Yoyogi von Harulein (Tsuzuku & Meto) ================================================================================ Kapitel 10: Meiji-Jingu ----------------------- Am Samstagmorgen sahen sie sich wieder. Tsuzuku wartete im Yoyogi auf Meto und als dieser auftauchte, stellte der Ältere etwas überrascht fest, dass Metos Outfit und Make-up für einen Samstag im Park ungewöhnlich einfach ausgefallen waren. „Heute gar kein Lolita oder so?“, fragte er. Meto setzte sich neben ihn auf die Bank, sah sich kurz um, ob irgendjemand anders in Hörweite war und sagte dann, sehr leise: „Nein. Ich dachte mir, heute machen wir was anderes als sonst. Warst du schon mal im Meiji-Schrein?“ Tsuzuku nickte. „Ist aber schon ziemlich lange her.“ „Ich dachte, da könnten wir heute mal hingehen. Aber die sehen da nicht so gerne auffällige Outfits, deshalb bin ich heute so angezogen.“ „Und wie bist du drauf gekommen?“, fragte Tsuzuku. Schrein und Meto, das schien kaum zusammen zu passen. „Früher bin ich oft mit meinen Eltern dort gewesen. Bevor… na ja, bevor ich die Mittelschule abgeschlossen habe.“ „Du… hast nur einen Mittelschulabschluss?“ Na ja, eigentlich war das offensichtlich. Meto war erst achtzehn und schon so lange mit seinen Piercings und Tattoos beschäftigt. Die waren an den meisten Schulen verboten, also musste es länger her sein, dass er eine besucht hatte. Meto blockte sofort ab. „Erzähl ich dir später.“ Tsuzuku merkte ihm inzwischen an, wenn das Gespräch sich auf dieses eine Thema zu bewegte, dem Meto so unbedingt aus dem Weg ging. Langsam begann er, sich darum wirklich Gedanken zu machen. Was immer damals gewesen war: Es hatte großen Einfluss darauf gehabt, wie Meto heute war, und schon allein deshalb interessierte es Tsuzuku. Eine Gruppe Mädchen lief an der Bank vorbei und Meto verfiel fast schon automatisch in seine merkwürdig schüchtern wirkende „Kaputte-Puppe-Haltung“. Den Kopf gesenkt, die Hände locker auf der Bank liegend, wirkte er wie eine alte Stoffpuppe, die man achtlos hier liegen gelassen hatte. Als die Gruppe vorbeigegangen und auch keine weitere in der Nähe war, verwandelte er sich, als sei dieser Wechsel das Natürlichste der Welt, wieder in den punkigen, achtzehnjährigen Meto, als den wohl nur Tsuzuku ihn wirklich kannte. „Kann es sein, dass du schauspielerisch begabt bist?“, fragte Tsuzuku beeindruckt. „Vielleicht. Aber eigentlich wechsle ich nur zwischen meinem einen Ich und dem anderen.“ „Du spielst also dich selbst. Aber das machst du gut.“ Meto lächelte, stand auf und nahm Tsuzukus Hand. „Komm, wir gehen eben noch bei den Bands vorbei. Vielleicht ist MiA ja da.“ Tatsächlich. Als sie den Platz erreichten, sahen sie den blonden Gitarristen auf einer der Bänke sitzen, etwas abseits der anderen Bands. Von Dis:Hana’s Rest war nichts zu sehen, aber MiA hatte seine Gitarre dabei, allerdings ohne Verstärker. Er trug heute auch kein Visual Kei, sondern einen relativ legeren, schwarzen Anzug, bei dem für geübte Augen jedoch zu erkennen war, wie er sich sonst kleidete. Als Tsuzuku und Meto vor ihm stehen blieben, blickte er auf, hörte jedoch nicht auf zu spielen. Die Geschicklichkeit seiner Finger, die die Gitarre fast wie einen Teil von ihm wirken ließ, war wirklich bemerkenswert und Tsuzuku fragte sich, wie lange man wohl üben musste, um derartig schnell und präzise spielen zu können. „Na, ihr? Seid ihr jedes Wochenende hier im Park?“, fragte MiA. „Ja, fast jedes“, antwortete Tsuzuku. „Sag mal, wieso hab ich dich hier eigentlich noch nie gesehen?