe. Lièvre nimmt ungefragt den leeren Pappbecher aus der Hand des anderen und übergibt ihn einem Assistenten, der den nächsten Mülleimer suchen darf. Seite an Seite marschieren sie zurück in den Film, diese Blase künstlicher Wirklichkeit. Papillon schluckt den Schock hinunter und vergisst, wie tief Lièvre in ihn gesehen hat. Im Vorzimmer sieht er ihre Stiefel und wundert sich. Kurz darauf tritt er in das Wohnzimmer und unter ihre anklagende Gegenwart. Sie sitzt auf der anderen Seite des Raumes im Lehnsessel, als hätte sie stundenlang darauf gewartet, dass er im Türrahmen auftaucht. Natürlich ist sie diejenige, die das Schweigen zerbricht. „Wo warst du?“ „Ich dachte, du arbeitest heute lange“, sagt er und damit das, was er nicht sagen sollte. Das Unmögliche, das gerade deshalb beruhigt. „Das Kellnern bringt dir nie so viel Trinkgeld ein, oder? Ich hätte es wissen müssen.“ Sie hält etwas hoch, eine DVD-Hülle. Das Cover zieren zwei nackte Körper, ineinander verschlungen vor dunkelrotem und schwarzem Hintergrund. Sein Körper bewegt sich von selbst: Mit einem Schritt stürzt er in das Studierzimmer und sieht die psychologischen und medizinischen Nachschlagewerke am Teppich verstreut, hinter denen er die Trophäen seiner Schattenarbeit versteckt hat. Der geheime Altar ist dem Licht ausgesetzt. Um wenigstens im Nachhinein gegen das Klischee zu protestieren, kehrt er ins Wohnzimmer zurück und setzt sich ihr gegenüber auf das Sofa. Im Fernsehbildschirm erspäht er sein Spiegelbild und wendet schnell den Blick ab. „Silvia, ich verstehe, warum du sauer bist. Am liebsten würde ich aufhören, aber mit Kellnern im Kaffeehaus kann ich die Studiengebühren einfach nicht bezahlen. Das weißt du.“ Seufzend legt sie die Hülle auf das Tischchen zwischen ihnen und streicht sich mit zwei Fingern schwarze Haarsträhnen aus der Stirn. „Du verstehst mich? Wenn das wahr wäre, würdest du aufhören. Mein Lohn reicht für uns beide.“ Er, in dieser Wohnung aus Beige und Grau nicht Papillon, sondern Marco, schließt einen Moment die Augen, bevor er aufsteht und sich auf ihre Lehne hockt. Verführe mich nicht zur Abhängigkeit, will er sagen. „Ich liebe dich“, haucht er ihr stattdessen auf die Haare. Als sie das Gesicht zu ihm dreht, fallen seine Lippen auf ihre. Wie immer verschlingt sie ihn und er löst sich ganz in ihr auf. Danach lächelt sie ihn an. Ihre schwarzen Augen sind wieder die tiefen Seen, in denen er immer treibt, deren warmes Wasser ihn zu jeder Zeit umschmeichelt. „Ich überlege es mir“, sagt er leise, weil er merkt, dass sie darauf wartet. Ihre Augen werden noch eine Spur weicher. „Ich liebe dich auch“, antwortet sie so leise, dass er die Worte von ihren Lippen ablesen muss. Später steht er in der Küche über einem Topf Spaghetti und fühlt dem bitteren Geschmack nach, der sich auf seiner Zunge ausbreitet. Er kündigt eine gewisse Melancholie an. Papillon fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht und seufzt. „Mike bringt uns wirklich an unsere Grenzen.“ Sein Gegenüber grinst und klopft ihm auf die Schulter. „Kein Wunder. Wenn das meine Abschlussarbeit wäre, würde ich mich auch reinhängen.“ Papillon wirft den Kopf so heftig in den Nacken, dass blonde Haarsträhnen seine Wangen streifen. „Nein, da ist mehr. Er hat Visionen. Er will eine neue Art von Film schaffen.“ „Ich glaube nicht, dass er damit Erfolg haben wird. Nicht in dieser Zeit.“ Die Überraschung zwingt Papillon zum Ernst, als er Lièvre anblinzelt. Derselbe Gedanke ist ihm bereits im ersten Moment gekommen. Ein Grinsen breitet sich über das Gesicht seines Kollegen aus. „Ich dachte, du wolltest nicht über die Arbeit reden.“ Papillon zuckt mit den Schultern. Und gähnt. Die Erschöpfung hemmt seine Denkfähigkeit. „Es ist Feierabend“, bringt er heraus. Lièvre lacht und opfert sich, Getränke zu bestellen und an der Theke des McCafé zu warten. Inzwischen verschränkt Papillon die Arme am Tisch, bettet den Kopf darauf und schließt die Augen. „Das ist doch mehr als Müdigkeit“, sagt Lièvre, als er zurückkehrt und das Tablett vor seinem Kollegen abstellt. „Erzähl.