Yoyogi von Harulein (Tsuzuku & Meto) ================================================================================ Kapitel 11: Haruka ------------------ Die ganze Fahrt nach Adachi über sagte Meto kein einziges Wort. Er saß stumm und reglos neben Tsuzuku und hielt Ruana fest im Arm. Und auch auf dem Weg von der Bahnstation zum Haus der Maedas sagte und schrieb er nichts. Erst, als sie in Metos Zimmer saßen (Tsuzuku wie letztes Mal auf dem Schreibtischstuhl, Meto auf dem Bett), fing er wieder an zu reden. „Tsu… ich hab’s dir nicht verschwiegen, weil ich… dich nicht genug mag oder so… Ich konnte einfach nicht drüber reden. Und, na ja… ich dachte, dass du… dass du es nicht verträgst und mich dann vielleicht… nicht mehr so gern hast.“ „So ein Quatsch! Als ob ich wegen irgendwas aufhören würde, dich zu mögen! Ich hab mir Sorgen gemacht, weil du immer ausgewichen bist, sonst nichts.“ „Ich riskier’s jetzt und erzähl dir alles. Vorher noch was: Das ist alles vorbei. Du musst nicht denken, dass ich immer noch so bin, dass ich solche Sachen immer noch mache oder so. An dem Tag, als ich anfing, mich zu ändern, hab ich damit ein für alle Mal aufgehört.“ „Womit denn?“ Meto setzte Ruana neben sein Kopfkissen, dann zog er langsam die Ärmel seines Shirts bis zu den Ellbogen zurück, beugte sich vor und hielt Tsuzuku seine Unterarme hin. Auf der hellen Haut waren bei genauem Hinsehen einige dünne, blasse Streifen zu sehen, nicht breiter als der Strich eines Bleistiftes. Sie waren so blass und dünn, dass Tsuzuku sie bisher nicht hatte bemerken können, doch nun sah er sie und wusste intuitiv, von welcher Art diese unscheinbaren Narben waren. „Meto, du hast dich … geritzt?“, fragte er erschrocken. „Aber… wieso?“ „Weißt du, Tsuzuku, ich hab mich schon immer irgendwie… ausgeschlossen gefühlt. So, als gehörten alle zusammen, nur ich nicht. Als wäre irgendwas an mir nicht richtig, kaputt eben. Ich war immer anders, hab nie gepasst, und irgendwann wollte ich auch nicht mehr. Im letzten Jahr der Mittelschule hab ich mich dann immer mehr zurückgezogen, bis ich irgendwann das Sprechen verlernt habe. Den Abschluss hab ich geradeso geschafft, weil ich schriftlich ganz gut war. Aber danach… bin ich abgestürzt. Weißt du, ich hatte damals überhaupt kein Selbstbewusstsein oder so, gar nichts. Das Einzige, was ich gemacht hab, war lernen und Schlagzeugspielen, obwohl ich überhaupt keine Musik gehört habe. Ich hab einfach nur so gespielt. Als es mir nach dem Abschluss nicht besser ging, haben meine Eltern beschlossen, mich erstmal nicht auf die Oberschule zu schicken. Ich hätte das auch nicht gepackt. Mir waren Menschen einfach zu viel. Ich hab das nicht ausgehalten, unter Leuten zu sein. Also bin ich zu Hause geblieben.“ „Du bist gar nicht mehr rausgegangen?“ Tsuzuku konnte sich das kaum vorstellen. Sich so vollkommen zurückzuziehen und das Haus nicht mehr zu verlassen… ja, früher hatte er auch manchmal daran gedacht. Doch eigentlich war er immer lieber weg von zu Hause gewesen, denn dort hatten an jeder Ecke Saekos spitze Worte gelauert. „Nein. Gar nicht mehr. Kein einziges Mal. Das erste halbe Jahr nach dem Abschluss hab ich mich fast komplett in mein Zimmer zurückgezogen. Ich bin nur raus, um ins Bad zu gehen oder runter in den Keller zum Schlagzeug. Ich saß hier rum, meistens im Dunkeln, und hab ferngesehen, Videospiele gespielt und so. Und irgendwann lief dann nachts diese Sendung, in der Leute davon erzählt haben, wie sie mit Druck und so umgehen… Da war eine dabei, die gesagt hat, dass es ihr hilft, wenn sie sich