Dei Gratia von Flordelis (Gottesgnadentum) ================================================================================ Kapitel 2: Unglückliche Umstände -------------------------------- Zu Selines Leidwesen schien sich absolut nichts an der Umgebung zu ändern, egal wie lange sie liefen. So weit das Auge reichte, war eine endlose Wiese zu sehen, lediglich von vereinzelten, knorrigen Bäumen unterbrochen und irgendwo in der Entfernung waren Berge zu sehen, die das Ziel ihres Begleiters zu sein schienen. Ihre Sehnsucht nach Zuhause wuchs mit jedem Schritt, den sie tat, selbst ihr jüngerer Bruder Ryu, fehlte ihr plötzlich. Wenn sie wieder im Palast wäre, würde sie den Kaiser umarmen und sich dann in ihrem Zimmer einschließen und nie wieder herauskommen. Sie war erst wenige Stunden gemeinsam mit Russel unterwegs, als Seline plötzlich das Bedürfnis überkam, mehr über ihn wissen zu wollen und gleichzeitig mehr über sich zu erzählen – wohl nicht zuletzt deswegen, weil er nach einer endlos erscheinenden Phase des Schweigens endlich beschloss, sie etwas zu fragen, was ihn wohl brennend interessierte: „Ihr seid wirklich ein Drachenmensch?“ Sie warf ihm einen knappen Seitenblick zu, den er allerdings nicht erwiderte. „Was soll die Frage denn?“ „Na ja...“ Er zögerte einen kurzen Moment. „Ihr seid blond und blauäugig, so etwas sieht man selten bei Drachenmenschen. Selbst ich wirke eher wie einer.“ Er deutete erst auf ihr Haar, das zu einem Pferdeschwanz hochgebunden war und dann auf sein eigenes, das lange keine Bürste mehr gesehen hatte. Sie musste zugeben, dass er in gewisser Weise recht hatte. Selbst unter den einfachsten Angestellten im Palast hatte es keine blonden Drachenmenschen gegeben. Da aber sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter ebenfalls blond und blauäugig gewesen waren, hatte sie sich nie etwas dabei gedacht, sondern einfach eines Tages beschlossen, dass es wohl ein Zeichen ihrer adeligen Abstammung sein musste. Umso ärgerlich empfand sie daher, dass ausgerechnet ihr Bruder, der durch sein violettes Haar und die violetten Augen wieder wie ein ganz gewöhnlicher Drachenmensch aussah, den kaiserlichen Thron hatte übernehmen dürfen. „Ich bin wirklich einer, im Gegensatz zu dir“, erwiderte sie. „Ich bin einfach etwas Besonderes, das ist alles.“ Er schmunzelte. „Ah, bescheiden sind wir gar nicht, was?“ Sie warf ihm einen blitzenden, fast schon mörderischen, Blick zu, den er allerdings nur amüsiert erwiderte. „Jedenfalls, woher wusstet Ihr eigentlich, dass ich ein Gott bin? Ich meine: Ich sehe aus wie ein Drachenmensch und alle anderen haben bislang nichts gemerkt.“ Sie strich sich einige der Strähnen aus dem Gesicht, die sich offenbar nicht von ihrer Frisur bändigen ließen und neigte ein wenig den Kopf, während sie darüber nachdachte, ob sie ihm die ganze Wahrheit sagen oder einige Dinge lieber für sich behalten sollte. Schließlich entschied sie sich für Letzteres: „Ich sagte schon, ich bin etwas Besonderes. Ich konnte deine göttliche Aura direkt spüren – sie ist außerdem ganz schön aufdringlich.“ Seine Aura hatte direkt versucht, auf sie überzuspringen, um sie genauestens zu untersuchen, ein Gedanke, der ihr gar nicht behagen wollte. Er dagegen grinste nur verschmitzt. „Wenn man schon eine so hübsche Prinzessin trifft, will man natürlich auch mehr über sie wissen.“ „Du wolltest nur austesten, ob ich wirklich ein Drachenmensch bin, oder?“ Er zuckte nur mit den Schultern, gab ihr somit also keine richtige Erwiderung darauf, was sie ein wenig ärgerte. Aber statt sich weiter darum Gedanken zu machen, beschloss sie, ihn etwas anderes zu fragen: „Aber wie kommt es eigentlich, dass du hier unterwegs bist? Ich meine... laut dem, was ich früher gelernt habe, sind alle Götter gestorben, um Ladon zu schützen.