Was einmal verloren ist.... von Zeichenfeder (ChihiroxKohaku) ================================================================================ Kapitel 1: Chihiro und ....? ---------------------------- „Verdammt...“ Chihiro saß vor dem Spiegel und versuchte ihre Haare zu einem schönen Dutt hoch zubinden, allerdings sah das 'Ding' auf ihrem Hinterkopf aus wie ein haariges Knäuel, das von der Nachbarkatze hoch gewürgt worden war. Eine schlimmere Beleidigung für den Dutt konnte es nicht geben, denn Chihiro hasste diese Katze. Andere Katzen in der Siedlung waren ja ganz niedlich, aber dieses besondere Exemplar war, und da war sie sich sicher, aus der Hölle entsprungen. Nach weiteren zehn Minuten konnte man immer noch keine schöneren Worte für diesen Styling Versuch finden, aber zu diesem Zeitpunkt kam Chihiros Mutter mit einem Korb voller sauberer Wäsche ins Zimmer. „Na, bist du fert...“ Ihr Lächeln wich einem verdutzen Gesichtsausdruck, als sie die Anstrengungen ihrer 17-jährigen Tochter mit ansah. „Offensichtlich nicht.“ Die Brünette verdrehte genervt die Augen und sah sich verzweifelt im Spiegel an. „Ich krieg das einfach nicht hin...“ Ein Hilfe suchender Unterton erreichte ihre Mutter und die stellte gütig den Korb ab und eilte wie Superman oder Supermama zur Rettung. Chihiros Mutter öffnete den Knoten aus Haaren und brachte Chihiro wieder in einen vorzeigbaren Zustand. „Wieso hast du dich eigentlich an einem Dutt versucht? Du magst doch gar keine Frisuren, die man hoch stecken muss.“ Das Mädchen sah in den Spiegel. Mit ruhigen Gesichtszügen beobachtete sie die Finger ihrer Mutter. „Ihr habt doch gesagt, dass ich mich von meiner besten Seite zeigen soll.“ Es kam nur ein Schmunzeln aus ihrer Mutter, denn diese verkniff sich gerade einen Kommentar über die besten Seiten ihrer Tochter. Obwohl Chihiro ihre Mutter fragen wollte, was diese so amüsant fand, rührte sie keinen Muskel. Doch nach einer Weile erkannte sie ein Unwohlsein im Ausdruck ihrer Augen. „Muss ich da wirklich hin?“ Chihiros Stimme war zaghaft. Ein bisschen ängstlich vor der Antwort ihrer Mutter, die sie schon erahnte. Chihiros Vater war Vorsitzender seiner eigenen Firma. Vor sieben Jahren waren sie von Tokio aus aufs Land gezogen, weil sein Vater einen neuen Job angenommen hatte. Erst konnte sie alles in diesem Dorf nicht leiden. Alles war anders, neu und ungewohnt. Sie konnte sich noch genau an ihre Quängeleien vor dem Umzug erinnern, doch irgendwie lebte sie sich hier auf dem Land unglaublich schnell ein. Sogar ihre Familie gewöhnte sich damals nicht so schnell an das Landleben wie Chihiro. Nur wenige Jahre später übernahm Chihiros Vater die Firma und natürlich freute sie sich für ihren Vater, aber bis heute waren die Nebeneffekte seines Berufes wie mehr Geld, eigentlich egal gewesen. Sie lebte ihr Leben völlig unabhängig vom Job ihres Vater und sie hätte nie gedacht, dass sich das mal ändert. Vor ungefähr einer Woche kam er grinsend nach Hause, erzählte beim gemeinsamen Abendessen von einer Fusion mit einer Firma und dann, als er Chihiro ansah und sagte: „Mein Geschäftspartner hat übrigens einen Sohn in deinem alter“, war auf einmal gar nichts mehr normal in Chihiros Welt. Erst wollte sie einfach nicht, sie hatte geschimpft, gejammert und hatte ihre Zimmertür immer abgeschlossen, wenn er nach Hause kam, doch irgendwie hatte ihr Vater sie doch weich gekocht den Sohn seines Geschäftspartners einmal zu treffen. Sie suchte im Spiegel den Blick ihrer Mutter, doch die konzentrierte sich ganz auf den Dutt, den sie viel ordentlicher zusammen stellte, als Chihiro. „Du erschienst mir ganz aufgeregt...“, sagte sie schließlich. Eigentlich erschien ihre Tochter ihr eher maulig, doch sie wollte sich nicht zwischen Chihiro und ihren Ehemann stellen. „Ich bin nicht aufgeregt“, sagte sie maulig mit extra dick aufgeblähten Backen. „Du hast dich schon den ganzen Tag immer wieder und wieder umgezogen.“ In der Tat lag ein riesiger Haufen Klamotten auf Chihiros Bett. „Ich will nichts an haben, das ihn denken lassen könnte, es wäre ein Date.“ „Fertig!“, rief die zufriedene Hausfrau und zupfte den Dutt ein letztes Mal zurecht. Chihiro besah sich das Kunstwerk, das viel sauberer gemacht war, als ihre eigenen Versuche. Ihre Mutter kehrte zu ihrer ursprünglichen Arbeit zurück und holte die saubere Wäsche aus dem Korb. „Es ist ja auch kein Date. Du bringst Freundinnen mit, er bringt Freunde mit und ihr geht alle zusammen zum Karaoke.“ Chihiro nahm ihr ein paar Sachen ab und legte sie in ihren Schrank. „Was wenn er aber trotzdem denkt es sei ein Date?“ Die ältere Frau stemmte den leeren Korb zwischen Hüfte und Arm und legte Chihiro die andere Hand liebevoll auf die Wange. Der eindringliche Blick ihrer Mutter beruhigte zwar nicht, aber sie erkannte die Geste an. „Du machst dir zu viele Gedanken. Es wird sicher ein lustiger Abend.“ Kaum drehte ihre Mutter ihr den Rücken zu erklang ein missmutiges: „Ja... sicher...lustig...“ Noch bevor Chihiro widersprochen werden konnte, ertönte ein zustimmendes Zwitschern aus der Ecke am Fenster. Beide sahen zu dem rechteckigen Vogelkäfig der dort stand. Darin saß ein Wellensittich, der gerade dabei war sich aufzuplustern und Chihiros Mutter böse anlinste. „Also manchmal...“ Es lief der Hausfrau eiskalt den Rücken herunter. „... glaube ich der Piepmatz meckert mich an, wenn ich dir nicht zustimme..“ Nun kam endlich ein Kichern aus der 17-jährigen. „Genau das tut er auch!“ Chihiro ging zum Käfig, steckte einen Finger durch das Gitter und kraulte den Vogel, der gleich zu ihr heran gerobbt kam. „Und er ist kein Piepmatz. Er heißt nicht grundlos Drache.“ Seit ca. einem Jahr hatte sie diesen Wellensittich. In Chihiros Nachbarschaft lebte bis zu diesem Zeitpunkt eine ältere Dame, die ein ganzes Zimmer voller Wellensittiche hatte. Sie lebte sehr gerne in ihrem Dorf, aber als ihr gesundheitlicher Zustand immer schlechter wurde, war sie gezwungen zu ihrem Sohn in die Stadt zu ziehen. Bedauerlicherweise hatte dieser keinen Platz für die Vögel, also verschenkte sie die Tiere im Dorf. So hatte vor einem Jahr fast jede Familie im Ort Wellensittiche. Chihiro hatte ein... besonderes Exemplar adoptiert. Sie hatte den Sittich gewählt, der ganzen oben auf einer Stange im Zimmer gesessen hatte. Dort wo er das Gewusel der anderen Vögel im Auge hatte. Der Vogel, der eine ganz andere Federzeichnung hatte als die anderen. Eigentlich war er weiß, aber an den Flügeln und am Kopf hatte er blau/grüne Federn, die ein bisschen ab standen. Sie war nicht gut, wenn sie sich Namen ausdenken wollte. Wenn sie im Internet irgendwo einen User Namen brauchte, nahm sie auch immer den selben her. Für das Tier hatte sie einfach den ersten Namen gewählt, der auf der Hand lag. Drache, denn er sah wie ein Drache aus. Ihre Eltern waren da ganz anderer Ansicht. Sie erinnerte der Vogel eher an ein gerupftes Huhn, doch Chihiros Meinung ließ sich nicht mehr umstimmen. Drache war sehr auf seine neue Besitzerin geprägt. Alle glaubten es liege damit zusammen, weil er alleine bei ihr war. Ein furchtbarer Zustand für einen Schwarmvogel … normalerweise. Noch am selben Tag seiner Adoption hatte er einen Spielkameraden bekommen. Einen blauen Wellensittich. Doch bevor sich Chihiro einen Namen für ihn ausdenken konnte, mussten sie ihn schon wieder aus dem Käfig nehmen. Drache attackierte das arme Tier noch in der Minute, als es hinein gesetzt wurde. Chihiro musste ihn an eine Freundin abgeben. Am nächsten Tag versuchten sie es mit einem gelben Weibchen, doch Drache vertrieb auch diesen Artgenossen. Insgesamt kaufte Chihiro noch drei weitere Wellensittiche und alle drei wurden von dem kleinen Biest vertrieben. Da gab Chihiro es auf. „Wenn du bockig sein willst, dann sei bockig!“, hatte sie zu ihm gesagt und seit dem vertrieb sich der Sittich seine Zeit nur mit seiner Besitzerin. Zu ihr war der Vogel handzahm. „Wenn du das Tier mit nimmst würde er wohl jeden anderen von dir fernhalten...“, seufzte ihre Mutter und ging zurück in den Flur. Von draußen hörte man noch ein: „Ich bin froh, dass es nur ein Vogel und kein Hund ist...“ Chihiro zwinkerte ihrem gefiederten Beschützer zu, öffnete den Käfig und Drache flatterte auf ihre Schulter, um gleich weiter von ihr gekrault zu werden. „Ich will da nicht hin....“ Mit dem Vogel auf der Schulter sah sie zu ihrem Spiegel. Drache schmuste sich an ihre Wange und auf ihrem Kopf saß das Kunstwerk ihrer Mutter. Der Dutt war so ordentlich und so vorzeigbar.... Eine Weile verharrte sie vor ihrem Spiegelbild und überlegte hin und her ob sie wirklich vorzeigbar sein wollte. Für wen? Für was denn zum Teufel? Kurz um, setzte sie Drache von ihrer Schulter auf den Käfig hinauf. Von dort aus konnte der Vogel mit schief gelegtem Kopf beobachten wie Chihiro den Dutt wieder aus einander zupfte bis ihre langen, braunen Haare wild, verstruwelt an ihr herunter hingen. „Das ganze Treffen wird unangenehm genug! Da sollte ich mich wenigstens mit meiner Frisur wohlfühlen!“ Manchmal tat sie so, als würde sie mit Drache sprechen, damit sie kein unangenehmes Selbstgespräch führen musste. Ohne in den Spiegel zu sehen kämmte sie ihre Haare wieder glatt und nahm ein Haargummi vom Schreibtisch. Wie jedes andere Mädchen auch hatte sie unendlich viele Haargummis gekauft. Die meisten musste sie nach ein paar Wochen entsorgen oder sie verlor die Dinger. Aber dieses eine... das ging irgendwie nicht kaputt. Sie hatte es seit ihrer Kindheit. Bestimmt seit dem sie elf war... oder doch zehn? Sie wusste nicht mehr woher sie es hatte. Vermutlich hatte es ihre Mutter einmal für sie gekauft, so wie Mütter alles für 10-jährige Töchter kaufen. Aber eigentlich war es ihr egal woher sie es hatte oder wie lange. Sie band sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und nickte ihrem Spielbild zu. „Viel besser!“ In Chihiros Dorf gab es keine Möglichkeit abends viel zu unternehmen. Es gab ein Restaurant und ein Gemeindezentrum. Da die wenigsten Lust auf immer gleiche, ländliche Spezialitäten hatten und noch viel weniger Leute Lust auf Mahjongg mit den örtlichen Senioren hatten, fuhren die Meisten in die nächst größere Stadt. Da es Chihiro ablehnte von ihrem Vater gebracht zu werden, im Moment hatte sie noch nicht einmal Lust mit ihm zu sprechen, fuhr Chihiro mit dem alten, knarzenden Regionalzug, der einmal pro Stunde vom Bahnhof abfuhr und war ca. 40 Minuten später in der Stadt. Es war immer noch nicht Tokio, aber wenigstens konnte man dem dörflichen Alltag ein wenig entkommen. Hier ging Chihiro auch zu Schule und machte ihren Abschluss. Danach würde sie auf die Uni gehen... vermutlich... wenn ihr Vater sie nicht vorher verheiraten würde. Natürlich hatte er das nicht vor. Offiziell zumindest nicht. Die Gruppe aus insgesamt sechs Leuten hatte sich in der Einkaufspassage verabredet. Von dort aus konnte man schnell überall hinkommen. Vorausgesetzt man hatte nicht einen Zug später genommen, so wie Chihiro. Sie war zwar nicht scharf zu dem Dat... der Verabre... dem ungezwungenen Treffen zu gehen, aber trotzdem hasste sie es zu spät zukommen. Chihiro drängte sich in ihrer Eile an unzähligen Leuten vorbei. Heute war es besonders voll. Freitag Abend waren viele Schüler hier. Bald würde die Prüfungsvorbereitung für alle Altersstufen anfangen und davor wollten sie noch einmal den süßen Duft von Spaß inhalieren. Chihiro sah auf ihre Armband Uhr. Eigentlich sollte sie die anderen in weniger als drei Minuten treffen, aber sie brauchte noch ca. 15 Minuten für den Fußweg zur Einkaufspassage. Deshalb versuchte sie eigentlich zu rennen, aber die Menschenmassen bremsten sie aus. Normalerweise hätte sie auch einen anderen Weg genommen. Einen schöneren, an den Schaufenstern vorbei, aber nun nahm sie den Weg den alle nahmen, wenn sie es eilig hatten. Vorbei an den Taxi Stationen, durch das Gewerbegebiet. Als sie an einer Fußgängerbrücke ankam, die ein Ampelsystem ersetzt hatte, war sie schon total außer Atem. Am liebsten hätte sie „Scheiß drauf!