verletzt. Dass sie so mit etwas umgeht, das sie „Sozialdruck“ genannt hat. Ich dachte: ‘Das versteh ich, das kenn ich auch‘. Also hab ich’s ausprobiert, ne ganze Weile lang, immer mal wieder. Wenn meine Eltern Besuch hatten und ich Angst hatte, dass sie wollten, dass ich rauskomme. Wenn ich ‘nen schlechten Tag hatte. Wenn jemand was von mir wollte. Dann war da immer dieser Druck in meinem Kopf, den ich irgendwie abbauen musste und das erste, was mir einfiel, war eben, mich zu verletzen. Außerdem… hab ich mich damals für nicht besonders wertvoll oder so gehalten. Ich dachte, ich bin sowieso kaputt, also kann ich mich auch weiter kaputtmachen. Haruka war so. Wenn er mit was nicht klargekommen ist, ist er geflüchtet und hat sich selbst fertig gemacht.“ „Wann hast du damit aufgehört?“ „Nachdem ich ungefähr ein halbes Jahr so gelebt habe. Als ich nämlich anfing, Musik zu hören. Ich hab ein Interview mit GazettE im Fernsehen gesehen und das hat mir sofort gefallen. Also hab ich angefangen, mir die Videos im Internet anzuschauen. Diese Musik, der Bass, das Screamen, und so weiter, das hat mit einem Mal den Druck weggenommen. Und Visual Kei... ich hab’s gesehen und wollte auch. Kleidung, Schminke, Piercings, die ausdrücken, wer man ist und was man will! Obwohl ich zu der Zeit überhaupt nicht danach aussah. Ich hatte auch irgendwie vorher nie was von der Szene und so mitgekriegt. Deshalb war ich so begeistert davon, dass es so etwas Tolles gibt, dass ich da auch mitmachen wollte. Innerhalb von ein paar Wochen war ich total drin. Von da an hab ich viel mehr am Schlagzeug gesessen, ständig Musik gehört und mich damit beschäftigt. Ich hab angefangen, noch mehr Bands zu hören, ihren Style zu bewundern und ihre Songs nachzuspielen. Und ich habe einen Weg gefunden, den Druck abzubauen, ohne mich zu verletzen: Indem ich mich, wenn es in mir wieder …dunkel wurde, ans Schlagzeug gesetzt und bis zum Umfallen gespielt hab. Ich weiß auch nicht, warum ich erst dann darauf gekommen bin.“ „Das meintest du neulich, als du mir geraten hast, an dem Abend Singen zu üben, oder?“, fragte Tsuzuku. Meto nickte. „Ja. Mir hat das damals sehr geholfen. Also… irgendwann, nach vier Wochen oder so, hat’s dann klick gemacht. Ich hab mich, so gut ich konnte, zurechtgemacht und bin mit Kasumi zusammen wieder nach draußen gegangen. Wir sind nach Shinjuku gefahren und als ich das in echt gesehen habe, die ganzen Leute in diesen Klamotten, mit Make-up und allem, da hab ich beschlossen, auch so zu werden. Ich wollte nicht mehr Haruka sein, dieser unsichere, schwache Junge, der immer nur zu Hause saß und Angst vor der ganzen Welt hatte. Aber der saß tief, mit allem, was ich nicht mehr wollte. Also hab ich’s radikal gemacht, hab mir einen neuen Namen ausgedacht und wie ich von jetzt an sein und aussehen wollte. Dann bin ich alleine losgezogen und hab mir Sachen gekauft, Klamotten, Make-up, Linsen, alles Mögliche, und so extrem wie’s ging. So ein richtig krasser Schritt. Kasumi hat mir dann die Haare gefärbt und an dem Tag bin ich zu meinen Eltern und hab geschrieben: ‘Ab heute heiße ich Meto. Haruka ist Geschichte‘ Das ging dann alles ziemlich schnell. Ich bin dann zum ersten Mal zu Ken, hab mir die ersten Piercings machen lassen und so weiter. Es war toll, fast wie ein Rausch. Auf dem Weg zu Kens Studio ist mir jedes Mal vor Glück fast schwindlig geworden. Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich was für mich getan habe und etwas, das ich so richtig wollte. Ich hab mich vorher nie so gut gefühlt, Tsu.