Der Tag danach von L-San (Kakashi & Anko | 23. Türchen) ================================================================================ Kapitel 1: Der Tag danach ------------------------- Sieh mich an, und du wirst erkennen, dass der Tod weitaus mehr Facetten hat, als du ahnst. 23.12.2011 Am darauffolgenden Tag starb niemand. Diese allen Naturgesetzen zuwiderlaufende Tatsache löste bei den Japanern ungeheure Verwirrung aus, und die war in jeder Hinsicht gerechtfertigt. Denn in all den Bänden der ›Universellen Weltgeschichte‹ ist kein einziges derartiges Phänomen belegt, dass nämlich ein kompletter Tag mit vollen vierundzwanzig Stunden ohne etwaige Todesfälle vergangen wäre. Es schien, als hätte die Urgöttin Izanami beschlossen, das Töten aufzugeben, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutete, dass kein einziger Tropfen Blut floss – ganz im Gegenteil. Bestürzt, betrübt und nicht minder erschöpft zogen die Feuerwehrleute zu Beginn des 23. Dezembers Menschen aus den Trümmern eines Autounfalls, die nach der mathematischen Logik von Zusammenstößen mausetot hätten sein müssen, doch wie durch ein Wunder am Leben waren und mit herzzereißendem Sirenengeheul in die Krankenhäuser eingeliefert wurden, wo sie die pessimistischen ärztlichen Prognosen widerlegen sollten: »Es ist aussichtslos, Shizune. Der arme Teufel hat keine Chance. Operieren hilft da nicht mehr viel«, wie beispielsweise eine weltweit renommierte Chirurgin zu ihrer Assistentin sagte, während diese ihr den Sake aus der Hand nahm. Und vielleicht wäre der Arme am Vortag ja wirklich gestorben, doch an diesem Tag weigerte sich das Unfallopfer ganz entschieden zu sterben. Und was hier geschah, das geschah in ganz Japan. Innerhalb kürzester Zeit kam das Gerücht auf, seit dem 23. Dezember, genauer gesagt, seit null Uhr diesen Samstags, gäbe es keinen rechtsgültigen Beweis dafür, dass sich im Land auch nur ein einziger Todesfall ereignet hätte. Woher das Gerücht kam, konnte niemand genau sagen, nur dass es sich wie ein Lauffeuer verbreitete, zu Presse, Rundfunk und Fernsehen vordrang und Chefredakteure, Intendanten und deren Assistenten hellhörig machte. Ehe man sich versah, tauchten Hunderte von Reportern auf den Straßen auf, die alles befragten, was vor ihren Füßen lief, während in den Redaktionen die Telefone heiß liefen und eine Flut von Anfragen gestartet wurde. Krankenhäuser wurden angerufen, das Rote Kreuz, das Leichenschauhaus, die Bestattungsunternehmen, sogar die Polizei, doch die Antworten erschöpften sich stets in der lakonischen Aussage: »Es gibt keine Toten.« Fortan starb niemand mehr im ganzen Land. Die Vorstellung, keine Angst mehr vor dem Tod zu haben, im Besitz der Unsterblichkeit zu sein, das Glück in den Händen zu halten, quasi das Paradies auf Erden, klang zwar auf dem ersten Blick recht verlockend und vielversprechend, allerdings entpuppte sie sich zum Entsetzen aller schnell genug als ein Schrecken ohne Ende. »Wir wollen sofort unsere Lebensversicherung ausgezahlt haben!«, forderten nämlich alle von den Versicherungsgesellschaften, ungeachtet dessen, ob diese nun bankrott gingen. »Dürfen wir nun Haustiere beerdigen?«, baten hingegen die Bestattungsunternehmen um die gesetzliche Pflicht, weil ihnen die Existenzgrundlage abhanden gekommen war. »Und wo bleibt der Tod? Wir wollen endlich sterben«, lamentierten wiederum die vor sich hin vegetierenden Moribunden in den Altenheimen und Krankenhäusern, wo es peu à peu an Platz und Geld mangelte. »Gott hat uns verlassen. Wir sind verloren. Was machen wir nur?«, jammerten nun die verschiedenen religiösen Instanzen, während sie mit gerunzelter Stirn und grimmigem Gesicht Auf und Ab liefen und an ihrer Daseinsberechtigung zweifelten, jetzt da der Tod nicht mehr existierte. »Dann gründen wir eben eine neue Religion!«, schlug beispielsweise Hidan, ein Geistlicher, vor. Jedoch fanden seine radikalen Doktrinen keine allzu positive Resonanz, weshalb sie schnell verworfen wurden. Die Situation resümierend: Ein Desaster. Eine absolute Katastrophe. Ein zum Himmel schreiendes Unrecht! Denn nirgends wartete der erlösende Tod auf sie, zumindest nicht in diesem Land. Abhilfe gab es erst, als eine kleine, zwielichtige Untergrundorganisation namens Akatsuki auf eine aberwitzige Idee kam, mit der sie ein lukratives Geschäft machen konnten: »Sie wollen ihren werten Freunden und Familien helfen? Wir erlösen sie von ihren Leiden, indem wir sie über die Grenzen bringen. Natürlich ganz diskret und gegen Bezahlung.« Moralisch verwerflich, geradezu abartig, unmenschlich und pervers war das!, teilten zunächst viele Menschen diese Meinung, doch angesichts der Notsituation empfanden mit der Zeit viele diese Aktion als eine willkommene, nette und recht nützliche Abhilfe, weshalb der Großteil von ihnen über ihren Schatten sprang und bereitwillig zahlte, w.z.e.w. – was zu erwarten war. Dass man darauf erleichtert reagierte, stellte man lieber nicht offen zur Schau aus Angst vor Schande, Vorwürfen, Moralpredigten und dem schlechten Gewissen, das ja so mancher Kritiker und eine gewisse, internationale Menschenrechtsorganisation einem herzallerliebst unter die Nase rieben. Was die Regierung nicht zu interessieren brauchte, da sie höchst erfreut war, den Berg an Verantwortung diminuieren zu können. Und selbst die Nachbarländer konnten ihnen nicht auf den Senkel gehen, zumal es kein gutes Licht auf sie werfen würde, die Toten auszubuddeln und sie dorthin zu schicken, wo sie gehörten. Es muss ja niemand wissen, dass wir inoffiziell nichts gegen Akatsuki unternehmen. Unsere Grenztruppen schauen einfach weg, wenn sie ihre Arbeit erledigen, beschloss Premierminister Danzō Shimura im Geheimen, als er der ganzen Welt deklarierte, die Regierung werde Maßnahmen gegen die Untergrundorganisation unternehmen. Ein allzu bekanntes Phänomen in der Politik. Großartige Reden schwingen, Hoffnungen schüren und leere Versprechen machen, um die Leute fürs Erste zufrieden und ruhig zu stellen. Die Rechnung folgte danach! Wie abzusehen war, gab es nach wie vor noch genug andere Probleme und Kontroversen innerhalb dieser Situation zu lösen. Welch eine Erlösung also, als nach fast einem Jahr ein Brief auf blauem Papier beschriftet wie aus dem Nichts im Zimmer des Fernsehintendanten Minato Namikaze erschien, der ihn zutiefst beunruhigte. 