Dei Gratia von Flordelis (Gottesgnadentum) ================================================================================ Kapitel 5: Gähnende Schlucht ---------------------------- Ihr war als würde sie aus einer Ohnmacht erwachen, dabei war ihr allerdings entfallen, wie es zu einer solchen überhaupt hätte kommen sollen. Nur langsam und bruchstückhaft kehrten die Erinnerungen an die Geschehnisse zurück – was ihr dann auch erklärte, warum sie das Gefühl hatte, sich in einer warmen Umarmung zu befinden. Es war angenehm, noch mehr als früher sogar, wenn sie von ihrem Vater umarmt worden war und es ließ sie für einen kurzen Augenblick wünschen, sich niemals davon trennen zu müssen. Aber ihre Neugier, was den Ursprung für dieses Gefühl anging, war doch ein wenig stärker. Sie öffnete die Augen und blickte in Russels lächelndes Gesicht. „Guten Morgen, Prinzessin.“ Sie war versucht, zurückzulächeln, aber ihre Verwirrung war dafür noch ein wenig zu groß. Sie war zu seiner Rettung geeilt, um nicht mitansehen zu müssen, wie Ladon ihn tötete. Das Schild, das sie als magisch begabtes Wesen – so wie jeder Drachenmensch es war – stets begleitete, hatte sich aktiviert, mit dem von Russel verbunden und durch die auftreffende Magie von Ladon war eine Wechselwirkung entstanden, die offenbar kurzzeitig das Raum-Zeit-Gefüge zerrissen hatte... oder so ähnlich, sie war bei derartigen Dingen im Unterricht nie sonderlich aufmerksam gewesen und hatte einfach beschlossen, jeden Gegner schnell genug kampfunfähig zu machen, ehe es zu so etwas kommen könnte. Nun bereute sie diese Arroganz ein wenig. „Uhm...“ Vorsichtig setzte sie sich aufrecht hin, auch wenn das bedeutete, sich aus seiner Umarmung lösen zu müssen, dann sah sie sich neugierig um. „Wo sind wir?“ Im ersten Moment glaubte sie, sich in einer Gletscherspalte zu befinden, so weit der Blick reichte erstreckte sich schneeweißes Gestein in unermessliche Höhen, so glatt, dass allein der Gedanke, hinaufklettern zu wollen, aussichtslos war. Der Himmel über ihnen war dunkelblau mit zahlreichen Sternen – und einem Polarlicht, das in den unterschiedlichsten Farben half, die Umgebung zu beleuchten. Es verwunderte Seline überhaupt nicht, dass Ambrose und Asric den Himmel bewunderten und deswegen nicht einmal Zeit zum Diskutieren fanden. Sie allerdings blickte wieder zu Russel, der ihr half, aufzustehen und ihr dann auch endlich die ersehnte Antwort gab: „Oh, ich habe da so einen Verdacht, jedenfalls war ich in dieser Gegend schon einmal. Wir sind in einer Welt gelandet, in der es zwei sehr hilfreiche Jungs gibt.“ Auf diese Worte konnte sie ihn nur schweigend ansehen. Bislang hatte sie nie daran geglaubt, dass es so etwas wie andere Welten wirklich gab, obwohl ihr Vater ihr gerne Geschichten über solche erzählt hatte – aber genau das war es für sie immer gewesen: Geschichten, nichts, was man wirklich ernstnehmen müsste. „Können wir nicht einfach wieder gehen?“ Asric kam mit einem deutlich unzufriedenen Gesichtsausdruck wieder zu ihnen, aber der ihm folgende Ambrose schüttelte sofort mit dem Kopf. „Nein, bloß nicht! Es ist doch bestimmt viel toller hier! Weniger Dämonen, die uns verfolgen und so.“ „Ja, das wollte ich noch wissen“, nutzte Russel diese Überleitung. „Warum werdet ihr eigentlich von Dämonen verfolgt? Und wie kommt es, dass ihr so gut kämpfen könnt, das merkt man euch gar nicht an.“ Ambrose hatte offenbar bereits das Interesse an dem Gespräch verloren, denn ohne etwas zu sagen, ging er wieder davon, um sich das Polarlicht von einer anderen Stelle aus anzusehen – und vermutlich auch, um sich nach dem weiteren Weg umzusehen, denn er verschwand hinter einer Wegbiegung. Asric blieb allerdings, um zu antworten: „Ambrose ist ein Dämonenjäger.“ „Er trägt also etwas in sich, das dafür sorgt, dass er sie bekämpfen kann?“, schloss Russel. „Und im Gegenzug lockt er sie damit auch unwissentlich an?“ Asric nickte bestätigend und wandte den Kopf, um nach Ambrose zu sehen, aber er war immer noch nicht wieder in ihr Sichtfeld getreten. „Warum ist er dann so...?“ Russel suchte nach den richtigen Worten, um zu erklären, was er sagen wollte, ohne dabei jemanden zu verletzten, aber Asric nahm ihm das bereits uncharmant ab: „Zurückgeblieben? Ich fürchte, das ist meine Schuld...