“ „Wir sind meistens im Probenraum. Weil wir halt nur auftreten können, wenn alle Zeit haben… und das kommt leider ziemlich selten vor. Akio geht noch zur Oberschule, Shun studiert und Hiroaki und ich haben unsere Jobs.“ Obwohl MiA sich nicht wirklich beschwerte, war ihm anzumerken, dass er damit kaum zufrieden war. Kein Wunder, schien er doch der talentierteste und ehrgeizigste Musiker in der Band zu sein. „Ich würde gern öfter auftreten, aber was nicht geht, geht halt nicht.“ Auf einmal begannen Metos Augen zu leuchten, er kramte seinen Block aus der Tasche und schrieb: „Du, MiA, wenn du magst und das okay ist, kannst du ja mal nur mit Tsu und mir zusammen spielen. Ich hab einen guten Raum bei mir zu Hause.“ Tsuzuku sah ihn überrascht an. Woher kam wohl diese plötzliche Kontaktfreudigkeit? Es schien fast so, als sei in Metos Kopf eine Art Schalter umgesprungen, denn er zeigte keine Spur mehr von der merkwürdigen Schüchternheit, die er sonst allen Menschen außer seiner Familie und Tsuzuku selbst gegenüber an den Tag legte. Schon am Donnerstag war er so ungewöhnlich offen gewesen und diese Veränderung schien von dauerhafter Natur zu sein. „Ihr kennt nicht zufällig auch noch ‘nen Bassisten?“, fragte MiA und lachte leise. Meto schüttelte den Kopf. „Aber zum einfach-so-Üben brauchen wir doch auch keinen, oder?“ „Okay. Schreibt mir einfach ‘ne Nachricht, dann sag ich, ob’s grade passt oder nicht.“ „Was arbeitest du denn?“, fragte Tsuzuku. MiA blickte zu Boden. „Lacht nicht…“ „Wieso sollten wir über deinen Job lachen?“ „Weil… weil ich… na ja, ich hab nichts anderes gefunden und… die Bezahlung ist einfach so verdammt gut, also… hab ich ‘nen Job als Host angenommen.“ Daher also der Anzug. Wahrscheinlich hatte MiA heute noch zu arbeiten. Tsuzuku versuchte, sich das vorzustellen, den blonden Gitarristen als Begleiter irgendeiner reichen, jungen Dame. Irgendwie passte das auch. MiAs freundliche Art und sein hübsches Gesicht mit der geraden, westlichen Nase wirkten sicher anziehend auf Frauen. „Und? Wo geht ihr jetzt noch hin?“, fragte der, wohl um das Thema zu wechseln. „Zum Meiji-Schrein. Wir sind da beide schon länger nicht gewesen“, sagte Tsuzuku und Meto nickte. „Na dann, viel Spaß!“ MiA lächelte noch einmal und wandte sich dann wieder seiner Gitarre zu. Der Meiji-Schrein lag ziemlich genau in der Mitte des Yoyogi-Parks und nach ein paar Minuten Fußweg hatten sie das zweite, große Eingangs-Torii aus dunklem Holz erreicht. Alles sah noch ziemlich genau so aus, wie sie es in Erinnerung hatten. Tsuzuku war hier zuletzt mit einer Gruppe von Leuten gewesen, die er damals „sowas wie Freunde“ nannte. Oberflächliche Freunde, zu denen er die Verbindung bald wieder abgebrochen hatte. Kein Vergleich zu Miki und Hiroki, oder gar zu Meto. Der erinnerte sich jetzt daran, wie er den Schrein vor drei Jahren mit seinen Eltern besucht hatte. Damals war er noch Haruka gewesen, hatte schon Schwierigkeiten in der Schule gehabt und begonnen, langsam das Sprechen zu verlernen. Die Besuche im Meiji-Schrein leuchteten in seiner Erinnerung als Ereignisse, bei denen er sich nicht ganz so ausgeschlossen gefühlt hatte wie in der Schule. Und trotzdem war er nach dem halben Jahr zu Hause nie wieder hergekommen, obwohl der Schrein doch so nah am Ort seiner Wochenenden lag. Irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Doch heute Morgen war er mit der Idee, mit Tsuzuku zusammen den Schrein zu besuchen, aufgewacht und wusste nicht einmal mehr, was ihn so lange davon abgehalten hatte. Es war wohl irgendeine undefinierte Angst gewesen. „Glaubst du?