“ Einen kurzen Moment lang reagierte er nicht, so als könne er sich einfach für keine angemessene Reaktion entscheiden, aber schon im nächsten Augenblick brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus. Das empfand sie jedenfalls nicht für angemessen. Er lachte stetig weiter und ließ sich dabei nicht einmal von ihrem empörten Blick abhalten, auch wenn sich die Empörung langsam in Besorgnis umwandelte. Immer noch lachend strich er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist zu herrlich!“, prustete er. „Davon höre ich zum ersten Mal, genial!“ „Was ist daran denn bitte so komisch?“, verlangte sie zu wissen. Sein Lachen ebbte nur langsam ab, aber als es das endlich tat, öffnete er den Mund, um ihr zu antworten, wenn auch nicht sonderlich zufriedenstellend. „Wer auch immer Euch das erzählt hat, war ein schamloser Lügner, wir haben ihn mit Sicherheit nicht beschützen wollen.“ „Was ist dann passiert?“, fragte sie neugierig. Sie war ernsthaft neugierig, was diese ganze Sache anging, nicht zuletzt, weil ihre Abneigung gegen Russel und sonstige Götter nur daherrührte, dass sie glaubte, sie würden alles tun, um Ladon zu beschützen. Der einzige Grund, warum sie sich diesem Gott neben ihr angeschlossen hatte, war die Hoffnung gewesen, dass er ihr helfen würde, solange er nicht wusste, von wem sie verfolgt wurde. Aber seine Reaktion auf ihre Worte, ließ sie daran zweifeln, dass er mit Ladon im Bund war, ungeachtet der Tatsache, dass sie derselben Art angehörten. Allerdings tat er ihre Frage mit einem „Das ist unwichtig“ ab und damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein. Sie traute sich nicht, ihn noch einmal zu fragen, denn sein verschlossenes Gesicht wirkte alles andere als einladend, wenn sie ehrlich war, machte er ihr in diesem Moment sogar Angst. Aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen, sie war überzeugt, dass er ihre Angst bemerken und zu seinem Vorteil ausnutzen würde und das durfte sie nicht zulassen. „Also... was führt Euch in diese Gegend?“ Sie beschloss, ihn respektvoller anzusprechen, wenn es sich bei ihm schon um einen Gott handelte, um sich mit ihm besser zu stellen. Sein Name wies zwar nicht darauf hin, er war eindeutig menschlich, aber es war gut möglich, dass er inkognito unterwegs war oder es sich bei ihm nur um einen reinkarnierten Gott handelte. Drachenmenschen glaubten an Reinkarnation und wenn sie selbst wiedergeboren wurden, dürften ihre Götter das doch auch spielend schaffen, nein, mussten es sogar. Er neigte den Kopf ein wenig. „Ich suche nach meinen alten Gefährten – ich hatte gehofft, Ihr wärt einer von ihnen, als ich Eure Aura gespürt habe.“ „Und ich bin keiner?“ „Nein.“ Er klang nicht sonderlich enttäuscht, eher so als hätte er ohnehin nicht wirklich erwartet, dass sie tatsächlich dazugehörte, fast schon resignierend sogar, so dass sie tief im Inneren den Wunsch verspürte, ihn zu trösten. „Eure Aura ist der von Ladon recht ähnlich, sie muss an Euch haften. Aber... warum eigentlich?“ Er wandte ihr den Kopf zu und wartete auf ihre Antwort, die sie ihm immer noch nicht geben wollte, auch wenn ihr bewusst war, dass sie ihm eigentlich eine schuldete, wenn sie schon von ihm verlangte, dass er sie beschützte. „Ich war so töricht, ihm meine Seele zu versprechen, im Austausch gegen das Leben meines Bruders.“ „Ah, Ryudo de Silverburgh, nicht wahr?