“ gesagt und wäre langsam weiter gegangen, aber der Gedanke an ihre zwei Freundinnen, die genervt auf ihre Armbanduhren sahen und den Jungs ein verstohlenes „Eigentlich ist sie pünktlich“ schenkten, spornte sie an weiter zu laufen. Die Stufen auf grauen Beton waren rutschig. Kurz zuvor hatte es geregnet. Die Luft fühlte sich noch an wie gereinigt und der Boden war nass. Durch die noch dunkel grauen Wolken presste sich die Abendsonne. All das wären Indikatoren dafür gewesen, langsamer die Treppe hinunter zu laufen oder zumindest vorsichtiger. Chihiros Atem ging unregelmäßig. Vielleicht sollte sie doch mehr Sport machen? Dann hätte sie jetzt nicht auch so wackelige Knie und wäre bestimmt auch auf dem letzten Treppenabsatz nicht ausgerutscht. Als ihr Fuß über der von Regenwasser benetzten Stufe ins Leere rutschte schien die Zeit kurz langsamer zu verlaufen. Sie sah einen Mann neben ihr die Treppe hoch steigen, dessen Blick sich langsam zu ihr wandte. Seine Augenbrauen hoben sich hinter seiner schmalen Brille verwundert an. Das Geräusch fahrender Autos klang dumpfer als zuvor und die doch eben noch so klare Luft war so dick, dass man sie hätte greifen können. Im nächsten Moment holte die Zeit Chihiro wieder ein. Sie kniff die Augen zu und spürte nur ihren schnellen Fall mit der Erwartung eines harten Aufpralls auf Beton. … Doch dieser kam nicht. Sie fiel und sie landete auch, aber nicht auf Beton. Um sie herum war alles weich, warm und sicher... Dieser erschreckend unerwartete Zustand ließ Chihiro ihre Augen wieder aufreißen. … Ob die Zeit ihr ein weiteres Mal einen Streich spielte, hätte die 17-jährige gerade nicht sagen können. Ihr war, als würde die Zeit gerade still stehen, aber vermutlich bemerkte sie die an ihr vorbei gehenden Menschen einfach nicht. Sie war zu eingenommen von diesen blau-grünen Augen in die sie sah. Ihr Kopf war leer. Für einen Moment hatte sie vergessen, dass sie spät dran war. Freundliche blau-grüne Augen zierten das Gesicht des Mannes der sie aufgefangen hatte. Er musste in Chihiros Alter gewesen sein oder vielleicht ein wenig älter. Eine Strähne seiner glatten Haare schob sich vor seine Augen und holten Chihiro aus ihrer Trance. Ihre Schultern zuckten unter einem scharfem, tiefem Atemzug und sie realisierte, dass sie in den Armen eines Fremden lag, der sie anlächelte, als würden sie sich ein Leben lang kennen. „Hast du dich verletzt?“ Seine Stimme klang so ruhig. Sicher war sein Puls nicht auf 180, so wie ihrer. Ein schüchternes Rot schlich sich auf ihre Wangen und wortlos schüttelte sie den Kopf und sprang aus seinen Armen wieder auf beide Füße. Der junge Mann stand auf. Jetzt hatte das Mädchen einen besseren Blick auf ihn. Er hatte glatte Haare, fast so lang wie die ihren, die auf Schulterhöhe zusammen gebunden waren. Er trug einen weißen Kimono mit grün-blauen Akzenten. Mit diesen Klamotten erinnerte er sie an einen Tempeldiener. Vielleicht war er das ja auch? Die traditionelle Kleidung löste nicht nur bei Chihiro Verwunderung aus. Jeder Passant, der vorbei kam, verdrehte sich den Hals nach dem jungen Mann. „D...danke!“, sagte sie hastig und verbeugte sich schnell nachdem ihr klar geworden war, dass sie viel zu lange gebraucht hatte bis sie sich bei ihm bedankt hatte. Zögerlich verschwand das freundliche Lächeln aus seinem Gesicht und eine unausgesprochene Frage glänzte in seinen Augen. Er sah sie an, als ob sie noch nicht fertig war. Als ob er auf noch etwas warten würde. Sofort fragte sie sich ob sie etwas vergessen hatte zu sagen oder ob sie unhöflich ihm gegenüber war. Fast schon automatisch stotterte sie hervor: „Ich bin Chihiro. Ich hoffe ich...“ Wieder hatte sie sich verbeugt und kaum war ihr Kopf nach unten geneigt, klingelte ihr Handy. Sofort schaltete sie ihr neurotisches Wesen wieder ein und eine Stimme schrie sie innerlich an:“DU KOMMST ZU SPÄT! DU LÄSST DIE ANDEREN WARTEN!!!!“ „Oh ...ich..“ Sie nickte ihm zu und rannte an dem unbekannten vorbei. Nach nur wenigen Schritten drehte sie sich abrupt um und rief ihrem Retter zu: „Ich will nicht unhöflich sein, bin aber unheimlich spät dran. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass sie mich aufgefangen haben!“ Und kaum war das letzte Wort ausgesprochen, rannte sie weiter. Später lachten sie ihre Freundinnen für diesen Satz aus, aber Chihiro hatte den inneren Drang es sagen zu müssen. Ein Teil von ihr war schrecklich altmodisch. Der Fremde sah ihr sogar noch nach, als sie aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Was war hier gerade passiert? In seinen Gedanken stellte er sich Tausend Fragen, auf die er keine einzige Antwort hatte. „Chihiro?“ Ein kindliches Kichern hallte durch die Damentoilette in dem Restaurant am Ende der Einkaufspassage. Vor dem Karaoke waren die sechs Jugendlichen noch zusammen essen gegangen. Vor ca. einer Stunden hatten ihre beiden Freundinnen aufgehört sie ständig, wegen ihrer Verspätung zu nerven. Jetzt taten sie es nur noch ab und zu. Eigentlich war es den beiden Mädchen egal, aber Chihiro schien besonders lustig zu sein, wenn sie sich etwas aufregte. Nun, hier am Waschbecken schien ein anderes Thema favorisiert zu werden. „Es war eine gute Idee vorher essen zu gehen. Hier schmeckt es viel besser, als in der Karaokebox.“ Amis Stimme kämpfte gegen das föhnende Geräusch des Händetrockners an. Ami war in Chihiros Klasse. Ein ruhiges, aber lustiges Mädchen. Chihiro starrte auf das fließende Wasser, welches über ihre Hände lief und ließ die Tischgespräche noch einmal Revue passieren. Die drei Jungs in der Gruppe bestanden zum einem aus ihrem arrangierten „Date“, Takashi. Ein durchschnittlich aussehender junger Mann, mit einem Hang zu schlechten Witzen. Zum Anderem aus Kuranma, der etwas älter war und bereits studierte. Ein stiller junger Mann mit einem gewaltigem Apetit. Eigentlich wäre die Gruppe schon vor 40 Minuten gegangen, wenn Kuranma nicht noch mit Essen beschäftigt wäre. Der letzte der Jungs hieß Lan. Er kam ursprünglich aus China und hatte den selben Humor wie Takashi. Die beiden hatten einen Haufen schlechte Wortspiele, Frauen-gehören-an-den-Herd-Witze und dumme Internetsprüche irgendwo aus der metaphorischen, untersten Schublade gekramt. Was Chihiro Takashi allerdings zu Gute hielt war, dass sein Verhalten ihr gegenüber wirklich keinerlei romantische Anspielungen hatte. Vielleicht hatte er die selbe Einstellung zu diesem Abend wie sie. Ami lehnte sich an Wand gegenüber vom Waschbecken. „Gefällt es dir denn Chihiro? Du bist schon den ganzen Abend so kühl.“ „Nicht den ganzen Abend!“ Chihiro hatte ihre Lippen geöffnet, aber kurz bevor sie etwas sagen konnte, ertönte eine Stimme aus einer Klokabine. Chihiro und Ami sahen beide in die Richtung der Stimme und eine Kabinentür klickte, als diese entriegelt wurde. Heraus trat Chihiros zweite Freundin. Mayu. Sie war eine Klassenstufe unter Chihiro. Mayu war eine ihrer ältesten Freundinnen. Sie war ihre Nachbarin. Laut, schrill, Mode bewusst, große Klappe, aber einer der treuesten Menschen, die Chihiro je getroffen hatten. „Sie ist nur so still, weil Takashi und Lan gesagt haben, dass Hunde die einzigen Tiere sind, die als Haustiere taugen.“ Mayu war an ihren Freundinnen vorbei zum Waschbecken gegangen und besah die beiden Mädchen durch den Spiegel. Ami kicherte. „Bestimmt wäre dein kleines Suppenhuhn über diese Aussage beleidigt gewesen?“ Chihiro sah zwischen ihren beiden Freundinnen hin und her. „Für wie alt haltet ihr mich?“ Sie sah an den beiden vorbei und wurde nachdenklich. In der Tat war sie recht still gewesen. Hatte mehr zugehört, als gesprochen. Vielleicht lag es an der Runde. Vielleicht lag es daran, dass diese Runde eine ehrliche Bemerkung für albern hielten. Oder vielleicht daran, dass Takashi (und Lan auch) nichts mit Sarkasmus anfangen konnten. Oder einfach nur daran, dass die Jungs fast nur über Fernsehen und Filme sprachen und Chihiro damit nichts anfangen konnte. „Daran liegt es nicht...“, versuchte die 17-jährige zu ergänzen, „... irgendwie fühl ich mich nicht richtig wohl.“ Sofort machte Ami ein besorgtes Gesicht, aber noch bevor sie da nach bohren konnte, legte Mayu spielerisch einen Arm um Chihiro und grinste sie frech an. „Oder hast du schon Schmetterlinge im Bauch, Mäuschen?“ Keine Antwort. Chihiro warf ihr einfach nur einen fragenden Blick zu. Nach einer undefinierten Weile kicherte Ami wieder. „Ich hab gar nicht gemerkt, dass er dir auf Anhieb so sympathisch ist.“ Chihiro riss sich von Mayus Arm los und setzte das selbe bockige Gesicht wie bei ihrem Vater auf. „Von wegen!“ Natürlich meinten ihre Freundinnen das nicht ernst, aber trotzdem wollte sie das Gerede abwürgen. „Der Kerl und seine Freunde sind so banal, dass wenn ich wirklich müsste lieber den Mann von der Fußgängerbrücke nehmen würde.“ Die beiden Mädchen sahen Chihiro verwirrt an. „Wen?“ In dem Moment erschrak Chihiro innerlich. Wie war ihr der denn in den Sinn gekommen? Wieso hatte sie diese blau-grünen Augen immer noch im Gedächtnis? Da sie gerade von Mayus und Amis neugierig Blicken gelöchert wurde, streifte sie das Thema schnell wieder ab. „Lasst uns lieber gehen und das Karaoke hinter uns bringen. Die Jungs warten schon!“ Und schon war sie durch die Tür gegangen. Die beiden anderen mussten sich bemühen hinterher zu kommen. „He, Chihiro! Warte doch!“ Die sechs Teenager verließen zusammen das Restaurant und machten sich auf zum Karaoke. Um sie herum setzte langsam, aber sicher, die Dämmerung ein. Der Himmel veränderte seine Farbe bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Genauso wie der Abendhimmel, wachten noch weitere Augen über Chihiro und ihre Freunde. Ein junger Mann im weißem Kimono blickte von dem Dach eines Buchladens hinunter auf die Straße. Gedankenverloren sah er dem Mädchen mit dem langen, braunen Pferdeschwanz nach. Wehmut glitzerte in seinen Augen und seine Lippen pressten sich zu einem Schlitz auf einander. „Sie sieht immer noch aus wie früher...“, krächzte eine raue, weibliche Stimme. Die Hexe Seniba trat an die Dachkante heran und folgte Kohakus Blick. „Die Haare sind länger, die Figur weiblicher, das Gesicht reifer, aber es ist eindeutig die kleine Chihiro.“ In ihrer Weitsicht hatte die alte Hexe voraus gesehen, dass sie dem jungen Drachen Kohaku an dieser Stelle viel Mitgefühl zukommen lassen musste. „Sie hat mich nicht wiedererkannt...“ Senibas von Falten durchzogenes Gesicht bekam einen weichen Audruck. Sie hatten ihn gewarnt. Seniba und Jubaba hatten ihn vor dem menschlichen Herz gewarnt, aber er hatte trotzdem darauf bestanden, dass sie ihn in die Welt der Menschen bringen. Einen anderen Lohn für seine Jahre langen Dienste bei Jubaba wollte er nicht. „Sieben Jahre sind eine lange Zeit für einen Menschen...“, sagte Seniba vorsichtig und Kohaku begann sich an den Vortrag ihrer Schwester zu erinnern, bevor sie aufgebrochen waren. Die alte Jubaba, die sich genau wie ihre Schwester, kein bisschen seit Chihiros Besuch bei ihnen verändert hatte, wippte ungeduldig auf ihren kleinen Füßen hin und her. Lieber hätte sie Haku einen anderen Lohn für seine Dienste gegeben. Und ja... sie nannte ihn immer noch Haku. „Es gibt nichts stureres als ehemalige Götter...“ Ihre Zwillingsschwester warf ihr einen ermahnenden, bösen Blick zu. „Ich dachte sie wüsste wer ich bin, als sie mich ansah, aber dann war ich doch nur ein Fremder für sie.“ In seinem Kopf ratterte ein Rädchen nach dem anderen, um auch nur eine Antwort für diesen Umstand zu finden. „Ich gebe es nur ungern zu, aber damals ist das kleine, dumme Gör über sich hinaus gewachsen. Selbst ich war beeindruckt am Ende ihres... Aufenthalts...“ Jubaba kam vor zu den beiden. Kohaku stand nun zwischen den beiden Hexen und nicht nur zwischen ihnen als Personen, sondern auch zwischen ihren Ratschlägen. Jubaba fuhr fort: „Aber letzten Endes ist auch Chihiro nur ein Mensch mit einem menschlichen Herz. Du verschwendest deine Zeit, Junge. Lass uns wieder in unsere Welt zurück kehren.“ Ein halb genervtes Seufzen entfloh Senibas Lippen. Kohaku zu liebe verkniff sie sich eine bissige Bemerkung. „Unglücklich, aber wahr. Und du weißt wie ich es hasse meiner Schwester Recht zu geben, aber das ist die Natur des menschlichen Herzens.“ Ein tiefes Seufzen durchzog Senibas Atem und sie fuhr fort: „Es ist nicht gedankenlos oder rücksichtslos, aber dafür sehr … schnelllebig. Im Gegensatz zu uns, dürfen Menschen nur eine kurze Zeit unter dem Himmel wandeln. Die Begegnung mit Göttern, Hexen und anderen …. Wesen vergessen sie und wir werden für sie nur zu Träumen und Märchen.