Dei Gratia von Flordelis (Gottesgnadentum) ================================================================================ Prolog: Das Ende der Unschuld ----------------------------- 3 Denn die Herrscher sind nicht wegen guten Werken zu fürchten, sondern wegen bösen! Willst du also die Obrigkeit nicht fürchten, so tue das Gute, dann wirst du Lob von ihr empfangen! 4 Denn sie ist Gottes Dienerin, zu deinem Besten. Tust du aber Böses, so fürchte dich! Denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; Gottes Dienerin ist sie, eine Rächerin zur Strafe an dem, der das Böse tut. 5 Darum ist es notwendig, untertan zu sein, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen [Schlachter-Bibel 1951, Römer 13, 3-5] Geradezu blind vor Tränen stürmte sie die Treppe hinab. Ungeschickt kam sie mit dem Fuß auf der Kante einer Stufe auf, schwankte und kämpfte einen Moment mit dem Gleichgewicht. Kaum hatte sie das wiedergefunden, setzte sie ihren Weg fort, ihr blondes Haar wehte in wirren Strähnen um ihr Gesicht und nahm ihr in unregelmäßigen Abständen vollends die Sicht. Ihr schneller Schritt lenkte die Aufmerksamkeit der Dienstmädchen und Ritter, an denen sie vorbeikam, auf sie und obwohl sie mehr als einmal besorgt gefragt wurde, was denn geschehen sei, blieb sie nicht stehen, um darauf zu antworten. Sie hatte ein festes Ziel und durfte sich auf dem Weg dorthin nicht aufhalten lassen, es galt, keine Zeit zu verlieren! Glücklicherweise verlor sie selbst in diesem Zustand heller Panik nicht die Orientierung im Palast, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben – immerhin elf Jahre – verbracht hatte, sondern konnte fehlerfrei stets den richtigen Gang wählen. Endlich erreichte sie die Tür zum nördlichen Hof, der aufgrund seines Schattens so gut wie nie besucht wurde. Ein kleiner Tempel zu Ehren ihres Gottes war darin errichtet worden. Gerüchte besagten, dass einem jeder Wunsch gewährt wurde, wenn man nur aufrichtig genug vor dem Schrein im Inneren betete. Oh und wie sie aufrichtig sein würde! Sie stieß die Tür des Tempels auf und ließ sich nicht einmal von all dem Staub, der sie husten ließ, beirren, als sie eintrat. Auf den ersten Blick war zu sehen, dass sich schon lange niemand mehr die Mühe machte, diesen Ort sauber zu halten, viel zu sehr fürchteten die Dienstmädchen die ihm innewohnende Macht – zumindest behaupteten sie dies. Sie sagten, sie würden davon verabscheut, seien nicht willkommen und eine von ihnen soll sogar wahnsinnig geworden sein, als sie dennoch gezwungen worden war, hineinzugehen. Seitdem wurde dieser Tempel eben vernachlässigt, fähiges Personal war zu schwer zu finden als es wegen so etwas wieder zu verlieren. Das Mädchen spürte allerdings keine Ablehnung, ganz im Gegenteil. Kaum hatte es einen Fuß in den Tempel hineingesetzt, flammten die Kerzen an den Wänden von allein auf, es glaubte, ein leises Wispern zu vernehmen, das es freundlich bat, näherzukommen, spürte, wie etwas nach seinem Handgelenk griff, um es näher an den reich verzierten Schrein zu führen. Die kunstvollen Bilder auf dem goldenen Grund waren mysteriöserweise das einzige, was an diesem Ort frei von Staub war, aber das Mädchen besaß an diesem Tag keinerlei Blick dafür. Stattdessen faltete es die Hände, um zu beten, mit aller Inbrunst und Aufrichtigkeit, die ihm zur Verfügung stand, flehte es den Gott an, seinen einzigen Wunsch zu erfüllen, ungeachtet des Preises, den es dafür zahlen müsste. Schlagartig spürte sie, dass sie nicht mehr allein war. Als sie den Blick hob, entdeckte sie einen auf dem Schrein sitzenden Mann, dessen Aura ihr den Atem zu rauben drohte, so machtvoll war sie. Er lächelte freundlich, aber seine grauen Augen blieben eiskalt, ein gieriges Glitzern lag darin. „Seid vorsichtig, was Ihr Euch wünscht, Prinzessin“, riet der Mann mit emotionsloser Stimme. „Und was Ihr dafür zu opfern gedenkt. Es könnte wahr werden und jemand könnte den Preis dafür fordern.“ Doch das Mädchen ließ sich nicht beirren. Die immer noch gefalteten Hände gegen die Brust gedrückt, starrte es den Erschienen wortlos an. Erst als er sie aufforderte, ihren Wunsch zu äußern, erhob sie die Stimme: „Mein kleiner Bruder ist sehr krank, er wird sterben, wenn nichts geschieht. Deswegen bitte ich Euch, ihn zu retten! Ich werde auch jeden Preis zahlen!“ Statt einer Antwort, sah er prüfend auf sie hinab. Es erforderte jedes bisschen Willenskraft in dem Mädchen, dass es nicht einfach die Augen niederschlug, sondern den Blick gefestigt erwiderte, während sein Körper zitterte wie Espenlaub. „Liebst du deinen Bruder so sehr, dass du einen solchen Preis in Aussicht stellst?“, fragte der Mann. Sie öffnete den Mund, um zu antworten. „Ich...“ ... hasse ihn! Lediglich in Gedanken war es ihr möglich, den Satz zu beenden, aber er schien es dennoch zu hören. Seine Lippen verzogen sich zu einem grotesken Grinsen. „Ist das so? Dann wundert mich Eure Opferbereitschaft doch sehr. Aber ich bin nicht hier, um das zu hinterfragen, sondern um Euch meinen Preis zu nennen.“ Sie blickte ihn abwartend an, die Hände noch immer gefaltet, ihr Entschluss wankte nicht, sondern stand absolut fest, egal wie sie zu ihrem Bruder stand. Würde nichts geschehen, wäre sie schuld an seinem Tod und dann... Schließlich sprach der Mann endlich weiter, auch wenn sie bei seinen Worten wirklich nicht wusste, ob sie erleichtert oder zu Tode bestürzt sein sollte: „Im Austausch für das Leben Eures Bruders verlange ich...“ Kapitel 1: Die Prinzessin und der Gott -------------------------------------- Ein starker Windstoß fuhr durch die Äste des Baumes, unter dem sie lag und erzeugte damit ein Rascheln, das laut genug war, um sie zu wecken. Sie öffnete die Augen und beobachtete den Himmel durch das sich bewegende Blätterdach hindurch, während sie sich in Erinnerung rief, dass sie nicht mehr zu Hause war. Vor drei Tagen war sie aufgebrochen, irgendwohin, Hauptsache fort, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte, der Palast war ihr wie ein Gefängnis erschienen, ein goldener Käfig und die einzige Lösung, die ihr eingefallen war, um nicht wie eine eingesperrte Nachtigall zu verenden, war die Flucht gewesen. „Nur dass ich besser ausgerüstet bin als gewöhnliche Flüchtende“, murmelte sie, während sie sich aufrecht hinsetzte und sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm lehnte. In ihrer aufrechten Position griff sie in ihre umgehängte Ledertasche, um dort etwas zu essen hervorzuholen. „Aber ich hätte mir eine Decke einpacken sollen“, fuhr sie kleinlaut fort. Im Freien zu schlafen war ungewohnt für sie, aber zu ihrem Unglück gab es auf ihrer gewählten Reiseroute – die, zugegeben, nur aus irgendeine Richtung bestand – keinerlei Ortschaften oder Herbergen, so dass ihr nichts anderes übrig geblieben war, als sich auf den bloßen Boden zu legen, um zu schlafen. Ein kaum undenkbarer Zustand für eine Prinzessin, die bislang auf Seide gebettet worden war, mit Sicherheit würden einige ihrer Zofen glattweg ohnmächtig werden, wenn sie hiervon erfahren würden. Aber wollte sie überhaupt zurückkehren? Während sie eines der mitgenommenen belegten Brote aß, dachte sie über diese Frage nach, kam aber zu keiner wirklichen Antwort. Es gab im Palast nichts, was sie im Moment wirklich vermisste. Seit dem Tod ihrer Eltern vor wenigen Monaten, erwartete sie dort nur ihr jüngerer Bruder und allein der Gedanke an ihn erfüllte sie wieder mit Zorn. Ein heftiger Schmerz fuhr durch ihren rechten Oberarm und erinnerte sie an einen weiteren Grund, warum sie von zu Hause fortgegangen war, ein Grund, den sie nur allzugern vergessen würde. Gesättigt erhob sie sich schließlich und setzte ihren Weg mit großen Schritten, geleitet von Zorn fort. Sie wusste nicht, wohin sie lief, jeder Schritt fort vom Palast erschien ihr aber richtig und absolut notwendig – und sie musste zugeben, dass ihre Reiseroute ihr bislang durchaus gut gefiel und sie auch schon bald wieder ihren Zorn vergessen ließ. Soweit das Auge reichte, gab es saftiges grünes Gras zu sehen, parallel zu ihrem Weg verlief am Horizont eine Bergkette, die sie zur Orientierung nutzte, um nicht im Kreis zu laufen. Wenn sie ihren Blick in die andere Richtung wandte, konnte sie in einiger Entfernung friedlich grasende Tiere auf einer eingezäunten Koppel erkennen. Als ihr Weg sich dann auch noch mit einem kleinen Fluss, eher einem Bach gleich, kreuzte, war der Tag für sie bereits perfekt. Endlich wieder gut gelaunt, ging sie in die Knie und betrachtete das kristallklare Wasser, das es ihr erlaubte, bis auf den Grund zu blicken auf dem sich unzählige Steine befanden. Für ihre ungeübten Augen sah es durchaus trinkbar aus und auch ihr rechter Oberarm protestierte nicht, als sie die Hände hineintauchte, um mit der hohlen Hand Wasser zu schöpfen. Es gab etwas, vor dem sie tatsächlich zu fliehen versuchte, auch wenn es aussichtslos war und diesem Etwas lag viel an ihrer Unversehrtheit, weswegen sie gewarnt worden wäre, wenn das Wasser eine Gefahr für ihre Gesundheit darstellen würde. Wenngleich sie auch nichts dagegen gehabt hätte, wenn Etwas sie endlich vergessen würde. Das Wasser fühlte sich in ihrer Kehle überraschend kalt an, aber es schmeckte durchaus, so dass sie nicht lange überlegte und ihre Feldflasche damit auffüllte. Sie wollte gerade aufstehen und ihren Weg fortsetzen, als ein Schatten auf sie fiel. „Prinzessin?“ Die fremde Stimme hinter ihr klang nicht danach als ob es die Frage eines treuen Untergebenen wäre, eher lauernd, so dass sie für einen Moment nicht wusste, ob sie antworten oder lieber fortlaufen sollte. Als sie den Blick hob, zuckte sie erschrocken zusammen, denn am anderen Flussufer stand ein Gefängniskarren, vor den zwei Pferde gespannt waren. Sie hatte nicht gehört, wie der fensterlose Holzkarren herangefahren worden war, was ihre Anspannung noch weiter vergrößerte. Nicht weit von dem Gefährt entfernt, stand noch ein Mann, der jede ihrer Bewegungen genauestens musterte und sie sicherlich nicht einfach würde fliehen lassen. Hinter sich konnte sie immer noch den Mann spüren, der sie angesprochen hatte, er wartete nur darauf, dass sie sich zuerst bewegte, damit er nach ihr würde greifen können. „Was wollt ihr?“, fragte sie und beantwortete damit indirekt die vorangegangene Frage. Diese Männer waren keine Menschen – aber auch keine Drachenmenschen. Menschen würden sich kaum mit ihr – der Prinzessin der Drachenmenschen – anlegen und bei Drachenmenschen selbst würde sie eine besondere Aura spüren können. Aber bei diesen Männern spürte sie nichts, sie konnten keine lebenden Geschöpfe sein, möglicherweise waren sie von Magie gelenkte Leichen, die vorgeschickt worden waren, um sie einzufangen. Aber weswegen? „Lord Ladon schickt uns“, antwortete einer von ihnen. Ein eiskalter Schauer fuhr ihr den Rücken hinab, am Liebsten hätte sie lauthals geflucht, aber stattdessen versuchte sie, ruhig zu bleiben, um sich möglicherweise aus dieser Situation retten zu können. Sie wusste, wenn sie die Nerven verlor, war alles vorbei. Mit bemühter Ruhe und unterdrücktem Atem, wartete sie daraufhin, dass einer der Männer etwas tat. Eine Bewegung, schon ein Schritt, hätte genügt, um die Anspannung aller zu unterbrechen und ihr die Möglichkeit zur Flucht zu geben, aber keiner tat ihr den Gefallen, stattdessen sprach der Mann vor ihr weiter: „Er will, dass wir Euch zu ihm bringen. Er möchte seinen Preis erhalten.“ Ihre Mundwinkel zuckten, aber sie unterdrückte das humorlose Lachen. Niemals würde sie freiwillig mitgehen und das wusste er offenbar genau und hatte deswegen gleich zwei Männer geschickt, von denen zumindest der eine, den sie vor sich sah, ganz offensichtlich ein kräftiger Kämpfer war. Aber was erwartete sie auch anderes von dem Gott, den ihr Volk verehrte? „Ich nehme an, wenn ich nicht freiwillig mitgehe, werde ich nachdrücklich gebeten?“ Der Mann vor ihr nickte und sie glaubte zu spüren, wie jener hinter ihr genau dasselbe tat, noch immer fühlte sie seinen Blick auf ihr ruhen. Sie erlaubte sich einen kurzen Moment, den Kopf zu drehen, um den Mann hinter ihr anzusehen, aber das ließ ihren Mut nur tiefer sinken. Er stand seinem Kumpan bei den Muskeln um nichts nach, noch dazu trug er ein Schwert mit sich und sie hätte ihren gesamten Besitz darauf verwettet, dass er wusste, wie er damit umgehen musste. Sie dagegen führte keinerlei nennenswerte Waffen mit sich, in einem Anflug von Hochmut war ihr beim Verlassen des Palastes gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie unterwegs in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnte. Wer konnte auch ahnen, dass er seinen Preis auf diese Art und Weise einfordern würde? Ihr Blick ging wieder nach vorne, so dass sie auch den Karren wieder sehen konnte. Ihre einzige Möglichkeit, so wie es für sie zumindest aussah, war wohl, den Mann vor ihr zu überraschen, schnell genug auf den Karren zu springen und sich mithilfe der vorgespannten Pferde in Sicherheit zu bringen. Zwar zweifelte sie ein wenig an der Ausführbarkeit dieses Plans, aber eine andere Möglichkeit sah sie dennoch nicht. Sie atmete noch einmal tief durch. Dann sprang sie auf – und keuchte im nächsten Moment erschrocken auf, während Sterne vor ihren Augen geradezu explodierten. Der Schmerz in ihrem Rücken breitete sich rasch aus, erfüllte ihren Brustkorb und ließ sie wie eine Ertrinkende nach Luft schnappen, während sie gleichzeitig unfähig war, sich zu bewegen und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Der Mann hinter ihr, packte sie mühelos und hob sie hoch, trug sie den kurzen Weg zum Karren hinüber, der inzwischen von dem anderen geöffnet wurde. Sie wollte schreien, sich wehren, aber außer einem leisen Wimmern kam kein Laut über ihre Lippen, ihr Körper versagte ihr immer noch den Dienst, was sie mit ohnmächtiger Wut erfüllte, welche die abflauende Panik, dass sie ersticken könnte, ersetzte. Im nächsten Moment wurde sie bereits in den Wagen hineingeworfen und noch bevor sie sich überhaupt genug sammeln könnte, um einen Fluchtversuch zumindest in Erwägung zu ziehen, wurde die Klappe wieder geschlossen und sie im Dunkeln zurückgelassen. Nur einen Wimpernschlag später, setzte das Gefährt sich mit einem Ruck in Bewegung. Leise fluchend richtete sie sich auf, als ihr Körper sich endlich dazu entschied, dass er sie – leider zu spät – doch noch unterstützen könnte. Das Innere des Wagens war gerade groß genug, dass sie sich aufrecht hinsetzen konnte, selbst das Ausstrecken der Beine war ihr nicht möglich, aber die Schmerzen in ihrem Rücken sorgten auch nicht unbedingt dafür, dass sie sich bewegen wollte. Innerlich verfluchte sie den Umstand, dass sie keine Waffe und keinen Leibwächter mit sich genommen hatte, sie verfluchte Ladon für das Einfordern seines Preises, sie verfluchte ihren Bruder dafür, dass er unbedingt hatte krank werden müssen – und sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie sich darauf eingelassen hatte, dem Gott ihre Seele zu versprechen. „Ich hätte Ryu einfach sterben lassen sollen“, murmelte sie wütend, nur um gleich darauf zu seufzen. „Nein, das hätte ich mir nie verziehen...