Yoyogi von Harulein (Tsuzuku & Meto) ================================================================================ Kapitel 3: Hikikomori --------------------- Meto kam spät abends zu Hause an. Er zog die Schuhe aus und klopfte dabei mit den Handknöcheln gegen den Türrahmen, damit seine Eltern hörten, dass er da war. Dann verzog er sich erst einmal in sein Zimmer, tauschte das schwarze Kleid, die Bluse und die Kniestrümpfe gegen einen bequemen Jogginganzug und kämmte sich die Locken aus. So sehr er es auch liebte, in diesen hübschen Kleidern durch Harajuku und den Yoyogi-Park zu laufen, so befreiend fand er es, die Maskerade nach einem langen Tag abzulegen und zu Hause gemütliche Kleidung anzuziehen. Seine Eltern saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, sahen irgendeine Sendung auf NHK an. Meto blieb in seinem Zimmer und schaltete seine Musikanlage ein. Nach einigen Streitereien mit den Nachbarn war ihm verboten worden, sie zu laut aufzudrehen, und so musste er sich mit normaler Lautstärke begnügen. „Was soll’s…“, dachte er. „Die Anlage im Keller kann ich morgen aufdrehen, wie ich will.“ Dort unten stand sein Schlagzeug, der Raum war schallgeschützt, sodass sich weder seine Eltern, noch irgendwelche Nachbarn beschweren konnten, wenn er übte. Und so lag er den Rest des Abends auf seinem Bett und dachte an diesen Nachmittag, der so schön gewesen war. Tsuzuku. Metos erster richtiger sozialer Kontakt seit langem. Ansonsten hatte er nur seine Eltern, und hin und wieder ein gleichaltriges Mädchen aus der Nachbarschaft, dass manchmal vorbeikam und ihm Geschichten aus ihrem neuen Uni-Leben erzählte. Das Mädchen hieß Kasumi. „Meto!“, rief seine Mutter aus dem Wohnzimmer. Da er auf seinen richtigen Vornamen, Haruka, kaum mehr reagierte, waren seine Eltern und auch Kasumi gezwungenermaßen dazu übergegangen, ihn bei seinem Pseudonym zu rufen. Er stand auf, nahm seinen Block und Stift und ging ins Wohnzimmer. „Hattest du einen schönen Tag?“, fragte seine Mutter. Meto nickte und schrieb: „Ich hab jemanden getroffen.“ „In Harajuku?“, fragte sein Vater. Er nickte wieder. „Und? Was für ein Jemand ist das?“ Seine Mutter lächelte. „Er heißt Tsuzuku und er ist… ich glaube, ungefähr fünfundzwanzig oder so. Er hat mir ein Crêpe gekauft und wir haben uns die Bands im Park angeschaut.“ Dass er spontan selbst gespielt hatte, verschwieg er, denn er hatte das Gefühl, dass das eine Sache von Tsuzuku und ihm war, die seine Eltern nichts anging. Es war das erste Mal, dass er jemanden kennengelernt hatte und mochte, den seine Eltern überhaupt nicht kannten. In seiner Schulzeit hatten seine Eltern seine Schulkameraden gekannt und die wenigen Male, die er jemanden mit nach Hause gebracht hatte, waren an einer Hand abzuzählen. Wenn er jetzt ausging, dann ging er allein, war dort allein und kam allein zurück. Kasumi war der einzige Mensch in seinem Leben, dem er den Begriff ‚Freund/in‘ zumindest halbwegs zuordnete. Er war einfach lieber für sich allein. Meto wusste es nicht, doch die Gründe, die ihn dazu bewogen, meist allein zu sein, ähnelten denen, die Tsuzuku in die Einsamkeit zwangen. Angst vor der Unberechenbarkeit der Menschen, wenig Vertrauen in sie und die Systeme der Welt, dazu das Gefühl, grundlegend anders und deshalb ausgeschlossen zu sein… „Was machst du morgen?“, fragte sein Vater. „Willst du dich nicht doch irgendwo bewerben? Du brauchst doch etwas zu tun.“ Meto zuckte mit den Schultern. Sich bewerben für irgendeinen Job? Das erschien ihm unmöglich. Schon allein deshalb, weil man bei den meisten Arbeitsstellen sprechen musste. Er zog sich ohne ein weiteres geschriebenes Wort in sein Zimmer zurück und ging dann bald ins Bett. Am nächsten Tag stand Kasumi vor der Tür. Es gab Tage, an denen sie nicht an die Uni musste und manchmal kam sie dann schon morgens vorbei, um Zeit mit Meto zu verbringen. Sie war ein recht gewöhnliches Mädchen und ihre Freundschaft zu ihm hatte sich einfach daraus ergeben, dass sie mit ihren Eltern im Haus gegenüber wohnte und sie so nebeneinander aufgewachsen waren. „Ich hab dir was mitgebracht“, sagte Kasumi und zog eine Zeitschrift aus ihrer Tasche. Es war die neueste Ausgabe der KERA. „Oder hast du die schon?