“ Kohaku sah immer noch auf die Straße hinunter. Chihiro war schon längst aus seinem Sichtfeld verschwunden, jedoch hatte er sich an dieser Stelle fest gestarrt. War das wirklich alles, was er noch für Chihiro war? Ein Traum? Eine Geschichte? „Ja, ja, so ist das mit den Menschen. Die kleine Sen ist da keine Ausnahme.“ Jubaba kam etwas näher zu Kohaku. „Du verschwendest deine Zeit. Sie hätte in unserer Welt bleiben müssen oder ständig Kontakt zu einem von uns haben müssen, um sich noch an dich zu erinnern. Sieh es als Lehrgeld an und lass uns wieder dahin gehen wo wir hingehören...“ „WAS HAST DU ES SO EILIG?“, fauchte Seniba ihre Zwillingsschwester so laut an, dass sich sogar Kohaku erschrak. „Seit bestimmt hundert Jahren kommst du in die Welt der Menschen, um geschäftliches zu erledigen....“, Seniba warf in ihrer Aufregung die Hände nach oben. Aus Schreck kam sich Jubaba auf einmal kleiner als ihre Schwester vor und vielleicht wurde sie auch wirklich gerade gut 15 cm kleiner. „...Aber nun, kannst du keine Stunde hier sein ohne zu meckern!“ Sofort veränderte sich die Stimme der alten Hexe, als sie sich zu Kohaku drehte. „Chihiro scheint nicht die einzige zu sein, die etwas vergessen hat.“ Ein freundliches Grinsen zog sich über ihre Lippen und um ihre Augen entstanden ein paar mehr Falten. „Als ihr euch getroffen habt wusstest du nichts mehr aus deinem altem Leben, nicht einmal deinen Namen nur, dass es einmal existiert hat. Chihiro wusste, dass ihr euch kennt, nur nicht mehr woher...“ Kohakus Augen weiteten sich. Er wusste bereits worauf die Alte hinaus wollte. Senibas Augen überblickten die Nacht und in dem Weiß funkelten die Lichter der Menschenwelt. Im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester hielt sie sich aus der Menschenwelt und dem Leben der Menschen raus. Um so mehr schlug das Herz der Hexe vor Aufregung so viel Leben auf einmal zu spüren. Sie hatte ihre überwältigte Stimme bisher zurück gehalten, doch nun, als sie über die Stadt und das Gewusel der Menschen blickte und die Freiheit, den Tatendrang des Alltags und das Leben dieser Stadt inhalierte, wurde ihre alte, kratzige Stimme leiser und ein tiefes Grollen entstand in ihrer Kehle. „Was verloren ist, kann immer wieder gefunden werden...“ Ruckartig verrenkte sie ihren Nacken und wandte sich zu Kohaku. In ihren Augen Glitzerte die Zuversicht und die Gewissheit, dass am Ende alles gut werden wird. „WARUM ALSO NACH EINEM KLEINEM RÜCKSCHLAG AUFGEBEN? HA?!“ Wieder streckte sie die Hände zum Himmel und ihr Grinsen war noch breiter geworden. Kohaku rätselte kurz, ob sie sich mit dem Optimismus der Menschen angesteckt hatte oder ob es am Puls der Stadt lag, der die Alte beeinflusste oder ob sie in ihrer magischen Weitsicht eine Vision gehabt hatte oder ob es alles zusammen war. Letztendlich lächelte der junge Drache und wandte sich ganz zu ihr, kniete sich vor sie hin und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Vielen Dank, Großmutter Seniba.“ Ohne ein weiteres Wort stand er auf, ging an der Hexe vorbei, die ihm zufrieden hinterher sah und verschwand vom Dach und aus den Augen der beiden Zwillingsschwestern. Jubaba brauchte kurz um die Szene, die sie gerade gesehen hatte zu verdauen. Sie konnte nur ganz wage nachvollziehen was in Haku vorging. Sie hatte es schon vor Jahren als Gefühlsduselei abgehakt. Sonst war es ihr egal, doch nun bedeutete es, dass sie noch länger in dieser Welt, aus der nur wenig Profit zu holen war, verweilen musste. „Ihr wurdet doch beide zu heiß gebadet...“ Ein böses Funkeln lag in ihren Augen, als sie zu ihrer Schwester hinüber schielte, doch Seniba ließ sich ihre gute Laune heute nicht mehr verderben und winkte diesen Kommentar ganz einfach ab. „Ach, halt den Rand du alte Hexe!“ Chihiros Hände lagen auf ihrem Gesicht. Sie presste ihre Handflächen so fest gegen ihre Haut, dass Ami Angst hätte, sie würden verschmelzen und Chihiro könnte ihre Hände nie wieder runter nehmen. „Ist das peinlich!“, murmelte die Braunhaarire in ihre Handballen. Ami tätschelte ihr die Schulter: „Na, na, na... So schlimm ist es gar nicht. Ich finde es süß.“ „Also ich finde es unheimlich komisch“, grinste Mayu und hielt sich ihr Kichern keines Wegs zurück. Die Gruppe stand an der Rezeption der Karaokebox und wollte ihre Zeche bezahlen. Dabei bot der Anbieter an, sich das selbst Gesungene noch einmal anzuhören. Als der junge Mann hinter der Theke bei ihrem Song auf Play drückte, wäre sie am liebsten im Boden versunken. „Ich kann nicht fassen, dass ich mich so schräg anhöre!“, bejammerte Chihiro ihre Stimme und Mayu fing an zu lachen. Dabei lachte sie nicht über den Gesang ihrer Freundin, sondern über ihr Gehabe. Doch egal was es war, Chihiro schenkte ihr trotzdem ihren bösen Blick. „Jetzt guck nicht so grimmig.“ Mayu sah schon wieder auf die Uhr. So böse konnte Chihiros Blick nicht sein, wenn sie dabei immer ignoriert wurde. „Es ist noch früh. Wollen wir noch etwas unternehmen?“ Mayus helle, wache Augen erleuchteten die Runde. „Also ich muss morgen weiter an meiner Seminararbeit schreiben“, sagte Kuranma mit einem sanften Lächeln, „ich bin raus.“ Leicht enttäuscht sah Mayu, die sich auffällig oft an den Studenten geheftet hatte, zu den anderen. „Ich geh gerne noch mit“, sagte Ami. „Bald geht die Vorbereitungszeit für die Prüfungen los. Dann werde ich kaum von meinem Schreibtisch weg kommen. Geht ihr auch mit?“ „Ja“ „Nein...“ „Echt?“ Lan und Takashi sahen sich gegenseitig fragend an. „Seit wann sagst du denn nein zu so einer Gelegenheit?“ Lan war es gewohnt, dass sein bester Freund immer mit dabei war und man nicht zwei Mal bitten musste. In all den Jahren, in denen er Takashi kannte, musste er noch nie ohne ihn losziehen. „Tja...“, antwortete Takashi mit einem Schultern zucken. „Meine Eltern und ich wollen morgen früh weg fahren. Wenn es zu spät wird, bin ich morgen tot.“ Takashi lachte und Lan ließ sich davon anstecken. Während die Jungs sich noch gegenseitig aufzogen, drehten sich Ami und Mayu zu Chihiro. „Was ist mit dir? Kommst du mit?“ Chihiro strengte sich an nicht automatisch den Kopf zu schütteln. Sie hatte von Anfang an keine Lust auf diesen Abend gehabt und wollte ihn immer noch einfach nur noch beenden. Auf eine Verlängerung konnte sie verzichten. „Ich glaube, ich passe auch.“ Extra für ihre Freundinnen setzte sie ihr unschuldigstes Lächeln auf, was Mayu aber nicht davon abhalten konnte das Gesicht zu verziehen. „Aber ich dachte, wir gehen zusammen nach Hause!“ Man konnte Mayu förmlich ansehen wie es in ihrem Kopf ratterte und selber kurz davor war, ebenfalls nach Hause zu gehen. „Mir ist nicht wohl dabei, dich nachts alleine rum laufen zu lassen...“ Chihiro versuchte so mutig aus zusehen wie es nur ging, damit Mayu sich keine Sorgen machen musste. „Ach was! Für wie alt hälst du mich?“ „Ich mein doch nur, dass...“ Mayu unterbrach sich selbst. Sie stolperte über ihre eigenen Gedanken, als sie Takashis Hand auf Chihiros Schulter erblickte. Auch Chihiro hatte die Worte verschluckt, die sie eben noch sagen wollte. Langsam. Ganz Langsam wanderte ihr Blick zu Takashis weichem, freundlichem Gesicht. „Ich kann dich zum Bahnhof bringen.“ „....“ Schweigend gingen die beiden neben einander her. Der Abschied von ihren Freunden war recht rege gewesen, so dass die plötzliche Stille wie eine drückende Last auf Chihiro lag. In der Ferne der nächtlichen Stadt war schon der hell beleuchtete Bahnhof zu sehen. Eigentlich hatten sie es nicht mehr weit, aber dieses unangenehme Schweigen ließ den Weg ewig erscheinen. Aus den Augenwinkeln heraus musterte sie Takashi. Seine dunklen Augen waren geradeaus gerichtet und beachteten Chihiro gar nicht.Fixierte er den Bahnhof am Ende der Straße? Nein. Der Blick ging ins Leere. Er war tief in seinen Gedanken versunken. Über den Abend hinweg hatte Chihiro die Theorie mehrmals aufgestellt, dass ihm dieses Treffen genauso unangenehm war wie ihr. Doch ein Blick, ein Lächeln oder andere Signale hatten sie diesen Gedanken wieder verwerfen lassen. Sie war sich einfach nicht sicher, was Takashi betraf. Er erschien so unauffällig, dass er für sie schon wieder auffällig wurde. Hätten sich die beiden in der Schule getroffen, dann hätten sie wohl nie ein Wort miteinander gewechselt. Chihiro wäre bei ihren Freunden geblieben, er bei seinen und sie hätten gleichzeitig ihren Abschluss gemacht ohne von der Existenz des anderen zu wissen. Und irgendwie wäre Chihiro diese Form der Beziehung mit Takashi lieber gewesen. Nicht diese in der sie jetzt war. Nicht die, in der ihre Eltern etwas von ihnen erwarteten. Sie hatte sich eindeutig zu lange an ihm fest gestarrt, denn ohne Vorwarnung traf sie sein Blick und sie schreckte zurück. Den Blick starr in ihre Laufrichtung gerichtet, so als ob sie ihm sagen wollte; ich sehe dich gerade nicht an und ich habe dich nicht angesehen. Es war ein Schmunzeln aus Takashis Mundwinkeln zu hören. „Du bist eher der stille Typ, oder?“ Dass er amüsiert klang, konnte ihm Chihiro nicht einmal übel nehmen. Sie selbst dachte kurz über ihr Verhalten nach. War sie der stille Typ? Ihre Eltern würden sicher etwas anderes behaupten. „So im Allgemeinen könnte man das behaupten.“ Eigentlich hatte ihre Stimme einen leichten sarkastischen Unterton, aber dieser wurde von Takashi nicht bemerkt. Das hätte Chihiro ihm gerne übel genommen, ging aber nicht. Dann müsste sie auch ihren Eltern, Mayu, Ami und jedem anderen Menschen auf dieser Welt übel nehmen, dass sie ihren Sarkasmus nicht wahr nahmen. Wieder legte sich ein Schweigen zwischen die beiden. Ihr war es genauso unangenehm wie Takashi und an sich tat es ihr Leid, den Gesprächsball immer wieder fallen zu lassen, aber sie wusste einfach nicht, was sie zu dem Kerl sagen sollte. „Hast du es weit von deiner Station bis nach Hause?“ „So ca. 20 Minuten zu Fuß...“ „Ganz schön weit!“ „Geht schon..“ Wieder Stille. Chihiro sah zu wie ihre Füße eine Steinplatte nach der anderen langsam passierten. „Ich kann noch mit dir mitkommen und dich nach Hause begleiten.“ Chihiro blickte zu ihrem Begleiter auf und zum ersten Mal sah sie heute Abend prüfend in seine dunklen Augen. Erst bemerkte sie gar nicht wie ihre Gedanken abdriffteten. Tat sie ihm Unrecht? Sollte sie einfach lockerer sein? Vermutlich... Innerlich seufzte sie und maulte in sich hinein, dass Takashi so gar nicht ihr Typ war. Sie hatte eigentlich keinen Typ Mann, auf den sie stand. Ganz schön langweilig für eine junge Frau in ihrem Alter, aber wenn sie jemanden wählen müsste, den sie attraktiv fand, dann... „Blau-grün...“, murmelte sie leise, als in ihrem Gedächtnis eine Erinnerung auf blitzte, die nur wenige Stunden alt war. „Wie bitte?“ Nun musterte Takashi auch Chihiro. Obwohl sie heute ein paar Stunden zusammen verbracht hatten, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Da seine Eltern ihn tausend Dinge über das Mädchen fragen würden, wollte er das eigentlich nutzen, um sie besser kennen zu lernen, doch sie war wie ein Eisblock zu ihm. „A..ach nichts...“ Trotz der Nacht die, die beiden umgab, war ein leichtes Rosé auf Chihiros Wangen zu sehen. Ohne, dass er es bemerkte, formten sich Takashis Lippen zu einem zufriedenen Lächeln. Was er nicht ahnen konnte war, dass nicht er es war, der für diese verlegene Rötung verantwortlich war. Chihiros Gedanken waren abgewandert zu diesen blau-grünen Augen von zu vor. Diese schönen Augen, die Takashis Augen wie zwei Kohle Stücke aussehen ließen. Aber da der junge Mann unwissend war, durchschoss ihn jetzt eine Woge der Selbstzufriedenheit und des Selbstbewusstseins. „Ich will ja einen ersten guten Eindruck bei deinen Eltern machen.“ Chihiros Augenbrauen zuckten irritiert. „Wie meinen?“ Er hatte immer noch dieses unbewusste, dümmliche Lächeln im Gesicht. „Na das ist doch wichtig einen guten ersten Eindruck zu machen. Klar, es war ihre Idee, aber das heißt ja noch nicht, dass alles schon unter Dach und Fach ist.“ Die Braunhaarige wusste nicht ganz wie sie das auffassen sollte, aber nun verwarf sie ihre Theorie von eben. Vor ihrem geistigen Auge zog der heutige Abend an ihr vorbei und nun sah sie all diese kleinen Gesten von ihm, die sie als höflich abgestempelt hatte in einem anderen Licht. Die Irritation, die ihr ins Gesicht geschrieben war, verschwand nicht. Die Lichter der Stadt tanzten nun nicht mehr langsam über Chihiros Gesicht, sondern erstarrten, da sie wie angewurzelt stehen blieb. „Was haben dir deine Eltern über heute erzählt?