“ Sein Gesicht verfinsterte sich, aber statt zu erklären, was er damit meinte, wandte er sich bereits ab, um hinter Ambrose herzulaufen, vermutlich, damit er ihn nicht doch noch aus den Augen verlor. Russel wartete, bis er ebenfalls um die Wegbiegung verschwunden war, dann wandte er sich Seline zu. „Hast du schon mal etwas davon gehört?“ „Du bist hier der Gott“, erwiderte sie mit gerunzelter Stirn. „Und seit wann duzt du mich eigentlich?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ist wesentlich angenehmer als dich so respektvoll anzusprechen, außerdem lässt uns das wirklich wie ein Liebespaar aussehen~.“ Sie hatte den Mund bereits für eine empörte Erwiderung geöffnet, aber sein folgendes Zwinkern ließ sie das noch einmal überdenken und trieb ihr stattdessen das Blut ins Gesicht. So wandte sie sich ab, damit er nicht sah, wie sie errötete und folgte Ambrose und Asric hastig – oder zumindest wollte sie das. Sie hatte gerade einen Schritt getan, als Russel nach ihrem Handgelenk griff, weswegen sie sich noch einmal zu ihm umwandte. Das Rot ihrer Wangen verstärkte sich, als sie seinen ernsten und gleichzeitig irgendwie liebevollen Gesichtsausdruck bemerkte. „W-was?“ „Ich bin dafür, dass du mir ab sofort nicht mehr von der Seite weichst, dann kann ich besser auf dich aufpassen.“ Statt zu erwidern, dass er beim vorigen Kampf nicht unbedingt die beste Figur abgegeben hatte, nickte sie nur, die von ihm ausgehende Ernsthaftigkeit, verschlug ihr zu sehr die Sprache. Wenigstens konnte sie noch genug Stolz aufbringen, sich nicht direkt in seine Arme zu werfen und ihm ewige Liebe zu schwören. Wie lächerlich wäre das denn? Außerdem verwendet er doch bestimmt nur irgendeinen nervigen Zauber auf mich, damit ich nicht herumzicke. Pah, als ob ich ihn nicht durchschauen würde! Er erwartete offenbar keine Reaktion von ihr, denn als sie wieder etwas von ihrer Umwelt mitbekam, lief sie bereits einen Schritt hinter ihm her, dabei hielt er ihr Handgelenk immer noch fest. Sie beschloss, dass es besser war, sich abzulenken, ehe ihr Gesicht noch die Farbe einer reifen Tomate annehmen würde und so blickte sie auf den Boden – nur um überrascht festzustellen, aus welchem Material dieser bestand. Aufgrund des schneeweißen Gesteins, das sie umgab, war sie davon ausgegangen, dass sie auf Sand, Staub oder sogar Schnee laufen würden. Aber stattdessen schien unter ihren Füßen Wasser zu sein, das es nicht schaffte, sie nass werden zu lassen, fast als befände sich eine hauchdünne, nicht sichtbare Schicht aus Glas zwischen ihnen und der Flüssigkeit, immer wieder entstanden ohne ersichtliche Ursache Kreise darin, was dem Ganzen noch ein wenig mehr Zauber verlieh, wie Seline fand. Damit war ihre Verlegenheit vollkommen vergessen. „Wow, was ist das denn?“ Russel blickte ebenfalls nach unten. „Das habe ich mich schon bei meinem ersten Besuch gefragt. Allerdings fand ich niemanden, der mir das beantworten konnte.“ Seine leicht erhöhte Tonlage verriet ihr trotz ihrer kurzen gemeinsamen Zeit, dass er genauso fasziniert hiervon war wie sie, was sie ziemlich beruhigte, wenn sie ehrlich war. Wenn selbst ein Gott von etwas derartigem angetan war, durfte sie das immerhin auch sein. Hinter der Wegbiegung trafen sie wieder auf Ambrose und Asric. „Die Gegend scheint wirklich ungefährlich zu sein“, bestätigte ersterer. „Außer uns gibt es hier keine Lebewesen.“ „Gut möglich“, bestätigte Russel. „Letztes Mal traf ich hier auch niemanden. Am Ende des Weges kam ich lediglich in die richtige Welt, das hier ist nur die Empfangszone, um ungebetene Besucher abzufangen.“ „Gibt es so etwas in jeder Welt?“, fragte Ambrose neugierig. „Ja, aber überall sieht es anders aus. Bei uns, zum Beispiel, ist es ein Portal, das von Schutzmechanismen umgeben ist. Und hier ist es eben diese Gletscherspalte, ich nehme an, dass es bei gefährlichen Invasoren auch Schutzzauber gibt, die sich aktivieren. Wir werden wohl nicht als Gefahr wahrgenommen.