“ Aber zum Lamentieren hatte sie auch noch ein andermal Zeit, beschloss sie, erst einmal musste sie zusehen, dass sie sich aus dieser misslichen Lage wieder befreite, denn sie fand, dass es noch viel zu früh für sie war, einem Gott geopfert zu werden. „Was muss der auch meine Seele als Preis verlangen, das ist unfair.“ Zu ihrem Glück war allerdings nicht daran gedacht worden, sie zu fesseln, was, wie sie nach einem kurzem Rütteln an der Tür bemerkte, schlichtweg daran lag, dass die Männer auf das äußerst stabile Schloss vertrauten – zu Recht, wie sie fand. Zwar kam ihr der Gedanke, zu versuchen, es mit einem Zauber zu öffnen, aber der erneute Schmerz an ihrem Oberarm verriet ihr, dass Ladon ihre Magie versiegeln würde, wenn sie das tat und darauf wollte sie lieber verzichten. Warum bin ich eigentlich nicht vorher auf die Idee mit der Magie gekommen? Gut, da hätte er sie wohl ebenfalls versiegelt, also ist das auch hinfällig. So blieb ihr nur noch die Alternative, darauf zu warten, dass sie am Zielort ankamen und die beiden Männer dann zu überraschen. Zur Sicherheit zog sie das Messer aus ihrem Stiefel, dass sie auf Anraten des Leibwächters ihres Bruders dort aufbewahrte. Er war der einzige gewesen, den sie lange im Vorfeld über ihre Pläne aufgeklärt hatte, um sich von ihm hilfreiche Ratschläge geben zu lassen. Er hatte ihr auch geraten, ein Schwert mitzunehmen und im Moment wünschte sie sich, dass sie das nicht einfach ausgeschlagen hätte. Aber nun war es ohnehin zu spät. Ihr blieb nur zu hoffen, dass ihre beiden Entführer sich an ihrem Bestimmungsort, wo immer dieser sich auch befinden mochte, überlisten ließen. „Einer Frau in den Rücken zu schlagen ist auch ganz schön feige“, grummelte sie leise vor sich her. Dann lehnte sie sich zurück, das Messer sicher in den Händen – und wartete. Was die Prinzessin nicht im Mindesten ahnte, war die Tatsache, dass sich ihr zukünftiger Retter gar nicht weit entfernt von ihr befand. Es wirkte ein wenig lustlos, wie er über die Ebene schlurfte und dabei einen Apfel aß, während er seinen Blick schweifen ließ. Das Schwert an seiner Hüfte schien ihm an diesem Tag so schwer wie sonst nie, gedanklich sehnte er sich nach einem heißen Bad und einem gemütlichen Bett. Dass er beides schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen hatte, hob seine Stimmung nicht sonderlich. Zusätzlich gedrückt wurde sie noch dadurch, dass er sich auf der Suche nach jemandem befand – und er es partout nicht schaffte, diese Person aufzuspüren. Gut, so ganz stimmte das nicht, es war ihm gelungen, eine Person zu finden, aber er war noch ein Kind gewesen und noch dazu der künftige – inzwischen sicherlich bereits amtierende – Kaiser der Drachen, es war ihm nicht möglich gewesen, den Jungen mit sich zu nehmen und das drückte seine Stimmung zusätzlich. Er hatte es sich wesentlich einfacher vorgestellt, göttliche Auren aufzuspüren, aber es war doch... ziemlich schwer, wie er sich eingestehen musste, besonders wenn man dabei versuchte, keine wie auch immer geartete Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihm entfuhr ein leises Seufzen – und hörte hinter sich plötzlich Hufgetrappel. Neugierig geworden, blieb er stehen und fuhr herum, um herauszufinden, wer sich außer ihm um diese Zeit hier aufhielt. Ein Händler oder eine freundliche Reisegesellschaft wäre ihm gerade recht gekommen. Doch zu seiner Enttäuschung handelte es sich um einen Gefängniskarren, wie er nach einem Blick erkannte. Es war kein seltener Anblick, in den letzten Tagen waren ihm mehrere dieser Art begegnet und jedes Mal hatte er den Drang bekämpfen müssen, den Eingesperrten zu helfen. Immerhin wurden in solchen Wägen keine Sträflinge, sondern Entführte transportiert – aber er zog es doch vor, seine Tarnung aufrecht zu erhalten, statt in fremde Schicksale einzugreifen. Die Pferde schnaubten leise, als sie den Wagen an ihm vorbeizogen – und im selben Moment wusste er, dass diesmal etwas anders war als sonst. Noch als er dem Wagen hinterhersah, der sich rasch aus seinem Blickfeld zu entfernen versuchte, spürte er diesen Hauch von göttlicher Energie. Nicht genug, um ihm zu verraten, wer sich im Wagen befand und schon längst nicht genug, um wirklich von einem Gott zu stammen, aber er wusste genau, dass er das nicht einfach ignorieren dürfte. Immerhin war es gut möglich, dass sich eine der von ihm gesuchten Personen darin befand. Notgedrungen warf er seinen angebissenen Apfel fort und folgte er dem Wagen also und wie zu erwarten gewesen war, wurden die beiden Begleiter des Gefährts rasch auf ihn aufmerksam. „Verzieh dich!“, schnauzte einer von ihnen den Verfolger an, doch dieser ließ sich nicht beeindrucken. „Was transportiert ihr da?“, wollte er stattdessen wissen. „Geht dich nichts an!“ Die schlechte Laune beider Begleiter war geradezu greifbar, doch er konnte und wollte nicht einfach aufgeben, gerade jetzt nicht. Wenn einem deutlich Interessierten gegenüber so viel Geheimhaltung an den Tag gelegt wurde, musste das bedeuten, dass die gefangene Person nicht für den Sklavenmarkt bestimmt war. Nein, etwas hier stank ganz gewaltig und damit meinte er nicht die ungewaschenen Begleiter. So nah am Wagen spürte er eine Woge von Emotion von der Person darin und zu seiner Überraschung war es eher Ärger als Angst, was ihn darin bekräftigte, dass man nicht gedachte, den Gefangenen zu verkaufen, sondern eher einzutauschen – und als ihm der Gedanke kam, wer jemanden mit einer solchen Aura tatsächlich haben wollen würde, verflog auch noch der letzte Rest seiner Zurückhaltung. Würde er nichts tun, würde sein größter Feind diese Person in die Finger bekommen und dieser würde nichts lieber tun als den Gefangenen zu brechen, wieder einmal. Nein, das durfte er nicht zulassen! In einer einzigen Bewegung zog er sein Schwert und ließ einen der Begleiter seines mitsamt Hand verlieren. Der andere war offenbar noch so sehr überrascht, dass er nicht mehr reagieren konnte und im nächsten Moment schmerzhaft zu Boden gestoßen wurde. Stöhnend und mit – wie der Retter in spe vermutete – gebrochener Rippe, blieb er neben seinem klagenden Kumpan liegen, der seiner Hand nachtrauerte. Ein wenig überrascht war er über dieses Klagen, immerhin war keiner der beiden mit einer Aura versehen, weswegen er angenommen hatte, dass sie ohnehin keine Lebewesen wären und der Verletzte blutete auch nicht. Allerdings machte er sich keine weiteren Gedanken mehr darum, sondern beeilte sich lieber, den Wagen einzuholen, da die Pferde einfach unbeeindruckt weitergelaufen waren. Schließlich schaffte er es, die Pferde dazu zu bringen, anzuhalten und lief an die Rückseite des Wagens, um die Tür zu öffnen. Mit Sicherheit wäre die Person überglücklich, würde sich in ellenlange Dankesreden verlieren und ihm nie wieder von der Seite weichen, zumindest malte er sich das aus, während er noch mit dem Schloss beschäftigt war, das sich erstaunlich wehrhaft gegen seine Magie zeigte. Normalerweise genügte es, Magie in das Schloss fließen zu lassen, diese breitete sich dann darin aus, ahmte einen Schlüssel nach und öffnete die Tür – aber dieses Schloss schien die Magie immer wieder wegzuschieben als wollte es gar nicht geöffnet werden. Doch schließlich siegte seine Beharrlichkeit und das Schloss gab endlich nach,. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war das, was tatsächlich geschah, als die Tür endlich aufsprang. Das beständige Rütteln des Wagens sorgte dafür, dass sie allmählich seekrank wurde. Ihre Hände waren inzwischen schweißnass, so dass sie verkrampft das Messer festhielt, immer darauf wartend, dass sie endlich wieder anhielten – auch wenn sie sich inzwischen nicht mehr so sicher war, ob sie sich dann nicht möglicherweise erst einmal übergeben und somit eine wertvolle Gelegenheit verschleudern würde. Doch als der Wagen tatsächlich hielt, atmete sie erst einmal erleichtert auf. Es schien ihr eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit sie losgefahren waren, aber gleichzeitig sagte ihr Zeitgefühl ihr, dass es höchstens ein oder zwei Stunden her sein konnte. Jemand machte sich am Schloss zu schaffen, sie beeilte sich, sich in eine Position zu begeben, die es ihr ermöglichen würde, auf denjenigen, der öffnete, zuzustürmen. Zwar wurde sie vom Licht geblendet, als die Tür endlich aufging, aber dennoch zögerte sie keine Sekunde und stürmte mit erhobenem Messer vor. Sie stoppte, als sie einen überraschten Ausruf hörte. Die Klinge ihres Messers schwebte gefährlich nahe an dem Hals eines ihr fremden Mannes, den sie rasch musterte. Seine zerschlissene Kleidung verriet ihr, dass er ein Reisender war, das grüne Haar und die gründen Augen wollten ihr Glauben machen, dass es sich bei ihm um einen Drachenmenschen handelte, aber etwas passte nicht ganz. Allerdings blieb ihr keine Zeit, das genauer zu erörtern, denn er hob langsam seine Hände und zog somit ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich. „He, i-ich tu dir nichts.“ Sie runzelte die Stirn, er wirkte wirklich nicht gefährlich oder feindselig, ganz anders als ihre beiden Entführer. „Du gehörst nicht zu denen, oder?“ Mit einer kaum merkbaren Bewegung deutete er zu den klagenden Banditen hinüber. Sie entspannte sich ein wenig, als sie das bemerkte, blickte ihn aber wieder misstrauisch an. „Und woher soll ich wissen, dass du nicht auch nur ein Schurke bist?“ Er schmunzelte ein wenig. „Ich wäre ein sehr dummer Schurke, dich einfach herauszulassen, statt bis zu meinem Versteck zu warten, meinst du nicht?“ „Vielleicht besitzt du ja keines“, erwiderte sie darauf. Zu ihrem Ärger fiel ihr genau in diesem Moment eine Strähne ihres blonden Haars in ihre Stirn. Einem Impuls folgend, wollte sie diese hastig wegwischen, besann sich dann aber darauf, es zu ignorieren, um dem Mann vor ihr keine Gelegenheit zu einem Angriff zu geben. „Ein Schurke, der kein Versteck besitzt, ist kein richtiger Schurke“, konterte er. Seine Worte verunsicherten sie. Möglicherweise war er wirklich nur an ihrer Rettung interessiert gewesen und half ihr völlig uneigennützig. Sie ließ das Messer sinken und kam aus dem Wagen heraus, bevor er unter Umständen auf die Idee kam, sie doch wieder einzusperren. Sie ließ den Blick schweifen, suchte nach der Bergkette, an der sie sich zuvor orientiert hatte und stellte frustriert fest, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand. „Haben die Kerle dich entführt?“, fragte er und fuhr direkt fort, als sie wortlos nickte: „Dann bist du wohl eine Berühmtheit, was?“ Sie warf ihm einen hochmütigen Blick zu. „Wenn du mich nicht erkennst, werde ich wohl kaum sonderlich berühmt sein. Aber andererseits kann ja nicht jeder Streuner die Prinzessin von Drakani kennen.“ Sie legte den Kopf ein wenig in den Nacken, in einem Versuch, ihre Worte glaubhaft erscheinen zu lassen. Immerhin würde sie zumindest niemandem glauben, wenn ihr so etwas erzählt werden würde. Zu ihrer Erleichterung machte er daraus aber auch keine große Sache, er verspottete sie nicht und er fiel auch nicht direkt auf die Knie, stattdessen wirkte er ein wenig mitleidig. „Drakani, hm? Du bist ziemlich weit weg von daheim in diesem Fall.“ Sie verzog ihr Gesicht für einen Moment. „Das habe ich befürchtet.“ „Ich kann dich hinbringen, wenn du willst.“ Tatsächlich ließ sein großzügiges Angebot sie stutzen und ihn verwirrt mustern. „Und was willst du dafür?“ „Nichts.“ Seine Antwort ließ das Misstrauen in ihrem Inneren wieder anwachsen. Vielleicht war er doch ein Schurke, der sie nur in Sicherheit wiegen wollte, um sie dann hinterrücks selbst zu entführen, nun da er wusste, wer sie wirklich war. „Klar. Als ob jemand nichts dafür verlangen würde, eine Prinzessin wieder nach Hause zu bringen.“ Er breitete die Arme aus und zuckte dabei mit den Schultern. „Du hast mein Angebot. Nimm es oder lass es. Kennst du dich denn in der Gegend aus, dass du allein nach Hause findest?“ Noch einmal sah sie sich um, ein letztes Mal hoffte sie, die Bergkette wiederzufinden, aber nach wie vor wusste sie nicht im Mindesten, wo sie sich im Moment befand. Natürlich hätte sie anhand der Sonne bestimmen können, in welcher Richtung ihr Zuhause lag, aber der Weg war weit und derjenige, der sie haben wollte, würde nicht nach nur einem Rückschlag aufgeben. Sie musste das Angebot annehmen und hoffen, dass kein Trick dahintersteckte. „Fein, du darfst mich begleiten“, schnaubte sie wütend. „Aber ich warne dich, eine falsche Bewegung und du kannst was erleben.