“ Nun hörte Takashi endlich den richtigen Ton aus ihrer Stimme heraus und seine Selbstsicherheit in dieser Sache verkroch sich wieder dahin, wo sie hergekommen war. Ihr Gesichtsausdruck sagte mehr als tausend Worte. Im Gegensatz zu ihm wollte sie nicht hier sein. Im Gegensatz zu ihm war ihr das alles höchst unangenehm und gerade eben hatte er sie überrannt. Ein „Verdammt“, schoss ihm durch den Kopf und auf einmal fühlte sich sein Mund so trocken an. Auf seiner Armbanduhr ging der Sekundenzeiger munter seines Weges, doch Takashi stand wie angewurzelt da während Chihiro ihn anstarrte. Nicht ein Muskel bewegte sich an einem der beiden. Während sie sich fragte, was zur Hölle in seinem Kopf vorging, breitete sich die Leere in seinem Verstand aus und verdrängte jeden guten Einfall den er eventuell noch gehabt haben könnte. … „Ich werde jetzt nach Hause gehen“, sagte Chihiro trocken. Für sie war der Abend beendet. Ihr Begleiter hatte offensichtlich einen Kurzschluss erlitten und ihre Zeit war ihr zu schade, um darauf zu warten, dass er wieder funktionierte. Takashi fühlte sich betreten, als er das Mädchen nur noch von hinten sah. Da hatte ihm sein Vater noch eingetrichtert besonders nett zu ihr zu sein und einen guten ersten Eindruck auf die Tochter seines besten Geschäftspartners zu machen.... und er benahm sich wie ein Klotz. Langsam, aber sicher verschwand Chihiros Antlitz zwischen den Lichtern der Stadt und der Dunkelheit. Takashi stand immer noch so da wie eben und presste die Zähne in seinem Ärger über sich selbst aufeinander. In Gedanken ging er bereits durch, wie er das wieder einrenken könnte. Chihiro war schon fast aus seiner Sichtweite verschwunden noch konnte er hinterher und... „CHIHIRO! Pass auf!“ Nur aus den Augenwinkeln bekam Takashi mit wie jemand an ihm vorbei lief. Nur noch ein Zebrastreifen trennte die 17-jährige von dem Bahnhof. Obwohl noch recht viel los war, war die Straße schön überschaubar. Der Verkehr war hier gut geregelt und im Allgemeinen passierte hier recht wenig... nur manchmal... manchmal passiert an solchen unscheinbaren Plätzen doch etwas. Zwar war Chihiro noch ein wenig abgelenkt und dachte sich bereits aus, wie sie sich bei ihrem Wellensittich über den Abend beschweren sollte, aber dennoch hatte sie die Straße im Blick. Sie hörte von ihrer rechten Seite ein Motorrad, doch als sie den Kopf zur Seite drehte, war die Krawallmaschine auf zwei Rädern schon fast genau vor ihr. Innerlich wurde Chihiro zu einem Reh, das von hellen Scheinwerfern geblendet wurde und erstarrte. Sie hörte nur noch jemanden ihren Namen rufen und keine Sekunde später nahm sie wahr wie sie auf Beton aufschlug und dann... nichts mehr, außer ein dumpfes Rufen. Jemand rief im Dunkeln nach ihr. Nur ihr Name, aber den immer und immer wieder.War das Takashi? Wer sollte es sonst sein? Doch ihre Augen öffneten sich nicht mehr, sondern sie ergab sich dem Nebel, der ihren Kopf auf einmal um gab. Die Geräusche, die Stimme, der Ruf nach ihrem Namen wurde immer dumpfer bis alles verschwunden war. Warum hatte sie sich noch einmal auf dieses Treffen eingelassen? … Ach ja, ihr Vater hatte sie weich gekocht... Erwartete er wirklich, dass sie mit jemanden zusammen war, nur weil das für das Geschäft gut ist? Eigentlich wurde das in Japan nicht mehr gemacht... eigentlich... Wenn Eltern ihre Kinder, aber jemanden vorstellen, sagt auch keiner was... Genauso, wenn sie dir in den Ohren liegen: Eine junge Frau muss doch heiraten oder was sollen die Nachbarn denken? … Der schlimmste Satz bleibt aber: Mein Geschäftspartner hat einen Sohn in deinem Alter... Chihiro murrte leicht, als sich der Nebel wieder lichtete und die Gedanken in ihrem Kopf nach und nach stiller wurden. Hätte sie sich nicht auf dieses Date eingelassen, würde sie jetzt zu Hause sitzen und Musik hören... oder mit ihren Eltern fernsehen... oder noch einmal den Prüfungsstoff durch gehen... Aber auf keinen Fall wäre sie zum Karaoke gegangen. Auf keinen Fall hätte sie zu gelassen, dass sie ein Fremder plump als seine Verlobte ansieht. Als ein Eigentum, das man den letzten Besitzern noch abkaufen muss wie ein Auto, das er vorher mal Probe fährt. Dann wäre sie auch nicht zum Bahnhof geeilt. Sie hätte das Motorrad nicht auf sich zu rasen sehen und nun... … Nun würde sie nicht diese Wärme an ihrer Wange spüren... …. …. Wärme? Langsam kam Chihiro zu sich. Nicht nur an ihrer Wange spürte sie diese Wärme, sondern auch an ihrem Oberkörper. Es fühlte sich an, als würde sie getragen werden. Nach dem sie diesen Gedanken gefasst hatte, konnte sie das leichte auf und ab eines Ganges spüren und kurz darauf hatte sie genug Kraft gesammelt, um ihre Augen zu öffnen. Zuerst erblickte sie nur ein weißes Hemd, dann die Schulter, dann die langen Haare. Sie brauchte über eine Minute um zu realisieren, dass sie gerade Huckepack getragen wurde, aber als diese Information in ihrem Gehirn ankommen, ließ der Schreck sie einmal kurz auf schreien. Es war nicht die freundliche Geste, die sie so erschreckte, sondern viel eher der Umstand, dass sie von einem Unbekannten getragen wurde. Erst hatte sie mit Takashi gerechnet, doch diese langen blau-grünen Haare schlossen ihn aus. Aus einem Reflex heraus stieß sie sich mit beiden Handflächen von zwei Schultern ab. Schon an Chihiros Murren hatte Kohaku geahnt, dass sie nun aufwachte. Dass sie sich so erschrecken würde, hätte er nicht gedacht. Geistes anwesend lockerte sich sein Griff um ihre Beine, als sie sich von ihm ab stieß. So landete Chihiro auf ihren Füßen und nicht auf dem Hintern. Als sich Kohaku umdrehte, blickte er in ein verwirrtes Gesicht. Chihiro sah ihn kurz an, dann sah sie sich hastig um. Auf ihr Gesicht standen Fragen geschrieben wie 'Was soll das?', 'Wie komm ich hier her' oder? 'Wer bist du?'. Gerade als sie an das 'Wo bin ich?', dachte, erblickte sie einen bekannten Ginkobaum auf ihrer rechten Seite. Der Wind strich durch seine Zweige und ließ die Blätter vertraut tanzen. Vom Baum aus, wanderte ihr Blick zu einem Fenster knapp dahinter, in dem eine genauso bekannte Wetterpuppe hing. Ihre Augen weiteten sich. Endlich verließ ihr Blick die Details und konnte das Gesamtbild erkennen. Sie stand vor ihrem Haus. „Ich.. bin zu Hause?“ Ihre Stimme hob sich etwas und machte den Satz zu einer verdatterten Frage. Sofort beruhigte sich ihr Puls wieder und mit einem tiefen Atemzug verschwand auch der letzte Rest des anfänglichen Schrecks. „Du hattest dir den Kopf angestoßen...“ Sie drehte sich zu dem jungen Mann, dessen Körperwärme sie geweckt hatte. Ein freundliches Lächeln entstand auf seinem Gesicht und für einen winzigen Moment hatte Chihiro das Gefühl, vor einem alten Freund zu stehen. „Du warst zwar ohnmächtig aber nicht so schwer verletzt, um ins Krankenhaus zu müssen. Deshalb habe ich dich nach Hause gebracht.“ Für einen Moment meinte Chihiro er würde nur über das Wetter reden, so unspektakulär sagte er das. „Woher... wusstest du wo ich wohne?“ „Weißt du das nicht mehr?“ „Offensichtlich nicht!“ „Bevor du weg gedrifftet bist, hast du mir es noch gesagt. Daher weiß ich es.“ Ach so... Chihiro ertaste die Seite ihres Kopfes und tatsächlich erfühlten ihre zarten Fingerkuppen eine schmerzhafte Stelle. Nun erinnerte sie auch wieder an das Motorrad und daran von diesem Kerl weggestoßen worden zu sein. Jetzt hatte er ihr schon zweimal gehol... Chihiro wurde stocksteif. Ungefähr so als würde ihr jemand eine Pistole ins Kreuz drücken. Sie sah zu dem Unbekannten und ihre Lippen pressten sich schmerzhaft aufeinander. Das war wieder der selbe Typ! Der junge Mann von der Fußgängerbrücke. Der Kerl, der sie aufgefangen hatte. Die Person mit den blau-grünen Augen, die ihr seit dem immer wieder ins Gedächtnis kamen. Wieso war ihr das nicht früher durch den Kopf geschossen? Klar, er hatte jetzt andere Sachen an. Anstatt des großen weißen Kimonos trug er nun ein weißes Hemd und eine dunkel-blaue Hose. Ein eher ungewöhnlich förmliches Auftreten. Als hätte er nur die Krawatte seiner Schuluniform entfernt. Kohaku kannte diesen Gesichtsausdruck. Den hatte sie früher auch gemacht, wenn sie nervös wurde. Er legte den Kopf leicht schief und musterte ihr Gesicht, um vielleicht einen Grund für diese Nervosität zu finden. Könnte es sein, dass sie sich doch wieder an ihn erinnerte. Er zuckte doch leicht zusammen, als sie sich mit Schwung kurz vor ihm verbeugte. „Es tut mir Leid. Ich hab Sie erst nicht erkannt.“ Chihiros Pferdeschwanz war nach vorne gefallen und bedeckte kurz darauf ihre Schultern, als sie sich wieder leicht erhob. „Wir haben uns heute schon einmal an der Brücke getroffen. Ich kann ihnen gar nicht genug danken.“ Ein Atemzug von Kohaku durch fuhr seinen Körper einmal, um seine Enttäuschung zu verdrängen. Dies war nicht die Erinnerung, die er erhofft hatte. „Schon gut. Ich bin froh, dass ich helfen konnte.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. Senibas aufmunternde Worte kamen ihm in den Sinn. „Haben Sie sich große Umstände meinetwegen gemacht?“ „Ehm... nein...“ Wenn sie wüsste welche Umstände er hatte, wieder in diese Welt zukommen, der er vor Jahren abgeschworen hatte. „Ich würde gerne etwas tun, um mich bei Ihnen zu bedanken.“ Erneut legte er mehr Kraft in sein falsches Lächeln, damit ihm Chihiro nicht ansah, wie Niederschmetternd diese Unterhaltung für ihn war. „Da gäbe es etwas.“ Chihiro spitzte die Ohren. „Bitte hör auf mich zu sietzen. Ich fühle mich bei so viel Förmlichkeit unwohl.“ „Oh...“ Chihiros Wangen wurden leicht rot. „Bitte entschuldigen Sie...äh...“ Sie biss sich selbst auf die Zunge. „Bitte entschuldige“, korrigierte sich die Braunhaarire selbst. Sie sah es nicht, aber in diesem Moment wurde Kohakus Lächeln ehrlich. Sie hatte immer noch die selbe Ausstrahlung wie früher. „Noch einmal danke...“, fügte sie leise hinzu. Auch auf ihrem Gesicht entstand ein Lächeln. Nur spiegelte ihres die Verlegenheit wieder, die sie gerade empfand. „Hab ich gern gemacht...“ Kohaku kam ein paar Schritte auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand. Wäre Takashi so auf sie zu gekommen, hätte Chihiro automatisch einen Schritt zurück gemacht, aber nun blieb sie stehen und sah abermals in diese blau-grünen Augen, die eine hypnotisierende Wirkung auf sie hatten. „Ich hoffe wir sehen uns bald wieder, Chihiro.“ Dieser Satz ließ ihr Herz leicht höher schlagen. Es war der gleiche Gedanke, den sie auch hatte, für den sie sich aber schämte. Immerhin kannte sie den Fremden nicht. Wie sollte sie ihren Eltern oder überhaupt jemanden dieses Gefühl erklären, das ihr gerade auf die Brust drückte. Es gehörte wohl zu den Dingen, über die man schwieg. Ein zögerndes, verlegenes Nicken wurde zu der Antwort für den Fremden. Das Letzte, das sie von ihm sah, war ein zufriedenes Lächeln. Danach ging er wortlos an ihr vorbei. Chihiro war noch leicht erstarrt. Wieder fühlte sie sich wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Nur dieses mal war es die Ausstrahlung des jungen Mannes, die sie blendete. Da war irgendetwas. Irgendetwas, das sie übersah. Sie war keines dieser kitschigen Mädchen, die sich jeden Tag aufs neue ihre Luftschlösser bauten.In ihrem Inneren suchte sie einen Grund für das Herzklopfen, das immer wieder gegen ihre Brust pochte. Und warum fühlte sich dieses Herzklopfen nicht neu an? Ein paar Glühwürmchen flogen an Chihiro vorbei und schienen zu verschwinden, als sie in den Lichtkegel der Straßenlaterne eintauchten, die Chihiro beleuchtete. Die 17-jährige wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, als sie aus ihren Gedanken erwachte. Sekunden, Minuten? Ihr schoss eine Frage durch den Kopf, die sie sich ruckartig umdrehen ließ. „Wie ist eigentlich dein....“ Doch da war niemand mehr. Der Unbekannte, der sie bis nach Hause gebracht hatte, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Der Weg führte nur noch in die Dunkelheit. „... Name?