22.12.2012 Sehr geehrter Herr Intendant des Nationalfernsehens, hiermit wird mir kraft meines Amtes die Ehre zuteil, dem jämmerlichen Volk zu verkünden, dass ab heute Nacht um zwölf Uhr wieder gestorben wird wie von Anbeginn der Zeit bis zum dreiundzwanzigsten Dezember letzten Jahres üblich. D.h., all jene Menschen, die bereits tot sein müssten, werden mit dem letzten mitternächtlichen Glockenschlag ihr Leben aushauchen – man beachte, dass der Bezug zum Glockenschlag ein rein symbolischer ist, nicht dass jemand auf die dumme Idee kommt, die Uhren der Glockentürme anzuhalten oder die Klöppel der Glocken zu entfernen in der Hoffnung, dadurch die Zeit anhalten und meiner unwiderruflichen Entscheidung entgegenwirken zu können. Also finden Sie sich damit ab und sterben Sie ohne Widerrede, denn die würde sowieso nichts bringen! Doch möchte ich Ihnen vorher erklären, warum ich die sinnbildliche Sense habe ruhen lassen. Ich wollte mit einer kleinen Kostprobe nämlich demonstrieren, was es für die Sterblichen, die mich so sehr hassen, bedeuten würde, immer, sprich, ewig zu leben. Und jetzt, da diese Monate des Widerstandstests respektive der kostenlosen Probephase vorbei sind, werden in Zukunft alle eine Woche vor ihrem Verfallsdatum per blauen Brief benachrichtigt, um Zeit zu haben, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Ich muss zugeben, dass mein grausames und ungerechtes Vorgehen, den Menschen hinterrücks das Leben zu nehmen, ohne Vorwarnung, ohne zu sagen »Tja, jetzt ist Sense«, von unangemessener Gefühllosigkeit zeugt. Daher nun diese Vorwarnung. Und nach all diesen Worten bleibt mir jetzt nur noch diese von mir persönlich geschriebene Botschaft in sämtliche Häuser dieses Landes auszustrahlen und meinerseits mit dem Namen zu unterzeichnen, unter dem ich gemeinhin bekannt bin: tod. PS: Frohe Weihnachten! tod muss wohl einen Vogel im Kopf haben, schoss es durch Minatos Kopf. Doch für Scherze blieb ihm keine Zeit, denn in vier Stunden war Mitternacht, dementsprechend mussten schnell Entscheidungen getroffen werden. Wie ironisch, ausgerechnet die Unglückszahl vier, dachte er, als er die Regierung anrief und eine sofortige Unterredung mit dem Premierminister verlangte, die schließlich genehmigt wurde, woraufhin er schnell zum Regierungschef eilte und die Verantwortung über den Brief abgab. Gäbe es da nicht den Umstand, dass in Japan seit fast einem Jahr niemand mehr gestorben war, hätte man den Brief de facto für einen schlechten Scherz gehalten. Aber dass er sich nicht zerstören ließ, bekräftigte nur noch den Entschluss, ihn ernst zu nehmen. Zudem wagte die Regierung sich nicht auszumalen, was wohl passieren würde, wenn herauskäme, sie hätte dem Volk brisante Informationen verschwiegen. Als Sai, ein bewanderter Graphologe, den Brief nun unter die Lupe nahm, kam er zum Entschluss, dass dieser von einer weiblichen Person geschrieben wurde. »Wir können annehmen, dass unsere tod ein in Laken gehülltes Skelett ist, das zusammen mit einer alten, rostigen Sense, die nicht redet, in einem kalten Raum wohnt, umgeben von gekalkten Wänden, an denen zwischen zahlreichen Spinnweben ein paar Dutzend Karteikästen mit schweren Schubfächern voller Karteikarten aufgereiht sind. Und – sie hat eine schöne Sauklaue. Was wohl kein Wunder ist, wenn man in diesem versifften Drecksloch wohnt, von wo aus man täglich Menschen dahinrafft. Die Herkunft sagt schon alles aus. Ihre Handschrift bekräftigt das nur noch.« tod ignorierte seine Worte gekonnt. Was Menschen über sie dachten, interessierte sie nicht. Warum ihr Name ein kleines ›t‹ hatte, erklärte man sich durch die lateinische Umschrift, in der die japanischen Wörter immer kleingeschrieben wurden. Doch über solch banale Dinge konnte man später palavern. Bis Mitternacht gab es nämlich allerhand zu tun. Um 23 Uhr sollten die Nachrichtensprecher im Fernsehen ein offizielles Kommuniqué der Regierung verkünden und der Intendant den Brief vorlesen. Derweil trafen sich Bestattungsunternehmen und Sargschreiner zu einer Krisensitzung, denn es galt, auf einen Schlag Hunderttausende von Toten zu beerdigen, die unter normalen Umständen in dem einen Jahr gestorben wären – dabei schadete es nicht, die Politiker an ihre Vernunft zu appellieren und sie auf die Menschenrechte aufmerksam zu machen. »Wir verlangen Lohnerhöhung plus dreifachen Zuschlag für Überstunden«, verlangte Kakuzu, ein Stellvertreter der Totengräber. »Sonst melden wir das der Amnesty International. Und dann könnt Ihr zusehen, wie Ihr mit Euren eigenen Problemen fertig werdet. Ach ja, mein Gehalt in Bargeld bitte.