Yoyogi von Harulein (Tsuzuku & Meto) ================================================================================ Kapitel 1: Harajuku ------------------- Er saß jeden Samstag hier, in einem kleinen Café in der Nähe des Yoyogi-Parks, trank eine Tasse Kaffee und beobachtete die Menschen, die auf dem Weg in den Park vorbeizogen, bunt und kreativ gekleidet ihr Wochenende in dieser grünen Lunge Tokyos und im angrenzenden Harajuku verbrachten. Lolita, Decora, Oshare Kei … er kannte die Namen vieler dieser Modestile, trug er doch selbst Kleidung, die sich zum Visual Kei zählen ließ. Oft ging er, wenn er seinen Kaffee ausgetrunken, ein kleines Stück Kuchen gegessen und beides bezahlt hatte, noch auf ein paar Schritte in den Park, mischte sich unter die pastellfarben bis schwarz gekleideten Jugendlichen und beobachtete, wie sie auf dem Rasen picknickten, sich unterhielten, Fotos machten und selbst fotografiert wurden. Auch heute ging er nach dem Cafébesuch in den Park, setzte sich auf eine Bank unter die grünen Kirschbäume und richtete den Blick zuerst einmal auf eine recht große Gruppe Sweet Lolitas, die sich in ihren teuren Kleidern auf einer großen Decke niedergelassen hatten und gerade Kekse und Teeflaschen aus ihren Rollkoffern holten. Es war ihm unmöglich, das Alter der Mädchen zu erkennen, sie sahen in ihren mit kindlichen Motiven geschmückten, bauschigen Röcken alle wie siebzehn aus. Eine Weile beobachtete er sie einfach nur. Ein Stück weiter hinten hatte sich eine Gruppe Bangya um einen knorrigen Kirschbaum geschart und zwei aus dieser Gruppe waren in die niedrige Gabelung des Stamms geklettert, um sich in dieser Pose fotografieren zu lassen. Zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Gruppen war eine freie Fläche und etwa eine Viertelstunde, nachdem Tsuzuku sich auf die Parkbank gesetzt und mit seiner allsamstäglichen Beobachtung begonnen hatte, erschien am Rand der Wiese eine Gothic Lolita mit Sonnenschirm, die quer über den Rasen spazierte und schließlich genau zwischen den Sweet Lolitas und den Bangya ganz für sich allein eine kleine Decke ausbreitete, sich setzte und begann, ihre Tasche auszupacken. Fast schien es so, als könnte sich dieses Mädchen nicht entscheiden, ob sie in ihrem schwarzen Rüschenkleid zu den dunkel gestylten Visual Bangya oder doch zu den zuckersüßen Lolitas gehörte. Sie schien jedoch für sich allein bleiben zu wollen, passte hier nicht und dort nicht, schien auch nicht passen zu wollen. Und genau dieses ‚Nicht-passen-wollen‘ war es, das Tsuzukus Interesse weckte. Weil es ihm bekannt vorkam, sehr bekannt. Weil er das von sich selbst kannte. Auch er kleidete sich gern aufwändig, gehörte jedoch zu keiner Gruppe. Er beobachtete Menschen lieber, als sich ihnen anzuschließen. Jeder soziale Kontakt bedeutete Stress für ihn, doch genauso sehr hatte er Angst vor dem Alleinsein. Deshalb hatte er sich diese Beobachtungen von Menschen angewöhnt, als eine Art Mittelweg, der ihn jedoch nur zum Teil zufriedenstellte. Er war ein Mensch-für-sich-allein, der sich nirgends wirklich zugehörig fühlte. Doch jeder sehnt sich nach sozialem Kontakt, da bildete er keine Ausnahme. Diese Lolita da auf der Wiese drückte Tsuzukus Gefühle so deutlich aus, dass es fast einem Spiegel gleichkam: Er hier allein auf der Bank, sie dort drüben genauso allein auf ihrer Decke. Er konzentrierte seinen Blick nun vollkommen auf dieses Mädchen, prägte sich ihr Aussehen ein, alles