Traum vom Tod von Flordelis (Custos Mortis) ================================================================================ Erster und zweiter Traum: Landis -------------------------------- Ich erinnere mich an diese eine Begegnung als wäre es gestern gewesen. Schon seit meiner Geburt lebte ich nur wenige Schritte von Landis' Haus entfernt, weswegen ich ihn schon kannte, noch bevor ich überhaupt denken konnte. Unsere Mütter wollten immer, dass wir miteinander spielen, aber damals schien es uns beiden nicht sonderlich recht zu sein. Wir saßen immer Rücken an Rücken, jeder mit seinem eigenen Spiel beschäftigt als wüssten wir genau, dass der jeweils andere kein Interesse an uns hatte. Als ich fünf Jahre alt war, endete das plötzlich. Es war die Zeit, in der mein Vater zu trinken begann. Meine Mutter, in einem Versuch, das nicht an die Außenwelt dringen zu lassen, hörte auf, sich mit Freunden zu treffen und schickte mich zum Spielen nach draußen. Meistens verbrachte ich meine Zeit allein, nur mit einem Ball, den ich gegen eine alte Mauer warf. Der einzige Vorteil, dass wir recht weit am Rand von Cherrygrove lebten: Es gab jede Menge Platz, um ungestört zu spielen. Doch eines Tages, ich war gerade sechs Jahre alt geworden, bemerkte ich, dass ich dabei beobachtet wurde. Es war Landis, der ungesund blass wirkte. So weiß wie er war, hielt ich ihn erst für einen Geist, doch bei genauerem Hinsehen erkannte ich den Jungen wieder, mit dem ich früher gespielt hatte. Manchmal hatte ich ihn noch gesehen, wenn er mit seiner Mutter unterwegs gewesen war, aber dies war das erste Mal, dass er jemand anderen zu beachten schien. Denke ich heute daran zurück, würde ich sagen, dass ich Neid und Sehnsucht in seinem Gesicht lesen konnte, damals allerdings fragte ich mich nur, warum er mich dauernd so anstarrte. Er kam wirklich jeden Tag, um mich zu beobachten, bis ich ihm irgendwann anbot, mitzuspielen, weil mir sein Starren zu unheimlich wurde. Ohne etwas zu sagen, nahm er mein Angebot an. Das war das erste Mal, dass wir wirklich gemeinsam spielten, statt nur nebeneinander – aber er sagte dabei kein einziges Wort. Ohne jede Absprache wiederholten wir das jeden Tag, wochenlang. Ich hörte, dass selbst an den Tagen, an denen meine Mutter mich nicht hinausließ, er bis abends an dieser Mauer stand und auf mich wartete, nur um dann unverrichteter Dinge wieder abzuziehen, wenn ich nicht kam. Keine Spur von Enttäuschung auf dem Gesicht, keine Traurigkeit. Die Zeit verging, wir probierten andere Spiele aus und mit jedem Tag wurden wir ein Stück mehr zu Freunden, ohne dass wir je miteinander sprachen oder uns dessen bewusst wurden. Wir waren eben Kinder und es heißt doch immer, dass diese sich selbst ohne jedes Wort verstehen. Als wir uns an einem Tag am Ende des Herbstes voneinander verabschiedeten und ich meines Weges gehen wollte, lächelte er mich plötzlich an. Eine mir so unbekannte Mimik von ihm, dass ich es erst gar nicht als Lächeln erkannte und erschrak. „Alles okay?“, fragte ich ihn. Er nickte – und öffnete dann tatsächlich seinen Mund, um etwas zu sagen: „Jetzt ist alles bestens, danke, Nolan.“ Ich hatte bis dahin nicht einmal gewusst, dass er meinen Namen kannte, deswegen freuten mich seine Worte umso mehr. „Wir treffen uns morgen wieder hier, oder?“, fragte er hoffnungsvoll. „Klar doch“, antwortete ich direkt euphorisch. „Außer meine Mutter lässt mich nicht raus, aber das wird schon.“ Nachdenklich hielt ich einen Moment inne. Wenn ich ihr erzählen würde, dass ich mich mit Landis angefreundet hatte, würde sie mich bestimmt gehenlassen. Immerhin hatte sie bislang immer gesagt, dass sie es schade findet, dass er immer so traurig aussieht und allein ist. „Aber du musst doch nicht fragen, wir haben uns bislang immer getroffen.“ Sein Gesicht verfinsterte sich sofort, ich glaubte schon, etwas Falsches gesagt zu haben, aber als er dann noch etwas sagte, war ich sicher, eher etwas Falsches gehört zu haben. „Vielleicht wirst du mich nicht mehr treffen wollen, wenn ich dir sage, dass ich voraussehen kann, wann und wie Menschen sterben.