“ Sie hob drohend ihr Messer, worauf er wieder einen Schritt zurücktrat. „Nur keine Sorge, Prinzessin. Man sagt mir vieles nach, aber ich bin nicht lebensmüde.“ Nach einem weiteren skeptischen Mustern gab sie sich damit zufrieden und steckte die Waffe wieder weg. Dabei wandte sie allerdings nicht den Blick von ihm ab, nur um sicherzugehen, dass er nicht bei der erstbesten Gelegenheit doch noch sein wahres Gesicht zeigte. „Langsam wäre eine Vorstellung angebracht. Ich bin Russel.“ Er hielt ihr die Hand entgegen, während sie abwehrend die Arme vor der Brust verschränkte. So ganz sah sie nicht ein, dass sie sich vorstellen sollte, immerhin war sie eine Prinzessin und sie fand, dass es das Mindeste war, dass man sie kannte – nicht zuletzt, weil sie ursprünglich die Kaiserin hätte werden sollen, zumindest wenn Ryu nicht geboren worden wäre. Der Gedanke an ihn erfüllte sie erneut mit Wut und Zorn, weswegen sie für einen Moment vergaß, dass Russel noch da war. Er missinterpretierte ihr Schweigen allerdings. „Ich kann dich auch die ganze Reise – die im Übrigen sehr lang ist – über einfach mit He du ansprechen, wenn dir das gefällt.“ Sie seufzte leise bei der Vorstellung. „Seline.“ „Freut mich.“ Nur widerwillig ergriff sie die immer noch dargebotene Hand – und zuckte sofort zurück, als ihre Aura auf seine traf. Sie spürte, dass er kein Drachenmensch war. Zwar war seine Aura unterdrückt, warum auch immer, aber es war dennoch eindeutig. „Noch ein Gott,“, seufzte sie, „was habe ich doch für ein Glück.“ Missmutig wartete sie auf seine Erwiderung, überlegte bereits, wie sie erklären sollte, warum sie nicht gut auf Götter zu sprechen war und wie sie ihn am besten nach seiner Verbindung zu Ladon befragte – und warum er wie ein Landstreicher wirkte. Doch zu ihrer Erleichterung, beließ er es bei ihrer Bemerkung und wandte sich bereits in eine andere Richtung. „Dann kommt, wir müssen hier lang.“ Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, als er loszulaufen begann. Sie zögerte einen Moment. Nun wäre die passende Gelegenheit zur Flucht, wenn sie die Pferde nutzen würde, holte er sie möglicherweise nie ein. Aber der Blick auf die noch immer klagenden Banditen, überzeugte sie davon, dass es besser wäre, wenn sie nicht allein weiterreiste, so dass sie hastig zu Russel aufschloss. Wieder blickte sie ihn skeptisch, wenngleich diesmal von der Seite her an. „Du kannst mich doch beschützen, wenn etwas passiert, oder?“ „Aber mit Sicherheit“, antwortete er selbstbewusst. „Vor allem, was auch nur daran denkt, Euch zu schaden, Prinzessin.“ Tatsächlich war sie davon überzeugt, seinen Worten glauben zu können, mit ihm an ihrer Seite würde sie es sicher nach Hause schaffen. „Ich kann mich darauf verlassen, ja?“ „Aber natürlich.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu und sie erwiderte diese Geste sofort, ihr Herz war dank ihm bereits um einiges leichter geworden. Vielleicht würde sie ab sofort nichts mehr zu befürchten haben, sie war nun sicher und sobald sie zu Hause war, würde sie über ihren nächsten Schritt nachdenken. Aber vorerst schien ihr eine weite Reise bevorzustehen – und in diesem Moment wusste sie noch nicht, wie lang sie wirklich werden würde. Kapitel 2: Unglückliche Umstände -------------------------------- Zu Selines Leidwesen schien sich absolut nichts an der Umgebung zu ändern, egal wie lange sie liefen. So weit das Auge reichte, war eine endlose Wiese zu sehen, lediglich von vereinzelten, knorrigen Bäumen unterbrochen und irgendwo in der Entfernung waren Berge zu sehen, die das Ziel ihres Begleiters zu sein schienen. Ihre Sehnsucht nach Zuhause wuchs mit jedem Schritt, den sie tat, selbst ihr jüngerer Bruder Ryu, fehlte ihr plötzlich. Wenn sie wieder im Palast wäre, würde sie den Kaiser umarmen und sich dann in ihrem Zimmer einschließen und nie wieder herauskommen. Sie war erst wenige Stunden gemeinsam mit Russel unterwegs, als Seline plötzlich das Bedürfnis überkam, mehr über ihn wissen zu wollen und gleichzeitig mehr über sich zu erzählen – wohl nicht zuletzt deswegen, weil er nach einer endlos erscheinenden Phase des Schweigens endlich beschloss, sie etwas zu fragen, was ihn wohl brennend interessierte: „Ihr seid wirklich ein Drachenmensch?“ Sie warf ihm einen knappen Seitenblick zu, den er allerdings nicht erwiderte. „Was soll die Frage denn?“ „Na ja...“ Er zögerte einen kurzen Moment. „Ihr seid blond und blauäugig, so etwas sieht man selten bei Drachenmenschen. Selbst ich wirke eher wie einer.“ Er deutete erst auf ihr Haar, das zu einem Pferdeschwanz hochgebunden war und dann auf sein eigenes, das lange keine Bürste mehr gesehen hatte. Sie musste zugeben, dass er in gewisser Weise recht hatte. Selbst unter den einfachsten Angestellten im Palast hatte es keine blonden Drachenmenschen gegeben. Da aber sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter ebenfalls blond und blauäugig gewesen waren, hatte sie sich nie etwas dabei gedacht, sondern einfach eines Tages beschlossen, dass es wohl ein Zeichen ihrer adeligen Abstammung sein musste. Umso ärgerlich empfand sie daher, dass ausgerechnet ihr Bruder, der durch sein violettes Haar und die violetten Augen wieder wie ein ganz gewöhnlicher Drachenmensch aussah, den kaiserlichen Thron hatte übernehmen dürfen. „Ich bin wirklich einer, im Gegensatz zu dir“, erwiderte sie. „Ich bin einfach etwas Besonderes, das ist alles.“ Er schmunzelte. „Ah, bescheiden sind wir gar nicht, was?“ Sie warf ihm einen blitzenden, fast schon mörderischen, Blick zu, den er allerdings nur amüsiert erwiderte. „Jedenfalls, woher wusstet Ihr eigentlich, dass ich ein Gott bin? Ich meine: Ich sehe aus wie ein Drachenmensch und alle anderen haben bislang nichts gemerkt.“ Sie strich sich einige der Strähnen aus dem Gesicht, die sich offenbar nicht von ihrer Frisur bändigen ließen und neigte ein wenig den Kopf, während sie darüber nachdachte, ob sie ihm die ganze Wahrheit sagen oder einige Dinge lieber für sich behalten sollte. Schließlich entschied sie sich für Letzteres: „Ich sagte schon, ich bin etwas Besonderes. Ich konnte deine göttliche Aura direkt spüren – sie ist außerdem ganz schön aufdringlich.“ Seine Aura hatte direkt versucht, auf sie überzuspringen, um sie genauestens zu untersuchen, ein Gedanke, der ihr gar nicht behagen wollte. Er dagegen grinste nur verschmitzt. „Wenn man schon eine so hübsche Prinzessin trifft, will man natürlich auch mehr über sie wissen.“ „Du wolltest nur austesten, ob ich wirklich ein Drachenmensch bin, oder?“ Er zuckte nur mit den Schultern, gab ihr somit also keine richtige Erwiderung darauf, was sie ein wenig ärgerte. Aber statt sich weiter darum Gedanken zu machen, beschloss sie, ihn etwas anderes zu fragen: „Aber wie kommt es eigentlich, dass du hier unterwegs bist? Ich meine... laut dem, was ich früher gelernt habe, sind alle Götter gestorben, um Ladon zu schützen.“ Einen kurzen Moment lang reagierte er nicht, so als könne er sich einfach für keine angemessene Reaktion entscheiden, aber schon im nächsten Augenblick brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus. Das empfand sie jedenfalls nicht für angemessen. Er lachte stetig weiter und ließ sich dabei nicht einmal von ihrem empörten Blick abhalten, auch wenn sich die Empörung langsam in Besorgnis umwandelte. Immer noch lachend strich er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist zu herrlich!“, prustete er. „Davon höre ich zum ersten Mal, genial!“ „Was ist daran denn bitte so komisch?“, verlangte sie zu wissen. Sein Lachen ebbte nur langsam ab, aber als es das endlich tat, öffnete er den Mund, um ihr zu antworten, wenn auch nicht sonderlich zufriedenstellend. „Wer auch immer Euch das erzählt hat, war ein schamloser Lügner, wir haben ihn mit Sicherheit nicht beschützen wollen.“ „Was ist dann passiert?“, fragte sie neugierig. Sie war ernsthaft neugierig, was diese ganze Sache anging, nicht zuletzt, weil ihre Abneigung gegen Russel und sonstige Götter nur daherrührte, dass sie glaubte, sie würden alles tun, um Ladon zu beschützen. Der einzige Grund, warum sie sich diesem Gott neben ihr angeschlossen hatte, war die Hoffnung gewesen, dass er ihr helfen würde, solange er nicht wusste, von wem sie verfolgt wurde. Aber seine Reaktion auf ihre Worte, ließ sie daran zweifeln, dass er mit Ladon im Bund war, ungeachtet der Tatsache, dass sie derselben Art angehörten. Allerdings tat er ihre Frage mit einem „Das ist unwichtig“ ab und damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein. Sie traute sich nicht, ihn noch einmal zu fragen, denn sein verschlossenes Gesicht wirkte alles andere als einladend, wenn sie ehrlich war, machte er ihr in diesem Moment sogar Angst. Aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen, sie war überzeugt, dass er ihre Angst bemerken und zu seinem Vorteil ausnutzen würde und das durfte sie nicht zulassen. „Also... was führt Euch in diese Gegend?“ Sie beschloss, ihn respektvoller anzusprechen, wenn es sich bei ihm schon um einen Gott handelte, um sich mit ihm besser zu stellen. Sein Name wies zwar nicht darauf hin, er war eindeutig menschlich, aber es war gut möglich, dass er inkognito unterwegs war oder es sich bei ihm nur um einen reinkarnierten Gott handelte. Drachenmenschen glaubten an Reinkarnation und wenn sie selbst wiedergeboren wurden, dürften ihre Götter das doch auch spielend schaffen, nein, mussten es sogar. Er neigte den Kopf ein wenig. „Ich suche nach meinen alten Gefährten – ich hatte gehofft, Ihr wärt einer von ihnen, als ich Eure Aura gespürt habe.“ „Und ich bin keiner?“ „Nein.“ Er klang nicht sonderlich enttäuscht, eher so als hätte er ohnehin nicht wirklich erwartet, dass sie tatsächlich dazugehörte, fast schon resignierend sogar, so dass sie tief im Inneren den Wunsch verspürte, ihn zu trösten. „Eure Aura ist der von Ladon recht ähnlich, sie muss an Euch haften. Aber... warum eigentlich?“ Er wandte ihr den Kopf zu und wartete auf ihre Antwort, die sie ihm immer noch nicht geben wollte, auch wenn ihr bewusst war, dass sie ihm eigentlich eine schuldete, wenn sie schon von ihm verlangte, dass er sie beschützte. „Ich war so töricht, ihm meine Seele zu versprechen, im Austausch gegen das Leben meines Bruders.“ „Ah, Ryudo de Silverburgh, nicht wahr?“ Es war nur verständlich, dass er den Namen ihres Bruders kannte, immerhin war er der Kaiser, aber dennoch hob sie verwundert die Augenbraue. „Seid Ihr ihm einmal begegnet?“ „Oh ja, er hat immerhin die Aura eines Gottes, den ich kenne.“ In dem Moment, in dem er das sagte, traf es sie geradezu wie ein Blitz. „Die Aura eines Gottes, ja? Ganz sicher?“ Er nickte und wirkte über ihr Nachhaken ein wenig verwundert. „Absolut. Ich bin seiner Aura gefolgt, als ich ihn gefunden habe. Er ist einer der reinkarnierten Götter.“ Das erklärte, warum ihre Eltern beide einstimmig beschlossen hatten, Ryu zum Thronfolger zu machen und Seline dieses Recht als Erstgeborene abzuerkennen. Einen wahrhaftigen Gott als Kaiser für die Führung eines ganzen Volkes einzusetzen, musste sie beide gereizt haben – und wenn Seline ehrlich war, konnte sie das sogar ein wenig nachvollziehen. Aber das tröstete sie immer noch nicht über den Verlust des Thrones hinweg. „Was für ein unglücklicher Umstand“, seufzte sie, worauf er mit einstimmte, aber gleich darauf wieder lächelte. „Oh, wenn unglückliche Umstände mich immer zu hübschen Prinzessinnen führen würden, wäre ich viel öfter auf der Suche nach Unglücken.“ Im allerersten Moment wollte sie empört darauf reagieren, aber stattdessen beschloss sie, dass die Reise wesentlich angenehmer werden würde, wenn sie nicht auf jeden seiner Sätze so reagieren würde, nur weil ihre Erziehung das von ihr verlangte. Also stimmte sie stattdessen in sein Lächeln mit ein. „Ich bin sicher, dass so manche Prinzessin sich über Eure Begleitung freuen würde.“ „Gehört Ihr denn nicht dazu?“ Sie hob die Schultern, während sie unschuldig lächelte. „Vielleicht.“ Statt noch etwas zu sagen, beschloss er anscheinend, genug geflirtet zu haben, denn im Anschluss schwieg er wieder, so dass sie die Reise wieder in aller Stille fortsetzten. Bis sie schließlich endlich an dem Berg ankamen, auf den sie bislang zugelaufen waren. Ein steiler Pfad führte in die Höhe hinauf, allerdings war er derart schmal, dass man befürchten musste, hinabzustürzen, wenn man nur einen falschen Schritt tat. Russel schritt unerschrocken hinauf, als ob er sich der Gefahr nicht bewusst wäre, worauf Seline ihm hastig folgte, um nicht zurückzubleiben. Sie fühlte sich allerdings wesentlich weniger mutig. Ihr Blick ging immer zwischen dem Pfad und dem Abgrund hin und her und je höher sie kamen desto tiefer ging es selbstverständlich hinunter. Um zu verhindern, dass sie wegen eines falschen Schritts hinabfallen könnte, hielt sie sich so weit links wie möglich, immer direkt an der schroffen Felswand, auch wenn sie sich die Haut aufschürfte, als sie mit der Hand versuchte, dort Halt zu finden. Der Abstand zwischen ihr und Russel wuchs rasch an, sie überlegte bereits, nach ihm zu rufen, damit er nicht nur wartete, sondern auch zurückkam und sie an der Hand nahm, aber ihr Stolz hielt sie davon ab. Wie würde es denn aussehen, wenn die Prinzessin von Drakani, die ehemalige Thronfolgerin, vor Furcht Händchen mit einem Unbekannten halten würde? Selbst wenn hier niemand war, der sie sehen könnte, wollte sie sich eine solche Blöße nicht geben. Denn immerhin war dieser Russel ein Unbekannter für sie, dessen Gedanken sie nicht wirklich nachvollziehen konnte, wer wusste schon, was er dachte? Da ertrug sie doch lieber die Furcht vor dem Absturz. Sie war so in den Blick auf dem Boden und in ihre Gedanken vertieft, dass sie beinahe in Russel hineingelaufen wäre. Dieser war nämlich stehengeblieben und sah nun den Abhang hinunter. Nur widerwillig folgte sie seinem Blick. Am Fuß des Pfades befand sich nach wie vor nur ein Feld, aber bei genauerem Hinsehen konnte sie eine Person erkennen, die von drei schwarzen Dämonen umringt war. Von ihrer Position aus war der Mensch so klein, dass sie nicht einmal erkennen konnte, ob er bereits erwachsen oder noch ein Kind war, dafür waren die schwarzen Leiber der Dämonen riesenhaft und unheimlich imposant und so als ob sie diesen Eindruck noch verstärken wollten, reckten sie die ledernen Flügel. Selbst auf diese Entfernung konnte Seline sagen, dass sie sich auf einen Kampf vorbereiteten. Wenn niemand diesem Opfer half, würde es mit Sicherheit unweigerlich sterben. Obwohl sie genau spürte, dass diese Person magischen Ursprungs war, vermutlich auch ein Drachenmensch, bemerkte sie auch, dass er sich allein nicht gegen drei Angreifer würde verteidigen können. Aber sie war auch zuversichtlich, dass Russel ihm helfen würde. Auffordernd sah sie zu ihm hinüber – und stellte perplex fest, dass er bereits weiterlief als würde ihn das alles nichts angehen. Mit aufwallender Wut packte sie ihn und zog ihn zurück. „Was denkst du eigentlich, was du da machst!?