“, fragte Tsuzuku, als sie das rituelle Wasserbecken erreichten. „Nicht wirklich. Ich meine… na ja, nicht so richtig halt… Und du?“ „Ich auch nicht. Wer tut das heute denn auch noch? Ein Schrein kümmert sich nicht um dein Leben oder so. Und ich hab’s allgemein nicht so mit Religionen.“ Meto nickte. Trotzdem nahm er die kleine Bambus-Kelle und ließ kurz Wasser aus dem Becken über seine Hände laufen. Er wusste selbst nicht, warum. Vielleicht, weil er das beim letzten Mal auch getan hatte. Sie passierten das erste Gebäude. Dahinter gab es auf der einen Seite einen Stand mit Omamori. Auf einmal öffnete Meto seine Tasche und holte Ruana heraus. „Sie möchte eins haben“, sagte er leise auf Tsuzukus fragenden Blick hin. „Ruana glaubt an sowas.“ „Soll ich dir eins holen gehen oder schaffst du’s alleine, wegen dem Reden und so?“ „Nein, das klappt schon. Warte hier.“ Tsuzuku blieb stehen und sah zu, wie Meto mit Ruana im Arm zu dem Stand hinüber ging und seiner plüschigen Freundin die Auslage zeigte. Es sah aus wie bei einem kleinen Mädchen im Süßigkeitenladen, das seine Puppe die Bonbons aussuchen ließ. Und es erinnerte ihn an das erste Mal, dass er Meto gesehen hatte. Auf der Wiese im Park, als der Jüngere auch seinen Teddy herausgeholt und tonlos mit ihr gesprochen hatte. Der Mann hinter dem Tresen des Standes wirkte leicht irritiert darüber, dass ein offensichtlich fast erwachsener Jugendlicher, der außerdem aussah wie ein Mädchen, einen Teddy dabei hatte und diesem einen Glücksbringer kaufen wollte. Aber Meto schien das nicht im Geringsten zu stören. Natürlich nicht, denn er war von dem, was er tat, wie immer vollkommen überzeugt. „Und? Was hast du für eins gekauft?“, fragte Tsuzuku, als sein Freund wieder zurück war. „Ein Yaku-Yoke“, antwortete Meto und hängte Ruana den seidenbezogenen Holzanhänger um den lockeren Hals. „Das beschützt sie vor fiesen Sachen. Sie glaubt das.“ „Was für fiese Sachen wären das denn?“, fragte Tsuzuku beiläufig und nicht ahnend, was diese Frage bei Meto auslösen würde. Der antwortete zuerst nicht, verstaute den Teddy wieder in seiner großen Handtasche und sah zu Boden. Fast war es zu hören, wie die Stimmung kippte. „Ich… zum Beispiel…“, sagte er dann, sehr leise und ohne aufzublicken. „Du? Wie meinst du das?“ Meto wusste: Jetzt konnte er es nicht mehr länger verschweigen. Tsuzukus Frage hatte in ihm eine Art Schalter umgelegt, etwas ausgelöst. Etwas, das ihn nun gnadenlos aufforderte, seinem Freund die Wahrheit über Haruka zu erzählen. Darüber, wie er ein halbes Jahr lang allein in seinem Zimmer gesessen, mit sich selbst gekämpft und in dunkle Gedanken versenkt hatte. Der richtige Ort, so etwas zu erzählen, war wohl entweder sein eigenes Zimmer oder Tsuzukus Wohnung. „Tsu… ich muss dir was erzählen. Vielleicht hätte ich’s dir schon längst sagen sollen… aber… ich konnte nicht, verstehst du?“, brachte er mit zitternder Stimme heraus. „Können wir zu mir nach Hause fahren?“ Tsuzuku verstand: Jetzt war es soweit. Meto wollte ihm endlich das sagen, was er bis jetzt so hartnäckig verschwiegen hatte, das Thema, dem er stets ausgewichen war. Ihm fiel die Zeichnung auf dem Tisch in Metos Zimmer wieder ein und das, was der Jüngere dazu gesagt hatte: „Ich bin kaputt.“ „Okay, dann fahren wir jetzt zu dir und du erzählst mir endlich, was mit dir los ist, ja?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)