“ Chihiro ärgerte sich ein wenig ihn nicht vorher danach gefragt zu haben... oder nach seiner Handynummer. Seufzend lehnte sie sich an die Mauer, die ihr zu Hause vor neugierigen Blicken schützte und ihr Blick wanderte zu den Sternen.Erst jetzt spürte sie, dass es langsam kühl wurde, aber das störte sie nicht. Sie musste den Kopf frei kriegen. Musste dieses Herzklopfen unter Kontrolle bringen. Es ist schwierig zu sagen, wann sie in Haus hinein ging, aber so viel kann gesagt sein. Chihiro dachte an diesen Abend nicht ein einziges Mal an Takashi. Kapitel 2: Wenn wir uns wiedersehen... -------------------------------------- Chihiro hatte lange das Gefühl zu schweben. Sie fühlte sich so wohlig, dass sie sich nicht mal traute die Augen zu öffnen. Deshalb dauerte es auch so lange bis sie bemerkte, dass sie auf warmem Wasser lag. Weit davon entfernt unter zu gehen oder sich unsicher zu fühlen. Auch wenn sie neugierig war wo sie war, öffnete sie die Augen nicht. Dabei zerrten verschiedene Dinge an ihrer Neugier. In der Ferne hörte sie das Pfeifen eines Zuges, aber nicht so ein Zug wie die Regionalbahn mit der sie immer zur Schule fuhr. Eher eine richtig alte Dampflock, die auf ächzenden Gleisen in der Ferne ihre Kreise fuhr. Jedes Mal, wenn sie die Lock hörte, schwabbte eine Welle auf. Ein leichtes Lächeln zog sich über ihr Gesicht, wenn die Welle sie ein Stückchen weiter trieb. Nicht nur Chihiro trieb im Wasser. Überall auf der Wasseroberfläche tanzten ein paar Blütenblätter. Keine Kirschblüten, wie man sie im japanischen Frühjahr überall sah, sondern Blütenblätter von Blumen in verschiedenen Farben. Rosa, Gelb, Blau, sogar ein helles Grün. In der Luft lag der Duft von köstlichem Essen und ab und an dachte sie, den Geruch von Eukalyptus wahr zunehmen. Es war so schön und es hätte so schön bleiben können, doch da halten diese Worte durch ihr Ohr: „Mein Geschäftspartner hat einen Sohn in deinem Alter.“ Sofort riss Chihiro die Augen auf und mit einem Mal kam ihr das Wasser so kalt vor, als würde es gleich zu Eis erstarren. Sie richtete sich auf, als würde sie sich im Bett aufsetzen, wodurch sie natürlich erst mal kurz unterging, bis sie sich mit den Oberarmen über Wasser halten konnte. „Papa?“, rief sie der Stimme hinterher und sah sich um. Noch vor kurzem hatte sie sich einen blauen Himmel vorgestellt und eine Sonne, die ihr warme strahlen schickte. Doch der eben noch so klare Himmel wurde nun von grauen Wolken verdeckte, die immer dunkler zu werden schienen. Auch das Geräusch eines freundlichen Zuges in der Ferne war weg. Oder Schlimmer noch! Es wurde ersetzt. Ersetzt durch ein lautes, schrilles Quieken wie es Schweine auf dem Weg zum Schlachter von sich geben. Chihiro presste ihre Hände auf ihre Ohren, aber sie hörte das Schweinequieken immer noch, als wäre es in ihrem Kopf. „Was soll das?“, murmelte sie, gefolgt von einem leisen flehenden: „Aufhören, aufhören, aufhören.“ Ihre Finger vergruben sich in ihren Haaren, die auf einmal wieder trocken waren. Sie hätte alles dafür gegeben, dass das Quieken verschwindet... aber dann... Verschwand es... Weil Chihiro unter Wasser gezogen wurde. Sie konnte nicht erkennen wer oder was sie zog. Sie konnte sich auch nicht los reißen oder nach oben schwimmen. Das einzige, das aufstieg war die Panik in ihr, weil sie spürte wie ihr die Luft in den Lungen knapp wurde. Verzweifelt zappelte sie und kämpfte gegen das Gefühl des Ertrinkens an. Sie öffnete die Augen, doch es war zu Dunkel um zu erkennen, was sie hinunter zog. Nur Richtung der Wasseroberfläche schien etwas Licht zu ihr zu kommen. Chihiro sah panisch nach oben, um zu erkennen wie weit hinunter sie schon gezogen wurde, doch da sah sie etwas auf sich zu kommen. Etwas das ihr nach tauchte. Sie konnte nicht erkennen was es war. Sicher kein Mensch. Eigentlich konnte sie nicht sagen, ob es ihr zu Hilfe eilte oder sie fressen wollte, aber trotzdem streckte sie ihre Hand danach aus, als wolle sie sich daran fest halten. Gleich war es da. Nur noch ein paar Zentimeter. Gleich war... Chihiros Wecker klingelte und holte sie rüde aus dem Schlaf. Ihre Bettdecke hatte sie sich bis zur Nase gezogen, so dass es ihr beim Aufwachen schwer fiel ihre eigene Tür zu erkennen. Obwohl sie nur eine Sommerdecke hatte, kam ihr die heute monströs dick vor. Umso anstrengender war es auch sich nach diesem Traum zu ihrem Wecker vor zu kämpfen. 08:30 Uhr zeigte das dumme Ding, in seinen rot beleuchteten Buchstaben, an. Für sie selbst war es mindestens eine Stunde zu früh, um diesen Sonntag zu beginnen. Sie drehte sich auf die andere Seite, um die Uhrzeit auszublenden, schloss die Augen und sah wieder das dunkle Wasser vor sich. Genau wie die bedrohlichen Gewitterwolken, vor denen sie sich auch bei Tag fürchtete. Schnell schlug sie die Augen wieder auf, erinnerte sich an die Uhrzeit, rollte sich demonstrativ auf den Bauch, aber auch in dieser Position wanderten ihre Gedanken wieder zu ihrem Alptraum. Genervt drehte sich das Mädchen wieder auf den Rücken und starrte die Decke an. Jetzt traute sie sich schon nicht die Augen nochmal zu schließen. Da konnte sie sich eben sogut aufsetzen und nach ihrem blinkenden Handy greifen, das ihr schon, ohne das sie es bemerkt hatte, seit einer Stunde versucht hatte zu signalisieren, dass sie eine neue Nachricht hatte. Nur die Nachricht gefiel ihr gar nicht: Guten Morgen Chihiro! :D Dein Vater hat meinem Vater deine Nummer gegeben und der mir 0:-) Tut mir Leid wie wir gestern auseinander gegangen sind. ;_; Ich würde das gerne wieder gut machen. Am Dienstag ist doch ein Feiertag. Ich würde dich gerne auf ein Eis einladen. Bitte sag ja! Gruß, Takashi ;) Zunächst wunderte sich Chihiro nur, dass Takashi wie ein Mädchen Emojis setzte. Diese Art des Textens hatte sie ihm, nach dem Abend gestern, nun wirklich nicht zu getraut. Ihm und auch keinem anderen Jungen. Aber das war es nicht was Chihiro verstimmte. Obwohl sie eben noch so müde war, sprang sie nun mit einem Satz aus dem Bett. Vorbei an Draches Vogelkäfig, der noch immer zugedeckt war, und raus aus ihrem Zimmer. „Du hast einfach meine Nummer weiter gegeben?“, rief Chihiro ihren Vater in einem etwas zu schrillen Ton am Morgen, als sie das Wohnzimmer betrat in dem ihre Eltern gerade frühstückten. Chihiros Platz war schon gedeckt. Ihre Mutter deckte immer für sie mit, egal ob sie länger in den Federn blieb oder nicht. Chihiros Mutter war auch diejenige die ihrem Mann einen zweiten vorwurfsvollen Blick zuwarf. Herr Ogino wurde von den Blicken der Frauen in seinem Haushalt durchbohrt. Etwas überfordert sah er zwischen seiner Tochter und seiner Frau hin und her, während der Fisch und die Eier und der Tee langsam kalt wurden. „Mein Geschäftspartner hat mich danach gefragt...“, sagte er kleinlaut und war sich keiner Schuld bewusst. „Dann kann ich ja auch deine Nummer weiter geben, wenn mich ein obdachloser Junkie danach fragt, ja?“, brauste die 17-jährige auf. „Du redest mit Junkies?“, fragte ihre Mutter entsetzt, die erst später verstand, dass Chihiro nur ein wenig übertrieben hatte. Chihiro ignorierte einfach, dass ihre Mutter nicht hinterher kam. „Hättest du mich gefragt, wäre ich dagegen gewesen!“ „Dann ist ja gut, dass ich nicht gefragt hab“, witzelte ihr Vater und begriff langsam was diesen Ausbruch verursacht hat. „Das heißt Takashi hat dir schon geschrieben oder? Uhhhhhh... Was sagt er denn? Hat es ihm gestern gefallen?“ „Ob es IHM gefallen hat? Warum fragst du nicht erstmal ob es MIR gefallen hat???“ „Wie hat es dir denn gefallen?“, fragte ihre Mutter und versuchte mit ihrem Tonfall ein paar positive Schwingungen ins Gespräch zu bringen. „Nicht genug, um mich nochmal mit ihm zu treffen!“ „Jetzt hör mal, ich bin sicher du wirst ihn schon noch...“ Noch bevor Chihiros Vater einen kolossalen Fehler machen konnte, wurde er zu seinem großen Glück von der Türklingel unterbrochen. „Ich geh schon!“, fauchte Chihiro und war gerade einfach nur froh einen Grund zu haben, um hinaus stürmen zu können. „Darüber sprechen wir noch“, flüsterte Frau Ogino ihrem Mann vorwurfsvoll zu. Etwas über motiviert riss Chihiro die Vordertür auf, um kurz darauf in Mayus fröhliches Gesicht zu sehen. „Morgen, Dornröschen“, kommentierte Mayu so die Tatsache, dass Chihiro immer noch ihren Pyjama an hatte. Die beiden Nachbarinnen hatten es sich angewöhnt jeden Sonntag Morgen joggen zu gehen. Chihiro war zwar gerne draußen, aber sie neigte zum Couchpotato. Mayu war, auch wenn sie gerne etwas anderes behauptete nicht besser und um guten Willen zu zeigen entschlossen sie sich einmal den Wanderweg durch den Wald entlang zu joggen. Was als 3,5 km Übung begonnen hatte, war mittlerweile zu einer 7 Kilometer Distanz geworden. „Ja, ja, morgen“, grüßte Chihiro etwas liebloser als sonst und ließ ihre Freundin eintreten. „Alles in Ordnung bei dir? Dir scheint irgendetwas die Petersilie verhagelt zu haben. Hast du schlecht geschlafen?“ „Das auch, aber der kleine Alptraum war mir immer noch lieber, als die Realität.“ Was die 17-jährige nicht wusste war, wie ihre beiden Eltern dem Grummeln ihrer Tochter lauschten. „Was ist denn los? Als dich Takashi gestern zum Bahnhof gebracht hat, war die Welt doch noch in Ordnung.“ „Er hat dich nach Hause gebracht?“, rief das grinsende Gesicht ihres Vaters, der den Kopf aus dem Wohnzimmer streckte. Seufzend hielt sich Chihiro am Treppen Geländer fest, welches hoch zu ihrem Zimmer führte, und entschied, dass es vorerst besser war ihren Vater zu ignorieren. „Warte hier“, sagte sie zu Mayu, „ich zieh mich schnell an.“ Chihiro und Mayu passierten beim Joggen mindestens zwei steinerne Götzen, die alle ca. einen Kilometer auseinander standen, bis sie den gestrigen Tag in ihren Worten erklärt hatte. Das umfasste die Begegnung an der Brücke, Takashis seltsame Erwartungen, das Motorrad und wie sie nach dem Unfall nach Hause gebracht wurde, bis zu der SMS von heute Morgen. „Es ist unfassbar was für spannende Dinge dir immer passieren“, kommentierte Mayu außer Atem, als sie über eine Wurzel sprang die sich über den Waldweg breit machte. Bei Chihiros Haus war der Weg noch betoniert, kurz darauf wurde dieser zu Kies und kurz hinter der Grenze des Waldes war der Natur die Gestaltung des Weges überlassen. „Immer?“, fragte Chihiro sicherheitshalber noch einmal nach, die ihr Leben als beständig, normal, wenn nicht sogar als langweilig beschrieben hätte. „Du erzählst immer die wildesten Geschichten, wenn du Samstag feiern warst und jetzt unterstellst du mir sowas?“ Ein Kichern konnten sich die Mädchen dabei nicht verkneifen. „Verzeihung“, korrigierte sich Mayu scherzhaft, „ich meinte skurril.“ „Viel besser. Noch immer nicht gut, aber besser“, nickte Chihiro und verstellte ihre Stimme damit diese wie eine pedantische Lehrerin an ihrer Schule klang. „Aber jetzt mal ehrlich“, sagte Chihiro und änderte ihr Verhalten wieder in die Ernsthaftigkeit, „Was soll ich davon … Mayu? Alles Ok?“ Sie hatte sich selbst unterbrochen, als ihr Blick auf ihre Freundin fiel. Obwohl die beiden gerade nur noch bergab unterwegs waren, japste die 16-jährige stark nach Luft und ihr Gesicht war ganz rot geworden. „Ja... al...phuuuu... alles ok. Langsam werden mir nur die Waden schwer.“ Rein aus Reflex hätte Chihiro das am liebsten fragend wiederholt, aber das erschien ihr fehl am Platz. „Lass uns da vorne mal eine kleine Pause machen. Ich bekomme auch langsam Seitenstechen.“ Am Ende des Hügels traf der Waldweg wieder auf eine Straße oder besser gesagt, auf eine ehemalige Straße. Dieser Punkt erschien den beiden Mädchen bereits beim ersten Mal Joggen wie der ideale Platz für eine Pause. Die Straße war schon seit Jahren zu gewuchert, da sich kein Auto mehr hier her verirrte. Lediglich ein paar Spaziergänger, Jogger oder Hundebesitzer kamen mit Pfiffi hier entlang. Die Sonne schien nur ganz schwach durch das dichte Grün der Blätter. Der Boden war mit Moos bewachsen. Das Ende des Weges wurde von einer kleinen Steinstatue markiert, die Ähnlichkeit mit einer Kröte hatte. Diese war so sehr mit Moos und flechten bewachsen, dass man die Farbe des Steines darunter nicht mehr genau bestimmen konnte. Jedoch verlieh das Grün der grinsenden Kröte einen gewissen Charme. Hinter dem großen Stein lag ein langer dunkler Tunnel, der nach einer Weile in einer verlassenen Bahnhofshalle endete. Die Anwohner hielten es für ein Bauprojekt, dass noch vor dem 2. Weltkrieg angefangen wurde, aber dann verlassen wurde und nun verwahrloste. Jetzt war der Tunnel sowie, die Bahnhofshalle als der Lieblingsplatz von Junkies und trinkenden Teenagern verschrien. Eltern warnten ihre Kinder bloß nicht durch diesen Tunnel zu gehen. Weder Chihiro, noch Mayu hatten hier jemals verdächtige Gestalten herum lungern sehen. Ihre Neugierde hielt sich trotzdem im Zaum. Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass sie alle drei durch den Tunnel gegangen waren, als sie hier her gezogen waren. Damals hatten auch keine Junkies den Charme des alten Gemäuers verschandelt. Bestimmt nur ein Ammenmärchen. Mayu lehnte mit beiden Unterarmen gebeugt auf dem moosigen Stein. Chihiro warf ihr ein paar Blicke voller Mitleid zu, als ihre Freundin ihre Stirn auf ihre Unterarme legte und nach Luft schnappte. Chihiro war nicht unbedingt der Typ Mädchen, den man als Sportlerin bezeichnen würde, aber dennoch hatte sie sich eine recht gute Ausdauer antrainiert. Ab und zu ging sie auch alleine joggen, wenn ihr danach war. Wenn Mayu mal wieder die sonntägliche Jogginrunde schwänzte ging sie ohne sie laufen. Irgendwie hatte sich ihr Körper ans Laufen gewöhnt. Mayu dagegen nicht. Das letzte Mal war sie vor drei Wochen einmal mitgekommen. „Geht's wieder?“, fragte Chihiro geduldig und hielt ihr eine Wasserflasche an. „Klar!“, verkündete Mayu genervt und machte ihren Rücken wieder gerade, um sich schnell das Wasser zu schnappen. „Ich bin ein Ausbund an Gesundheit. Mein Körper ist ein Tempel!“ Mayu gehörte nicht zu den Menschen die dezenten Sarkasmus verteilten wie Chihiro. Bei ihr fühlten sich die Kommentare immer wie ein Schlag mit einem Zaunpfahl an. Ihre beiden Freundinnen ließen sich davon gerne verschrecken und trauten sich nicht weiter auf dem Thema herum zu reiten. Chihiro selbst nutzte den Moment, den Mayu für sich brauchte und setzte sich auf den Boden. Die große Krötenstein im Rücken, das Gesicht zum Tunnel. Der leichte Wind war Chihiro vorhin schon aufgefallen. Vorhin hatte das laue Lüftchen angenehm die Hitze im Zaum gehalten, doch hier vor dem Tunnel verschaffte ihr der Wind ein unbehagliches Gefühl. Sie zog ihre Beine an die Brust und klammerte sich an ihre Knie. „Als würde er einatmen...“, murmelte Chihiro, was von ihrer Freundin mit einem lauten: „Hä!?“, unterstrichen wurde, da diese gedanklich nicht ganz da war. „Der Tunnel...“, wiederholte Chihiro, „... wenn der Wind dort so durch weht, fühlt es sich an, als würde er einatmen...“ Sie sagte das so leise und geheimnisvoll, dass Mayu eine Gänsehaut bekam, was die 16-jährige aber nie zugeben würde. „Kein Wunder, dass du solche Dinge träumst, wenn dir deine Fantasie sowas einredet, wenn du wach bist.“ Mit einem Grummeln wich Chihiro vor diesem Kommentar zurück. Brütete sie so viele Hirngespinste aus? Sie drehte sich mit halben Oberkörper zu ihrer Freundin. „Irgendwie sind wir vom Thema abgekommen. Was soll ich denn jetzt Takashi machen?“ Mit einem Strecken ließ Mayu ihre Gelenke knacken, was Chihiro eine unangenehme Gänsehaut verursachte. Es gab gewisse Geräusche, die sie sich nicht anhören konnte. Knackende Gelenke gehörte eindeutig dazu. „Du machst dir ganz umsonst Sorgen. Mach doch einfach nichts. Was soll dein Vater schon machen? Dich vor den Altar ziehen?“ Eine Augenbraue wanderte sie nach oben. Eigentlich hatte sie Recht. Das würde ihr Vater nun auch wieder nicht machen, aber bevor seine Kuppelversuche aufhörten, würde er ihr noch lange auf die Nerven gehen. „Außerdem ist Takashi doch nicht so übel!“ Ein genervtes Stöhnen zeigte Mayu, dass Chihiro nicht mit diesem Satz einverstanden war. Einige Sekunde lieferten sich die beiden Mädchen ein bitterliches Blickduell, welches Chihiro eindeutig gewann, weil Mayu dieses finstere Glänzen in ihren Augen nicht mehr stand halten konnte. „Schon gut, schon gut... ich will nichts gesagt haben...“, seufzte Mayu und gab Chihiro die Wasserflasche zurück. Takashis Worte und seine Art und die Smily belastete SMS lagen Chihiro noch in den Knochen. War sie die Einzige, die das seltsam fand? War es falsch sich darüber aufzuregen? Aber alleine die Erinnerung daran entfachte eine Wut tief in ihr, so dass sie am liebsten gegen etwas getreten hätte. „Dann lass uns mal weiter laufen!“, sagte sie und ignorierte Mayus Bitte-nicht-Blick. //Keine Pause für dich!// Mit einem Hops stand Chihiro auf den Beinen, als wäre sie nur knapp 100 Meter gelaufen. Diese Agilität bewunderte Mayu genauso wie sie, sie fürchtete. Ein weiterer Windhauch fuhr durch den Tunnel. Nur stärker. Und irgendwo am Ende der alten Anlage verursachte der Windzug ein dumpfes, leises Grollen. Mayu, die schon genervt weiter joggte, schien dies gar nicht zu bemerken, aber Chihiro hörte es. Es hielt sie davon ab einen Fuß nach vorne zu setzen und ließ sie kurz inne halten. So gruselig war dieses Geräusch. Dabei konnte die 16-jährige fast spüren wie sich ihre Nackenhaare aufstellten und sie eine Gänsehaut bekam. Doch trotz diesem Anflug von Grusel, der ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend bescherte, drehte sie sich noch einmal langsam zum Tunnel um. Ein Teil von ihr hätte erwartet, dass ihr irgendetwas unnatürliches entgegen sprang, aber das geschah natürlich nicht. Nichts war da. Doch zur Vorsicht tasteten ihre Augen den Tunnel erneut ab und dann sah sie doch etwas.... aber das war nicht gruselig oder grausig. Auf dem Boden, fast schon auf der ersten Steinplatte des Tunnels, der sich übrigens nicht verändert hatte, seit dem sie vor wenigen Augenblicken hinein gestarrt hatte, lag Papier. Chihiro war nicht der Typ, der ein besonderes Interesse an Müll hatte wie einige Kleinkinder, die alles aufheben oder untersuchen mussten. Sogar als Kleinkind hatte sie eher Angst fremdes anzufassen. Aber das war so wunderlich, dass sie sich bückte und es aufhob. //Was ist denn das?// Es war etwas schwer zu beschreiben. In ihrer Hand lag nun so etwas wie ein ausgeschnittenes, rudimentäres Männchen, dass beide Arme gerade zur Seite streckte und ein 't' bildete. Mit viel Fantasie hätte es auch ein Vogel im Flug sein können. Zwar hatte es keinen Schnabel aber nach unten lief es spitz zu, wie die Schwanzfedern eines Vogels. „Mhhhh“ Nachdenklich betrachtend drehte sie es ein paar Mal um. Die kleine Papierbastelei hatte sehr viel Ähnlichkeit mit etwas, dass ein Kind im Kindergarten gebastelt hatte. Nur war der nächste Kindergarten am anderen Ende des Dorfes. Wie sich die kleine Bastelei wohl hier her verirrte? „CHIHIRO! Wenn du nicht endlich kommst, lasse ich dich stehen und hole mir ein Eis!“, schrie Mayu ihr zu die schon am Ende des Weges war und nur noch so groß wie ein Stuhl war. Trotzdem erreichte sie das Organ der Frau. Stimme hatte ihre Freundin ja, wenn auch keine die fürs Singen geeignet war, wie das Karaoke gestern bewiesen hatte. Ohne es richtig zu realisieren verstaute sie das Papierchen in der Tasche ihrer Sporthose und sprintete Mayu hinter her. Mit einem 'WUSCH' wehte der Wind rasch ein weiteres Mal durch den Tunnel und kam bei drei Gestalten an, die gestern Abend das letzte Mal auf einem Dach in der Stadt zusammen gestanden hatten. Kohaku stand vor dem Gewölbe, dass zum Tunnel wurde und sah Chihiro Gedanken verloren nach. „Das hat dann auch nicht geklappt...“, murmelte er etwas enttäuscht und mit seinen Augen konnte er tatsächlich bis hin zu Chihiro sehen, die sich kein weiteres Mal zum Tunnel umdrehte. „Ja, solche Dinge brauchen Zeit...“, erwiderte die Hexe Zeniba und lächelte trotzdem. Unzufrieden sah sie nun wirklich nicht aus. Sie saß auf einer der staubigen Bänke in der Abfahrthalle neben ein paar trockenen Blättern, auf einen antiken Gehstock gestützt. Ihre knochigen Finger trommelten fast schon vergnügt auf dem Kopf des Stockes herum. „Jetzt guck doch nicht so finster, Junge“, sagte sie fast amüsiert. „Immerhin hat sie mein kleines Vögelchen doch mitgenommen. Ein Teil von ihr hat sich bereits daran erinnert.“ Kohaku drehte sich zu der Hexe um. „Aber nur ein kleiner Teil“, sein Blick senkte sich erneut, „... ich hatte nur gehofft, sie würde....“ „Sie würde durch den Tunnel rennen und dir mit Freudentränen in den Augen in die Arme fallen!!! Hört sich das einer an! Es gibt wirklich nichts schlimmeres als verliebte Götter!“, unterbrach ihn Jubaba genervt die immer noch seit gestern meckerte, dass sie in ihre eigene Welt zurück kehren wolle. Es war offensichtlich, dass ihr Hakus Verlangen, Chihiro wieder zu sehen völlig egal war. Sie hatte ihm schon gesagt, dass sie vermutlich eines Tages von alleine wieder durch den Tunnel gehen würde, wenn ihre Träume und ihre Dejavus zu viel wurden. Dann könnte sie natürlich alt und grau sein und kurz vor dem eigenen, natürlichen Tod stehen. Bis dahin wollte der junge Drache aber nicht warten. Jubaba saß in ihrer 'Rabengestalt' auf einem der Deckenträger und flatterte aufgeregt mit den Flügeln, als könne sie es nicht warten davon zu fliegen. Bis vor kurzem hatte ihre Schwester noch mit ihr über dieses Thema gestritten und sie ermahnt sich mit ihren bissigen Kommentaren und ihrer schlechten Laune zurück zu halten, doch nun war sie dazu über gegangen ihre Schwester so gut sie konnte zu ignorieren. „Hör nicht auf sie. Wenn es etwas Schönes gibt, dann das Gefühl verliebt zu sein. Das süßeste Leiden der Welt. Die Alte hat nur vergessen wie sich das anfühlt.“ „Was sagst du da?“, wollte Jubaba von ihrem Träger aus wissen, doch keiner antwortete. Ein wenig angestrengt stand Zeniba von ihrer Bank auf. Auch wenn ein Hexenkörper sich etwas länger hielt, so kam sie ,wie Menschen im Hohen Alter, langsam an ihre Grenzen. Kohaku versuchte aufrichtig Jubaba zu ignorieren, wie es ihre Zwillingsschwester es ihm immer riet, aber ein Teil von ihm fragte sich, ob sie nicht doch Recht hatte. Kämpfte er einen aussichtslosen Kampf? Selbst wenn Chihiro sich eines Tages an ihn erinnerte, würde sie sich dann überhaupt freuen ihn zu sehen? Das süßeste Leiden der Welt könnte ihn noch Jahre lang quälen und trotzdem in einem gebrochenen Herzen enden. „Hör mal“, fing Zeniba noch einen Versuch an, Kohaku zu motivieren, „als sie damals den Drachen zum ersten Mal gesehen hat, hat sie sich da an den Fluss erinnert?“ Hakus Blick sah immer noch nicht vom Boden auf. Woher sollte er das denn wissen? Doch Zeniba übernahm das Antworten für ihn: „Vermutlich nicht. Doch irgendwo zwischen eurer ersten Begegnung vor dem Badehaus und dem Moment als sie auf dem Stuhl in meinem Haus saß.... ich weiß noch ganz genau wie die kleine mit schwerem Herzen in der Ecke hing... irgendwo dazwischen... hat sie sich an den Flußgott erinnert, der ihr das Leben gerettet hat.“ Nun huschte doch ein Lächeln auf Hakus Lippen. „Sowas braucht Zeit...“, wiederholte sie, „...und viele kleine Stöße auf den Hinterkopf!“ Mit diesen Worten erhob sie ihren Gehstock und verpasste Kohaku wirklich ein Stöße auf den Hinterkopf. Nicht sehr fest, aber stark genug um ein Pochen unter seiner Kopfhaut zu verursachen. „Au! Schon gut, schon gut!“ Haku wich ihren Schlägen aus und presste eine Hand auf die misshandelte Stelle. Erst jetzt blickte er in Zenibas strenges, wenn auch aufmunterndes Gesicht. Sie verdrehte den Hals etwas und deutete mit einem Zucken auf das Ende des Tunnels. Ohne Worte sagte sie Kohaku, er solle Chihiro noch eine Gedächtnishilfe geben. Mit einem Nicken signalisierte er, dass er es verstanden an und tatsächlich lief er, nach einer kurzen Verbeugung, durch den Tunnel. Er würde Chihiro nicht aufgeben. Selbst wenn es noch 50 Jahre dauern würde, bis sie sich wieder an ihn erinnerte. Er konnte sie nicht aufgeben. Immerhin hatte sie seine Seele gerettet. Seine Gefühle für sie würden nie verblassen, genau wie ihre Tat damals nie Gewicht verlieren würde. Zufrieden blickte Zeniba dem Jungen hinter her. In der Tat war sie gespannt, was als nächstes passierte. Nichts beflügelte so wie junge Liebe, auch wenn es nicht die eigene war. „Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute“, meldete sich Jubaba erneut zu Wort und drückte mit ihrer Stimme aus, dass es ihr immer noch egal war. „Können wir jetzt gegen???“ „Noch nicht...“, sagte Zeniba leise. „Die Geschichte ist noch lange nicht vorbei.