“ Es war nur verständlich, dass er den Namen ihres Bruders kannte, immerhin war er der Kaiser, aber dennoch hob sie verwundert die Augenbraue. „Seid Ihr ihm einmal begegnet?“ „Oh ja, er hat immerhin die Aura eines Gottes, den ich kenne.“ In dem Moment, in dem er das sagte, traf es sie geradezu wie ein Blitz. „Die Aura eines Gottes, ja? Ganz sicher?“ Er nickte und wirkte über ihr Nachhaken ein wenig verwundert. „Absolut. Ich bin seiner Aura gefolgt, als ich ihn gefunden habe. Er ist einer der reinkarnierten Götter.“ Das erklärte, warum ihre Eltern beide einstimmig beschlossen hatten, Ryu zum Thronfolger zu machen und Seline dieses Recht als Erstgeborene abzuerkennen. Einen wahrhaftigen Gott als Kaiser für die Führung eines ganzen Volkes einzusetzen, musste sie beide gereizt haben – und wenn Seline ehrlich war, konnte sie das sogar ein wenig nachvollziehen. Aber das tröstete sie immer noch nicht über den Verlust des Thrones hinweg. „Was für ein unglücklicher Umstand“, seufzte sie, worauf er mit einstimmte, aber gleich darauf wieder lächelte. „Oh, wenn unglückliche Umstände mich immer zu hübschen Prinzessinnen führen würden, wäre ich viel öfter auf der Suche nach Unglücken.“ Im allerersten Moment wollte sie empört darauf reagieren, aber stattdessen beschloss sie, dass die Reise wesentlich angenehmer werden würde, wenn sie nicht auf jeden seiner Sätze so reagieren würde, nur weil ihre Erziehung das von ihr verlangte. Also stimmte sie stattdessen in sein Lächeln mit ein. „Ich bin sicher, dass so manche Prinzessin sich über Eure Begleitung freuen würde.“ „Gehört Ihr denn nicht dazu?“ Sie hob die Schultern, während sie unschuldig lächelte. „Vielleicht.“ Statt noch etwas zu sagen, beschloss er anscheinend, genug geflirtet zu haben, denn im Anschluss schwieg er wieder, so dass sie die Reise wieder in aller Stille fortsetzten. Bis sie schließlich endlich an dem Berg ankamen, auf den sie bislang zugelaufen waren. Ein steiler Pfad führte in die Höhe hinauf, allerdings war er derart schmal, dass man befürchten musste, hinabzustürzen, wenn man nur einen falschen Schritt tat. Russel schritt unerschrocken hinauf, als ob er sich der Gefahr nicht bewusst wäre, worauf Seline ihm hastig folgte, um nicht zurückzubleiben. Sie fühlte sich allerdings wesentlich weniger mutig. Ihr Blick ging immer zwischen dem Pfad und dem Abgrund hin und her und je höher sie kamen desto tiefer ging es selbstverständlich hinunter. Um zu verhindern, dass sie wegen eines falschen Schritts hinabfallen könnte, hielt sie sich so weit links wie möglich, immer direkt an der schroffen Felswand, auch wenn sie sich die Haut aufschürfte, als sie mit der Hand versuchte, dort Halt zu finden. Der Abstand zwischen ihr und Russel wuchs rasch an, sie überlegte bereits, nach ihm zu rufen, damit er nicht nur wartete, sondern auch zurückkam und sie an der Hand nahm, aber ihr Stolz hielt sie davon ab. Wie würde es denn aussehen, wenn die Prinzessin von Drakani, die ehemalige Thronfolgerin, vor Furcht Händchen mit einem Unbekannten halten würde? Selbst wenn hier niemand war, der sie sehen könnte, wollte sie sich eine solche Blöße nicht geben. Denn immerhin war dieser Russel ein Unbekannter für sie, dessen Gedanken sie nicht wirklich nachvollziehen konnte, wer wusste schon, was er dachte? Da ertrug sie doch lieber die Furcht vor dem Absturz. Sie war so in den Blick auf dem Boden und in ihre Gedanken vertieft, dass sie beinahe in Russel hineingelaufen wäre. Dieser war nämlich stehengeblieben und sah nun den Abhang hinunter. Nur widerwillig folgte sie seinem Blick. Am Fuß des Pfades befand sich nach wie vor nur ein Feld, aber bei genauerem Hinsehen konnte sie eine Person