was er aus dieser Entfernung erkennen konnte: Sie hatte hellblond gefärbtes Haar, zu kinnlangen Korkenzieherlocken aufgedreht und mit einer großen, schwarzen Schleife mitten auf dem Kopf geschmückt. Unter dem schwarzen Trägerkleid trug sie eine schwarze Bluse mit langen Ärmeln (trotz der Frühlingswärme) und sogar Handschuhe aus schwarzer Spitze. Ihren dunklen Sonnenschirm hatte sie neben sich liegen, genau wie die ebenso schwarze Handtasche, deren Inhalt auf der Decke ausgebreitet war: Eine kleine Kosmetiktasche, ein paar Kleinigkeiten, ein Handy, ein Buch mit Stift und ein flauschiger, schokoladenbrauner Teddybär. Irgendwann stand das Mädchen auf, strich seinen Glockenrock glatt und zog die klobigen Plateauschuhe aus. Als sie sich wieder setzte, nahm sie ihren Teddy in die Hände und es sah aus, als würde sie mit ihm sprechen. Durch das Geschnatter der Sweet Lolitas konnte Tsuzuku jedoch keinen Ton hören, geschweige denn etwas verstehen. Eine Weile saß er einfach da und beobachtete diese Gothic Lolita, die seine Blicke zunächst noch nicht bemerkte. Sie faszinierte ihn einfach unheimlich, sodass er sich beinahe schon wie ein Stalker vorkam. Sein erster Eindruck von Ähnlichkeit blieb, da sie auch weiterhin so nicht-passend und auf dieselbe Art allein wirkte wie er. Doch dann blickte sie von ihrem Teddy auf, sah sich um und ihr Blick blieb an ihm hängen. Zum ersten Mal sah er ihre Augen: Riesige, dunkle Augen! Sie trug große, schwarze Sclera-Kontaktlinsen, dazu lange Kunstwimpern unter den Augen, und links und rechts auf den Wangenknochen schimmerte etwas metallisch im Sonnenlicht. Ihr Mund war breit, die Lippen voll und mit glitzernden Piercings geschmückt. „Sie hat mich gesehen“, dachte er nur, während ihn die großen dunklen Augen unentwegt anstarrten. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen. Es war unhöflich, jemanden so zu beobachten. Sie packte ihre Sachen zusammen, stand auf und ihm fiel etwas auf, das er vorhin, als sie den Yoyogi-Park betreten hatte, noch nicht bemerkt hatte. Er konnte nicht genau sagen, was es war, doch die Art, wie sie ihre Schuhe anzog und dann (ach du Schreck!) langsam auf ihn zu kam, war ungewöhnlich. Irgendetwas daran passte nicht so recht zu dem wippenden Petticoat und den hohen Plateauschuhen. Eine Kleinigkeit, die Tsuzuku noch nicht definieren konnte. Das Mädchen ging in großem Bogen um die Gruppe Sweet Lolitas herum, erreichte den Parkweg und blieb in einiger Entfernung von Tsuzuku stehen, den Teddybären mit einem Arm an sich gedrückt, in der anderen Hand den zusammengeklappten Sonnenschirm. Sie starrte ihn weiter an, doch er konnte ihr kaum in die Augen sehen. Deshalb blickte er auf ihr Kleid und bemerkte, dass ihr Oberkörper flach, sehr flach war. Das war es! In diesem Kleid steckte kein Mädchen, sondern ein Junge! Der Junge bemerkte seinen Blick, starrte ihn noch einmal stumm an, drehte sich dann um und lief mit eiligen Schritten davon. Tsuzuku blieb noch eine Weile sitzen, dann stand er auf und ging in Richtung der großen Brücke davon. Er hoffte, in der Menge derer, die sich dort fotografieren ließen, den weiblich gekleideten Jungen vielleicht noch einmal zu entdecken, doch als er dort entlangging und sich dabei genau umsah, war auch hier keine Spur von dem schwarzen Kleid und dem Teddybären zu sehen. „Vielleicht kommt er morgen wieder“, hoffte er und machte sich auf den Weg nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)