“ Meto schüttelte den Kopf. Er besaß zwar viele Ausgaben dieser Zeitschrift, doch die neueste hatte er sich noch nicht gekauft. "Danke." „Warst du am Wochenende wieder in Harajuku?“, fragte Kasumi dann. „Ja.“ „Bestimmt wieder in dem hübschen, schwarzen Kleid, oder?“ Meto nickte. „Und dieses Mal war ich nicht alleine da. Ich hab jemanden kennen gelernt.“ „Wow, toll! Was für jemanden denn?“ „Er heißt Tsuzuku und ist wohl so Mitte zwanzig.“ „Und ist er nett?“ „Ja, ich glaube schon.“ „Das ist ja schön, dass du jemand neues getroffen hast. Tut dir sicher gut, wenn du mal ein bisschen aus dir rauskommst. Sag mal, Meto, willst du nicht irgendwann mal wieder reden? Du hast nur einen Mittelschulabschluss und Arbeit findest du so wohl nicht.“ Meto schüttelte den Kopf. Nein, selbst wenn er gewollt hätte, er konnte nicht. Er kannte selbst kaum mehr den Klang seiner eigenen Stimme und da er vor dem Stimmbruch aufgehört hatte zu sprechen, war sie sicher auch nicht mehr dieselbe. Warum er im letzten Jahr der Mittelschule das Sprechen aufgegeben hatte? Nun, sonderlich kommunikativ war er noch nie gewesen. Als dann schließlich das Gefühl, grundlegend anders zu sein und nicht dazu zu gehören, immer stärker geworden war, hatte er sich mehr und mehr in sich selbst zurückgezogen und dabei war ihm das Sprechen irgendwann abhandengekommen. Als er selbst bemerkt hatte, dass er so gut wie nichts mehr sagte, war es schon so weit, dass er den Weg zurück nicht mehr fand. Mit Müh und Not hatte er die Mittelschule abgeschlossen, an den Besuch einer Oberschule war schon nicht mehr zu denken gewesen. Das war jetzt zwei Jahre her. Die erste Zeit über hatte er wie ein Hikikomori gelebt, sein Zimmer kaum noch verlassen, war nur zum Essen und fürs Badezimmer herausgekommen und dann, wenn er zum Schlagzeugspielen in den Keller ging. Das war im ersten halben Jahr gewesen. Doch dann, vor etwa anderthalb Jahren, hatte er begonnen, sich der Welt wieder zuzuwenden, wenn auch auf eine Weise, die nicht dem normalen Leben entsprach. Er war wieder aus dem Haus gegangen, mit der Bahn nach Shinjuku gefahren, und hatte sich dort in den Klamottenläden ein neues Ich zusammengekauft. Kleider, Röcke, feminine Sachen, Visual Kei. Dazu Kontaktlinsen und Make-up. Ein guter Teil seiner Ersparnisse ging so für Kleidung und Styling drauf. Er ließ seine Haare, die während seines Hikikomori-Lebens nicht mehr geschnitten worden waren, bis schulterlang wachsen, Kasumi half ihm, sie blond zu färben, und Kasumi war es auch, die ihn später ins Tattoo-Studio begleitet hatte, wo er sich hatte piercen lassen, um nicht nur durch Kleidung, sondern auch durch Körperkunst seinem neuen, selbst gewünschten Ich näher zu kommen. Wenn er schon nirgends passte und dazugehörte, wollte er wenigstens sein eigener Mensch sein, seinen ganz eigenen Vorstellungen entsprechen. Nach den Piercings kamen Tattoos auf Brust und Schulter. Die waren noch unvollständig, deshalb trug er selbst jetzt im Mai lange Ärmel und hochgeschlossene Sachen. Er wollte dieses Kunstwerk erst zeigen, wenn es fertig war. Das Gesamtkunstwerk Meto, das fast nichts mehr mit dem unscheinbaren, undefinierten Haruka von früher gemeinsam hatte. Neue Kleidung, ein veränderter Körper ohne Stimme und ein neuer Name. Und vor allem ein bestimmter Platz am Rande der Gesellschaft, einen Platz, an dem er fühlte, dass er dort und nirgendwo anders hin gehörte. Räumlich gesehen waren das sein Zimmer und Harajuku, innerlich war es einfach die Sicherheit, zu wissen, dass er anders war und wo er damit stand. Das gab ihm ein Gefühl des Erwachsenseins im Sinne davon, dass er die Entscheidung, wie er sein wollte, allein und selbstständig getroffen hatte. „Ich glaube, ich kann gar nicht mehr sprechen.“, schrieb er und sah Kasumi an. „Was willst du denn machen? Warten, bis eine Band dich entdeckt und vielleicht einen Schlagzeuger braucht? So weitermachen, bis du vielleicht mal einen Platz an einer Musikschule bekommst? Meto, du weißt, ich unterstütze dich, aber… verstehst du, du musst auch selbst etwas tun, ein bisschen auf die Menschen zugehen.