“ „Das kann ich mir vorstellen. Meto, ich hab dich als jemanden kennen gelernt, der genau weiß, was er will. Aber… ich hab mich schon ne ganze Weile gefragt, wie du so geworden bist.“ „Jetzt weißt du’s. Du kennst jetzt Haruka. Ich kann ihn nicht besonders gut leiden, das verstehst du sicher, oder?“ Tsuzuku nickte. Sein Blick fiel auf die Zeichnung, die noch immer auf einer Ecke des Schreibtisches lag. Metos Selbstbildnis im kaputten Kleid. „Aber… so ganz durch und fertig bist du mit Haruka noch nicht, oder?“, fragte er und nahm das Blatt dabei in die Hand. Meto schüttelte den Kopf. „Nein. Und vielleicht werde ich das auch nie sein. Er ist eben mein altes Ich, das kann ich nicht abstreifen. Aber ich kann in Zukunft anders sein und das werde ich auch.“ „Du veränderst dich ja auch immer weiter. Allein, dass du wieder sprichst. Und dass wir zusammen aufgetreten sind. Weißt du, Meto, ich bin auch anders geworden, seit wir uns kennen. Deshalb bin ich auch unheimlich froh, dich zu haben.“ Tsuzukus Herz begann wieder, wild zu klopfen. Wie glücklich er darüber war, in Meto einen Seelenverwandten gefunden zu haben, mit ihm zusammen diese ganzen neue Erfahrungen zu machen und endlich, zum ersten Mal in seinem Leben, echte Freundschaft zu erleben: Das alles konnte er noch immer kaum fassen, geschweige denn aussprechen. Gerne hätte er Meto gezeigt, was er fühlte, doch er wusste nicht, wie. In welche Worte, welche Taten, fasste man dieses Gefühl? „Ich merk das auch, Tsu…“, sagte Meto, „…dass ich gerade wieder einen Schritt nach vorn mache. Seit du da bist, fühl ich mich irgendwie… noch besser.“ „Mutiger, oder? Weißt du, mir geht’s genauso. Ist fast ein bisschen seltsam, …dass wir beide so oft dasselbe fühlen, …findest du nicht auch?“ „M-hm…“ Meto nickte. „Ein wenig komisch ist das schon… Aber genau deshalb hab ich dich ja so lieb, Tsuzuku.“ Er stand auf, machte einen Schritt auf Tsuzuku zu, beugte sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, was in dem Älteren wildes Herzklopfen und dasselbe überwältigende Nähegefühl wie am Abend der Übernachtung auslöste. Dieses Überraschende, fast schon Sprunghafte, das passte sehr gut zu Meto. Er war, auf eine seltsam süße Art, schwer einzuschätzen und Tsuzukus Herz machte einen kleinen Satz, als er erkannte, wie unheimlich gern er das mochte. Eine wirklich merkwürdige Freundschaft hatte er da geschlossen. Eine, in der Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden, die man mit normalen Maßstäben nicht einordnen konnte. In der Herzklopfen und Nähe keine Romantik bedeutete. Eine Freundschaft, die einfach anders und irgendwie schwer zu verstehen war. „Tsuzuku…“, sagte Meto leise und sah zu Boden, „…weißt du, was noch komisch ist?“ „Was denn?“ „Dass ich sowas mache, dich umarmen und küssen und so. Ich kenn das nicht von mir. Du bist der Erste, bei dem ich das immerzu will.“ Metos Wangen schimmerten leicht rosa, als er aufblickte, die Hand hob und Tsuzuku wieder das Haar aus dem Gesicht strich. „Eigentlich bin ich keiner, der andere gern anfasst und angefasst wird.“ „Ich doch auch nicht. Ich glaube fast, sowas wie das hier zwischen uns beiden gibt es nicht noch mal. So, wie es uns beide kein zweites Mal gibt. Es ist nur für uns.“ Meto nickte und auf einmal strahlte er Tsuzuku an. „Weißt du was, Tsu? Du bleibst heute hier und übernachtest bei mir.“ Er wandte sich an Ruana. „Ist das okay?“ Und ließ Ruana nicken. „Wie lange hast du sie eigentlich schon?“, fragte Tsuzuku. „Ich hab sie bei meinem ersten Ausflug nach Shinjuku gekauft. Sie saß im Schaufenster und hat mich so angeschaut, als ob sie unbedingt zu mir gehören wollte.