“ Er wandte sich ihr zu und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Weitergehen, wonach sieht es denn aus?“ „Das kannst du nicht tun! Du musst ihm helfen!“ Sie würde kein Nein als Antwort akzeptieren und das spürte er offenbar auch. „Und wie?“ Da sie immer noch seinen Arm festhielt, hob sie diesen einfach und schwenkte ihn ein wenig herum als ob er eine Marionette wäre, die nun auf ihre Beweglichkeit getestet werden müsste. „Na so! Mach einfach irgendso ein Wusch-Zeug, immerhin bist du doch ein Gott!“ Für einen solchen müssten drei Dämonen doch die einfachste Übung sein. Sicher, sie hatte auch nie gesehen, wie Ryu irgendwelche besonderen Kräfte entfesselte, aber der war auch nie mit irgendwelchen nennenswerten Feinden konfrontiert gewesen. Sie konnte die Unentschlossenheit in seinem Gesicht sehen, spürte, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, während er versuchte, zu einem Entschluss zu kommen, der sowohl sie zufriedenstellte als auch der Person da unten half und ihn selbst dennoch nicht ins Unglück stürzte. Einer der Dämonen stieß einen Kampfschrei aus und wischte Russels Überlegungen direkt fort. In einem plötzlichen Impuls ließ er seiner eigenen Magie freien Lauf, Seline spürte, wie sie sich frohlockend durch seinen Körper arbeitete, aus seinen Fingerspitzen herausquoll und in geradezu Windeseile einen Sturm heraufbeschwor, der sämtliche Dämonen hinfort fegte. Gleichzeitig spürte sie wieder einen Schmerz an ihrem Oberarm. Nein, Schmerz war das falsche Wort, es war ein heftiges Ziehen, aber es war eher wohltuend, fast so als würde Ladon sich über etwas freuen. Als der Sturm wieder abebbte, war nichts mehr von den Feinden zu sehen, die Person war in Sicherheit. Seline ließ Russels Arm wieder los. „Lass uns runtergehen und nach ihm sehen.“ Noch ehe er die Gelegenheit bekam, ihr zu antworten, begab sie sich bereits an den Abhang und kletterte vorsichtig hinunter. Wenn man bedächtig genug zu klettern verstand, war es sogar erstaunlich einfach, wie sie feststellte, zumindest sofern sie ihre aufgeschürften Hände und den Dreck auf ihrer Kleidung ignorierte. Das war aber auch schnell vergessen, als sie feststellte, dass Russel ihr tatsächlich folgte. Warum er gezögert hatte, wusste sie nicht und was dieses seltsame Ziehen in ihrem Oberarm bedeuten sollte, war ihr ebenfalls unverständlich, aber zumindest für den Moment schob sie derlei Überlegungen weit von sich. Dass diese Gedanken bald schon wichtig werden würden, konnte sie in diesem Augenblick natürlich nicht wissen. Kapitel 3: Zwei Reisende ------------------------ Als Seline sich dem Geretteten näherte, konnte sie endlich mehr Details ausmachen. Seine Statur war nicht sonderlich ausgeprägt, eher schlaksig, was den Eindruck erweckte, dass er nicht sonderlich stark, dafür aber flink war. Ihr schien, dass magische Funken von seinem schwarzen Haar herabfielen, aber auf den zweiten Blick bemerkte sie, dass es wohl doch eher Sand war. Das änderte allerdings nichts daran, dass der Eindruck, er sei magisch, vorhandenblieb, denn das war mehr als nur deutlich spürbar, wie sie fand, besonders aus der Nähe. Was ihr aber vor allem auffiel war, dass er sehr nett wirkte, so wie er sie direkt anlächelte, nein, geradezu anstrahlte, so dass seine dunkelblauen Augen zu glühen schienen. Seline konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. „Vielen Dank für die Hilfe“, sagte er. „Woher weißt du, dass wir es waren?“ Russel lächelte nicht, er schien sogar skeptisch zu sein, vielleicht war das sogar ein Grund gewesen, warum er ihm nicht sofort hatte helfen wollen. Doch der Reisende ließ sich nicht von diesem Verhalten irritieren. „Ich kann spüren, dass du gerade Magie gewirkt hast. Das ist eine Kleinigkeit für mich.“ „Du bist also wirklich ein Magier“, stellte Russel fest. „Was wollten diese Dämonen von dir?“ Der Fremde blickte auf die Stellen, wo seine Feinde zuvor noch gestanden hatten, dann zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich werde manchmal von solchen heimgesucht.“ Seline konnte sich nicht entsinnen, dass es Fälle von Dämonenübergriffen auf Menschen gab, jedenfalls unberechtigte. Aber dieser Mann wirkte äußerst ehrlich, wenn er das abwehrte, weswegen sie nicht glauben wollte, dass er doch irgendetwas getan haben könnte, um die Wesen zu provozieren. Er wollte gerade ansetzen, um etwas zu sagen, als eine weitere, äußerst wütende, Stimme erklang: „Ambrose!“ Sofort wandten sich alle dem Neuankömmling zu. Im ersten Moment war Seline der Überzeugung, jemanden vor sich zu haben, der noch jünger war als sie, er war sogar ein wenig kleiner als sie und die zu groß geratene schwarze Jacke mit dem Pelzbesatz, verstärkte diesen Eindruck noch. Aber sein ernsthaftes Gesicht mit den nachdenklichen blauen Augen, relativierte das wieder ein wenig. Dennoch war Selines erster Impuls, die Hand auszustrecken, um ihm durch das schokoladenfarbene Haar zu streichen. Allerdings hielt sie sich davon ab, da dieser Neuankömmling wütend eine Tasche auf den Boden schmetterte. „Mann, Ambrose! Ich bin nicht dein Packesel! Trag dein Zeug gefälligst selbst!“ Es schien nicht so als würde er Seline oder Russel beachten, die ihn und Ambrose dafür umso neugieriger betrachteten. Zu Selines Erleichterung schien Russels Trübsinn plötzlich wieder verflogen zu sein und er strebte auch nicht danach, wieder schnellstmöglich fortzukommen, sondern wartete tatsächlich auf Ambroses Erwiderung, die auch direkt darauf kam. Sein Gesicht wandelte sich zu etwas, das man am ehesten als Hundeblick bezeichnen konnte, seine Unterlippe begann sogar ein wenig zu zittern. „Aber Asric, wie kannst du nur so mit mir sprechen?“ Tatsächlich wirkten die Worte sofort, der Neuankömmling runzelte verdrossen die Stirn und entschuldigte sich dann kleinlaut bei seinem Begleiter. Im nächsten Moment strahlte Ambrose bereits wieder. „Diese beiden Personen haben mich gerade gerettet.“ Damit deutete er auf Seline und Russel, die Asric tatsächlich erst in diesem Moment bemerkte. Er straffte die Schultern, um ein wenig größer zu wirken, dann räusperte er sich sogar. „Vielen Dank. Ich bin euch wirklich sehr verbunden dafür.“ „Ihr müsst uns nicht danken“, erwiderte Seline, „wir haben es getan, weil es das Richtige war.“ Russel warf ihr einen Seitenblick zu, der ihr sagen sollte, dass sie gar nichts getan hatte, aber sie beachtete das nicht einmal – ohne sie wäre er immerhin weitergegangen, ohne den in Not Geratenen auch nur weiter zu beachten. Sie wollte zwar glauben, dass er ihm dennoch geholfen hätte, aber davon überzeugt war sie nicht. Während Ambrose weiterhin strahlte, stieß Asric ein humorloses Lachen aus. „Ambrose ist kein Drachenmensch, Ihr müsst ihn nicht wie einen Untertan behandeln, Prinzessin.“ Ambroses Gesicht entgleiste, Russel dagegen stieß ein anerkennendes Pfeifen aus, Selines Mimik wurde lediglich unbewusst ein wenig härter. „Du bist gar nicht so dumm.“ Sie wusste sofort, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, denn Asric zog die Brauen zusammen. „Nur weil ich klein bin, bedeutet das ja nicht, dass ich dumm bin!“ „Das habe ich doch mit keinem Wort behauptet“, erwiderte Seline ruhig, was dazu führte, dass auch er sich wieder beruhigte. „Dann ist ja gut“, murmelte er und wandte sich dann wieder Ambrose zu. „Ich denke, wir sollten...“ Doch er hielt noch einmal inne, diesmal sah er skeptisch zu Russel. „Du siehst nicht gerade aus wie ein kaiserlicher Leibwächter. Warum bist du mit der Prinzessin unterwegs?“ Vor dieser Frage, diesem Moment, hatte Seline sich ein wenig gefürchtet, denn er sah wirklich nicht aus wie jemand, der etwas mit ihrer Familie zu tun hatte, sie selbst würde auch annehmen, dass es sich bei ihm um einen Entführer handelte. Aber bevor einer von ihnen etwas sagen konnten, mischte Ambrose sich ein: „Das sieht man doch auf den ersten Blick, Asric! Die beiden lieben sich.“ Im ersten Moment waren sie beide vollkommen baff, aber schon einen Augenblick später brach Russel in schallendes Gelächter aus, während Seline spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Dabei war sie sich nicht sicher, ob das der Ärger über das Lachen oder die Verlegenheit über diese Annahme – oder möglicherweise sogar beides – war.“ „Gott, der war so gut“, stieß Russel zwischen dem Lachen hervor und wischte sich einige Tränen aus den Augenwinkeln, sein Blick fiel auf Seline, was ihn abrupt zum Verstummen brachte. Offenbar hatte er erwartet, dass sie das ebenfalls lustig finden würde, denn er wirkte plötzlich sogar ein wenig schuldbewusst. Seline sah Ambrose an, um das richtig zu stellen: „Wir lieben uns nicht. Russel hat mich vor ein paar Räubern gerettet und begleitet mich nun nach Hause.“ Allerdings half das nicht, um ihn zu überzeugen, er seufzte verträumt. „Wie romantisch. Prinz Charming kommt auf einem weißen Ross dahergeritten, um die Jungfer in Nöten zu retten.“ Russel brach wieder in Gelächter aus, während Asric mit den Augen rollte. „Er hat nicht mal einen Esel“, erwiderte Seline gelangweilt. „Können wir das Thema endlich mal beenden? Wir haben jetzt festgestellt, dass ihr beide lebt, damit können wir endlich gehen.“ Sicher, es war ihre Idee gewesen, Ambrose zu retten und auch nachzusehen, ob es ihm gutging, aber als sie nun so vor ihm stand, hielt sie es plötzlich für keinen sonderlich guten Einfall mehr, ohne dass sie genau sagen konnte, weswegen eigentlich. Doch zu ihrer Überraschung unterbrach Russel sein Gelächter wieder und stellte eine Frage, die ihr gar nicht gefallen wollte: „Wohin wollt ihr denn?“ „Wir wollen nach Drakani“, antwortete Asric verblüffend arglos. „Das Menschengebiet ist uns zu unsicher und im Gebiet der Schwarzmagier gibt es zu viele Dämonen, die versuchen, uns zu schaden.“ Das ist ungewöhnlich, dachte Seline, kommentierte das aber nicht, in der Hoffnung, dass Russel das Interesse verlieren würde, genau wie sie es schon lange getan hatte. Aber dann machte er einen Vorschlag, der ihr noch weniger als die Frage zuvor gefiel: „Wir können ja gemeinsam weiterreisen.“ Ambrose freute sich sichtlich darüber, Seline und Asric ließen ihre Schultern sinken, keiner von ihnen war davon angetan. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, warum es sie störte, immerhin kannte sie keinen der beiden bislang gut genug, um etwas gegen diese zu haben. Aber dass der Vorschlag von Russel kam, irritierte sie einfach. War er vielleicht so genervt von ihr, dass er nicht mit ihr allein weiterreisen wollte? Dabei hätte sie wesentlich mehr Gründe, genervt von ihm zu sein! „Was sagst du dazu, Asric?“ Ambrose sah zu seinem Begleiter hinüber, der unter diesem Blick sofort nachgab. „Fein, von mir aus. Wenn die Prinzessin nichts dagegen hat.“ Sie fand es ein wenig unfair, dass ihr einziger Verbündeter ihr damit in den Rücken fiel, so dass ihr keine andere Möglichkeit blieb, als dem Ganzen ebenfalls zuzustimmen, wenn sie nicht plötzlich allein weiterreisen wollte. „Ich habe nichts dagegen.“ Ambrose klatschte begeistert in die Hände und vertiefte sich mit Asric in eine Diskussion darüber, wer nun für den Transport des Gepäcks verantwortlich war. Seline nutzte die Gelegenheit, um Russel auf die Seite zu ziehen. „Was soll das denn?“, zischte sie. „Was denn?“ Er wirkte ernsthaft erstaunt über ihre Frage. „Warum schlägst du den beiden vor, dass wir gemeinsam umherreisen? So war das nicht ausgemacht.“ Schmunzelnd hob er eine Hand, um ihren Kopf zu tätscheln. „Aww, du willst mich nicht teilen, was? Aber mach dir keine Gedanken, meine Aufmerksamkeit wird immer noch ungeteilt dir gehören, von kleineren Pausen abgesehen.“ Sie bemerkte nicht wirklich, dass er plötzlich das respektvolle Verhalten ihr gegenüber abgelegt hatte, aber unbewusst ärgerte sie sich darüber. Sie knurrte leise und wischte seine Hand beiseite. „Das meine ich nicht! Woher willst du denn wissen, ob wir ihnen vertrauen können?“ „Sagt die Person, die sich direkt dem erstbesten Fremden angeschlossen hat.“ Noch immer schwand das amüsierte Schmunzeln nicht von seinem Gesicht, was nicht gerade dazu beitrug, dass sie sich wieder beruhigte. „Falls ich dich erinnern darf, habe ich mich dir nicht sofort angeschlossen! Und vielleicht hätte ich es doch nicht tun sollen, wenn du mich so hintergehst!“ Das schien ihn nun doch ein wenig zu entnerven, denn das Schmunzeln verschwand. „Wenn das so ist, kannst du ja auch allein weitergehen. Du musst nur über den Berg, dann bist du wieder in Drakani, da kannst du dir irgendwen suchen, der dich heimfährt, Prinzessin.