erkennen, die von drei schwarzen Dämonen umringt war. Von ihrer Position aus war der Mensch so klein, dass sie nicht einmal erkennen konnte, ob er bereits erwachsen oder noch ein Kind war, dafür waren die schwarzen Leiber der Dämonen riesenhaft und unheimlich imposant und so als ob sie diesen Eindruck noch verstärken wollten, reckten sie die ledernen Flügel. Selbst auf diese Entfernung konnte Seline sagen, dass sie sich auf einen Kampf vorbereiteten. Wenn niemand diesem Opfer half, würde es mit Sicherheit unweigerlich sterben. Obwohl sie genau spürte, dass diese Person magischen Ursprungs war, vermutlich auch ein Drachenmensch, bemerkte sie auch, dass er sich allein nicht gegen drei Angreifer würde verteidigen können. Aber sie war auch zuversichtlich, dass Russel ihm helfen würde. Auffordernd sah sie zu ihm hinüber – und stellte perplex fest, dass er bereits weiterlief als würde ihn das alles nichts angehen. Mit aufwallender Wut packte sie ihn und zog ihn zurück. „Was denkst du eigentlich, was du da machst!?“ Er wandte sich ihr zu und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Weitergehen, wonach sieht es denn aus?“ „Das kannst du nicht tun! Du musst ihm helfen!“ Sie würde kein Nein als Antwort akzeptieren und das spürte er offenbar auch. „Und wie?“ Da sie immer noch seinen Arm festhielt, hob sie diesen einfach und schwenkte ihn ein wenig herum als ob er eine Marionette wäre, die nun auf ihre Beweglichkeit getestet werden müsste. „Na so! Mach einfach irgendso ein Wusch-Zeug, immerhin bist du doch ein Gott!“ Für einen solchen müssten drei Dämonen doch die einfachste Übung sein. Sicher, sie hatte auch nie gesehen, wie Ryu irgendwelche besonderen Kräfte entfesselte, aber der war auch nie mit irgendwelchen nennenswerten Feinden konfrontiert gewesen. Sie konnte die Unentschlossenheit in seinem Gesicht sehen, spürte, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, während er versuchte, zu einem Entschluss zu kommen, der sowohl sie zufriedenstellte als auch der Person da unten half und ihn selbst dennoch nicht ins Unglück stürzte. Einer der Dämonen stieß einen Kampfschrei aus und wischte Russels Überlegungen direkt fort. In einem plötzlichen Impuls ließ er seiner eigenen Magie freien Lauf, Seline spürte, wie sie sich frohlockend durch seinen Körper arbeitete, aus seinen Fingerspitzen herausquoll und in geradezu Windeseile einen Sturm heraufbeschwor, der sämtliche Dämonen hinfort fegte. Gleichzeitig spürte sie wieder einen Schmerz an ihrem Oberarm. Nein, Schmerz war das falsche Wort, es war ein heftiges Ziehen, aber es war eher wohltuend, fast so als würde Ladon sich über etwas freuen. Als der Sturm wieder abebbte, war nichts mehr von den Feinden zu sehen, die Person war in Sicherheit. Seline ließ Russels Arm wieder los. „Lass uns runtergehen und nach ihm sehen.“ Noch ehe er die Gelegenheit bekam, ihr zu antworten, begab sie sich bereits an den Abhang und kletterte vorsichtig hinunter. Wenn man bedächtig genug zu klettern verstand, war es sogar erstaunlich einfach, wie sie feststellte, zumindest sofern sie ihre aufgeschürften Hände und den Dreck auf ihrer Kleidung ignorierte. Das war aber auch schnell vergessen, als sie feststellte, dass Russel ihr tatsächlich folgte. Warum er gezögert hatte, wusste sie nicht und was dieses seltsame Ziehen in ihrem Oberarm bedeuten sollte, war ihr ebenfalls unverständlich, aber zumindest für den Moment schob sie derlei Überlegungen weit von sich. Dass diese Gedanken bald schon wichtig werden würden, konnte sie in diesem Augenblick natürlich nicht wissen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)