“ Meto drückte Ruana an sich und dadurch, dass er seine normale Hauskleidung trug, in der er sehr viel weniger puppenhaft aussah, wirkte der Unterschied zwischen seiner erwachseneren Seite und der niedlichen Ruana noch krasser. Doch irgendwie passte das zu ihm, sehr gut sogar. Von der Haustür war das Klappern eines Schlüssels zu hören und kurz darauf die Stimmen von Metos Eltern. „Meto? Sind das hier Tsuzuku-sans Schuhe?“ Meto stand auf, öffnete die Zimmertür, trat auf den Flur und nickte. Dann kam er zurück, nahm sich seinen Schreibblock und flüsterte Tsuzuku zu: „Du isst mit uns, oder?“ Das Abendessen war eine etwas merkwürdige Angelegenheit. Tsuzuku war ein wenig aufgeregt und versuchte das zu kompensieren, indem er recht viel aß. Er beobachtete, wie Meto sich seinen Eltern weiterhin ausschließlich schriftlich mitteilte, und wie alltäglich und normal das wirkte. Es schien für Herrn und Frau Maeda vollkommen in Ordnung zu sein, jedenfalls konnte Tsuzuku keine Ablehnung oder Unwillen erkennen. Er brauchte eine Weile, bis er sich einigermaßen heimisch fühlte. Doch als er so weit war, spürte er, wie gut es ihm gefiel. Willkommener Gast in einer glücklichen, liebevollen Familie zu sein, der Familie des inzwischen längst wichtigsten Menschen in seinem Leben, fühlte sich neu an und gänzlich anders als das, was er von früher mit Saeko kannte. Hier gab es keine spitzen Bemerkungen, kein Auslachen. Meto und seine Eltern gingen freundlich und respektvoll miteinander um, trotzdem ehrlich und es wirkte kein bisschen wie eine „heile Welt“. Es war nicht „heil“, nicht perfekt, aber in Ordnung. Vermutlich wegen Metos Anders-sein, schienen seine Eltern viel Übung darin zu haben, ungewöhnliches Verhalten zu akzeptieren und so gingen sie auch mit Tsuzuku um. Falls sie bemerkten, wie unsicher er am Anfang war, so verhielten sie sich ihm gegenüber doch ganz normal und freundlich. Wenn Meto etwas zu ihm sagte, legte er ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr. Nach dem Abendessen gingen Tsuzuku und Meto runter ins Schlagzeugzimmer. Der Jüngere suchte aus seiner umfangreichen Sammlung die Gitarren- und Bassparts eines Liedes aus, legte die CD ein und drehte die Anlage auf. Tsuzukus vieles Üben zeigte deutliche Ergebnisse und auch Meto hatte sich noch weiter verbessert. „Wie das erst wird, wenn MiA mitspielt…“, sagte Tsuzuku nach dem Lied. „Bestimmt toll, so gut wie er ist.“ Meto nahm Ruana von ihrem Platz neben dem Schlagzeug und sah sich den Omamori um ihren Hals genau an. „Vielleicht hätte ich lieber einen kaufen sollen, der uns einen Bassisten finden lässt.“ „Ich dachte, du glaubst nicht an sowas?“ „Tu ich auch nicht. Aber wer weiß, schaden tut es wohl kaum.“ Sie spielten noch ein paar Lieder nach, redeten über Musik und alles drum herum. Dann gingen sie nach oben, wo neben Metos Zimmertür ein aufgerollter, weißer Gästefuton lag. „Warum hat deine Mutter ihn nicht gleich drinnen ausgebreitet?“, fragte Tsuzuku. „Meine Eltern betreten mein Zimmer schon seit meinem vierzehnten Geburtstag nicht mehr. Sie sagen, das ist ganz allein mein Reich und geht sie nichts an, solange ich es einigermaßen in Ordnung halte“, antwortete Meto. „Du hast echt tolle Eltern.“ „Weiß ich.