“ Er wandte sich demonstrativ von ihr ab und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Ambrose und Asric, die offenbar inzwischen zu einer Einigung gekommen waren. Seline ballte wütend die Fäuste, ihr Körper zitterte leicht wegen dem Ärger, den sie empfand, auch wenn ihr immer noch nicht bewusst war, weswegen sie eigentlich so verärgert war – aber wenn sie raten müsste, hätte sie geschätzt, dass sie es einfach nicht gewohnt war, dass jemand etwas gegen ihren Willen entschied. Da sie allerdings nicht zum Raten aufgelegt war, wirbelte sie herum und machte sich tatsächlich auf den Weg, den Berg zu besteigen und diese drei hinter sich zu lassen. Von mir aus können diese Idioten miteinander glücklich werden. Ihr Ärger übertrug sich auch auf die beiden, die damit eigentlich gar nichts zu tun hatten und von denen sie zumindest einen der beiden zu Beginn als nett eingestuft hatte. Mit klarerem Kopf oder wenn sie auf Russels Rufen zumindest einmal stehengeblieben wäre, um sich von ihm wieder zu der Gruppe zurückbringen zu lassen, wäre ihr aufgefallen, dass sie nur so handelte, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, dass sie selbst für ihren Retter plötzlich nicht mehr interessant genug war, dass er nicht einmal allein mit ihr reisen wollte. So aber beherrschte erneut Zorn ihre Gedanken, der sie dazu verleiten wollte, nicht nach Hause zurückzukehren, sondern weiter ziellos umherzuwandern, damit sie nicht auch noch im Palast wieder damit konfrontiert wäre, dass jeder sich lieber um ihren Bruder statt um sie kümmerte. Nur weil er auch ein Idiot ist! Argh, was liebt die Welt nur an Idioten!? Sie achtete nicht darauf, ob Russel oder die anderen ihr folgten, nicht zuletzt, weil sie nicht die Enttäuschung erleben wollte, festzustellen, dass es den Gott nicht im Mindesten interessieren würde, dass sie ihn zurückließ. Aber während sie darüber nachdachte, fiel ihr eine weitere Frage ein, die sie ihm gerne gestellt hätte: Wie kommt es, dass ein Gott den Namen Russel trägt? Es ist ein Menschenname... „Ja, wie kann das nur sein?“ Die plötzlich erklingende Stimme ließ sie innehalten, als hätten Wurzeln nach ihren Beinen gegriffen, um so jeden weiteren Schritt zu verhindern. In den letzten Jahren hatte sie diese Stimme nicht mehr gehört, all seine Emotionen lediglich über das Mal an ihrem Oberarm spüren können und dabei immer gehofft, dass er sie eines Tages in Ruhe lassen würde, weil er das Interesse verlor. Nun stand er direkt hinter ihr, aber sie weigerte sich, sich umzudrehen, damit sie ihm auch noch ins Gesicht sehen könnte, diesen Triumph wollte sie ihm nicht gönnen – schon allein weil Furcht in ihrem Blick zu lesen war. Die Aura, die von ihm ausging, war noch furchteinflößender als noch bei ihrer ersten Begegnung, weswegen sie am Liebsten geflohen wäre, aber noch immer schien es ihr nicht möglich, auch nur einen ihrer Füße anzuheben. Sie spürte, wie er näher kam und ihr mit seiner Hand über die Schulter strich, was sie unwillkürlich schaudern ließ. „Was willst du?“, fragte sie mit betont beherrschter Stimme. „Du weißt, was ich will... Ich will endlich meine Bezahlung haben.“ Erneut begann sie zu zittern und verfluchte sich innerlich, Russels Seite verlassen zu haben, denn wie sollte sie als einfacher Drachenmensch gegen einen Gott antreten? Aber hätte er ihr überhaupt wirklich geholfen? Er war nicht sonderlich gut auf Ladon zu sprechen gewesen, hatte es sogar als lachhaft empfunden, dass die Götter sich für ihn geopfert haben könnten. Aber vielleicht fürchtete er sich auch vor ihm? Selbst das wusste sie nicht. Doch zu ihrem Glück ließ Ladon plötzlich wieder von ihr ab und wandte sich ebenfalls um, so dass sie nun beide Rücken an Rücken standen. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, um herauszufinden, was er plante und beobachtete dabei, wie er die Hand hob, sein silber-graues Haar war bereits von einigen magischen Funken vereinnahmt. Er lachte leise. „Sieht aus, als wäre dir dein Beschützer hinterhergeeilt.“ Überrascht fuhr sie gänzlich herum, damit sie an Ladon vorbeisehen konnte und beobachtete mit geweiteten Augen, dass Russel, Ambrose und Asric tatsächlich in einiger Entfernung stehengeblieben waren. Sie sind mir gefolgt...! Diese Erkenntnis erfüllte sie mit derart viel Glück und Freude, dass ihr Tränen in die Augen schossen, die sie allerdings hastig wieder wegwischte. „Nur keine Sorge“, sagte Ladon und trat einen Schritt vor. „Ich werde schon dafür sorgen, dass uns bald niemand mehr stören wird. Sieh gut zu.“ Mit diesen Worten schritt er weiter voran, um sich direkt in den Kampf zu begeben. Kapitel 4: Kräftemessen ----------------------- Verdrossen stellte Russel fest, dass Seline sich tatsächlich an seinen nicht sonderlich ernst gemeinten Rat hielt und begann, den Berg wieder hinaufzusteigen. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass sie nur ihre Backen aufpumpen und dann so lange schmollen würde, bis er die Gelegenheit fand, ihr unter vier Augen zu erklären, weswegen er es vorzog, mit diesen beiden zu reisen. Selbst wenn die beiden beschäftigt waren, schien es ihm als würden sie alles hören können, was er und Seline besprachen, solange sie sich in der Nähe befanden und er wollte nicht riskieren, dass sie etwas von seiner Argwohn ihnen gegenüber mitbekamen. Nach einem kurzen Blick auf die immer noch beschäftigten Ambrose und Asric – inzwischen packten sie bereits den Inhalt der großen Tasche in zwei kleinere, um das Gewicht besser zu verteilen – hastete er zum Fuß des Berges hinüber. Er wunderte sich ein wenig darüber, dass sie so schnell kletterte, nachdem sie zuvor auf dem Bergpfad Probleme gezeigt hatte. Aber als er versuchte, ihre sich entfernende Aura zu ertasten, stellte er fest, dass es Zorn war, der sie vorwärtstrieb, ein Zorn, der aus Trauer entstanden war. Offenbar hatte sie ihm wirklich übel genommen, dass er sie so brüsk abgewiesen hatte. Dabei wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen, dass sie in diesem Bereich doch so empfindlich sein könnte. „Seline!“, rief er ihr hinterher, in der Hoffnung, dass sie wieder zurückkommen würde, aber sie hielt nicht einmal inne. „Warte doch mal! Komm zurück!“ Er war überzeugt, dass sie ihn hören konnte, nicht zuletzt, weil der Wind seine Stimme zu ihr trug, da er das so wollte, aber sie wurde nicht einmal langsamer. Er blickte ihr mit einem leisen Seufzen hinterher und war ein wenig unentschlossen, was er tun sollte. Sein Pflichtgefühl sagte ihm, dass er ihr folgen müsste, weil er es versprochen hatte, aber etwas anderes riet ihm, dass sie, nun da er mit Sicherheit Ladons Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, sicherer wäre, wenn sie sich nicht in seiner Nähe befand. „Seid ihr keine Freunde?“ Ambroses Stimme, die so plötzlich neben ihm erklang, ließ Russel überrascht zusammenzucken und sich diesem zuwenden. Der Mann mochte freundlich wirken, nicht zuletzt weil er immerzu lächelte, aber er besaß keine richtige Aura. Nein, das war die falsche Bezeichnung, allerdings wusste Russel auch nicht, wie er es sonst beschreiben sollte. Da war etwas, das eine Aura sein wollte, doch sie war ähnlich wie ein Puzzle in zahlreichen Teile zersplittert und manchmal fand man zwar kleinere Ausschnitte, die zusammengehörten, aber das vollständige Motiv blieb einem dennoch verborgen. Genau deswegen fiel es ihm so schwer, Ambrose einzuschätzen und deshalb wollte er die beiden nicht mehr aus den Augen lassen, immerhin war er vorrangig immer noch ein Gott und Beschützer der Menschen. Asrics leicht genervte Art sagte ihm außerdem, dass etwas wirklich nicht mit den beiden stimmte – und er würde herausfinden müssen, worum es sich dabei handelte, wenn er wieder einen ruhigen Moment haben wollte. „Nein, eigentlich sind wir uns erst vor kurzem begegnet“, antwortete Russel schließlich auf die Frage. „Aber ich habe ihr versprochen, sie sicher nach Hause zu bringen.“ Asric trat ebenfalls zu ihnen. „Sollten wir ihr dann nicht hinterher?“ Russel war sichtlich erstaunt darüber, dass dieser junge Mann plötzlich gar nicht mehr aggressiv oder genervt, sondern eher besorgt wirkte – zumindest bis zu seinen nächsten Worten: „Das ist ja mit Sicherheit nur Ambroses Schuld.“ Er warf einen tadelnden Blick in dessen Richtung, doch dieser beachtete ihn nicht einmal. Stattdessen neigte er ebenfalls besorgt den Kopf. „Ich denke, wir sollten ihr wirklich hinterher. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl...“ Russel wollte erst widersprechen, dass eher sie drei in Gefahr wären, aber dann spürte er es ebenfalls. Es war wie ein eiskalter Hauch, der einen nachts heimsuchte, wenn man allein auf einer dunklen Straße den Heimweg antrat und dabei in jeder Ecke und jedem Schatten etwas Bedrohliches entdeckte, obwohl reell gesehen nichts da war, das einem auch nur schaden könnte. Aber dieses Gefühl war eine existierende Bedrohung, schon allein weil Russel die daran haftende Aura kannte – und zu seinem Schrecken entfernte sie sich von ihm und folgte stattdessen Seline. Damit war jeglicher Zweifel vollkommen verflogen. Rasch setzte er sich in Bewegung, um ebenfalls den Berg hinaufzuklettern, da sie immer noch keine Anstalten machte, innezuhalten, sie schien ihm zu sehr abgelenkt, um überhaupt auf die Bedrohung zu achten. Es überraschte ihn, festzustellen, dass Asric und Ambrose ihm folgten, er vermutete, dass es sich um Neugier oder Pflichtgefühl handelte, aber im Moment kümmerte es ihn nicht weiter. So schnell wie möglich erklomm er den Gipfel auf dem es eine Plattform gab, die einen im ersten Moment glauben ließ, dass man sich auf ebenem Grund befand. Erst wenn man, in Gedanken und Sorglosigkeit versunken, plötzlich einen unbedachten Schritt tat, ins Leere trat und hinabstürzte, bemerkte man wieder, dass man sich doch auf einem Berg befand – oder in dem Fall eben befunden hatte. Seline hatte bislang glücklicherweise noch keinen falschen Schritt getan, doch stand die nun fleischlich gewordene Bedrohung direkt hinter ihr, allerdings blickte er in die Richtung der drei Männer, die Hand auf Schulterhöhe erhoben, bunte Funken tanzten angriffslustig auf der nach oben deuteten Handfläche und bildeten eine kaum sichtbare Kugel. Russel kannte diesen Zauber und er erinnerte sich auch noch gut an den Schmerz, den er erzeugen konnte, weswegen er seine beiden Begleiter anwies, stehenzubleiben und ihm allein einige Schritte entgegenging. Der andere machte dieselbe Anzahl an Schritten auf ihn zu. Der blaue Umhang, den er über seiner grauen Kleidung trug, wehte dabei in einer nicht spürbaren Brise, die grauen Augen glitzerten unheilvoll hinter seiner Brille. „Es ist lange her, Levante“, sagte sein Gegenüber in einem spöttischen Ton. „Ich hatte schon befürchtet, du wärst mir verlorengegangen.“ Russel schnaubte leise. „Ich wünschte, das wäre wirklich der Fall gewesen, Ladon. Ich finde nämlich, es ist nicht lange genug her.“ Das Grinsen auf dem Gesicht seines Gegenübers ließ Russel innerlich geradezu kochen. Er sah wieder vor sich, wie Ladon den anderen Göttern mit genau dieser Mimik den Todesstoß versetzte, einem nach dem anderen, ohne jede Gnade... Unwillkürlich beschleunigte sich seine Atmung, als er sich in jenen Moment der lähmenden Angst zurückversetzt fühlte, in dem er hatte beobachten müssen, wie auch der letzte seiner Kameraden schließlich gestürzt war, um danach nie wieder aufzustehen. „Damals war es dein Glück und meine Nachsicht gewesen, die dir die Gelegenheit zur Flucht gegeben haben“, sagte Ladon geradezu melancholisch und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Heute weiß ich es besser, man darf dich einfach nicht entkommen lassen.“ Ohne Vorwarnung warf er ihm die Magiekugel zum Angriff entgegen. Russel reagierte sofort, ein Schutzschild aus grünen Funken bildete sich wie Waben um ihm und leuchtete hell auf, als die Kugel darauf traf, ehe es sich auflöste, um sich wieder aufzuladen. Doch statt sich ebenfalls aufzulösen, zerteilte sich die Kugel in mehrere graue Strahlen, die versuchten, ihn von der Seite, von hinten und auch von oben herab zu treffen. Das entsprach seiner Erwartung, weswegen er nur den passenden Moment abwartete, um mit einem Sprung zur Seite auszuweichen. Die Strahlen trafen wieder aufeinander und neutralisierten sich gegenseitig, ohne dass er auch nur einen Kratzer davon bekam. Er nutzte den Moment, in dem Ladon noch ein wenig perplex auf die Stelle starrte, an der sein Zauber eben wirkungslos verpufft war und setzte zu einem eigenen Angriff an. Noch im Spurt zog er sein Schwert hervor und holte damit aus, nicht genug, dass sein Gegner es erkennen und abwehren könnte und auch nicht genug, dass er großen Schaden anrichten könnte – aber hoffentlich ausreichend, um zumindest ein wenig Wirkung zu erzielen. Tatsächlich bemerkte Ladon den Hieb erst in einem Moment, der es ihm nicht mehr erlaubte, eine Abwehr gleich welcher Art durchzuführen, weswegen ihm nur noch die Möglichkeit blieb, durch einen Schritt zurück auszuweichen. In dem Augenblick, in dem Ladon nur noch mit einem Fuß auf dem Boden stand, brach Russel seinen Angriff ab, ließ das Schwert sinken und versuchte es gegen das stehende Bein seines Kontrahenten zu führen. Doch ehe er auch nur in dessen Nähe kam, schlang sich eine Ranke um die Klinge und zog sie ihm mit einem heftigen Ruck aus der Hand. Ladon nutzte den flüchtigen Sekundenbruchteil, in dem Russel seiner Waffe hinterhersah, indem er sein Knie in dessen Magen rammte. Mit einem schmerzerfüllten Keuchen wich der Getroffene zurück und krümmte sich zusammen. Sterne tanzten vor seinen Augen und versuchten ihn von dem herrschenden Kampf abzulenken. Er sah nur noch, wie Ladon mit diesem selbstherrlichen Grinsen auf ihn zutrat – und im nächsten Moment selbst wieder überrascht zurückfuhr und sich umsah. Als sein Blick wieder klarer wurde, erkannte er, dass ein Armbrustbolzen in Ladons Seite steckte. Allerdings spürte der Gott wohl keinen Schmerz, dafür eher Ärger auf die Einmischung, die von den beiden Begleitern stammten. Russel blickte ebenfalls in deren Richtung und stellte überrascht fest, dass Ambrose noch immer eine angelegte Armbrust hielt, das Gesicht verblüffend ernst. Ladon warf ihnen mit lockerem Handgelenk ebenfalls eine Magiekugel entgegen, um sie für diese Einmischung abzustrafen – aber der Zauber verpuffte wirkungslos an dem stählernen Rad einer Windmühle, das plötzlich erschien und diesen Angriff mit schnellen Bewegungen abschmetterte. Die Gerätschaft war sogar effizient genug, zu verhindern, dass sich die Kugel in mehrere Strahlen auflöste. Der Gott blinzelte verwirrt darüber, da er noch nie gesehen hatte, wie Sterbliche seine Zauber abfingen – und Russel war ebenfalls äußerst perplex. Aber das bestätigte auch nur wieder seine Vermutung, dass die beiden mehr waren als es den Anschein hatte. Zu seinem Glück überwand er seine Überraschung als erstes, so dass er wieder aufspringen und zu seinem Schwert eilen konnte, das er hastig an sich nahm, nachdem er die Ranke davon entfernt hatte. Statt allerdings zu versuchen, es noch einmal einzusetzen, steckte er es wieder ein. Es schien ihm sinnlos, die Waffe zu benutzen, selbst wenn er versuchte, seinen Gegner zu überraschen, hatte dieser immerhin noch die Macht über die Elemente, die ihm selbst ohne sein Bewusstsein noch gehorchten. Also blieb ihm nur eines... „Willst du wieder weglaufen?