“ Ein unangenehmes, irrationales Gefühl der Angst ließ Nolan aus dem Schlaf erwachen. Hatte er sich zuvor noch sicher genug gefühlt, um einzuschlafen, füllte nun Eiswasser sein Innerstes, um ihm zu sagen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Als ihm wieder bewusst wurde, wo er sich befand, begann sein Herz rascher zu schlagen. Mit aller Macht versuchte er, sich wieder zu beruhigen. Jede undurchdachte Handlung, für die er normalerweise so bekannt war, könnte ihm in diesem Fall das Leben kosten. Vorsichtig richtete er sich auf und ließ den Blick schweifen, die Hand nach seinem griffbereiten Schwert ausgestreckt – doch außer ihm war niemand im Raum. Dass er das trotz der Dunkelheit erkennen konnte, verdankte er vor allem dem Spiegel, der ein sanftes, überirdisches Licht verbreitete. Erleichtert atmete er aus, ehe ihm etwas bewusst wurde: Moment! Der Spiegel leuchtet? Er erinnerte sich wieder an seinen Gedanken zuvor, von Menschen, die durch Spiegel in andere Welten gerieten, und schmunzelte unwillkürlich. Obwohl er nicht daran glaubte, stand er auf, um das Leuchten genauer in Augenschein zu nehmen. Schon beim ersten Blick stellte er fest, dass die reflektierende Oberfläche genau das nun nicht mehr tat. Dafür konnte er eine Wiese voller Blumen sehen, die sich bis weit an den Horizont erstreckte. Die violetten Blüten waren geöffnet und gaben somit den Blick auf den Kern frei, der bei allen aus einem kleinen, golden glänzenden Kristall zu bestehen schien. Der blaue Himmel darüber war endlos, wirkte aber wie mit Ölfarbe gemalt. Die Konturen waren leicht verwischt, wie bei den Porträts, die Kenton so interessant fand. Fasziniert von dieser Schönheit, konnte er die Augen kaum noch abwenden, sein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder und auch die Furcht verschwand. Eine angenehme Wärme nahm deren Platz ein als ob er gerade nach Hause gekommen wäre. Diese Gedanken... und diese Blumen... Er erinnerte sich an Landis' Erzählung von der Heimat der Nymphen. Die dortigen Blumen sahen genauso aus, nur dass die Blüten geschlossen gewesen waren – zumindest hatte er sich das so vorgestellt –, aber Landis' Gefühl musste wohl so ähnlich gewesen sein wie jenes, das Nolan im Moment empfand. Eine solche Wärme, die einem willkommen hieß als wäre man gerade erst nach Hause gekommen... er wünschte sich, nie wieder weggehen zu müssen, genau wie Landis es erzählt hatte. Und wir haben noch etwas gemeinsam: Ich hätte auch nie gedacht, jemals solch einen Ort zu sehen. Begierig darauf, diesen Ort zu betreten, streckte er die Hand aus, die er bislang aufgrund der Furcht unten behalten hatte. Vergessen war die Frage nach der Mordserie, wegen der er angeblich hier war, dieser Spiegel war vielleicht seine Verbindung zu Landis, seine letzte Chance, seinen Freund noch einmal zu sehen und diese musste er ergreifen. Seine Hand berührte das Glas und glitt direkt hindurch als wäre es gar nicht vorhanden. Der Rest seines Körpers musste diesem Beispiel nur noch folgen, so schwer war das doch gar nicht. Mit einem tiefen Luftholen gab er sich noch einen Ruck, dann schritt er durch den Spiegel – und schloss seine Augen, als er vom gleißenden Licht geblendet wurde. Ich glaubte Landis nicht. So jung und naiv ich damals auch war, ich konnte nicht glauben, dass es jemandem möglich war, vorherzusehen, wann und wie jemand sterben würde. Das war einfach... zu verrückt. Aber er beharrte darauf, dass es der Wahrheit entsprach, er deswegen keinen Schlaf fand und stetig so blass war. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob mir Landis nicht doch lieber gewesen war als er noch nicht gesprochen hatte – aber meistens, wenn wir nicht gerade über dieses Thema sprachen, war er wirklich ein toller Kerl. Ein wenig unheimlich vielleicht, aber er scherzte gerne, brachte viele Anregungen bei unseren Spielen ein und er verstand es, ohne jede Scheu mit anderen zu sprechen als würde er sie schon länger kennen als er lebte. Meistens merkte ich daher nichts mehr von seiner unheimlichen Seite, die er zuvor so offen zur Schau getragen hatte. Die anderen Stadtbewohner waren äußerst angetan von ihm und seinem neuen Ich, was auch seinen Eltern nicht verborgen blieb. Sein Vater, Onkel Richard, bedankte sich sogar einmal bei mir, da es mein Verdienst wäre, dass Landis nun nicht mehr ausschließlich unheimlich sei, sondern eben auch eine derart offene und positive Art an den Tag legte. Dies war wohl der Grund, warum ich mich weiterhin mit ihm traf, auch wenn ich jedes Mal wieder nervös war deswegen. Ich hatte jeden Tag Angst, dass er wieder mit seinen Träumen kommen