“ Meto lächelte, drückte Tsuzuku Ruana in den Arm und trug den Futon ins Zimmer. Seine Eltern hatten völlig gelassen auf Metos Ankündigung, dass Tsuzuku bei ihm übernachten würde, reagiert. Frau Maeda schien sich sogar zu freuen, dass ihr Sohn endlich einen so guten Freund gefunden hatte. Meto räumte die Kleidungsstücke, die auf dem Boden herumlagen, einfach in den Schrank und breitete den Futon in dem doch recht schmalen Zimmer direkt vor seinem Bett aus. Er freute sich auf die Übernachtung und war auch ein wenig stolz darauf, diese selbst vorgeschlagen zu haben. Tsuzuku hatte Ruana auf die Bettdecke gesetzt und Meto platzierte seine plüschige Beste Freundin auf ihrem Stammplatz neben seinem Kopfkissen und drückte ihr einen kurzen Kuss aufs Ohr. Dann ging er zum Kleiderschrank zurück, wühlte darin herum und warf seinem Freund schließlich ein leicht zerschlissenes, weites Oberteil und eine Art Jogginghose zu. „Geht das als Schlafanzug für dich?“ „Klar“, antwortete Tsuzuku. „Aber was machen wir jetzt noch, bis Schlafenszeit ist?“ „Hm…“ Meto legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. „Irgendwo hingehen?“ „Und wohin?“ Der Jüngere ging zum Schreibtisch, klappte seinen Laptop auf und wählte sich ins Internet ein, bei Google Maps. Eine Weile suchte er auf der digitalen Landkarte herum, dann hatte er eine Idee. „Tsu, ich weiß was! Hier in der Nähe gibt es eine christliche Kirche mit Friedhof, die ist zwar noch nicht alt, sieht aber abends schon ein bisschen gruselig aus. Was hälst du davon, wenn wir da hinfahren und Fotos machen?“ Tsuzuku lächelte. „Du kommst ja auf Ideen… Klingt aber gut.“ „Wir machen uns richtig hübsch, gehen auf den Friedhof und machen Fotos.“ Meto strahlte. Gesagt, getan. Er lief ins Bad und kam kurz darauf voll beladen mit seiner gesamten Kosmetik-Ausstattung zurück, die er großflächig um sich herum auf dem Bett ausbreitete. „Darf ich dich wieder schminken, Tsu?“ Eine halbe Stunde später saßen sie geschminkt und nach allen Regeln des Visual Kei gekleidet im Zug in Richtung der Kirche. Meto trug ein schwarzes Lolita-Lederkleid, ein rot-schwarzes Bonnet, Netzstrümpfe und die schwarzen Plateauschuhe. Beim Make-up hatte er sich ausgetobt: Die Haare wie üblich in Locken gedreht, das linke Auge schwarz umrandet und mit langen Kunstwimpern darunter geschmückt, dazu die größte schwarze Kontaktlinse, die er hatte. Das andere Auge hatte er großzügig blutrot umschminkt, so dass es fast wie eine blutige Wunde aussah, und trug darin eine rotbraune Kontaktlinse. Seine ohnehin breiten Lippen wirkten durch roten Lippenstift noch auffälliger. Er hatte Ruana eine von seiner Mutter genähte Puppenkleid-Version seines eigenen Kleides angezogen. Tsuzuku hatte in etwa dieselbe Kleidergröße wie Meto und hatte sich von ihm ein schwarzes Rüschenhemd geliehen und dieses mit seiner schwarzen Lederjacke und der dunklen Hose, die er heute trug, kombiniert. Der Jüngere hatte ihm ein elegantes, geradezu mustergültiges Make-up verpasst, das die Vorzüge seines Gesichtes hervorragend zur Geltung brachte. Strahlend rote Lippen und großzügig dunkel umschminkte Augen mit täuschend echt gemalter Lidfalte. Tsuzuku betrachtete sein Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe und auf einmal verstand er, was Meto am Donnerstag mit der Frage „Weißt du, wie wunderschön du bist?“ gemeint hatte. Er sah die Antwort in seinen eigenen Augen. Sie leuchteten ein wenig und er lächelte sich zu. Es kam nicht oft vor, dass er sein Spiegelbild anlächelte, doch in diesem Moment, als ihm klar wurde, dass er selbst dieses Strahlen von Innen hatte, um das er andere immer beneidet hatte, konnte er nicht anders. Er wusste, Meto hatte dieses Strahlen gemeint. Andere nannten es „Innere Schönheit“, der Jüngere hatte es einfach in diese Frage verpackt. Meto sah ihn von der Seite an und nickte wissend. Als die Bahn an der Station hielt, in deren Umgebung sich die Kirche befand, stiegen sie aus und gingen durch die Nacht zur nächsten Kouban. Meto kramte seinen Block heraus, doch Tsuzuku sagte: „Ich mach das.