“, fragte Ladon süffisant, nachdem er das Interesse an den beiden Sterblichen verloren hatte. „Tatsächlich habe ich mich entschlossen, dich noch einmal fliehen zu lassen, ich bin ohnehin nur wegen Seline hier, also-“ „So ein Zufall“, unterbrach Russel ihn, „ich bin auch wegen Seline hier. Also muss ich das Angebot leider ausschlagen.“ In Ladons Augen flackerte seltener Zorn auf, offenbar gefiel ihm diese Anmaßung absolut nicht. Zum Zeichen seiner Wut deutete er wieder auf Russel, zahlreiche graue Energiestrahlen schossen auf ihn zu, doch er wich ihnen mit eleganten Bewegungen aus. Da die Strahlen aus Wut verschossen wurden, fehlte ihnen die sonstige Zielgenauigkeit, die er an den Tag legte. Doch als er sich mit einem Sprung in die Luft begab, wusste er sofort, dass das ein Fehler gewesen war. Die altbekannte Selbstsicherheit kehrte auf Ladons Gesicht zurück, zahlreiche Schwerter erschienen rund um ihn herum und griffen ihn allesamt gleichzeitig an. Sein Schild schützte ihn zwar davor, aufgespießt zu werden, aber er wurde von der Wucht zu Boden geschleudert, wo er schmerzhaft aufkam und mehrere Meter mit der Schulter über den Grund schlitterte. Wieder explodierten Sterne vor seinen Augen, dieses Mal war der Schmerz wesentlich heftiger, so dass ihm sogar die Luft wegblieb. Er konnte spüren, wie jemand ihm half, sich aufrecht hinzusetzen und identifizierte diese Person rasch als Asric, der sich erkundigte, ob alles in Ordnung war. Russel antwortete darauf nicht, sondern blickte wieder zu Ladon, der zwar nicht näher kam, aber es war dennoch deutlich spürbar, dass er Macht sammelte, um einen letzten und alles entscheidenden Angriff zu starten. „Ich glaube nicht, dass das Schild halten wird“, bemerkte Asric verdrossen. „Er ist jedenfalls um einiges stärker als unsere sonstigen Feinde.“ Russel merkte sich, dass es besser wäre, zu überleben, um herauszufinden, mit was für Feinden sie es sonst zu tun hatten und versuchte, sein Schutzschild wieder aufzubauen und es mit dem von Asric – dem dieses seltsame mechanische Gerät zu gehören schien – zu verbinden, auch wenn er nicht glaubte, dass sie etwas gegen diesen Angriff ausrichten könnten, denn die Aura Ladons schien geradewegs zu explodieren und er war schon zuvor ein übermächtiger Gegner gewesen. Er hob die Hand über seinen Kopf, um einen weitaus stärkeren Zauber als zuvor zu erzeugen. Während Russel diese Kugel anstarrte, hörte er plötzlich, wie jemand seinen Namen rief, im selben Moment schleuderte Ladon den Zauber auf ihn, der nur einen Sekundenbruchteil später auf das Schild traf, worauf ein gleißendes Licht entstand, das dafür sorgte, dass jeder der Anwesenden die Augen schließen musste. Als Ladon sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf eine vollkommen leere Fläche, auf der nichts mehr von wie auch immer gearteten Feinden zu sehen war. Er schmunzelte zufrieden darüber. Sicher, er wusste nicht, ob er sie getötet oder vielleicht nur an irgendeinen anderen Ort verfrachtet hatte, aber das war ihm im Moment auch vollkommen gleichgültig, solange er nun endlich Seline mit sich nehmen könnte. Lächelnd fuhr er herum – und seine Gesichtszüge entgleisten. Sie war weg, fort, verschwunden! Gerade eben war sie noch direkt hinter ihm gewesen und nun war nichts mehr von ihr zu sehen, ihre Aura war nicht mehr zu spüren. Was immer mit ihr geschehen war, es war dasselbe wie mit den anderen, das wurde ihm sofort bewusst. Sie muss dazwischengegangen sein, ehe ich es gemerkt habe! Deswegen die Wechselwirkung, die... ja, was eigentlich? Er wusste einfach nicht, was mit ihnen geschehen sein könnte, das würde ihn einiges an Zeit kosten, das erst einmal herauszufinden. Doch diese Gedanken zerstreuten sich sofort wieder, als er Schritte hörte, die respektvoll in einiger Entfernung stehenblieben. Er seufzte lautlos, schob sich seine Brille zurecht – und wandte sich dann den Neuankömmlingen zu, um herauszufinden, was sie eigentlich ausgerechnet zu dieser Zeit von ihm wollten. Kapitel 5: Gähnende Schlucht ---------------------------- Ihr war als würde sie aus einer Ohnmacht erwachen, dabei war ihr allerdings entfallen, wie es zu einer solchen überhaupt hätte kommen sollen. Nur langsam und bruchstückhaft kehrten die Erinnerungen an die Geschehnisse zurück – was ihr dann auch erklärte, warum sie das Gefühl hatte, sich in einer warmen Umarmung zu befinden. Es war angenehm, noch mehr als früher sogar, wenn sie von ihrem Vater umarmt worden war und es ließ sie für einen kurzen Augenblick wünschen, sich niemals davon trennen zu müssen. Aber ihre Neugier, was den Ursprung für dieses Gefühl anging, war doch ein wenig stärker. Sie öffnete die Augen und blickte in Russels lächelndes Gesicht. „Guten Morgen, Prinzessin.“ Sie war versucht, zurückzulächeln, aber ihre Verwirrung war dafür noch ein wenig zu groß. Sie war zu seiner Rettung geeilt, um nicht mitansehen zu müssen, wie Ladon ihn tötete. Das Schild, das sie als magisch begabtes Wesen – so wie jeder Drachenmensch es war – stets begleitete, hatte sich aktiviert, mit dem von Russel verbunden und durch die auftreffende Magie von Ladon war eine Wechselwirkung entstanden, die offenbar kurzzeitig das Raum-Zeit-Gefüge zerrissen hatte... oder so ähnlich, sie war bei derartigen Dingen im Unterricht nie sonderlich aufmerksam gewesen und hatte einfach beschlossen, jeden Gegner schnell genug kampfunfähig zu machen, ehe es zu so etwas kommen könnte. Nun bereute sie diese Arroganz ein wenig. „Uhm...“ Vorsichtig setzte sie sich aufrecht hin, auch wenn das bedeutete, sich aus seiner Umarmung lösen zu müssen, dann sah sie sich neugierig um. „Wo sind wir?“ Im ersten Moment glaubte sie, sich in einer Gletscherspalte zu befinden, so weit der Blick reichte erstreckte sich schneeweißes Gestein in unermessliche Höhen, so glatt, dass allein der Gedanke, hinaufklettern zu wollen, aussichtslos war. Der Himmel über ihnen war dunkelblau mit zahlreichen Sternen – und einem Polarlicht, das in den unterschiedlichsten Farben half, die Umgebung zu beleuchten. Es verwunderte Seline überhaupt nicht, dass Ambrose und Asric den Himmel bewunderten und deswegen nicht einmal Zeit zum Diskutieren fanden. Sie allerdings blickte wieder zu Russel, der ihr half, aufzustehen und ihr dann auch endlich die ersehnte Antwort gab: „Oh, ich habe da so einen Verdacht, jedenfalls war ich in dieser Gegend schon einmal. Wir sind in einer Welt gelandet, in der es zwei sehr hilfreiche Jungs gibt.“ Auf diese Worte konnte sie ihn nur schweigend ansehen. Bislang hatte sie nie daran geglaubt, dass es so etwas wie andere Welten wirklich gab, obwohl ihr Vater ihr gerne Geschichten über solche erzählt hatte – aber genau das war es für sie immer gewesen: Geschichten, nichts, was man wirklich ernstnehmen müsste. „Können wir nicht einfach wieder gehen?“ Asric kam mit einem deutlich unzufriedenen Gesichtsausdruck wieder zu ihnen, aber der ihm folgende Ambrose schüttelte sofort mit dem Kopf. „Nein, bloß nicht! Es ist doch bestimmt viel toller hier! Weniger Dämonen, die uns verfolgen und so.“ „Ja, das wollte ich noch wissen“, nutzte Russel diese Überleitung. „Warum werdet ihr eigentlich von Dämonen verfolgt? Und wie kommt es, dass ihr so gut kämpfen könnt, das merkt man euch gar nicht an.“ Ambrose hatte offenbar bereits das Interesse an dem Gespräch verloren, denn ohne etwas zu sagen, ging er wieder davon, um sich das Polarlicht von einer anderen Stelle aus anzusehen – und vermutlich auch, um sich nach dem weiteren Weg umzusehen, denn er verschwand hinter einer Wegbiegung. Asric blieb allerdings, um zu antworten: „Ambrose ist ein Dämonenjäger.“ „Er trägt also etwas in sich, das dafür sorgt, dass er sie bekämpfen kann?“, schloss Russel. „Und im Gegenzug lockt er sie damit auch unwissentlich an?“ Asric nickte bestätigend und wandte den Kopf, um nach Ambrose zu sehen, aber er war immer noch nicht wieder in ihr Sichtfeld getreten. „Warum ist er dann so...?“ Russel suchte nach den richtigen Worten, um zu erklären, was er sagen wollte, ohne dabei jemanden zu verletzten, aber Asric nahm ihm das bereits uncharmant ab: „Zurückgeblieben? Ich fürchte, das ist meine Schuld...“ Sein Gesicht verfinsterte sich, aber statt zu erklären, was er damit meinte, wandte er sich bereits ab, um hinter Ambrose herzulaufen, vermutlich, damit er ihn nicht doch noch aus den Augen verlor. Russel wartete, bis er ebenfalls um die Wegbiegung verschwunden war, dann wandte er sich Seline zu. „Hast du schon mal etwas davon gehört?“ „Du bist hier der Gott“, erwiderte sie mit gerunzelter Stirn. „Und seit wann duzt du mich eigentlich?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ist wesentlich angenehmer als dich so respektvoll anzusprechen, außerdem lässt uns das wirklich wie ein Liebespaar aussehen~.“ Sie hatte den Mund bereits für eine empörte Erwiderung geöffnet, aber sein folgendes Zwinkern ließ sie das noch einmal überdenken und trieb ihr stattdessen das Blut ins Gesicht. So wandte sie sich ab, damit er nicht sah, wie sie errötete und folgte Ambrose und Asric hastig – oder zumindest wollte sie das. Sie hatte gerade einen Schritt getan, als Russel nach ihrem Handgelenk griff, weswegen sie sich noch einmal zu ihm umwandte. Das Rot ihrer Wangen verstärkte sich, als sie seinen ernsten und gleichzeitig irgendwie liebevollen Gesichtsausdruck bemerkte. „W-was?“ „Ich bin dafür, dass du mir ab sofort nicht mehr von der Seite weichst, dann kann ich besser auf dich aufpassen.“ Statt zu erwidern, dass er beim vorigen Kampf nicht unbedingt die beste Figur abgegeben hatte, nickte sie nur, die von ihm ausgehende Ernsthaftigkeit, verschlug ihr zu sehr die Sprache. Wenigstens konnte sie noch genug Stolz aufbringen, sich nicht direkt in seine Arme zu werfen und ihm ewige Liebe zu schwören. Wie lächerlich wäre das denn? Außerdem verwendet er doch bestimmt nur irgendeinen nervigen Zauber auf mich, damit ich nicht herumzicke. Pah, als ob ich ihn nicht durchschauen würde! Er erwartete offenbar keine Reaktion von ihr, denn als sie wieder etwas von ihrer Umwelt mitbekam, lief sie bereits einen Schritt hinter ihm her, dabei hielt er ihr Handgelenk immer noch fest. Sie beschloss, dass es besser war, sich abzulenken, ehe ihr Gesicht noch die Farbe einer reifen Tomate annehmen würde und so blickte sie auf den Boden – nur um überrascht festzustellen, aus welchem Material dieser bestand. Aufgrund des schneeweißen Gesteins, das sie umgab, war sie davon ausgegangen, dass sie auf Sand, Staub oder sogar Schnee laufen würden. Aber stattdessen schien unter ihren Füßen Wasser zu sein, das es nicht schaffte, sie nass werden zu lassen, fast als befände sich eine hauchdünne, nicht sichtbare Schicht aus Glas zwischen ihnen und der Flüssigkeit, immer wieder entstanden ohne ersichtliche Ursache Kreise darin, was dem Ganzen noch ein wenig mehr Zauber verlieh, wie Seline fand. Damit war ihre Verlegenheit vollkommen vergessen. „Wow, was ist das denn?“ Russel blickte ebenfalls nach unten. „Das habe ich mich schon bei meinem ersten Besuch gefragt. Allerdings fand ich niemanden, der mir das beantworten konnte.“ Seine leicht erhöhte Tonlage verriet ihr trotz ihrer kurzen gemeinsamen Zeit, dass er genauso fasziniert hiervon war wie sie, was sie ziemlich beruhigte, wenn sie ehrlich war. Wenn selbst ein Gott von etwas derartigem angetan war, durfte sie das immerhin auch sein. Hinter der Wegbiegung trafen sie wieder auf Ambrose und Asric. „Die Gegend scheint wirklich ungefährlich zu sein“, bestätigte ersterer. „Außer uns gibt es hier keine Lebewesen.“ „Gut möglich“, bestätigte Russel. „Letztes Mal traf ich hier auch niemanden. Am Ende des Weges kam ich lediglich in die richtige Welt, das hier ist nur die Empfangszone, um ungebetene Besucher abzufangen.“ „Gibt es so etwas in jeder Welt?“, fragte Ambrose neugierig. „Ja, aber überall sieht es anders aus. Bei uns, zum Beispiel, ist es ein Portal, das von Schutzmechanismen umgeben ist. Und hier ist es eben diese Gletscherspalte, ich nehme an, dass es bei gefährlichen Invasoren auch Schutzzauber gibt, die sich aktivieren. Wir werden wohl nicht als Gefahr wahrgenommen.