« Angesichts dieser heiklen Situation – und die vieler anderen – konnte die Regierung nur inständig hoffen, den darauffolgenden Tag zu überleben … – ʘ – 18.12.2013 Seitdem tod ihre Arbeit wiederaufgenommen hatte, verschickte sie Tag für Tag etwa 300 blaue Briefe, mit denen sie sich in Japan schnell unbeliebt machte. Menschen hielten nun ständig hinter dem Vorhang Ausschau nach dem Briefträger oder zitterten bei dem Gedanken, nach Hause zurückkehren zu müssen, wo vielleicht der gefürchtete blaue Brief, schlimmer als ein blutrünstiges Monster mit aufgerissenem Maul, hinter der Tür lauerte und sie anspränge. Blau – die einst beliebteste Farbe der Menschen – war nun verhasster denn je. Plötzlich verband man sie nunmehr mit negativen Aspekten wie verdorbener Schimmelkäse, Autopsie oder Leichensack. Blaues Licht ließ einen blass und kränklich erscheinen. Die dunklen Blautöne erzeugten eine düstere und raue Atmosphäre, eine Grundstimmung des Vergeblichen, der Hilflosigkeit gegenüber dem Tod. Oder in anderen Worten: Blau brachte die unmittelbare Todesdrohung zum Ausdruck. Sicher, der Tod war unausweichlich, jeder Mensch würde irgendwann einmal sterben, bis dahin wollte man die schönen Seiten des Lebens genießen. Doch mit dem Wissen über den eigenen Todeszeitpunkt verfiel man leicht in eine tiefe Depression. Und noch nicht einmal vor dem festgelegten Datum konnte man sterben. »Neji, der Zeitpunkt, an dem man stirbt, ist schon von Geburt an bestimmt. Daran kann man nichts ändern. Merk dir meine Worte, mein geliebter Sohn«, lauteten die letzten Worte eines Vaters, ehe er in Schande davonging, nachdem er mehrmals daran gescheitert war, die Ehre seiner Familie durch Seppuku – eine ritualisierte Art des männlichen Suizids – wiederherzustellen. Bis dato, den 18.12.2013, hätte tod dieser Aussage mehr oder minder zugestimmt, schließlich hielt sie das Leben der Menschen in Japan in den Händen, und je nach Lust und Laune könnte sie damit wieder spielen. Doch jetzt kam einer der blauen Briefe schon zum dritten Mal zurück, und sie wusste einfach nicht, warum. Laut Akte handelte es sich bei dem Empfänger um Kakashi Hatake, der eigentlich gestern schon tot sein müsste, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund immer noch lebte. Es war zum Haareraufen. Sonst achtete sie immer penibel darauf, dass der Brief zum rechten Zeitpunkt auftauchte beim Auserwählten. Für die Presse wäre es sicherlich ein gefundenes Fressen, wenn sie herausfände, dass jener Mann den Tod um einen ganzen vermaledeiten Tag betrogen hatte, denn dann würde sie sich über sie mokieren, ihr Metier, ihr ganzes Dasein infrage stellen. Nicht, dass tod auf die Meinungen der Menschen besonders viel Wert legte – die war ihr im Grunde genommen egal –, aber es ging ihr gehörig auf den Strich, dass gerade sie, die das Leben kontrollierte, anscheinend einen Fehler begangen oder übersehen hatte, wodurch er nun unsterblich wurde. Soweit tod sich erinnern konnte, war ihr das nämlich noch nie passiert – und jetzt das! Sie stand kurz vor einer unmittelbaren Krise. Sie musste schnell handeln. Außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Lösungen. Morgen würde sie sich wohl ein Bild von Kakashi machen und herausfinden, was so besonders an ihm war, dass der Brief nicht zu ihm geschickt werden konnte. Vorher jedoch würde sie 1.200 Briefe schreiben müssen, die abzuschicken sie ihrer Sense auferlegte. An die Monotonie ihrer Arbeit gewohnt machte tod sich sofort an die Arbeit, und als sie am nächsten Morgen fertig war, wendete sie sich an ihre Waffe: »Ich werde mich gleich unter die Menschen begeben. Während meiner Abwesenheit schickst du pro Tag 300 Briefe an die Betroffenen.« Wie zu erwarten gab die Sense keine Antwort von sich, doch meinte tod, eine klitzekleine Bewegung, ein leichtes Nicken gesehen zu haben, weshalb sie fortfuhr: »Fein. Nachdem das geklärt ist, was hältst du von meinem Outfit?« Natürlich konnte tod nicht in einem Totenanzug auftreten. Daher hatte sie sich für eine schlichte Kleidung entschieden, um nicht aufzufallen, und sich dann in eine junge hübsche Frau verwandelt mit hellbraunen Augen und violettem Haar, das hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Die Sense staunte nicht schlecht, als sie tod in menschlicher Gestalt sah. »Tsk, schweigsam wie eh und je. Deinem Schweigen zu entnehmen sehe ich wohl gut aus. So, ich werde jetzt gehen. In vier Tagen komme ich wieder zurück«, sagte tod. Und noch bevor sie den für Menschenauge unsichtbaren, immateriellen Raum verließ und als Anko Mitarashi hinaustrat, hatte sie ein »Hn« von der Sense vernommen, doch könnte es reine Einbildung gewesen sein. Kaum hatte sie sich zum ersten Mal der Weltgeschichte für die Menschen sichtbar gemacht, da merkte sie, wie die Omnipräsenz ihr ein wenig zusetzte. Tod war allgegenwärtig, sie war allgegenwärtig, was sich zwar als vorteilhaft erweisen konnte, wenn man eine beliebige Anzahl an Menschen an verschiedenen Orten in Japan zum selben Zeitpunkt um ihr Leben berauben wollte. Allerdings war es für sie ungewohnt, sich nur auf eine Sache zu konzentrieren, auf die Person, die ihre Arbeit behinderte – doch nichts, womit sie nicht fertig werden würde. Jetzt galt es erst einmal, Kakashi aufzusuchen und ihn zu beobachten, und das hatte oberste Priorität. Zunächst ging sie in den Saalbau Rasengan, wo er – laut Akte – als Dirigent arbeitete, und kaufte an der Theaterkasse für das Weihnachtskonzert am Donnerstag und Samstag jeweils eine Karte für ein und denselben Platz in einer Luxusloge. Danach besorgte sie sich ein schickes Kleid in der Stadt und nahm sich anschließend ein Hotelzimmer. Gegen Abend ging sie aufs Konzert, nahm ihren Sitzplatz ein und wartete auf die Aufführung, die in wenigen Minuten beginnen würde. Zu ihrer Überraschung fing sie jedoch erst eine halbe Stunde später an, weil der Dirigent sich verspätet hatte. »Auf dem Weg hierher bin ich dem Grinch begegnet. Ich musste ihm noch kurz helfen. Daher die Verzögerung. Ach ja, ich soll euch noch von ihm liebe Grüße ausrichten. Oh, und frohe Weihnachten natürlich!«, sagte Kakashi, ehe er hinter dem Bühnenvorhang verschwand. Allgemeines Gelächter war zu vernehmen. Das Publikum kannte den Mann schon seit Jahren. Es war immer wieder dasselbe. Jedes Mal erfand er bizarre Ausreden fürs Zuspätkommen, doch störte sich niemand daran, schließlich war Weihnachten, und zudem lieferte er immer ein fulminantes Musikspektakel ab, das zu hören die Warterei sich lohnte. Pff, dachte Anko nur, als sie dem Getuschel der Leute lauschte und dabei allerhand Wissenswertes über ihn erfuhr. Sobald die Aufführung vorbei war, würde sie ihn ansprechen und ihre weiblichen Reize spielen lassen, dann zu ihm gehen und unbemerkt den blauen Brief dalassen. Ihr Plan würde sicherlich aufgehen, immerhin war er Single, sie dagegen heißbegehrt. Allein die vielen Blicke, die hier so manche Männer ihr zuwarfen, bestätigten diese Tatsache. Nicht umsonst hatte sie sich extra ein elegantes Kleid angezogen, das ihre Figur an den passenden Stellen betonte. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als der Bühnenvorhang aufging und das Weihnachtsstück begann. In den folgenden Stunden hörte sie ein Lied nach dem anderen, und jedes von ihnen ließ das Publikum hellauf begeistern oder gar zu Tränen rühren. Bloß Anko ließ sich durch die Musik nicht mitreißen, denn ihre ganze Aufmerksamkeit lag auf Kakashi, wie er seine Musiker dirigierte. Nachdem das Weihnachtskonzert nun zu Ende war, wartete sie auf ihn am Bühnenausgang, wo sie sogleich von mehreren Musikern belagert wurde, die sich eine Chance bei ihr erhofften, doch lehnte sie alle offenkundigen Annäherungsversuche ab, indem sie ihre Verehrer harsch anfuhr: »Zieht Leine, ihr Hunde. Auf der Straße spielt die Musik.« Ihre Worte überraschten die Männer, die niemals mit einer solch ordinären Ausdrucksweise bei einer geheimnisvollen Schönheit wie sie gerechnet hätten, und nur ihr kaum merkliches Lächeln, das ein Hauch von Gefahr implizierte, hinderte sie daran, sich der Frau zu nähern und auf ihre Insolenz anzusprechen. Für einen Augenblick kam sie ihnen nicht ganz koscher vor. Der missbilligende Ausdruck in ihren Augen, die hochgezogenen Augenbrauen, die abwehrende Körperhaltung – sie strahlte eine solch einschüchternde, bedrohliche Aura aus, dass die Männer am liebsten die Fliege davon machen wollten. Was sie schließlich auch taten. Als tod hatte sie mit ihrer schroffen, indifferenten Art den Spitznamen ›Miss Unsensibel‹ von den Japanern bekommen. Zurecht, wie sie befand. Doch musste sie sich besser in menschlicher Konversation üben und aufpassen, wie sie sich gegenüber den Menschen verhielt, nicht dass sie am Ende noch Kakashi verschreckte. Was ihn anging, ärgerte es sie grün und blau, dass er erst eine dreiviertel Stunde später erschienen war, trotzdem beherrschte sie sich und versuchte, sich von ihrer lockeren, unkomplizierten Seite zu zeigen. »Guten Abend«, sagte sie lächelnd. »Guten Abend.« Es kam oft vor, dass nach seinem Konzert einige Leute ihn aufsuchten, um sich für seinen Auftritt zu bedanken oder um ein Autogramm zu bitten, doch war er kein besonders geselliger Mensch und wollte lieber seine Ruhe haben, weshalb er immer als Letzter den Saal verließ. Nur wenige besaßen die Geduld, auf ihn zu warten. Eine Frau – noch dazu jung und hübsch! – war bisher noch nicht dabei gewesen. Sie war ihm und seinen männlichen Kollegen schon vorher aufgefallen, als er während des Konzerts eine kurze Pause eingelegt hatte. Allein hatte sie in der Luxusloge gesessen, aufmerksam seine Bewegungen verfolgt und der Musik gelauscht. Er hätte sie in Begleitung seiner Leute erwartet, doch es schien, als hätten sie sich alle aus dem Staub gemacht, und allein dieser Umstand war es zuzuschreiben, dass er sie ganz ungeniert fragte: »Was kann ich für Sie tun, junge Dame?« Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Jung war sie definitiv nicht. »Ich wollte mich bei Ihnen herzlich für das außerordentliche Hörvergnügen bedanken.« »Danken Sie nicht mir, danken Sie meinen Kollegen. Sie haben die ganze Arbeit geleistet.« Nicht er allein hatte für den Erfolg des Konzerts gesorgt, sondern sein Team. Er war nämlich überzeugt, dass eine perfekte Zusammenarbeit zwischen Dirigent und Musikern die Grundpfeiler dafür bildeten, weswegen er auch als ein sehr strenger, aber kompetenter Dirigent galt, der auf Disziplin und Teamwork achtete. »Trotzdem – ohne Sie liefe gar nichts«, entgegnete sie. »Danke. Es ehrt mich, dass Sie eine so hohe Meinung von mir haben.« »Und genau deswegen habe ich eine Überraschung für Sie. Sie müssen sich nur ein wenig gedulden.« Kakashi zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, welche Freuden sie ihm wohl bereiten wollte. Ob sie – »Ja«, sagte sie. »Sie wird Ihnen gefallen.« Der Gedanke, dass sie ihm ein Buch schenken könnte, ließ ihn nicht mehr los. In seinem Freundes- und Bekanntenkreis war er als Leseratte bekannt. Vor allem mit der Flirtparadies-Reihe seines Lieblingsautors konnte man ihm eine große Freude bereiten. Einige Bände fehlten ihm noch. Da Weihnachten war, erschien ihm der Gedanke gar nicht mal so abwegig. »Halten Sie am Samstag nach mir Ausschau. Ich werde wieder auf demselben Platz in der Luxusloge sitzen.« »Okay.« Gerade als er nach ihrem Namen fragen wollte, traf ihn ein Schneeball an der Schulter, woraufhin er genervt in die Richtung blickte, aus der der Ball gekommen war. »Kakashi, Lust auf eine kleine Wette?« Kurze, schwarze Haare, gleich einer Topffrisur, buschige Augenbrauen, dunkle Augen und ein schwarz-grüner Jogginganzug der Marke Adidas – es war so unverkennbar Guy, sein bester Freund, den er schon vor vielen Jahren in einer Universität kennengelernt hatte. Seit jeher pflegten sie ihre Freundschaft durch kleine, kindische Duelle, die sie für gewöhnlich ein, zwei Stunden nach seinem Konzert machten. »Wer in einer Minute die meisten Schneebälle wirft, gewinnt!«, rief Guy und grinste ihn mit seinen strahlend-weißen Zähnen an. Kakashi rollte die Augen und nickte. »Super, dann lass uns gleich anfangen, Sportsfreund!