“ Der Schutzpolizist in der winzigen Miniwache warf ihnen einen leicht irritierten Blick zu, den typischen Blick von jemandem, der Visual Kei nicht allzu oft zu sehen bekam und nicht recht wusste, was er damit anfangen sollte. Jedoch nichts dazu sagte. „Entschuldigung, wie kommen wir zur Kirche?“, fragte Tsuzuku. Der Polizist kramte eine Karte hervor und deutete auf einen Punkt mit der Aufschrift „Kageyama-Michaeliskirche“. „Also, da müssen Sie diese Straße hier runter, dann links, wieder geradeaus bis zur Kreuzung und dann rechts ab. Da müssten Sie den Turm schon sehen können.“ „Vielen Dank.“ Tsuzuku verbeugte sich leicht, verhielt sich nach seiner gesellschaftsfähigen Seite, die ihm ein Leben in dieser Welt, in der er sich manchmal so seltsam fühlte, möglich machte. Der Polizist wandte sich derweil wieder seiner Arbeit an irgendwelchen Papieren zu, machte dem Leitsatz der Japaner, sich aus den Angelegenheiten anderer Leute herauszuhalten und keinen Kommentar abzugeben, alle Ehre. Meto hatte während des kurzen Gesprächs etwas abseits gestanden und sich tonlos mit Ruana unterhalten. Erst, als er und Tsuzuku die vom Polizisten gezeigte, menschenleere Straße entlang gingen, sagte er wieder etwas. „Komisch, ich hab so ein richtiges Fotoshooting erst ein paar Mal gemacht. Da bin ich mit Kasumi losgegangen und sie hat Bilder von mir gemacht. Ich mach schon hin und wieder Fotos von mir, so Selfies halt, aber das zählt nicht, oder?“ „Lädst du die denn auch irgendwo hoch?“, fragte Tsuzuku. „Ich hab einen Account auf einer Visual Kei Seite, aber den benutze ich kaum. Ich sitze lieber am Schlagzeug als am Laptop.“ „Hast du nicht gern Bilder von dir? Damals bei dem Fotografen in Harajuku fandst du das ja auch nicht so toll.“ „Nein, ich mag Fotos von mir. Aber… ich hatte da irgendwie das Gefühl, als ob ich noch nicht so weit bin. Dass ich mich noch mal ein bisschen ändern muss, bevor ich Bilder von mir in Zeitschriften und im Netz haben will.“ „Wie, ändern?“, fragte Tsuzuku. „Ich muss noch ein bisschen mutiger werden. Aber ich hab das Gefühl, dass das nicht mehr sehr lange dauert.“ Sie erreichten die Kirche und nachdem sie festgestellt hatten, dass nirgends Licht brannte, betraten sie den kleinen Friedhof, der wirklich seltsam neu und alt zugleich wirkte, obwohl er sicher ersteres war. Einige Steine waren mit Kana und Kanji beschriftet, andere auch mit Romaji. Meto kramte sein Handy heraus, zeigte auf einen hübschen Grabstein, neben dem ein großer, schon leicht bemooster Engel stand und drückte Tsuzuku das Handy in die Hand. „Zuerst machst du Fotos von mir, dann ich von dir, okay?“ Tsuzuku nickte. Meto setzte sich mit Ruana im Arm auf den Boden zu Füßen des Engels, setzte sein puppenhaftestes Gesicht auf und der Ältere machte gleich drei Fotos davon, um später das beste auszuwählen. Auf einmal trat ein abenteuerliches Leuchten in Metos Augen, er hatte, halb unter einer Hecke versteckt, einen Spaten gefunden, ging auf ihn zu und hob ihn auf. „Schau mal, Tsu!“ „Was wird das?