“ „Umso besser“, kommentierte Asric und setzte sich sofort wieder in Bewegung, um weiterzukommen, worauf die anderen sich ihm anschlossen. Während sie liefen, nutzte Seline die Gelegenheit, um einige Dinge in Erfahrung zu bringen. „Russel, mich interessiert, was Ladon eigentlich getan hat. Seinen Worten nach muss er die anderen Götter getötet haben – aber weswegen?“ Sein Gesicht verfinsterte sich, er schüttelte mit dem Kopf. „Ich weiß es nicht. Ladon hat irgendwas geplant und das kam den anderen wohl zu Ohren und sie waren dagegen – aber ich weiß es nicht, mir hat niemand etwas gesagt.“ Sie konnte den Schmerz in seinem Inneren bei diesen Worten spüren, es war deutlich, dass es ihn störte, dass keiner der anderen ihn ins Vertrauen gezogen und damit quasi ins offene Messer hatte laufen lassen. Und gleichzeitig war er der einzig Überlebende von ihnen und wusste nun nicht im Mindesten, warum das alles überhaupt geschehen war, sie fand es... tragisch. Unwillkürlich griff sie seine Hand fester, er reagierte nicht darauf, sondern blickte grübelnd weiter geradeaus, das Gesicht so ernst, dass keiner mehr den Rest des Weges über etwas sagte. Erst als sie am scheinbaren Ende des Pfades angekommen waren, hielten sie wieder inne. Der Weg endete an einer Schlucht, die steil ins Nirgendwo zu fallen schien, soweit man hinabblickte, entdeckte man nur Schwärze, die einen davon abhielt, sich zu weit vorzubeugen, damit man nicht aus Versehen hinabstürzte. Mehrere hundert Meter entfernt war eine Plattform mit einem Portal zu erkennen, aber es gab keinen erkennbaren Weg dort hinüber. Egal wohin Seline ihren Blick schweifen ließ, nirgends gab es eine Möglichkeit, den gähnenden Abgrund zu überqueren. Aber sie zweifelte nicht daran, dass es irgendeine Vorrichtung gab, die jedem Wissenden helfen konnte, hinüberzukommen. Deswegen blickten alle zu Russel, der endlich wieder aus seinen trüben Gedanken erwacht war und nun angestrengt darüber nachzudenken versuchte, wie er es damals geschafft hatte. Aber die Antwort, zu der er schließlich kam, gefiel keinem seiner Begleiter: „Damals war das hier nicht... Da war die Verbindung zur anderen Seite immer zu sehen.“ „Vielleicht sind wir doch woanders?“, mutmaßte Asric, aber Russel schüttelte direkt mit dem Kopf. „Nein, das hier ist dieselbe Welt, da bin ich mir sicher. Vielleicht wurde danach irgendwas geändert, oder...“ Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, plötzlich hielt er inne und im selben Moment spürte auch Seline das Gefühl einer drohenden Gefahr. Es war nicht so stark wie bei ihrer Begegnung mit Ladon und auch nicht mit sonderlich viel Bösartigkeit versehen, aber sie wurden eindeutig als Feinde wahrgenommen. Sie wollte Russels Hand loslassen, um auszuweichen, aber er hielt ihre immer noch fest und zog sie stattdessen mit sich, als er selbst auswich. Im nächsten Moment traf eine Klinge auf den Boden, wo Russel zuvor gestanden hatte. Da nichts splitterte, gab es wohl doch keine feine Glasschicht über dem Wasser und da dieses nicht im Mindesten spritzte, schien es wohl ebenfalls nicht zu existieren. Doch trotz der imminenten Bedrohung, der mit diesem Angriff Form verliehen worden war, konnte Seline nicht anders als diese fremdartige Waffe fasziniert anzustarren. Grob geschätzt schien sie fast zwei Meter groß zu sein, wobei der Hauptteil davon aus einer wuchtigen Klinge bestand, aber auch der Griff war wesentlich länger als bei Schwertern, noch dazu mit einem Bogengriff versehen, der mit gravierten Ästen und Blättern versehen war – aber das wirklich Außergewöhnliche war, dass im Bogengriff der Waffe Saiten gespannt waren, die tatsächlich einen leisen Ton von sich gaben, als die Klinge geschwungen wurde. Die Person, die diese Waffe führte, sah – in Selines Augen allerdings wesentlich uninteressanter aus – weswegen sie diese gar nicht weiter beachtete, genausowenig wie die weitere Bedrohung. Warum die anderen sich nicht rührten, war ihr zwar unbegreiflich, aber auch das kümmerte sie im Moment nicht. Erst als die Besitzerin der Waffe die Stimme erhob, blickte Seline in deren rote Augen, die zwischen den weißen Haarsträhnen kaum zu erkennen waren. „Ich bin Diana, die Wächterin der Gähnenden Schlucht und ich werde euch das nur einmal fragen: Was führt euch in mein Gebiet?“ Kapitel 6: In der Bibliothek des Lebens --------------------------------------- Seline rührte sich kein bisschen, obwohl Diana durchaus entschlossen klang, mit Sicherheit würde sie nicht zögern, sie noch einmal – und das auch noch wesentlich effektiver – anzugreifen. Ihr erster Angriff war sicherlich absichtlich danebengegangen, da gab es für Seline keinen Zweifel. Einen Kampf wollte sie allerdings lieber vermeiden, denn sie spürte, dass ihr Gegenüber nicht bösartig war, sie war wirklich nur um ihr Gebiet besorgt. Doch Dianas Aufmerksamkeit wurde plötzlich von etwas anderem in Beschlag genommen: Ambrose hatte sich ihr von hinten genähert und zupfte mit begeisterter Miene an den Saiten, die bei jeder Berührung einen anderen Ton von sich gaben als ob sie wirklich zu einem Instrument gehören würden. Asric stand ein wenig entfernt und schüttelte verzweifelt den Kopf. Diana entfernte sich hastig einen Schritt von ihm, damit er damit aufhörte, ehe sie sich ihm zuwandte. „W-was tust du da?“ „Das ist voll cool!“, entfuhr es dem begeisterten Ambrose, dessen Augen sogar regelrecht zu glitzern begannen. „Wo hast du das her? So etwas brauche ich auch!“ „... Kuhl?“, fragte sie irritiert, aber immerhin war jegliche Feindseligkeit von ihr abgefallen, so dass auch Russel und Seline auf sie zugehen konnten. „Verzeihung“, mischte er sich in das Gespräch ein, „aber wir wollten eigentlich auch nicht stören und wir kommen auch nicht in feindlicher Absicht. Mein Name ist Russel, das hier sind Seline, Ambrose und Asric.“ Er deutete nacheinander auf jeden, während er sie vorstellte, jeder einzelne, sogar Asric, hoben kurz die Hand zum Gruß, was Diana stets mit einem Nicken erwiderte. Als das schließlich geschehen war, fuhr er direkt fort: „Wir sind in einen Kampf geraten und beim Aufeinandertreffen der verschiedenen Zauber wurden wir in diese Welt geschleudert.“ „Also war es keine Absicht? Ich fürchte, dass wir nicht auf Gäste eingestellt sind.“ Zwar wirkte sie nicht so als würde Russels Charme bei ihr funktionieren, aber doch schaffte er es, sie mit diesen wenigen Worten davon zu überzeugen, dass sie keine Feinde waren. Sie ließ die Waffe in einem kurzen Glühen verschwinden, gleichzeitig erschien eine Treppe, die geradewegs zum Portal führte. „Ich werde euch zu Cronus bringen, er wird euch verraten, wie ihr wieder nach Hause kommt.“ Ambroses enttäuschtes Gesicht entsprach auch Selines Stimmung. Nach Hause zu kommen war mit Sicherheit ein tröstlicher Gedanke, aber gleichzeitig bedeutete es auch, sich wieder in Ladons Reichweite zu begeben, während die Wahrscheinlichkeit, dass er sie hier finden würde, doch eher gering war – aber natürlich wollte sie nicht für immer bleiben, irgendwann würde sie schon wieder heimkehren. Da keiner von ihnen widersprach – immerhin gab es im Moment auch keine andere Option –, bestiegen sie die Treppe aus Licht, um durch das Portal zu treten. Bis dahin hatte Seline sich keine Gedanken gemacht, was sich hinter diesem Tor befinden könnte, aber eines wusste sie genau: Mit dem, was sich wirklich dort befand, hätte sie niemals gerechnet, auch wenn es... naheliegend war. Es war eine riesige Bibliothek, in der sich zahlreiche, geradezu riesige Regale aneinanderreihten, jedes einzelne Fach war lückenlos mit Büchern unterschiedlicher Dicke gefüllt, aber Seline konnte die Zeichen auf den Rücken der Folianten nicht lesen. Diana führte sie zielsicher durch die endlos erscheinenden Reihen, bis sie schließlich zu einer Stelle kamen, wo die Fächer nicht mehr gefüllt waren, sich dafür aber mehrere Bücher auf dem Boden stapelten, die offenbar darauf warteten, erst einmal eingeräumt zu werden. Die dafür verantwortliche Person sah gerade aber anderweitig beschäftigt aus. Ein Mann mit langem weißen Haar saß auf dem Boden, ein Buch noch in der Hand haltend und darauf wartend, dass er es ungestört einsortieren könnte, seine grün-blauen Augen blitzten immer wieder verärgert – aber die Person, die diesen Ärger auf sich zog, schien sich gar nicht weiter darum zu kümmern. Sie saß auf einem der Bücherstapel, der hoch genug war, dass ihre Füße wenige Zentimeter über dem Boden schwebten und sprach dabei auf den Mann ein, während sie sich immer wieder durch das lange blonde Haar ging. Gemeinsam mit den blauen Augen, war sie für Seline sofort sympathisch, da sie sich immerhin ähnelten. „Ich weiß auch nicht, woher das kommt, aber ich sage es dir, Cronus!“ Statt darauf zu reagieren, wandte er seinen Blick den Neuankömmlingen zu, legte das Buch aus der Hand und stand auf. „Diana, wer sind diese Leute?“ Er verzichtete auf jegliche Begrüßung, aber Seline schauderte bereits bei seiner unterkühlten Stimme, damit hätte jegliche Höflichkeit ohnehin nur wie Hohn gewirkt. Die Fremde kümmerte sich offenbar nicht darum, dass sie plötzlich ignoriert wurde und wandte sich den Gästen zu, um zu erfahren, was sie wollten. Russel trat einen Schritt vor und da erst fiel Seline auf, dass er immer noch ihre Hand hielt, denn sie wurde dabei mitgezogen und wäre beinahe gestolpert. Er legte die freie Hand auf sein Herz. „Ich würde mich gern selbst vorstellen. Mein Name ist Russel... nun, eigentlich Levante. Das sind meine Begleiter Seline, Ambrose und Asric.“ Er wiederholte die Geschichte, die er bereits Diana erzählt hatte, aber der Mann – der offenbar Cronus sein musste – zeigte sich nicht sonderlich glücklich über diesen Fremden. Seine Stirn war weiterhin gerunzelt, seine Augen blitzten noch verärgerter als zuvor. „Und jetzt wollt ihr also wieder nach Hause?“ „Das ist richtig“, bestätigte Russel. „Aber vorher würde ich gern noch zwei Jungen besuchen, denen ich hier mal begegnet bin.“ Nun zeigte Cronus eine andere Emotion als zuvor, nämlich Verwirrung. Er hob eine Augenbraue. „Es wäre mir neu, dass du jemals zuvor hier gewesen bist und mit irgendjemandem interagiert hast. Und ich kenne das Schicksal aller Personen dieser Welt.“ Er machte eine ausholende Handbewegung, die die gesamte Bibliothek einschloss. „Aber ich war wirklich schon einmal hier!“, beharrte Russel. „Ich traf in Jenkan zwei Jungen namens Nolan und Landis.“ „Wir werden einmal ein Jenkan haben“, bestätigte Cronus, „aber die Namen der Kinder sagen mir nichts, so jemanden gibt es hier nicht.“ Während er wieder verärgert schien, neigte nun Russel verwirrt den Kopf. „Kann es vielleicht sein, dass ich in einer ähnlichen Welt bin...? Oder...? Welches Jahr habt ihr hier?“ „Im Moment stehen wir 18 Jahre vor Beginn der offiziellen Zeitrechnung. 417 Jahre nach der offiziellen Erschaffung dieser Welt.“ Cronus' freimütige Antwort half Russel beim Nachdenken, Seline allerdings fand ihn weiterhin unheimlich und vor allem unhöflich. „Ah, das ist es“, sagte Russel schließlich. „Mein letzter Besuch war etwa... 300 Jahre später.“ Cronus gab einen genervten Laut von sich. „Ich sagte dir doch, dass es keinen Landis und keinen Nolan gibt. Und wie sollte das überhaupt möglich sein?“ Ambrose hob die Hand, als wäre er in der Schule, ehe er ungefragt etwas antwortete: „Da er dieses Mal durch die Wechselwirkung verschiedener Magieformen in diese Welt geschleudert wurde, wäre es verständlich, dass dabei auch das Raum-Zeit-Kontinuum durcheinandergeraten ist.“ Seline sah ihn, erstaunt über dieses Verständnis der Magiewirkung, an und blinzelte dabei irritiert, während er einfach nur vergnügt lächelte. „Geht das denn wirklich?“ Möglicherweise war auch das etwas gewesen, das sie einmal gelernt hatte, aber im Moment war ihr auch das entfallen – und ihr Lehrer viel zu weit weg, um ihn zu fragen. Asric, der inzwischen neben der blonden Fremden stand – und erstaunlicherweise ein wenig kleiner war als sie auf dem Bücherstapel – nickte an Ambroses Stelle. „Deswegen bin ich auch so... na ja, nicht groß. Ich wurde auch mal von mehreren Zaubern erwischt.“ Die Unbekannte sah zu ihm und musterte ihn einmal desinteressiert von oben bis unten, ehe sie sich wieder dem Rest der Gruppe zuwandte. Cronus schüttelte mit dem Kopf. „Was auch immer, eure genauen Umstände interessieren mich nicht. Wir werden euch wieder nach Hause schicken.“ Er warf einen Blick umher und wirkte danach noch unzufriedener als vorher. „Wo steckt er schon wieder?“ Aus dem Augenwinkel bemerkte Seline, dass Diana schmunzelte und das zu verbergen versuchte, indem sie eine Hand an ihre Wange legte, damit der Blick darauf gelenkt wurde. Cronus seufzte tief und wandte sich dann der Wächterin zu. „Könntest du vielleicht Fileon suchen?“ „Ich übernehme das schon!“, rief Ambrose und stürmte im selben Moment davon, so dass die anderen ihm nur irritiert hinterhersehen konnten. „Er weiß nicht mal, wer das sein soll“, brummte Asric missbilligend, aber er machte auch keine Anstalten, ihm zu folgen. Genausowenig wie Cronus irgendetwas tat, um ihn aufzuhalten. Diana allerdings folgte ihm, vermutlich hauptsächlich, um das Kichern zu verstecken, das all diese Ereignisse in ihr hervorriefen. Russel schien in diesem Moment wieder einzufallen, dass Cronus bei ihrer Ankunft beschäftigt gewesen war. „Ah, lass dich von uns nicht stören, wir warten hier einfach auf die anderen.“ Er wollte sich gerade wirklich abwenden, als die Unbekannte plötzlich einen verwirrten Laut von sich gab. Seline bemerkte sofort, dass der Bücherstapel unter ihr verschwunden war, Asric reagierte geistesgegenwärtig und bewahrte sie vor einem Sturz, indem er ihre Hüfte umfasste und sie gleichzeitig nach seiner Schulter greifen konnte. Die Position, in der sie für einen kurzen Moment verharrten, erinnerte an einen romantischen Tanz, so dass es Seline nicht weiter verwunderte, dass die Fremde tatsächlich ein wenig errötete. Asric dachte sich aber offenbar nichts dabei und brachte sie dazu, sich wieder hinzustellen, damit er sie loslassen konnte. „Was ist jetzt schon wieder passiert, Asterea?