“ Chihiro und Mayu hatten mittlerweile den schlimmsten Abschnitt ihrer Joggingstrecke erreicht. Vorbei an Wiesen und Feldern ging es nun nur noch bergauf bis man ihr Dorf erreichte. Mayu rang förmlich nach Luft und kämpfte gegen ihr Seitenstechen. Chihiro lief ein paar Schritte voraus, aber selbst sie spürte, dass ihre Waden schwer wurden. Aber wenn man nichts spüren würde, hätte man es nicht richtig gemacht. Zumindest betonte ihr Vater das immer, wenn er vom Golfen kam und sich danach seine Schulter rieb. Es schien für Mayu fast wie ein Wunder, als Chihiro auf einem kleineren Hügel stehen „Danke, fürs Warten“, sagte sie und versuchte nicht noch unsportlicher zu Wirken, als sie es ohnehin schon tat. Auch wenn Chihiro noch nie schlecht über sie gesprochen hatte, versuchte sie zu verbergen, wie heftig ihr das Laufen nach drei Wochen Pause zusetzte. Sie stützte ihre Hände auf ihre schmerzenden Oberschenkel. Morgen um diese Zeit würde sie einen Muskelkater haben, der sie hämisch daran erinnern würde, wie sehr ihr Körper nicht hier für gemacht war. Doch als Mayu bemerkte, dass Chihiro auch nach längerer Pause nicht antwortete, blicke sie zu ihr auf und ihr eigener körperlicher Zustand wurde zweitrangig. „Chihiro? Was siehst du dir da an?“ Sie folgte dem Blick ihrer Freundin, die den Hügel hinunter auf die Wiesen vor sich sah. Etwas weiter unten, eigentlich nur wenige Meter weit weg, stand jemand. Ein Mann mit langen, blau-grünen Haaren und einem weißen Kimono mit ähnlich farbigen Akzenten. Für Mayu war der Anblick von so traditioneller Kleidung selbst in dieser Gegend eher befremdlich, aber für Chihiro war dieser Kimono sehr vertraut. „Das ist er ...“, murmelte Chihiro und sah wie hypnotisiert zu dem Mann herunter, der in die Ferne zu schauen schien. „Wer? Was?“ Auf einmal wurde Mayu extrem neugierig. Der Ton in Chihiros Stimme baute eine enorme Spannung auf. „Das ist der Mann, der mich gestern auf der Brücke aufgefangen hat und der mich vor dem Motorrad Raser gerettet hat und der mich nach Hause getragen hat.“ Jetzt besah sich Mayu den Mann ein weiteres Mal und bedauerte, nur seine Rückseite zu sehen und nicht sein Gesicht. Zu gern hätte sie gewusst wie der Kerl aussieht, der sich auf so geheimnisvolle Art in das Leben ihrer besten Freundin geschlichen hat. „Was glaubst du warum er einen Kimono trägt? Arbeitet er im Tempel?“ „Kann schon sein“, murmelte Chihiro und sah immer noch gebannt zu ihm hinunter. Mayu schien ihr bereits sehr weit weg zu sein, obwohl sie direkt neben ihr stand. „Ich sollte zu ihm gehen und mich noch einmal richtig bedanken.“ Erst wollte Mayu nicken, doch je länger sie über die Situation nachdachte, desto mehr verzog sich ihr Gesicht in die Skepsis. „Oder wir gehen einfach weiter...“ Jetzt sah Chihiro sie doch an und ihr Blick war überrascht und empört zu gleich. „Aber schulde ich ihm das nicht wenigstens? Immerhin hat er mir gestern in der Stadt so sehr geholfen!“ „Jahaa!“ Mayu hielt Chihiro mahnend ihren Zeigefinger vors Gesicht und sah sie streng an. „In der Stadt! Und jetzt steht der Typ auf einmal hier! Kommt dir das nicht seltsam vor?“ „Vielleicht wohnt er hier?“, meinte Chihiro zögerlich und hob eine Augenbraue an. „So ein Quatsch! Hier kennt jeder jeden! Du könntest doch alle Einwohner innerhalb von 5 Minuten auswendig aufzählen. Und wenn er neu hier her gezogen wäre, würde bereits das ganze Dorf über den neuen in den seltsamen Klamotten tratschen!“ „Pschhht! Er kann dich sicher hören!“, versuchte Chihiro Mayu dazu zubringen ihre Stimme zu senken. Das funktionierte aber eher schlecht, als recht. „Was wenn der Typ ein Stalker ist, der dich schon wochenlang beobachtet und nur darauf wartet seine perversen Gelüste ein einer hübschen, schüchternen Brünetten auszulassen???“ Dabei packte Mayu Chihiro an beiden Armen und starrte sie durch dringend an. In dieser Vermutung lag tatsächlich aufrichtige Sorge, aber trotzdem konnte Chihiro sie nicht vollständig ernst nehmen. „Dann hätte er seine Gelüste, doch wohl gestern an der bewusstlosen Brünetten ausgelassen“, flüsterte Chihiro gedrückt und etwas mahnend. Aber von der Seite hatte Chihiro ihren Retter noch nicht gesehen. Sie regte sich über Takashi... den normalen Schüler, Bekannter der Familie, auf, aber diese seltsame Begegnung nahm sie einfach so hin? Sonst war doch Chihiro nicht so leicht einzulullen. Wieso fiel ihr es so leicht an diesen Fremden zu denken ohne einen negativen Gedanken zu folgen? Die 17-jährige sah zwischen Mayu und den Mann hin und her und überlegte an wen sie sich jetzt wenden sollte. Aber genau wie ihr Blick bei dem Unbekannten hängen blieb, so klebten auch wieder ihre Gedanken bei ihm. „Ich werde kurz zu ihm gehen. Du kannst ja hier warten oder vorgehen.“ „Bist du irre? Soll ich nach Hause gehen, während dich dein Stalker verschleppt?“ „ Er ist nicht mein Stalker“, erwiderte Chihiro nüchtern, „Ich hätte nur gerne etwas Privatsphäre.“ Da verließ sie auch schon den Weg und ging mit festen Schritten den Hügel hinunter, während Mayu fast schon beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte. „Oh... Privatsphäre...“, murmelte sie beleidigt und erstaunt, aber sie blieb mit ihren Füßen an Ort und Stelle stehen, wo sie den vermeintlich Perversen immer im Blick hatte. „Ehm... Entschuldigung?“, erklang eine zarte, schüchterne und zugleich schöne Stimme hinter Kohaku und er drehte sich um. Hinter ihm stand Chihrio, die gerade den Hügel hinunter kam. Mayu die weiter oben am Weg stand bemerkte er gar nicht, so froh war er, dass sie auf ihn zukam. „Ich wollte Sie nicht stören... Ich wollte mich nur bedanken, dass sie mir gestern geholfen haben.“ Der Mann, der ihr immer noch fremd war, sah sie mit zwei gütigen Augen einfach nur an ohne etwas zu erwidern. Sie hatte ihn gerade etwas zu sehr überrascht. Doch als keine Antwort kam, wurde ihr etwas unbehaglich. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Fast schon mit einem kleinen Zucken fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte sich bei der Entschuldigung leicht zu verneigen und holte das sofort, wenn auch etwas verspätet nach. Doch nun schmunzelte Kohaku über so viel Förmlichkeit. Es gab wohl Dinge die sich nie änderten, selbst wenn man erwachsen wurde. „Du brauchst dich nicht dafür zu bedanken. Das hätte wirklich jeder getan.“ Nun da sie hörte, dass er nicht verärgert war, sah sie wieder auf und war gleich viel entspannter. „Ich finde schon, dass ich mich bedanken sollte. Immerhin wäre ich ohne ihre Hilfe gestern im Krankenhaus gelandet.... und das zwei Mal!“ Außerdem hatte sich nicht jeder verrenkt, um sie zu fangen oder sie aus dem Weg zu stoßen. Nur er hatte das. „Geht es dir denn heute besser? Du bist gestern ganz schön unsanft auf den Beton geknallt“, versuchte er mit einem freundlichen Lächeln das Thema von der Bedankerei zu wechseln. Chihiro ertastete mit den ihren zarten Fingern, die Seite ihres Kopfes. Die Beule war immer noch da. Sie war immer noch warm und sie tat immer noch weh. Jedoch, zumindest hatte sie aufgehört zu pochen. „Es geht mir gut. Ich bin robuster als ich aussehe.“ Nun lächelte sie ihn ebenfalls, wenn auch um ihre Unsicherheit zu verbergen. Die meisten Leute würden sie nie für robust halten, egal wie sehr sie dies beteuerte. Dafür sah sie viel zu sensibel und zerbrechlich aus. Doch Haku wusste, was sie und wem sie stand halten konnte. „Ich würde mich gerne erkenntlich zeigen, dass sie mich nach Hause gebracht haben!“, fing Chihiro wieder an sich zu bedanken. Sie konnte es nicht lassen. „Meine Freundin und ich wollen gleich noch ein Eis essen gehen. Wollen Sie vielleicht mitkommen? Ich würde sie gerne einladen.“ Im nach hinein wirkte es sehr infantil auf Chihiro ihren Retter zu einem Eis einzuladen, aber in dem Moment fiel ihr nichts besseres ein. Sie schob diesen einfach, auf den Schlag auf den Kopf, den sie gestern beim Fallen erhalten hatte. Haku sah zu Mayu hinauf. Das Mädchen stand immer noch mit verschränkten Armen da und warf ihm einen Blick zu, den er sich nicht erklären konnte. „Das ist ein liebes Angebot“, sagte er und sein Blick wanderte zurück zu Chihiro, „... aber ich fürchte, dass ich noch etwas zu tun habe.“ In Wahrheit hätte er gerne Zeit mit Chihiro verbracht, aber er brauchte eine Chance sie daran zu erinnern, was geschehen war, nach dem sie vor sieben Jahren den Tunnel durchquert hatte und mit der düster blickenden Freundin, wäre das wohl nicht möglich gewesen. „Oh... verstehe... Sie müssen zur Arbeit oder?“ Leicht verwirrt blickte Kohaku in Chihiros enttäuschtes Gesicht und versuchte einen Moment nachzuvollziehen wie sie auf diese Idee kam. Er wusste ja nicht, dass sie glaubte, er arbeitete wegen seiner Kleidung in einem Tempel. Doch um kein noch verwirrenderes Gespräch zu führen nickte er einfach. „Aber... ich würde gerne...“ Der Wind erhob sich etwas. Chihiros Pony und ihr Pferdeschwanz wurden etwas durcheinander geweht, genau wie seine Haare, aber zusätzlich erklang ein flatterndes Geräusch, das bei zunehmenden Wind immer aufdringlicher wurde und Kohaku dazu brachte sich selbst zu unterbrechen. Nach einem kurzen Austausch irritierter Blicke, sahen beide auf Chihiros Hosentasche, wo noch ein Stück von Zenibas Papiervogel heraus schaute und hastig im Wind hin und her geworfen wurde. „Oh, Verzeihung...“, murmelte Chihiro und nahm das Papierchen aus ihrer Hosentasche, um zu zeigen, was das Geräusch verursacht hatte. Kohaku sah die bekannte Bastelei an und ein Lächeln zeigte, dass er ihm die Papierschnitte nicht mehr übel nahm, die er vor Jahren kassiert hatte. „Sieht aus als wolle er davon fliegen...“, sagte er und Chihiro sah ihn fasziniert an. Eigentlich hatte sie erwartet, er würde so nüchtern wie Mayu regieren, als sie ihr gesagt hatte, der Tunnel würde einatmen. Ein Kichern entkam ihr. „Ja sieht fast so aus, oder?“ Kurz... oder lang? Chihiro wusste nicht wie lange sie sich in die Augen gesehen haben. Aber sie wusste, dass ihr heftiger, aber langsamer Herzschlag ihr fast schon schmerzt. Was überkam sie da nur? Und warum konnte man sich so schnell in seinem Blick verlieren? Sie hatte fast schon das Gefühl, diesem Blick schon einmal ausgesetzt gewesen zu sein, aber nicht gestern. „Vielleicht solltest du es fliegen lassen?“, meinte Haku ruhig und Chihiro sah auf die Bastelei. Irgendetwas hinderte sie daran den Papierschnitt einfach los zu lassen. Der Gedanke an Umweltverschmutzung kam ihr hier nicht in den Sinn, aber erklären konnte sie es nicht. Warum hatte sie dieses... Ding überhaupt aufgehoben und in ihre Tasche gesteckt? Warum? Sie konnte es sich nicht erklären, aber es gab einen Grund. Man konnte es mit einem Buch vergleichen, dass ganz weit entfernt stand. Man konnte den Titel nicht lesen. Dafür war es zu weit weg, aber man konnte auch nicht aufstehen. Das ging aus irgendwelchen Gründen nicht. Aber man musste wissen was auf dem Buch stand. Den Titel. Der Titel, der dir bereits erklärte warum, man sich so verhielt. Der Grund, warum man nicht aufstehen konnte. Chihiros Finger verkrampften sich. Sie wollte nicht los lassen. Selbst ihre Lippen pressten sich aufeinander und der Strich, den sie gebildet hatte, zitterte fast. Doch all diese Anspannung... all dieser Druck den sie spürte, weil sie nicht aufstehen konnte, um den metaphorischen Titel zu lesen, fiel von ihr ab, als sie seine Hand an ihrer spürte. Ihre Augen weiteten sich langsam, sie zog rasch Luft ein, weil sie fast schon Angst hatte zu ersticken, aber sie sagte kein Wort. Weder sie noch er. Seine Hand legte sich um ihre und er konnte ganz genau die Verkrampfung spüren. Ihre Finger, die pressten sich in das Papier und zerknitterten es. Ein zitterndes Geräusch wurde mit dem Wind zu Chihiro getragen. Als würde der Papiervogel unter ihrem Griff leiden. Doch seine Wärme, seine Berührung brachte Chihiro sich dazu sich zu entspannen. Es brauchte keine Worte um das zu erklären. Langsam lösten sich ihre Finger... dabei schmiegten sie sich fast an seine. Nie hätte sie geglaubt, dass es leicht sein würde, los zulassen. Aber es tat so gut ihre Hand an diese Wärme zu schmiegen. Es war die selbe Wärme, wie gestern, als er sie nach Hause getragen hatte und sie auf seinem Rücken aufgewacht war. Es war seine Wärme, die sie entspannte und sie fast schon magisch anzog. Der nachlassende Druck, ließ die Bastelei wieder aufgeregt im Wind flattern. Fast so als würde sie sich befreien wollen. Und als sich Chihiros Hand vollständig an Hakus geschmiegt