“, fragte Tsuzuku und grinste. Er erriet schon ungefähr, was für eine Idee gerade in Metos verrückten Köpfchen gewachsen war. Diese Idee war so durchgeknallt, dass man sie schon wieder als genial bezeichnen konnte, und sie gefiel Tsuzuku gut. Meto lehnte den Spaten gegen den nächsten Grabstein, kramte in seiner Tasche und zog schließlich die schwarzen Spitzenhandschuhe heraus und an. Dann setzte er Ruana vor den glänzend schwarzen Stein, betrat die Grabfläche und nahm den Spaten wieder in die Hand. Tat so, als hätte er vor, den dort Begrabenen auszugraben. „Wir spinnen doch…“, dachte Tsuzuku, während er Metos kleine Totengräber-Show in einer Reihe von etwa zwanzig Bildern festhielt. „Aber das ist gut so. Wir sind, wie wir sind.“ Es folgten noch ein paar Puppenposen-Bilder, dann sagte Meto: „Und jetzt bist du dran, Tsu. Hast du sowas schon mal gemacht?“ „Nicht wirklich. Nur so zu Hause mit Selbstauslöser. Und natürlich Selfies.“ Meto grinste. „Pass auf, ich mach gleich die schönsten Bilder, die du von dir je gesehen hast!“ Und tatsächlich. Der Blonde schien ein gutes Händchen für Fotos in der Dunkelheit zu haben. Oder vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass er intuitiv Tsuzukus beste Seiten auf die Fotos zu bannen wusste. Es wurden jedenfalls, dafür, dass sie mit dem Smartphone gemacht wurden, wirklich gute Bilder. „Tsu, stell dich mal zu dem großen Steinkreuz da hin. Und dann stell dir vor, du bist ein Reptil oder so“, kommandierte Meto wie ein echter Fotograf. In diesem Moment hallten aus dem Kirchturm neun Glockenschläge. „Die nächste Bahn kommt um Viertel nach neun, oder?“, fragte Tsuzuku. Meto nickte. „Wir haben ganz schön was geschafft. Die Bilder sind toll geworden.“ Als sie dann im nächtlich leeren Zug saßen, sahen sie sich die Fotos noch einmal an. Meto sah auf seinen Bildern aus wie eine lebendig gewordene Puppe aus einem Horrorfilm, und Tsuzuku fand, dass er selbst auf den Bildern ein wenig wie ein Vampir wirkte. Die ganze Aktion hatte sein Selbstbewusstsein gestärkt und als er sich kurz seine Traumvorstellung von der Bühne ins Gedächtnis rief, stellte er fest, dass sich dieser Traum jetzt noch besser anfühlte. An der Haustür angekommen, legte Meto einen Finger über die Lippen, schloss leise die Tür auf und zog sogleich seine hohen, lauten Absatzschuhe aus. Das Abschminken im Bad war eine langwierige, möglichst lautlose Angelegenheit. Tsuzuku war als erster fertig und ging in Metos Zimmer, um sich umzuziehen und bald darauf kam auch dieser, von sämtlicher Schminke befreit, mit glatt gekämmten Haaren und schon halb aus dem schwarzen Lackkleid heraus, ebenfalls aus dem Bad und zog sich auf dem Bett sitzend Schlafsachen an. Da sie beide ziemlich müde waren, wurde nicht mehr viel geredet. Mitten in der Nacht wachte Meto auf. Irgendwo draußen auf der Straße stritten sich lautstark zwei Katzen und der fast volle Mond warf sein silberhelles Licht durchs Fenster. Meto setzte sich auf und sah Tsuzuku tief schlafend im Futon liegen. Der Schwarzhaarige lag auf der Seite, mit dem Gesicht zum Schreibtisch, weg vom Bett, sodass Meto es kaum sehen konnte. „Ob er auch nur die leiseste Ahnung hat, wie schön er aussieht, wenn er schläft?“, dachte er, stand kurzentschlossen auf und stieg über den Futon, um sich vor Tsuzuku auf den kühlen Boden zu knien. Langsam streckte er die Hand aus und strich ihm das schwarze Haar aus dem Gesicht. Der Ältere gab im Schlaf ein leises Brummen von sich, wachte aber nicht auf. „Und hast du eine Ahnung, wie viel du mir bedeutest?“, fragte Meto leise. „Ich hab das Gefühl, dass ich dir jedenfalls sehr wichtig bin.“ Er beugte sich vor, bis seine Lippen nah an Tsuzukus Stirn waren und tupfte einen ganz leichten, lieben Kuss darauf. Dann stieg er in sein Bett zurück, zog die Knie an, nahm Ruana in den Arm und war bald eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)