“ Papillon hebt den Kopf, um den würzigen Duft einzuatmen. „Warum sollte ich mich gerade dir öffnen? Deine Fassade ist lückenlos.“ „Weil ich hier bin.“ Da ist Papillon ruhig. Er setzt sich auf, greift nach dem Teebeutel und streicht mit einem Finger über den Rand der Tasse, als müsste er dort entlang die Worte aufsammeln, die ihm zu entgleiten drohen. Er wirft einen Blick auf Lièvre, der sich gerade eine braune Locke hinter das Ohr schiebt. „Ich hatte Streit mit meiner Freundin“, beginnt er und stockt. „Nein, nicht Streit. Unstimmigkeiten.“ „Ihr wart nicht einer Meinung“, übersetzt Lièvre und stützt sich auf die Ellbogen. In seinen blassen Augen liegt ein Glitzern, das Papillon nicht deuten kann. Nach den ersten Worten fließt der Rest mühelos aus ihm heraus. „Sie ist älter und arbeitet im Familienunternehmen. Sie will nicht, dass ich schauspielere. Ich arbeite dreimal die Woche als Kellner, aber der Lohn reicht einfach nicht, um die Studiengebühren und Nebenkosten zu decken.“ Lièvre antwortet nicht gleich. Er starrt in die Ferne. Vielleicht beobachtet er Menschen, die Papillon nicht kennt, an einem Ort, den er sich nicht vorstellen kann. „Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragt er schließlich. Papillon hebt eine Augenbraue. „Sie kam in mein Restaurant und gab mir ein lächerlich hohes Trinkgeld. Ich dachte, sie hätte sich verzählt.“ Sarkasmus färbt seine Worte. Silvia, ihre Leidenschaft und ihre Sucht nach Extremen. „Natürlich bist du nur ein Haustier für sie.“ Er verschluckt sich fast am Kaffee. Ein saurer Geschmack breitet sich in seinem Mund aus. Lièvre grinst. „Hör auf damit.“ Derjenige, der sich Hase nennt, breitet nur die Arme aus. Zwar eine Geste der Einladung, aber in diesem Moment eher eine Herausforderung. „Habe ich ein Geheimnis aufgedeckt? Ich glaube nicht.“ Papillon umklammert seinen halbleeren Becher und sucht krampfhaft nach Worten, die er dem anderen an den Kopf werfen kann. Nichts. Lièvre wirft einen Blick auf das Display seines Handys. Selbst diese alltägliche Geste ist erfüllt von ungewöhnlicher Eleganz. „Es ist Zeit. Wenn wir jetzt nicht gehen, kommen wir zu spät.“ Damit steht er auf, klaubt seinen Becher vom Tisch und ist nach zwei Schritten zur Tür hinaus. Papillon schreckt auf. Seine Augen brauchen einen Moment, um die Sicht auf den Großen Lesesaal der Universitätsbibliothek scharfzustellen. Danach sieht er Reihen von Studenten, die auf Bücher oder Mitschriften starren, auf Laptop-Tastaturen eintippen oder deren Kopf auf den Tisch gesunken ist. Bis vor kurzem gehörte er zu letzteren. Ächzend richtet er sich auf, packt seine Unterlagen zusammen und holt Jacke und Schultertasche aus dem Schließfach. Als er aus einem Seiteneingang auf die Straße tritt, saugt er gierig die Nachtluft ein. Knappe dreißig Minuten später schließt er die Wohnungstür auf und schlüpft ins dunkle Vorzimmer. Ihre Stiefel stehen bereits da. Sie sitzt vor einem vollen Glas Wein mit gefalteten Händen am Tisch und sieht ihm entgegen. „Ich will, dass du aufhörst.“ Papillon, in dieser Umgebung wieder Marco, braucht einen Moment, um ihren Gedankengängen zu folgen. „Du weißt, dass ich das nicht kann.“ Ihre Miene verfinstert sich. „Natürlich kannst du! Das einzige, was dich hindert, ist dein nutzloser Stolz!“ Er hört die Worte in seinem Geist, bevor Silvia sie ausspricht. „Du hast nicht einen Moment lang an mich gedacht.“ Er seufzt. Um irgendetwas zu tun, greift er sich das Glas vom Tisch und nimmt einen großen Schluck. Die blutrote Flüssigkeit rinnt mit erlesener Würze seine Kehle hinab. Zwar hört er Silvias Protest, weigert sich aber, die Bedeutung aufzunehmen. „Du hast Recht. Ich habe nichts anderes als meinen Stolz“, sagt er langsam. Sie schnappt nach Luft. „Wenn das so ist, geh. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ Ihre Stimme ist wieder leise. Eine Hand weist zu dem Durchgang, den er gerade erst passiert hat. Papillon, Marco, zuckt mit den Schultern. Trinkt noch einen Schluck. „Geh.“ Entdeckt er ein Zittern in ihrer Stimme? Während er sich in Bewegung setzt, denkt er darüber nach. In der Küche stellt er den Wein ab und im Vorzimmer schlüpft er wieder in die noch warmen Schuhe. Vor der Tür zögert er einen Moment, bevor er die Schlüssel auf die Kommode legt. Lièvre hat Recht. Zwar hat Marco sie genauso benutzt wie sie ihn, aber sein Territorium ist immer weiter geschrumpft, bis nur mehr eine schmale Linie namens Stolz übrig war. Er hat die Lust auf Balanceakte verloren. „Leb wohl“, murmelt er vor dem Haus und widersteht der Versuchung, sich zu ihrem Fenster umzudrehen. Vielleicht steht sie hinter den Vorhängen und starrt ihn nieder. Papillon vergräbt das Gesicht in beiden Handflächen. Die Dunkelheit vor seinen geschlossenen Lidern kühlt sein erhitztes Gemüt. „Bist du krank?“ Er sieht auf. Lièvre steht über ihm, in jeder Hand einen Becher Kaffee. Dank der Szene, an der sie gerade arbeiten, trägt er nur ein T-Shirt, das einen verlockenden Schatten über sein Geschlecht wirft. „Nein.“ Dankend nimmt er den Becher entgegen, den Lièvre ihm anbietet. „Nur müde.“ Der andere schnaubt. „Erzähl mir was Neues.“ Und setzt sich neben ihn auf das rote Sofa. Papillon sagt nichts, kaut nur auf seiner Unterlippe herum. Aber er kann die aufkochenden Gefühle nicht unterdrücken. Auf einmal windet sich ein ersticktes Schluchzen aus seiner Kehle. Hastig nimmt er einen großen Schluck und senkt den Kopf, um sein Gesicht zwischen den Knien zu verstecken. Zu seiner Überraschung berührt Lièvres Hand seine nackte Schulter und streichelt sie. „Kein Problem. Atme erst mal tief durch. Kann ich dir irgendwie helfen?“ Papillon schüttelt den Kopf so heftig, dass sich die Bewegung auf die Hand des anderen überträgt. „Gut … Soll ich gehen?“ Wieder schüttelt er den Kopf. Mitten im Knäuel der Gefühle entdeckt er Überraschung darüber, dass Lièvre tatsächlich diesen Vorschlag macht. Eine Weile verharren sie so. Papillon weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis er tief einatmet und den Kopf hebt. Langsam traut er seiner Stimme wieder. „Danke, dass du nicht geflüchtet bist.“ Lièvre grinst und fährt sich verlegen durch das strubbelige Haar. „Ich hab nicht einen Moment lang daran gedacht.“ „Lügner“, schießt Papillon zurück und muss ebenfalls grinsen. Gerade auf diese Leichtigkeit, mit der Lièvre ihn immer ansteckt, hat er sich seit Tagen gefreut. Dafür verdient der andere die Wahrheit, zumindest einen Teil. „Über das Wochenende schlafe ich bei Jack am Sofa. Danach werde ich mich um eine Wohnung, vielleicht eine WG kümmern.“ Der andere nickt. Langsam verblasst das Lächeln, aber die Erwartungen stehen immer noch und bringen die Luft zwischen ihnen zum Knistern. Papillon lehnt sich vor und legt seine Lippen auf Lièvres. Ihre Schenkel drücken gegeneinander und Körperwärme überträgt sich. Keiner kennt den bürgerlichen Namen des anderen. Beide wissen, dass nichts, was sie in dieser Schattenwelt tun, der Wirklichkeit entspricht. „Bis hierhin und nicht weiter“, murmelt Papillon. Was er dem anderen geschuldet hat, liegt hinter ihm. Jetzt kann er nach vorne sehen. Lièvres Augen blitzen, aber er sagt nichts. „Turteltäubchen!“ Beide heben den Kopf zu einer grinsenden Crew, allen voran Regisseur Mike. „Zeigt der Kamera, wie sehr ihr ein Herz und eine Seele seid!“ „Herr Pfarrer, ich möchte mich scheiden lassen“, verkündet Papillon, steht auf und streckt sich. Lièvre folgt ihm ins Gelächter, das ihnen entgegen schallt. Beide schlüpfen in die Charaktere wie in gemütliche Kleidung. Was vor der Kamera passiert, bleibt vor der Kamera. Gerade darin liegt die Freiheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)