«, jubelte sein Freund begeistert. Bevor Kakashi auf ihn zuging, drehte er seinen Kopf zur Frau um, doch war sie schon längst verschwunden. Es war zweiundzwanzig Uhr, als Kakashi erschöpft zu seiner Wohnung zurückkehrte. Zwar hatte er eine Niederlage einstecken müssen, doch machte sie ihm nichts aus, da er sich mit seinen neunundzwanzig Jahren etwas zu alt für Machtspiele fühlte und sich nicht mehr zu beweisen brauchte – gewinnen konnte er ja noch an einem anderen Tag. Was ihn eigentlich vielmehr störte oder, besser gesagt, aufwühlte, war die Tatsache, dass die unbekannte Frau, die er am Bühnenausgang kennengelernt hatte, nicht mehr vergessen konnte. Sie war schön, keine Zweifel. Doch lag es nicht an ihrem Aussehen, dass er sich für sie interessierte. Manchmal, wenn er abends nach Hause kam, wünschte er sich einfach, jemanden zu haben, der auf ihn wartete, eine warme Mahlzeit zubereitete, ihm Gesellschaft leistete, weswegen er sich auch einen Hund zugelegt hatte. Nur konnte dieser eben nicht kochen, und er musste sich um ihn kümmern. Vice Versa leistete das Tier ihm an manchen Regentagen Gesellschaft. Wirklich einsam fühlte Kakashi sich dadurch nie, doch war es ein anderes Gefühl, abends neben einer Frau zu schlafen und mit ihr am nächsten Morgen aufzuwachen, und kein Tier auf der Welt konnte sein Bedürfnis befriedigen. Natürlich musste die Chemie zwischen einer Frau und ihm stimmen! Und weil er darauf großen Wert legte, aber auch weil er nicht der offenste Mensch war, hatte schon lange keine Frau mehr mit ihm sein Bett geteilt. Seufzend schlenderte er zur Küche, wo er freudig von seinem Hund Pakkun begrüßt wurde, dem er sogleich den Fressnapf auf den Boden hinstellte. Zufrieden beobachte Kakashi, wie sein Haustier das Essen binnen weniger Minuten verschlungen hatte. Doch war er nicht der Einzige, der ihn beobachtete. Auch Anko war anwesend, obgleich er sie nicht sehen konnte, weil sie sich unsichtbar gemacht hatte. Sie war ihm gefolgt, hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, selbst dann nicht, als er mit seinem besten Freund diese lächerliche Wette bestreiten sollte. Menschen sind seltsam, dachte sie. Sie verstand den Sinn hinter den Aufgaben nicht. Doch das brauchte sie auch nicht. Alles, was nämlich zählte, war, den Brief unbemerkt auf den Tisch oder wo auch immer dazulassen. Vorher jedoch wollte sie herausfinden, warum er nicht zu Kakashi geschickt werden konnte. Was war so besonders an ihm? Ehe sie ihre Gedankengänge weiterführen konnte, horchte der Hund plötzlich auf und bellte. »Pakkun. Aus. Andere Leute schlafen noch zu der Uhrzeit!«, befahl sein Herr. Unter normalen Umständen hätte der Hund auf ihn gehört, doch ihre Anwesenheit verwirrte das Tier dermaßen, dass es sich ihr näherte. Sie saß auf den Küchenstuhl, ihre Beine übereinander gekreuzt. Fast hätte sie vergessen, dass Hunde über einen sechsten Sinn verfügten. Zwar konnten sie Anko weder sehen, schmecken, hören, riechen noch fühlen, aber irgendwie wahrnehmen, als ob sie über ein Radar verfügten, dass alles Immaterielle aufspürte. Und Pakkun bildete keine Ausnahme. In diesem Augenblick wurde Anko gewahr, dass er ihr überall folgen würde, wohin sie auch ging. Was machte sie jetzt nur? Ihre Erfahrungen mit Hunden waren begrenzt. Unfähig, sich zu rühren, ließ sie zu, dass Pakkun immer näher auf sie zulief und zusprang. Und – zum ersten Mal spürte sie, wie es war, einen Hund auf dem Schoß zu haben. Inzwischen war es Samstagabend, und Kakashi hatte die unbekannte Schönheit nicht wiedergesehen. Zu seiner Enttäuschung war ihr Sitz in der Luxusloge nämlich leer gewesen. Vielleicht hatte sie sich eine Krankheit eingeholt, lag nun mit einer akuten Grippe im Bett, Gesichtstuch auf der schwitzenden Stirn, und versuchte, eine lauwarme Hühnerbrühe zu sich zu nehmen oder Tee zu trinken, was bei dem kalten Wetter zu der Jahreszeit kein Wunder wäre, doch konnte er sich vorgestern an keinerlei Anzeichen von infektiösen Symptomen erinnern. Sie hatte einen vitalen Eindruck gemacht, da war er sich ganz sicher. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte er sich nicht vorstellen, dass eine Krankheit sie innerhalb von zwei Tagen schachmatt gesetzt hätte; dass ihr ein Unfall zugestoßen wäre erst recht nicht. Wie er auf seinem Bett lag, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und die Beine angezogen, ließ er seine Gedanken wandern. Vielleicht – und diese Vorstellung erschien ihm gar nicht mal so abwegig – gehörte sie zu jenen Frauen, die Freude daran hatten, mit prominenten Männern wie ihm zu spielen, zu verführen, Hoffnungen einzuflößen und wegzuwerfen, sobald sie ihrer überdrüssig waren. Solche Fälle passierten oft. War er womöglich in solchen involviert? Immerhin hatte sie ihm versprochen, anwesend zu sein und ihn darüber hinaus zu überraschen. Letztendlich hatte sie ihre Parole d'honneur gebrochen und war nicht aufgetaucht. Aber – Kakashi schüttelte den Kopf. Es tat ihm nicht gut, über den Grund ihrer Absenz zu grübeln, weshalb er sich nun schweren Hauptes vom Bett erhob und auf das Wohnzimmer zusteuerte, wo sich sein Klavier befand, zu dem er sich hinsetzte. Jedes Mal, wenn er schlecht gelaunt war, spielte er auf dem Musikinstrument, das – soweit er sich erinnern konnte – ihn schon immer begleitet hatte, selbst in den dunkelsten Zeiten. In eine Musikfamilie hineingeboren hatte Kakashi schon von klein auf das Klavierspielen von seinem Vater Sakumo Hatake beigebracht bekommen, der bekannt für seine raffinierten, hinreißenden Werke gewesen war, von denen das berühmteste aller Stücke Weißer Reißzahn hieß, auf das er seinen Erfolg krönen konnte. Letztendlich war er auf seiner Karrierelaufbahn nicht weit gekommen, denn Ruhm hatte aus dem einst so edlen, talentierten Musiker eine Alkoholleiche gemacht. Von diesem Moment an hatte Kakashi sich von seinem Vater, seinem Vorbild, abgewendet und zum Ziel gesetzt, die Ehre seiner Familie wiederherzustellen, indem er Tag für Tag Klavier spielte, ein Lied schwerer als das andere meisterte, um eines Tages von einer hochangesehenen Musikakademie aufgenommen zu werden, die ihm einen fulminanten Aufstieg in der Musikbranche garantieren konnte, was ihm