würde, auch wenn ich mir meistens umsonst Sorgen machte. Vielleicht war ich deswegen ein schlechter Freund, aber ich war ein Kind, ich wollte nichts von Menschen hören, die sterben würden, egal wann und warum. Ich wollte einfach spielen und mir einreden, dass Landis sich das nur ausgedacht hatte, um mich zu erschrecken. Doch an einen Tag erinnere ich mich genau, an diesem schien seine Geschichte selbst für mich tatsächlich der Wahrheit zu entsprechen. Er erzählte mir von seinem letzten Traum, in dem eine Besucherin aus einer anderen Stadt, deren Namen wir nicht kannten, die wir allerdings bereits gesehen hatten, von einem durchgegangenen Pferd totgetrampelt wurde. Natürlich glaubte ich ihm nicht, weswegen es mich nicht weiter störte, dass unser Weg uns zu dieser Frau lenkte. Wir wussten, dass sie sich meist auf dem Dorfplatz aufhielt, um einzukaufen, offenbar war sie eine Händlerin oder so etwas, die sich bei uns wieder mit Waren eindeckte. Oder ihr Urlaub bestand darin, den ganzen Tag Geld auszugeben, ich weiß es bis heute nicht. Zwar hatten wir, neugierig wie wir gewesen waren, versucht, mit ihr zu sprechen, aber ihre einzige Reaktion war es gewesen, uns verärgert fortzuscheuchen und dann den Rest des Nachmittags über dumme Kinder klagen. Ich wurde ein wenig nervös, als ich tatsächlich ein Pferd auf dem Platz entdeckte. Ich weiß noch genau, dass das Tier aufgeregt war – wenngleich ich nicht wusste, weswegen eigentlich – und immer wieder schnaubend den Kopf zurückwarf, während es ungeduldig zu tänzeln schien. Ich wollte vorschlagen, das Tier oder die Frau wegzubringen, doch der Pferdeführer war jemand, der uns – Kinder im Allgemeinen eigentlich – nicht leiden konnte und die Fremde reagierte schon patzig, wenn jemand anderes es wagte, sie beim Einkaufen zu stören, bei Kindern kannten sie – wie zuvor schon erwähnt – kein Erbarmen. Landis und ich betrachteten die Szenerie von einer sicheren Stelle aus – zumindest er bezeichnete es als sicher und da uns nichts geschah, muss das wohl so gewesen sein. Zwar glaubte ich Landis immer noch nicht, aber die Furcht, dass er vielleicht doch im Recht war, rumorte kalt in meinem Inneren und ließ mich nervös werden. Bei dieser Anspannung verlor ich sämtliches Zeitgefühl, aber es kam wir wie ein ganzer Tag vor, bis schließlich etwas geschah. Doch die Ereignisse an sich gingen erstaunlich schnell vonstatten. Das Pferd wurde aus Gründen, die ich von unserem Platz aus nicht sehen konnte, immer nervöser und bäumte sich immer öfter auf, worauf sein Halter es immer lauter zur Ruhe anzuhalten versuchte, was natürlich nicht funktionierte. Mit einem heftigen Ruck riss sich das Pferd schließlich los und fegte über den Platz davon. Menschen schrien durcheinander, teilweise in Panik, teilweise um das Tier zum Anhalten zu bewegen, was natürlich nicht funktionierte. Erst schien es als würde nichts weiter geschehen. Das Pferd preschte über den Platz davon, ich wollte bereits aufatmen, als die Fremde sich aufrichtete, um dem Tier nachzusehen – doch plötzlich änderte sich seine Bahn. Scheinbar grundlos warf sich das Pferd herum und stürmte nun genau auf die Fremde zu. Es war als ob irgendjemand sich ihm in den Weg gestellt hätte, obwohl niemand zu sehen war. Im nächsten Moment begrub es die Frau bereits unter seinen Hufen. Schockiert blickte ich auf die aufgewirbelte Staubwolke, in deren Inneren sich die sterbende Fremde befinden musste. Seufzend wandte Landis den Blick ab und ging davon, ohne noch einmal hinzusehen. Ich riss mich von dem bedrückenden Anblick los und folgte ihm sofort. „He, Landis!“ Er hielt nicht inne, wandte mir aber sein Gesicht zu. Erst in diesem Moment bemerkte ich die dunklen Ringe unter seinen Augen, aber der Anblick von zuvor überschattete diese Erkenntnis. „Warum hast du es nicht verhindert!? Du wusstest, was passiert, warum hast du nichts getan!?“ Er blieb stehen, antwortete aber erst, als ich noch einmal fragte: „Man darf das nicht tun. Wenn man es verhindert, sterben zwei andere dafür.“ Ich fragte ihn, woher er das wissen wollte, doch er presste nur die Lippen aufeinander, fuhr herum und lief weiter, den Oberkörper leicht vornübergebeugt als würde er etwas Schweres auf seinen Schultern tragen. In diesem Moment ahnte ich nicht einmal, wie sehr dies der Wahrheit entsprach. 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