hatte, gelang ihr die Flucht. Mit einem schnellen Satz wurde der Papiervogel vom Wind mitgerissen und davon getragen. Chihiro und Haku standen voreinander und sahen nach oben... dem Papier hinterher. Fasziniert sah Chihiro wie die Bastelei wie ein richtiger Vogel Loopings im Wind drehte. Fast wie ein echter Vogel... Chihiro lag auf ihrem Bett. Immer noch in ihren Jogging Klamotten lag sie auf dem Rücken und starrte an die Decke. Ihr Wellensittich, Drache, flog ähnlich wie die Bastelei, in ihrem Zimmer seine Runden und gebannt und gedankenverloren sah sie ihm zu. Die Wärme seiner Hand war schon längst verflogen, aber sie dachte immer noch dran. Ihr ging diese Begegnung nicht aus dem Kopf. Mayu hatte auf dem Rückweg und beim Eisessen noch ewig darüber referiert wie seltsam sie ihn fand. Chihiro hatte sich immer wieder gefragt, warum sie keine Skepsis an den Tag legte. „Er rennt dir sicher hinter her“, hatte sie gesagt. Das könnte man annehmen. Schon das sie sich in der Stadt zwei Mal begegnet waren, war ungewöhnlich bei so vielen Menschen, die sich Tag für Tag aneinander vorbei drängten. “Du solltest dich nicht mit ihm treffen“, hatte sie gesagt. Mayu malte sich echte Horror Storys aus. Solche wo Chihiro verschwand, Suchtrupps Wälder nach ihr durch kämmten und ihre Leiche dann irgendwo an der Straße gefunden würde. Eigentlich war Chihiro sehr wohl der Typ, der solche Warnungen ernst nahm. Sie gehörte ja auch zu den Menschen, die sich alles gleich bildlich ausmalen mussten. Aber hier schien sie unvorsichtig. Irgendwas sagte ihr, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Wenn sie doch nur wüsste, was dieses 'Irgendetwas' war... Drache holte sie aus ihren Gedanken, als er auf ihrem Knie landete. Der Vogel zirpte ein wenig vor sich hin, als würde er ihr etwas erzählen und Chihiro, sah ihn an, als würde sie ihm aufmerksam zu hören. Dabei schweiften ihre Gedanken kreuz und quer über Dinge, Personen und Träume, die sie nicht verstand. „Ach“, seufzte sie nach einer Weile und fiel dem Wellensittich 'ins Wort', „... ich wünschte du könntest mir sagen, was ich jetzt machen soll. Mayu konnte mir auch nicht weiter helfen. Sie würde sich einfach mit Takashi treffen. Und Papa geht mir schon den ganzen Tag auf die Nerven... Er findet die Idee mich zu verkuppeln immer noch toll, ganz egal wie sehr oder wie laut ich mich beschwere...“ Mit einem Finger kraulte sie sein weißes Gefieder und sie nahm zufrieden zur Kenntnis wie sich der Vogel an ihre Hand drückte, damit sie ja nicht aufhörte ihn zu kraulen. „Vielleicht heirate ich einfach dich? Ist doch eine gute Idee.“ Der Wellensittich machte ein paar heitere Vogelgeräusche und schien damit Chihiros amüsiertem Schmunzeln zu zustimmen. Von seiner Warte aus, hätte ihn seine Besitzerin ewig so streicheln können, aber nur wenige Momente später hörte sie einfach auf. Wie konnte sie nur??? Chihiro beschäftigte sich wieder mit ihrem Handy. Wieder und wieder las sie Takashis SMS... Guten Morgen Chihiro! :D Dein Vater hat meinem Vater deine Nummer gegeben und der mir 0:-) Tut mir Leid wie wir gestern auseinander gegangen sind. ;_; Ich würde das gerne wieder gut machen. Am Dienstag ist doch ein Feiertag. Ich würde dich gerne auf ein Eis einladen. Bitte sag ja! Gruß, Takashi ;) Und wieder und wieder gingen ihr die Sticheleien ihres Vaters durch den Kopf. An sich war es doch vollkommen egal, was sie tat. Er würde sie noch eine ganze Weile nerven, egal ob sie sich mit ihm traf oder nicht. Der Unterschied wäre nur, dass er wesentlich schnippischer wäre, wenn sie sich weigern würde ihn wieder zu sehen. Immer noch unschlüssig, was sie tun sollte, hielt sie Drache ihr Handy hin, als solle er den Text lesen. „Was sollte ich ihm darauf denn schon antworten?“, fragte sie, als würde sie mit einem Menschen reden. Mittlerweile machte sie sich gar keine Gedanken mehr, ob dieses Verhalten normal war oder nicht. Es machte ihr einfach Spaß sich mit dem Vogel zu unterhalten. Manchmal passten die 'Antworten', die er gab auch wie die Faust aufs Auge. Genauso wie jetzt. Kurz nach dem er das Handy vor den Schnabel gesetzt bekam, hinterließ er einen kleinen Wellensittich Kackhaufen auf Chihiros Knie und flog wieder zu seiner Sitzstange. Chihiro besah sich den Haufen, der wie bei allen Wellensittichen weder stank und in kurzer Zeit so trocken wurde, dass man ihn einfach entsorgen konnte. „Vielleicht sollte ich ihm das zurück schicken? Den kleinen Kacke Emoji... Sie las die Nachricht erneut und machte sich schon bereit den Emoji zu verschicken, doch dann entschied sie sich doch um. Sie sah zu Drache, der seine Federn putzte. „Schon lustig... Dein Federkleid, sieht fast so aus wie sein Kimono...“, stellte Chihiro amüsiert fest und wieder war sie gedanklich bei ihrem Retter. Sie würde davon auch nicht mehr wegkommen. Seine Worte von heute Vormittag hallten immer noch in ihren Ohren wieder. Nach einer Weile war die Bastelei nicht mehr zu sehen und Chihiros Blick senkte sich wieder, genau wie seiner. Fast gleichzeitig sahen sie wieder in die Augen und Chihiro kam ein freundliches Lächeln entgegen. „Jetzt ist er weg“, kommentierte Chihiro nur, weil sie nicht wusste was sie sagen sollte und es ihr zu peinlich war nichts zu sagen. „Vielleicht kommt er ja wieder.“ Sein Lächeln hielt immer noch an. Machte er sich lustig über sie? Oder hatte dieses Lächeln etwas anderes zu bedeuten? „So wie du?“, fragte sie und war von der Situation so benommen, dass sie das förmliche Sie weg ließ. „Vielleicht genauso.“ Wie schaffte er es nur so etwas Undurchschaubares zu sagen und trotzdem so unbeirrt zu gucken? „Wie meinst du...“ „Vielleicht sehen wir uns ja erst wieder, wenn der Papiervogel zu dir zurück fliegt.“ Chihiro war so verdattert, dass sie ihn nicht fragte was das sollte. So verblüfft, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. So irritiert, dass sie einfach nur leicht nickte. So eingenommen von diesen Worten und seiner Stimme, dass sie wieder vergaß ihn nach seinem Namen zu fragen, bevor er ging.... Zwei Tage später konnte sie es selber nicht fassen. Sie konnte sich nicht fassen. Ihre Finger umkrallten eine Haltestange im Zug, der gerade in den Bahnhof einfuhr. Nach langem Hin und Her, hatte sie Takashi doch zurück geschrieben, dass sie sich noch einmal mit ihm treffen würde. Als ihr Vater ihr vorhin helfen wollte, ihr Outfit für heute raus zu suchen, bereute sie diese Entscheidung um so mehr. Aus ihrem Zimmer hatte sie ihn geschmissen und sich dann alleine für ein Outfit entschieden. Nichts zu süßes und nichts, das sie zu attraktiv wirken lassen könnte. Ein Rock, der genauso lang war, wie der Rock an ihrer Schuluniform und eine rote Bluse ohne Ärmel, aber mit einer abstrakten Stickerei auf den Schultern. Wie beim Treffen zum Karaoke war sie spät dran, aber im Gegensatz dazu, spürte sie nicht den Drang sich zu beeilen. Als sie aus dem Zug stieg und die Bahnhofstreppe hinunter ging, ließ sie sich extra Zeit. Ihre Schritte waren auch viel langsamer als ihr normaler Gang. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie Takashi extra warten lassen wollte oder hoffte ihn mit Unhöflichkeit zu vergraulen... Viel mehr lag es einfach daran, dass ihr jegliche Motivation für dieses Date fehlte. Es war ihr einfach egal. Und nichts hätte ihr einen Anreiz geben können, mit Freude bei der Sache zu sein. Dieses Mal hatten sie sich nicht in der Fußgängerzone verabredet, sondern auf dem Bahnhofsplatz vor dem großen Brunnen. Ein beliebter Treffpunkt vor allem für Paare. Als sie den großen Platz betrat, konnte sie Takashis Umrisse schon von Weitem erkennen. Er war bereits dort, saß auf dem steinernen Rand des Brunnens und hörte mit übergroßen Kopfhörern Musik. Er war so vertieft, dass er Chihiro gar nicht kommen sah, aber das war ihr nur Recht... Sie blieb auch kurz stehen und sah zu ihm herüber. Ein Teil von ihr dachte, dass das die letzte Gelegenheit war, alles abzublasen und einfach zu gehen. Einfach umdrehen und nach Hause fahren. Einfach ihrem Vater sagen, dass sie keine Lust hatte dieses dumme Spiel mitzuspieln. Einfach ihre Zimmertür abschließen und erst wieder heraus kommen, wenn er sich beruhigt hatte. Doch dann sagte sie sich nur auf, wie unhöflich dieses Verhalten wäre. Und gerade als sie weiter gehen wollte, um ihr Date zu begrüßen, flogen ihr ein paar Tauben vor die Füße, die sie zum stehen brachten. Der Wind hatte ein paar essbare Krümel über den Boden geweht, auf die sich die Vögel stürzten. Als andere Tauben spitz bekamen, dass es auf diesen Steinplatten noch etwas zu holen gab, sammelten sich dort noch mehr unter lautem Gurren. Und normalerweise wäre Chihiro jetzt einfach weiter gegangen. Vielleicht gerade aus, vielleicht um die Tauben herum, damit sie weiter ihre Nahrung aufpicken konnten. Aber jetzt blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie starrte auf die Tauben und auf das, was mit der letzten Windböe zwischen ihnen gelandet an. … Da war sie... … ...die Bastelei... Chihiros geweitete Augen wagten es nicht ihren Blick woanders hinzuleiten. So etwas hatte sie noch nie erlebt... Natürlich kam ihr in den Sinn, dass das kein Zufall sein konnte. Warme Aufregung machte sich in ihrer Magengegend breit und ihr sie hörte erneut seine Stimme, die sie nicht aus dem Gedächtnis bekam. „Vielleicht sehen wir uns ja erst wieder, wenn der Papiervogel zu dir zurück fliegt.“ Für das Folgende hätte Mayu und jeder andere normal denkende Mensch sicher für verrückt erklärt. Allerdings wollte sie gerade nichts mit Vernunft zu tun haben. Sie folgte einfach ihrem ersten Impuls und tat was ihr Bauchgefühl für richtig hielt. Mit einem Satz hechtete sie nach vorne, schnappte sich unter Stolpern die Bastelei und scheuchte dabei ein paar Vögel auf. Dabei schaffte sie noch ein: „Entschuldigung“, zu haspeln, das an die Tauben gerichtet war und dann rannte sie los. Natürlich nicht gerade über den Platz, damit sie an Takashi vorbei rannte, sondern zur Seite weg, um eine peinliche Begegnung mit ihm zu vermeiden. Nie hätte sie erklären können, was sie da gerade tat. Sie verstand sich ja selbst nicht, aber irgendwas in ihr, sagte sie müsste jetzt los rennen. Es ging um den metaphorischen Buchtitel. Sie hatte es tatsächlich geschafft auf ihn zu zugehen. Sie wollte jetzt unbedingt 'lesen' was auf diesem dummen Buch stand. Sie wollte wissen warum sie sich so verhielt, wie sie es jetzt gerade tat. Aber dafür musste sie jetzt rennen... mit der Bastelei in der Hand... Vorbei an den Geschäften, an denen sie vor zwei Tagen schon vorbei gerannt war. Über die selben Zebrastreifen und um die selben Ecken... Bis sie an der selben Fußgängerbrücke ankam, die vor zwei Tagen so rutschige Stufen gehabt hatte. Sie rannte wieder die Treppe hoch und über die rüber. Doch vor der nächsten Treppe, die auf die andere Straßenseite führte, blieb sie mit einer Vollbremsung stehen. Aber nicht nur sie. Auch Chihiros Herz machte eine Vollbremsung. Zumindest für ein bis zwei Schläge schien es auszusetzen. Ihre Mutter hatte einmal die Theorie aufgestellt, dass das Leben nur in ganz wenigen Momenten wirklich magisch sein konnte... und Chihiro war sich sicher. Das war so ein magischer Moment. Sie ignorierte, dass es die selbe Uhrzeit wie am Samstag war und das es kein Zufall war, sondern vielleicht nur Gewohnheit... aber da war er. Kohaku kam auf die Fußgängerbrücke zu. Den Blick nach vorne gerichtet, aber wohl in Gedanken. Chihiro hätte beinahe angefangen, zu hyperventilieren, so unfassbar war die Tatsache, dass er hier war. Als er die Treppe hochgehen wollte, sah er auf, aber stockte sofort wieder, als er sie da oben stehen sah. Obwohl viele Stufen zwischen ihnen waren, konnte er sehen wie sehr sie außer Atem war. Genau wie sie, starrte er, leicht fassungslos, zu ihr nach oben. Erst als sie den Papiervogel in ihrer Hand bemerkte, zeichnete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab. Und auch wenn sie noch viel zu überwältigt von diesem 'Zufall' war, erwiderte sie das Lächeln. Da waren sie nun. Jeder an seinem Ende der Treppe. Kohaku wusste, dass Chihiros Lächeln nicht bedeutete, dass sie sich an ihn erinnerte, aber trotzdem war er glücklich. Das hier fühlte sich wie ein echtes Wiedersehen an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)