schlussendlich auch gelungen war. Innerhalb kürzester Zeit wurde er als Kakashi Hatake, der Kopier-Ninja, bekannt, weil er jedes ihm unbekannte Lied – und sei es noch so schwer – schnell wie einer jener Shinobi lernen und einwandfrei spielen konnte, was schließlich zu dem Gerücht geführt hatte, er beherrsche eintausend Künste. Er hatte alles in seinem Leben erreicht. Fast alles, korrigierte er sich. Ihm fehlte nur noch das Glück auf seiner Seite. Bis dahin würde er zuhause jeden Tag Klavier spielen, um für eine Weile die Leere in seinem Inneren zu vergessen. Stellte sich bloß die Frage, welches Lied er denn jetzt spielen wollte. Die Auswahl war nicht klein. Schnell blätterte er seine Notenblätter durch. Chidori, zu Deutsch ›Tausend Vögel‹, könnte er spielen. Das Stück hatte er während seiner Jugendzeit selbst komponiert, worauf er unheimlich stolz gewesen war. Denn es bewies, dass er nicht nur Lieder nachspielen, sondern auch welche kreieren konnte. Eine weitere Möglichkeit, die sich ihm anbot, war Sieh mich an; ebenfalls ein Lied, das er sein Eigen nennen durfte. Während der Zeit ohne Tod, als Japan dem Untergang geweiht war, hatte er es komponiert. Es handelte vom Tod, gleichzeitig war es aber auch eine Allusion auf Obito Uchiha, jenem Freund, dem er sein Leben zu verdanken hatte. Während der Schulzeit hatte er ihn kennengelernt. Damals hatte Kakashi an einer Musik-AG teilgenommen in der Hoffnung, seine Fähigkeiten zu erweitern, musste jedoch gegen seinen Willen mit Obito und dessen Freundin Rin in einer Gruppe arbeiten. Sie waren nämlich alles andere als talentiert und hatten ihn mit ihren Lappalien nur aufgehalten. Er war ein Einzelgänger gewesen und hatte nie viel Wert auf Gruppenarbeit gelegt. Am Ende wäre es doch er, der die ganze Arbeit erledigen müsste, und die anderen profitierten auf seine Kosten, vor allem Nichtsnutz und Klassenclown Obito. Zwischen dem Schulkameraden und ihm hatte es oft Querelen gegeben. Meist hatte es daran gelegen, dass Obito oft spät zu ihren Proben erschienen war und sich mit schwachsinnigen Ausreden den unliebsamen Strafen zu entgehen versuchte. Dazu kam noch, dass ihre Haltung zur Musik unterschiedlicher nicht hätte sein können. Obito glaubte, solange man als Gruppe zusammenhielt und mit Leib und Seele spielte, könne wahrhaftig schöne Musik entstehen, während Kakashi der felsenfesten Überzeugung gewesen war, dass allein Talent und Ehrgeiz dies bewerkstelligten. »Idiot«, hatte Kakashi ihn dann bezeichnet. »Du … Du … Du Roboter!« Und genau diese Worte hatten als Grund gereicht, um aufeinander loszugehen. Obito, der abgesehen von Rin von niemanden richtig ernst genommen wurde, weil er oft dazu tendierte, Blödsinn anzustellen oder schwachsinniges Zeug zu reden, wollte diese Beleidigung nicht einfach auf sich sitzen lassen. Kakashi dagegen hatte immer empfindlich auf das Wort Roboter reagiert. Nur weil er seine Trauer und Wut über den jämmerlichen Tod seines Vaters nicht nach außen gezeigt hatte und wie ein Besessener die ganze Zeit am Klavierspielen gewesen war, konnte Obito sich noch lange nicht das Recht herausnehmen, ihn zu beschimpfen. Bevor es zu einem katastrophalen Eklat kommen konnte, hatte Rin in solchen Fällen die Rolle der Vernunft eingenommen und sie beide beruhigt. Nichtsdestotrotz hatte zwischen Obito und ihm immer noch eine gewisse Anspannung geherrscht. Erst am Tag der Aufführung sollte sich ihr Verhältnis ändern. Zu dem Zeitpunkt war Rins Zug ausgefallen, weshalb Obito ihn dazu überredet hatte, sie mit dem Auto vom Bahnhof abzuholen, damit sie zum Schulkonzert erscheinen konnte. Kakashi hatte zunächst gezögert, weil er keine Verspätung riskieren wollte. Es hatte sich herumgesprochen, dass einige Fachmusiker aus einer berühmten Akademie ihre Schule besuchen wollten, um nach potentiellen Nachwuchstalenten zu suchen, denen sie ein Stipendium anbieten würden. Eine einmalige Gelegenheit hatte sich Kakashi angeboten, ihnen all sein Können unter Beweis zu stellen, und er war sich sicher gewesen, dass sie ihn aufnehmen würden. Er war begnadet, ihm stand Ruhm und Ehre zu, die Chance, die Schande seines Vaters zu bereinigen. Doch war es Obito gewesen, der seinem Wahn Einhalt gebieten sollte. »Weißt du, Kakashi, ich respektiere deine Fähigkeiten. Aber schau dich an. Du bist wie dein Vater. Immer nur Ruhm im Kopf. Damit wirst du im Leben nicht weit kommen. Sieh ihn dir an. Ein Suffkopf. Er ist kein Einzelfall. So wirst du eines Tages enden, wenn du weiterhin seinem Weg folgst. Sterben. Alleine. Niemand, der dir nachtrauert. Außer deinem Talent vielleicht. Es gibt Wichtigeres im Leben. Kakashi, sieh mich an. Wir sind ein Team. Wir halten zusammen. Egal was kommt. Rin gehört zu uns. Wir lassen sie nicht hängen. Wir werden schon irgendwie dafür sorgen, dass du einen Platz an der Akademie kriegst. Komm, lass uns gehen. Unsere Freundin wartet schon auf uns.« Diesen Worten war es zu verdanken, dass Kakashi seine Lebenseinstellung geändert hatte. Er nahm seine Umgebung nun mit anderen Augen wahr, nämlich durch Obitos. Die Welt, wie Kakashi sie kannte, war nicht bloß grau, sondern strahlte in einem herrlichen Himmelsblau. Und seitdem waren Obito und er Freunde. Beste Freunde. Am Ende sollten sie alle drei doch noch pünktlich zum Schulkonzert ankommen. Nie im Leben hätte Kakashi es für möglich gehalten, dass ihr Zusammenspiel tatsächlich ein Musikwunder vollbringen würde. Dieser Moment hatte ihn für den Rest seines Lebens geprägt und verdeutlicht, dass Teamwork unabdingbar war, weshalb er bis heute auf die Gruppenharmonie und den Zusammenhalt achtete – wie die drei Musketiere, die sich gegenseitig unterstützten. Jeder glich die Schwächen des anderen aus. Zu seinem Bedauern sollten Obito und Rin ein paar Jahre später bei einem Autounfall ums Leben kommen. Dieses Ereignis hatte ihn in ein tiefes Loch gezogen. In einem Moment hätte er beinahe seine Karriere aufgegeben und sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Doch hatte er sich dazu ermahnt, sein Leben nicht so leichtsinnig aufzugeben. Obito hätte das sicherlich nicht gewollt. Kakashis Leute hatten ihn zu dem Zeitpunkt gebraucht, und das taten sie auch heute noch. Wie die unbekannte Frau schon sagte, ohne ihn lief nichts. Deswegen hatte er weitergemacht. Jeden Tag starben Menschen. C'est la vie. Das war der Lauf der Dinge, die man zu akzeptieren hatte. Auch wenn es schmerzte. Wie hieß es so schön? Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon. Wann immer er deprimiert oder nostalgisch war, spielte er Sieh mich an. Denn dann fühlte er sich seinem Freund näher als zuvor, obwohl dieser schon vor vielen Jahren gestorben war. Fast, als wollte ihm das Lied sagen: »Sieh mich an, ich bin da.« Auch die kindischen Herausforderungen von Guy dienten dazu, seinen Schmerz zu verarbeiten. Eine gewisse Monotonie lag darin. Der Begriff musste nicht zwangsläufig mit negativen Aspekten verbunden werden. Sie half ihm nämlich, in langsamen Schritten zur Normalität zurückzukehren, und die Flirtparadies-Reihe verjagte die dunklen blauen Wolken des Trübsals. Sicher, die Taschenbücher waren nicht jedermann Geschmack, zumal sie eh auf eine bestimmte Lesegruppe abzielten, doch waren sie für ihn amüsant und lehrreich. Sie erfüllten ihren Zweck. Ihn aufheitern. Und das taten sie. Definitiv. Kakashi legte nun all die Gefühle, die er in diesem Moment verspürte, in seine Finger und fing an, zu spielen. Er driftete in eine andere Welt. Über sich hatte er einen blauen Himmel und unter seinen Füßen einen blauen Ozean. Es war ein gar überwältigendes Gefühl, so erhaben, fern von jeglicher Realität. Er wollte diesen Moment vollkommenen Glücks hinauszögern, festhalten. Das Rauschen des Meeres in seinen Ohren, der salzige Geruch in der Luft, die vorbeiziehenden Seemöwen – all dies berührte ihn auf anheimelnde Weise, ja, frohlockte ihn. Sonnenlicht durchflutete seinen Körper, ließ seine grauen Haare silbern glänzen. Eine angenehme Hitze breitete sich wie eine infektiöse Krankheit in seinem ganzen Körper aus. Kühle Brise. Ein Panorama bot sich seinen Blicken dar. In diesem Augenblick erschien ihm der Gedanke an einen Gott, an eine unsichtbare Präsenz, an einen Zuhörer im Zimmer gar nicht mal so abwegig. Am Sonntagmorgen ging Kakashi mit seinem Hund in den Friedhof, um Obito einen Besuch abzustatten. Seit dem Tod seines besten Freundes suchte er nämlich, wann immer sich ihm die Gelegenheit anbot, dessen Grab auf, erzählte ihm etwas von seinem Leben und genoss die herrliche Ruhe an diesem Ort. Selbst vor einem Konzert zögerte er nicht, ihn aufzusuchen. Es war zu einer Art Ritual für ihn geworden, das ihrer beider Freundschaft vertiefte. Kakashi zollte ihm tiefen Respekt. Er verbrachte gerne Stunden in dieser Gegend, weshalb er oft spät auf seiner Arbeit erschien. Was ihn jedoch nicht kümmerte. Aber die unbekannte Frau war ihm ein Dorn im Auge. Sie stand vor Obitos Grab. Er wollte allein sein. Langsam lief er auf sie zu. »Guten Morgen, Kakashi.« »Was machen Sie hier?« »Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.« »Sie waren nicht da.« »…« Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie war am Samstag dagewesen, hatte sich unsichtbar gemacht, um seine Reaktion zu sehen. »Ich wiederhole mich nur ungern. Was machen Sie hier?«, fragte Kakashi leicht gereizt. Er war durch den Wind. Er hatte keine Lust auf Spielchen. Das konnte sie seinetwegen mit seinem Hund anstellen, aber nicht mit ihm. »Ich werde heute Abend abreisen.« »Hören Sie, das ist ja schön und gut, aber … verschonen Sie mich mit Ihrem Gelaber und lassen mich einfach in –« »Tschüss«, unterbrach sie ihn und wollte gerade gehen, als er sie an ihrer linken Hand packte. Sie fühlte sich seltsam kalt an. Er ließ sie schnell los, als ob er sich verbrannt hätte. »Es wäre für Sie besser, wenn Sie sich von mir fernhalten.« »Warum?«, fragte er und schaute sie skeptisch an. Ihre Miene blieb unverändert – neutral, emotionslos, regungslos. »Sie kennen mich nicht.« »Verraten Sie mir Ihren Namen.« Diese Frau war ihm ein Rätsel. Innerlich verfluchte Kakashi sich selbst, sie aufgehalten zu haben. Er hätte sie gehen lassen können, aber dann wäre er – »Das geht Sie nichts an.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Ihr Hund läuft Ihnen davon.« Überrascht drehte er sich um, doch da war nichts. Sein Hund war hier, bei ihm. Konnte es sein, dass – Er drehte sich wieder um. Verdammt. Sie hatte ihn reingelegt. Er, Kakashi Hatake, ein Musikgenie, war tatsächlich auf diesen lächerlichen Trick reingefallen. Was war nur mit ihm los? Er verstand sich selbst nicht mehr. Sonst verfügte er doch immer über einen erstklassigen Verstand. Nur heute schien der ihm abhanden gekommen zu sein. Und jetzt war sie weg. Wie die davonfliegenden Raben. Nach dem Vorfall im Friedhof war er sofort nach Hause gegangen und hatte sich frustriert ans Klavier gesetzt und fast den halben Tag lang gespielt, um die Frau aus seinem Kopf zu schlagen. Vergeblich. Ohne es zu ahnen, hatte sie sich schon längst in seine tiefsten Gedanken und geheimsten Träume geschlichen, und er konnte nichts dagegen tun. Er hatte alles getan, um sie besser kennenzulernen, ihre Beweggründe zu verstehen, doch jedes Mal, wenn er ihr nahe gekommen war, hatte sie sich aus seinem Blickfeld entfernt. Sie war ihm ein Mysterium. Noch nie war er einer solchen Frau begegnet. Und jetzt auf dem Sofa zu sitzen, den Hund auf dem Schoß, und sich wie ein armseliger Bettler zu beklagen, war der Mühe nicht wert. Er sollte sie vergessen, aber er konnte es nicht. Eine Sache ließ ihn nämlich nicht mehr los. Sie wollte ihn überraschen. Was genau hatte sie denn damit gemeint? Anscheinend würde er es wohl nie