“ „Umso besser“, kommentierte Asric und setzte sich sofort wieder in Bewegung, um weiterzukommen, worauf die anderen sich ihm anschlossen. Während sie liefen, nutzte Seline die Gelegenheit, um einige Dinge in Erfahrung zu bringen. „Russel, mich interessiert, was Ladon eigentlich getan hat. Seinen Worten nach muss er die anderen Götter getötet haben – aber weswegen?“ Sein Gesicht verfinsterte sich, er schüttelte mit dem Kopf. „Ich weiß es nicht. Ladon hat irgendwas geplant und das kam den anderen wohl zu Ohren und sie waren dagegen – aber ich weiß es nicht, mir hat niemand etwas gesagt.“ Sie konnte den Schmerz in seinem Inneren bei diesen Worten spüren, es war deutlich, dass es ihn störte, dass keiner der anderen ihn ins Vertrauen gezogen und damit quasi ins offene Messer hatte laufen lassen. Und gleichzeitig war er der einzig Überlebende von ihnen und wusste nun nicht im Mindesten, warum das alles überhaupt geschehen war, sie fand es... tragisch. Unwillkürlich griff sie seine Hand fester, er reagierte nicht darauf, sondern blickte grübelnd weiter geradeaus, das Gesicht so ernst, dass keiner mehr den Rest des Weges über etwas sagte. Erst als sie am scheinbaren Ende des Pfades angekommen waren, hielten sie wieder inne. Der Weg endete an einer Schlucht, die steil ins Nirgendwo zu fallen schien, soweit man hinabblickte, entdeckte man nur Schwärze, die einen davon abhielt, sich zu weit vorzubeugen, damit man nicht aus Versehen hinabstürzte. Mehrere hundert Meter entfernt war eine Plattform mit einem Portal zu erkennen, aber es gab keinen erkennbaren Weg dort hinüber. Egal wohin Seline ihren Blick schweifen ließ, nirgends gab es eine Möglichkeit, den gähnenden Abgrund zu überqueren. Aber sie zweifelte nicht daran, dass es irgendeine Vorrichtung gab, die jedem Wissenden helfen konnte, hinüberzukommen. Deswegen blickten alle zu Russel, der endlich wieder aus seinen trüben Gedanken erwacht war und nun angestrengt darüber nachzudenken versuchte, wie er es damals geschafft hatte. Aber die Antwort, zu der er schließlich kam, gefiel keinem seiner Begleiter: „Damals war das hier nicht... Da war die Verbindung zur anderen Seite immer zu sehen.“ „Vielleicht sind wir doch woanders?“, mutmaßte Asric, aber Russel schüttelte direkt mit dem Kopf. „Nein, das hier ist dieselbe Welt, da bin ich mir sicher. Vielleicht wurde danach irgendwas geändert, oder...“ Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, plötzlich hielt er inne und im selben Moment spürte auch Seline das Gefühl einer drohenden Gefahr. Es war nicht so stark wie bei ihrer Begegnung mit Ladon und auch nicht mit sonderlich viel Bösartigkeit versehen, aber sie wurden eindeutig als Feinde wahrgenommen. Sie wollte Russels Hand loslassen, um auszuweichen, aber er hielt ihre immer noch fest und zog sie stattdessen mit sich, als er selbst auswich. Im nächsten Moment traf eine Klinge auf den Boden, wo Russel zuvor gestanden hatte. Da nichts splitterte, gab es wohl doch keine feine Glasschicht über dem Wasser und da dieses nicht im Mindesten spritzte, schien es wohl ebenfalls nicht zu existieren. Doch trotz der imminenten Bedrohung, der mit diesem Angriff Form verliehen worden war, konnte Seline nicht anders als diese fremdartige Waffe fasziniert anzustarren. Grob geschätzt schien sie fast zwei Meter groß zu sein, wobei der Hauptteil davon aus einer wuchtigen Klinge bestand, aber auch der Griff war wesentlich länger als bei Schwertern, noch dazu mit einem Bogengriff versehen, der mit gravierten Ästen und Blättern versehen war – aber das wirklich Außergewöhnliche war, dass im Bogengriff der Waffe Saiten gespannt waren, die tatsächlich einen leisen Ton von sich gaben, als die Klinge geschwungen wurde. Die Person, die diese Waffe führte, sah – in Selines Augen allerdings wesentlich uninteressanter aus – weswegen sie diese gar nicht weiter beachtete, genausowenig wie die weitere Bedrohung. Warum die anderen sich nicht rührten, war ihr zwar unbegreiflich, aber auch das kümmerte sie im Moment nicht. Erst als die Besitzerin der Waffe die Stimme erhob, blickte Seline in deren rote Augen, die zwischen den weißen Haarsträhnen kaum zu erkennen waren. „Ich bin Diana, die Wächterin der Gähnenden Schlucht und ich werde euch das nur einmal fragen: Was führt euch in mein Gebiet?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)