“ „Das kann ich nicht. Nicht so.“, schrieb er. Kasumi sah ein wenig traurig aus. Sie mochte Meto und unterstützte ihn auch gern in seinen Bemühungen, ein Mensch nach eigener Vorstellung zu werden, doch sie dachte auch an seine Zukunft und so, wie er im Augenblick lebte, sah die nicht besonders gut aus. Sie blieb bis zum Mittag, aß mit Meto und seiner Mutter zusammen und ging dann nach Hause, um sich wieder dem unermüdlichen Lernen für die Uni zuzuwenden. Als Kasumi weg war, ging Meto runter in den Keller und setzte sich hinter sein Schlagzeug. Er hatte es in der achten Klasse bekommen, als seinem Musiklehrer in der Schule seine Begabung aufgefallen war und er den Eltern geraten hatte, den damals sehr unsicheren Haruka in dieser Richtung zu fördern. Sein Vater hatte den Keller ausgebaut und zu dritt waren sie in ein Musikgeschäft gefahren, wo Meto sich ein großes Drumset ausgesucht hatte. Seitdem übte er fast jeden Tag daran, außer an den Wochenenden, wenn er sich in Harajuku aufhielt. Er wusste selbst nicht, warum er Tsuzuku gleich etwas so Persönliches von sich gezeigt hatte. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, diesem Mann vertrauen zu können und wollte ihn ein wenig an seinem Leben teilhaben lassen. Meto verbrachte den ganzen Tag im Keller, hörte Musik und versuchte dann, den Drum-Part eines Liedes nachzuspielen. Auch das tat er, seit er zu spielen begonnen hatte und so war er schon sehr geübt darin. Sein Vorbild war Yuki, der Drummer der Band Versailles, und so hörte er beim Üben hauptsächlich Songs dieser Band, die er bereits fast alle auswendig konnte. Wenn er oben in seinem Zimmer saß, hörte er meist eher the GazettE oder Dir en grey. Auch von diesen Bands und anderen hatte er bereits Songs nachgespielt, doch Yuki, der einfach unglaublich schnell spielte, war im Augenblick sein Idol. Als er später zum Abendessen wieder aus dem Keller kam, war sein Vater schon da. Er wirkte ernst und nach dem Essen sagte er: „Haruka, wir müssen uns mal unterhalten.“ Meto sah ihn an, obwohl sein Vater den ungeliebten echten Vornamen verwendete. Wahrscheinlich ging es um dasselbe, was auch Kasumi schon angesprochen hatte. „Junge, du musst irgendwas unternehmen. So kann es jedenfalls nicht ewig weitergehen. Willst du dein ganzes Leben lang hier wohnen, ohne zu arbeiten? Dir muss doch klar sein, dass das nicht geht! Dass du nicht immer nur in Harajuku herumlaufen kannst! Weißt du, die meisten Leute, die sich so anziehen wie du und dort ihr Wochenende verbringen, gehen unter der Woche einer geregelten Arbeit nach und haben ein ganz normales Leben. Ich weiß, du fühlst dich nicht danach, aber ein bisschen was davon muss sein, anders geht es nicht! Oder willst du auf der Straße landen?!“ Meto schrieb: „Das hat Kasumi-chan auch schon gesagt.“ „Das wird dir jeder sagen, der sieht, wie du jetzt lebst. Deine Mutter und ich sehen ja, dass du dein eigenes Tempo und deine eigene Sicht auf die Dinge hast, und wir wollen dich auch nirgends reinzwängen. Wir möchten nur, dass du eine Zukunft hast, in der du gut leben kannst. Geld ist nicht das Wichtigste, doch in dieser Welt kommt es eben darauf an und deshalb muss man dafür sorgen, dass man welches hat. Sieh mal, deine Kleider und die Tattoos, das kostet doch auch alles. Und irgendwann in nächster Zeit sind deine Ersparnisse aufgebraucht.“ Meto nickte nur. Im Grunde war ihm das alles klar. Er wusste, ewig konnte es nicht so gehen. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie eine Arbeit zu bekommen war, geschweige denn, wie er einen der überall angebotenen Nebenjobs erfüllen sollte. Alle Arbeiten, die ihm einfielen, erforderten schließlich, dass man sprach. Sein romantischer Wunsch war es, eine Band zu finden, die einen Schlagzeuger gebrauchen konnte. Doch auch da wusste er nicht, wie er den ersten Kontakt aufbauen sollte. Ein Gefühl der Aussichtslosigkeit überkam ihn, er drehte sich um und ging in sein Zimmer, wo er die Musik etwas lauter als gewöhnlich aufdrehte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)