herausfinden. Vermutlich saß sie jetzt in ihrem Auto oder in einem Flugzeug und lachte über seine Dämlichkeit. Ob sie wusste, wie sehr sie ihn aufgewühlt hatte? Er war sicherlich nicht der erste Mann, dem sie den Kopf verdrehte. Seine Hände verkrampften sich. Sie hatte mit ihm gespielt, auf seinen Gefühlen getrampelt, als ob sie nichts wert wären, und ihn in seinem männlichen Stolz verletzt! Wenn sie sich jetzt hier, bei ihm, befände, könnte er für nichts mehr garantieren. Er war zwar ein ruhiger, zurückhaltender Mann, aber wenn es die Situation verlangte, konnte er unangenehm werden, und dann tat man gut daran, ihm aus dem Weg zu gehen. Als ob sie ihn gehört hätte, klingelte es auf einmal an seiner Tür. Es konnte nur sie sein, dachte er. Eiligen Schrittes lief er zur Tür und machte sie schlagartig auf. Wie er es erwartet hatte. Sie stand vor ihm. Nun war er gespannt, was sie jetzt zu sagen hatte. »Hier bin ich«, sagte sie lässig. »Tschüss.« Gerade als er die Tür vor ihrer Nase zuschlagen wollte, stellte sie ihr Fuß dazwischen. »Es tut mir leid.« »Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Polizei.« »Ich habe noch eine Überraschung für Sie.« »Ihre Überraschung können Sie sich sparen. Ich will sie nicht haben. Gehen Sie, gehen Sie.« »Jetzt hören Sie mir mal –« Kakashis Augen blitzten. Dass sie sich nach wie vor stur und unnachgiebig verhielt, verwirrte ihn. In diesem Moment verspürte er mehr denn je den Drang, ihr an die Gurgel zu gehen. Die ganze Geheimniskrämerei, ihr Auftritt machte ihn zusehends aggressiv. Sein Blut kochte. »Pardon, aber wissen Sie eigentlich, was Sie hier anstellen? Sie veranstalten hier ein Tohuwabohu. Sie sind eine Plage. Pla-ge.« »Sieh mich an.« Kakashi stockte. Obitos Worte. Hatte sie wirklich – »Sehen Sie mich an«, sprach sie mit lauter Stimme. »Es tut mir leid. Es war nicht meine Absicht. Ich kann Sie verstehen. Da kommt so eine Verrückte in Ihr Leben und treibt Sie in den Wahnsinn.« Kakashis Puls beruhigte sich ein wenig, doch noch war er nicht zufrieden mit ihren Worten. »Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist«, fuhr sie fort. »Ich – erkenne mich selbst nicht mehr wieder.« Das stimmte. Sie war sich selbst fremd geworden. Alles, was sie tat, lief schief. Ihre sozialen Kenntnisse waren mangelhaft, doch konnten sie nicht allein der Grund für ihr zweifelhaftes Verhalten sein. Eigentlich wollte sie ihm unbemerkt den blauen Brief dalassen, verschwinden und zusehen, wie er vor die Hunde ging, das war ihre Aufgabe. Stattdessen fing sie jedoch an, ihn zu beobachten. Sie hatte sich selbst bei dem Gedanken erwischt, wie es wohl wäre, wenn er ihr jenes wundervolle Stück widmete, das sie am Samstagabend gehört hatte, wenn sie an seiner Seite stünde; sichtbar in seinen Augen. Es war ein seltsames Gefühl, das zu beschreiben ihr die Worte fehlten. »Menschsein ist so schwer«, flüsterte sie. Eine trügerische Stille breitete sich aus. Kakashi starrte ihre leblosen Augen an. Für einen Moment erinnerten sie an seine eigenen, an eine Zeit, als er von seinem Vater enttäuscht gewesen war und nur daran gedachte, tagein tagaus Klavier zu spielen – immer nur sein Ziel vor den Augen. Er konnte sie verstehen. Menschenleben war nicht einfach. Nur Narren dachten das Gegenteil. Aber da war etwas in ihren Augen, er konnte es erkennen. Ein zartes Pflänzchen, das am Wachsen war. Und dann geschah es, er trat auf sie zu und küsste ihre Lippen. Keine Worte, keine Gedanken vermochten ihm sein Verhalten zu erklären. Anko wusste nicht, was mit ihr selber geschah, aber eines spürte sie. Etwas war in diesem Moment geboren. Sie konnte es nicht beschreiben. Und das brauchte sie auch nicht. Denn ihre Gedanken waren wie ausgelöscht. Des Denkens unfähig erwiderte sie seinen Kuss. Es fühlte sich seltsam an, aber nichts, woran sie sich nicht gewöhnen konnte. Eine sanfte Wärme hüllte ihren Körper ein. Sie wollte dieses neue und doch seltsam vertraute Gefühl nie wieder loslassen. Kurz vor Mitternacht. Nachdem sie in sein Zimmer verschwunden und den natürlichen Trieben der Menschen gefolgt waren, hatte er sich dem Land der Schlafenden zugewandt. Jetzt lag sie wach neben ihm und konnte nicht schlafen. Als tod hatte sie non-stop gearbeitet oder dem Treiben der Menschen beobachtet und sich dabei immer wieder gefragt, warum die meisten von ihnen sich nie dem Schicksal ergaben, immer weiterkämpften, obwohl sie – ohne es zu ahnen – dem Tode nahe waren. Hoffnung, dachte sie. Die hatte sie auch während der Zeit ohne Tod gesehen. Die Menschen waren dem Untergang geweiht, und doch hatte es einige von ihnen gegeben, die verbissen nach einer Möglichkeit suchten, wie sie mit der Situation fertig wurden. Menschen waren seltsam. Sie würde sie nie gänzlich verstehen, obgleich sie sie schon seit Anbeginn der Zeit kannte. Es gab wohl doch Dinge, die man nie begreifen, nie verstehen, nie erklären können würde. Wie der blaue Brief, der seltsamerweise nie bei Kakashi angekommen war. In diesem Moment verwunderte es sie mehr denn je, dass sie neben einem Menschen lag. Er schlief ruhig, den Arm um ihre Schulter. Sie konnte spüren, wie sein Herz klopfte, seine Brust sich hob und senkte. So natürlich. Menschlich. Eigentlich wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, zu verschwinden. Sie stand auf, ging in den Flur, wo sie ihre Tasche liegen gelassen hatte, und kramte den blauen Brief hervor. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Ihn zerstören, das würde sie jetzt tun. Mit ihrem Willen löste sie ihn in Nichts auf. Dann legte sie sich wieder zu Kakashi hin, und langsam spürte sie, wie Wellen der Müdigkeit sie überrollten. Und zum ersten Mal verspürte sie den Drang, zu schlafen. So menschlich, dachte sie, ehe ihre Augen sich schlossen. Am darauffolgenden Tag starb niemand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)