“, fragte Cronus, der nichts von dem Verschwinden der Bücher bemerkt hatte. Sie deutete auf die Stelle, wo der Stapel eben noch gestanden hatte. „Sie sind verschwunden! Genau wie ich es dir gesagt habe!“ „Das kann nicht sein“, erwiderte er. „Du wirst sie weggestoßen haben – oder Aurora ist hier irgendwo in der Nähe und erlaubt sich wieder einen Scherz mit dir.“ Astereas Gesicht verdüsterte sich augenblicklich, Seline konnte spüren, dass sie am Liebsten ausgerastet wäre, aber sie hielt sich mit aller Macht unter Kontrolle, auch wenn sie dabei zu zittern begann. „Ich sage dir doch: Ich sehe in die Zukunft – aber da ist nur Zerstörung.“ „Was steht denn in all diesen Büchern?“ Ambrose legte den Kopf in den Nacken, um all die Regale in Augenschein zu nehmen, während er lief. Diana folgte seinem Blick. „Das Leben aller Bewohner dieser Welt ist in diesen Büchern festgehalten. Jeder hat sein eigenes. Gibt es so etwas bei euch nicht?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich war nie an einem solchen Ort bei uns.“ Aber wenn er bedachte, wie lange es seine Welt im Vergleich zu dieser hier gab und wie viele Menschen bereits dort gelebt hatten, konnte er sich das nicht vorstellen, denn die Bibliothek dort dürfte... um einiges riesiger sein als diese hier. Mit welchem System auch immer dort gearbeitet wurde, es musste wesentlich besser organisiert sein. „Wie kann dieser Cronus sich die alle merken? Ist er ein Gott?“ Seine Stimme nahm einen ehrfürchtigen Klang an, während er diese gleichzeitig senkte. Doch Diana lachte über diese Annahme amüsiert. „Nein, ist er nicht, er ist ein Custos Vitae... also ein Lebenswächter, wenn du so willst. Es ist seine Aufgabe, das Schicksal aller Lebewesen zu kennen.“ „Und wer ist dieser Fileon?“ „Das fällt dir ja früh ein“, meinte sie schmunzelnd. „Fileon ist der zweite Lebenswächter. Aber mach dir keine Sorgen, er ist nicht so steif wie Cronus.“ Ambrose kümmerte sich selten darum, wie Menschen sich nach außen hin gaben, er war es gewohnt, hinter die Fassaden zu blicken, da ihm das leichtfiel – aber bei Cronus schien es nichts zu geben, wohinter man sehen könnte. Er besaß keine Fassade, er war einfach so und auch wenn Ambrose nicht sonderlich viel damit anfangen konnte, störte es ihn nicht. Schließlich erreichten sie das Ende der Bibliothek, eine Tür führte in einen anderen Raum, aus dem leise Stimmen zu hören waren. Eine gehörte einem jungen Mann und eine andere einer jungen Frau, sie klangen wirklich beide nicht sonderlich steif. Es erinnerte ihn eher an früher, als er noch zu Hause gelebt und oft die anderen Jugendlichen hatte miteinander reden hören können. Er selber war nie wirklich ein Teil der Gemeinschaft in seinem Heimatort gewesen, vermutlich weil sie immer gespürt hatten, dass er anders war und wenn er sich richtig erinnerte – was ihm in letzter Zeit ziemlich schwerfiel – hatte er sich auch nie daran gestört. Deswegen kümmerte es ihn auch nicht weiter, dass er aus seinem Heimatort verbannt worden und dass er nun in dieser Welt gelandet war. Unwillkürlich war er, in Gedanken versunken, vor der Tür stehengeblieben, so dass Diana ebenfalls stehenblieb und ihn fragend ansah. „Möchtest du nicht hinein? Cronus wartet nicht so gern.“ „Ah, sicher.“ Er lächelte ihr entschuldigend zu, dann zögerte er nicht länger und betrat den Raum, um die Personen darin kennenzulernen. Kapitel 7: Von Wächtern und Göttern ----------------------------------- Als seine Augen sich an das seltsame Licht gewöhnt hatten, glaubte Ambrose für einen Moment, er wäre durch die Tür direkt in einer Höhle gelandet. Die felsigen Wände waren uneben, als wären sie in großer Hast mit einer Spitzhacke bearbeitet worden, Wurzeln zogen sich an ihr entlang und gaben ihr offenbar genug Halt, um sie am Einsturz zu hindern. Das kunstvolle Rankenwerk führte zur Mitte des Raumes und verlor sich in einem unbearbeiteten Kristall, der von der Decke herabhing und das diffuse weiße Licht verbreitete, das kaum stark genug war, um die Dunkelheit zu erleuchten. Unterhalb des Kristalls stand ein gläserner Sarg, der ebenfalls ein sanftes Glühen verbreitete und in dessen Inneren eine Gestalt zu sehen war. Doch bevor Ambrose diese genauer betrachten konnte, fielen ihm zwei Personen auf, die vor dem Sarg standen. Es waren ein junger blonder Mann und ein, wie er schätzte, etwa vierzehnjähriges Mädchen mit langem weißen Haar in dem zwei rosafarbene Schleifen zu sehen waren, die zu ihrer Kleidung passten. Die blauen Augen des Mädchens waren von einem mysteriösen Schimmer umgeben, der es aussehen ließ als wären sie eigentlich violett, Ambrose mochte das Mädchen auf Anhieb, besonders da sie ihn als erstes bemerkte. „Hallo“, grüßte sie lächelnd. Der blonde Mann, der in grün gekleidet war und trotz der angenehmen Temperatur sogar einen Schal trug, war nicht sofort derart freundlich, seine grünen Augen musterten Ambrose für einen kurzen Moment misstrauisch, doch als er Diana bemerkte, lächelte er ebenfalls. „Willkommen. Wer ist dein Begleiter, Diana?“ Sie setzte gerade an, etwas zu sagen, doch Ambrose kam ihr direkt zuvor: „Ich bin Ambrose Lane. Meine Freunde und ich sind gerade in dieser Welt gelandet. Und ihr beide seid...?“ Die beiden Fremden warfen sich einen amüsierten Blick zu, ehe sie sich wieder an ihn wandten. „Ich bin der Wächter Fileon“, antwortete der Mann. „Das hier ist Aurea.“ Sie hob vergnügt lächelnd die Hand. „Wir haben nicht oft Besucher aus anderen Welten hier.“ „Das ist wahr.“ Diana seufzte. „Ich fürchte, wir sind nicht auf Besucher eingestellt.“ Ambrose schüttelte hastig mit dem Kopf. „Oh, das ist doch kein Problem. Cronus wollte uns doch ohnehin wieder nach Hause schicken.“ „Deswegen solltet ihr mich wohl holen“, schloss Fileon aus diesen Worten und die Enttäuschung war für Ambrose geradezu greifbar. Unwillkürlich fragte er sich, was der andere wohl sonst erwartet haben mochte. Aber er stellte diese Frage nicht laut, nicht zuletzt deswegen, weil Fileon ihm bereits zu verstehen gab, dass er sich wieder auf dem Rückweg machen könnte und er sich gleich anschließen würde. Ambrose bewegte sich allerdings nicht, stattdessen deutete er auf den Sarg. „Wer ist das?“ Er konnte spüren, dass die Person, die darin lag, nicht mehr lebte und das schon lange nicht mehr, aber der Leichnam sah aus als wäre er gerade erst tot umgefallen und hätte vor wenigen Sekunden noch gelebt, die ebenmäßige Haut war nur ein wenig blass, das silberne Haar ein wenig glanzlos. Er war davon überzeugt, dass der Kristall aus dem dieser Sarg geschaffen war, damit in Verbindung stand und daraus schloss er auch, dass die Person darin sehr wichtig sein musste, wenn man ihr eine solche Totenlade schuf und sie in diesem wundersamen Raum aufbewahrte. Fileons Blick verfinsterte sich sofort wieder, dennoch antwortete er: „Das ist Kreios, der Gott unserer Welt.“ Die Vorstellung eines toten Gottes direkt vor seinen Augen ließ Ambrose schaudern. Götter galten nicht umsonst als machtvoll, geradezu unsterblich, was immer sie umbrachte, musste also noch stärker sein. Möglicherweise war Cronus deswegen so abweisend gewesen? Vielleicht suchte ein solches Wesen gerade diese Welt heim und er überlegte fieberhaft, wie man dagegen angehen sollte? „Soll ich euch vielleicht helfen, seinen Mörder zur Rechenschaft zu ziehen?“ Die Frage entschlüpfte Ambrose noch bevor er über sein Angebot hatte nachdenken können. Doch statt Dankbarkeit erntete er einen schockierten Blick von Aurea und ein scharfes Einatmen von Diana, beides schob er im ersten Moment darauf, dass sie nicht glaubten, dass er es mit einem Gottesschlächter aufnehmen könnte, doch Fileon verriet ihm den wahren Grund: „Das wird nicht nötig sein. Cronus, Aurea und ich haben Kreios getötet.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer leidenden Grimasse, so dass Ambrose auf den ersten Blick erkannte, dass es ihm genausowenig gefallen hatte, ihren Gott zu töten. Er musste etwas wirklich Furchtbares angestellt oder geplant haben, was sie schließlich zu diesem radikalen Schritt bewog. Doch plötzlich hellte seine Miene sich wieder auf, er lächelte sogar wieder ein wenig. „Aber eines Tages, wenn alles in dieser Welt wieder gut läuft, werden wir ihn aufwecken und ihm beweisen, dass es eine gute Entscheidung von uns war, die Vernichtung der Menschen abzulehnen.“ Alles in Ambroses Inneren zog sich zusammen. Ein Gott, der die Vernichtung all seiner Untertanen plante, war in seinen Augen eher als Teufel zu bezeichnen, ganz gleich welchen Grund er dafür anführen würde. Es war mit Sicherheit die beste Entscheidung gewesen, ihn schnell auszuschalten und die Zerstörung zu verhindern. Auch wenn das die Verantwortung nun vollkommen neu verteilte, vielleicht war Cronus auch deswegen so abweisend erschienen, er stand einfach unter Stress. Zu akzeptieren, dass Cronus möglicherweise einfach so war, lag ihm nach wie vor absolut fern. Ambrose stellte keine weiteren Fragen mehr und kehrte mit Fileon und Aurea zu den anderen zurück, auch wenn er die mysteriöse Atmosphäre in diesem wundersamen Raum mehr genossen hatte als jene in der Bibliothek, wo die allgemeine Vorstellungsrunde direkt weitergeführt wurde. Aureas Augen glitzerten dabei vor Aufregung über all diese unbekannten Menschen. Doch Cronus ließ keinem von ihnen die Gelegenheit, das Mädchen in diesem Moment genauer kennenzulernen, er wandte sich direkt an Fileon: „Wir müssen diese Leute wieder in ihre Welt zurückschicken. Ich brauche dafür deine Hilfe.“ „Dachte ich mir bereits“, erwiderte er. „Was soll ich tun? Das ist das erste Mal, dass ich so etwas mache.“ „Ich brauche die Kraft deiner Kristallhälfte, um das Ausgangsportal zu konfigurieren und auch dauerhaft offen zu halten.“ Ambrose überlegte bereits, was das alles bedeutete und wieso es so viel Aufwand erforderte, sie wieder nach Hause zu bringen, wenn es doch so einfach gewesen war, hierher zu kommen. Doch seine Überlegungen wurden von Fileons „Oh“ unterbrochen. Es war der Laut, den man nur ausstieß, wenn man gerade bemerkte, dass man vor einem furchtbaren Monster stand und die einzig wirksame Waffe gegen dieses zu Hause gelassen hatte. Cronus' Reaktion darauf folgte auch prompt: „Was soll das heißen?“ Sichtlich verlegen, legte Fileon die Hand auf seinen Hinterkopf und senkte den Blick. „Na ja, ich hab Aurora meine Kristallhälfte gegeben. Sie hat mich darum gebeten und ich konnte einfach nicht ablehnen...“ Cronus' Körper zitterte leicht, während Asterea sich das Lachen verkneifen musste und sich hastig räusperte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und einen Vorschlag zu machen: „Fileon und ich gehen einfach los, suchen Aurora auf und holen den Kristall wieder. Das kann ja nicht lange dauern.“ Mit gerunzelter Stirn wandte Cronus sich ihr zu, sein Blick streifte dabei die für ihn unliebsamen Gäste und jeder von ihnen, selbst Ambrose, wusste sofort, was er nicht aussprechen wollte. Zu seinem Glück nahm Russel es ihm ab: „Wir könnten sie ja begleiten und uns die Welt ein wenig ansehen. Wir werden auch ganz sicher nicht irgendwo eingreifen und auch nichts kaputt machen.“ Die anderen Gäste nickten zustimmend, so dass er seufzend nachgab. „Fein, von mir aus. Aber nur eine Änderung in dieser Welt, die von euch verursacht wird und ihr seid sofort wieder in der Gähnenden Schlucht und wartet dort!“ Die Gäste nickten, aber dennoch wandte Cronus sich noch an Aurea: „Ich möchte, dass du mit ihnen gehst und auf sie und Fileon achtest. Du warst immerhin die Leibwache von Kreios.“ Nicht nur Ambrose, auch Seline hob eine Augenbraue bei der Vorstellung, dass dieses jung aussehende Mädchen eine Leibwache sein sollte. Aber sie trug tatsächlich zwei Schwerter an ihrem Gürtel, wie Ambrose in diesem Moment bemerkte und wenn sie tatsächlich mitverantwortlich für die Ermordung des Gottes war, machte es nur Sinn, dass sie mehr Macht in sich verbarg, als man auf den ersten Blick zu sehen vermochte. Er hoffte nur, dass sie während ihres Aufenthalts keinen Grund sehen würde, ihre Kräfte gegen die Gäste einzusetzen. „Keine Sorge, ich werde auf alle achten“, versprach Aurea mit einem derart süßen Lächeln, dass sogar Asric, den sie für einen kurzen Moment anstrahlte, mitlächeln musste. Cronus nickte sichtlich zufrieden und blickte dann zu Diana, die auch ohne seine Worte reagierte: „Ich werde wieder zur Gähnenden Schlucht zurückkehren. Also müssen wir vorerst voneinander Abschied nehmen.“ Ambrose schien für einen kurzen Moment, dass Asterea aufatmete, aber da sie schon einen Wimpernschlag später wieder genauso neutral wie zuvor blickte, glaubte er, sich das nur eingebildet zu haben. „Vielen Dank für deine Hilfe, Diana“, sagte Russel sanft lächelnd. „Ich hoffe, wir haben dir keine Umstände bereitet.“ Sie schüttelte mit dem Kopf, aber Ambrose hätte es auch gewundert, wenn es ihr möglich gewesen wäre, Russel zu widersprechen. Selbst Seline warf ihm gerade wieder einen bewundernden Blick zu. Er verstand offenbar, seinen Charme – und möglicherweise ein wenig Magie – einzusetzen, um Frauen damit zu begeistern und zu betören. Aber selbst Ambrose oder Asric fiel es schwer, finstere Gedanken gegen ihn zu hegen... wenn er wirklich ein Gott war, so wie Asric wegen des Kampfes gegen Ladon glaubte und ihm in der Gähnenden Schlucht anvertraut hatte, so verkörperte er alles, was Ambrose von einem solchen erwartete: Erhabenheit, Barmherzigkeit... und in gewisser Weise auch Menschlichkeit. Würde man Ambrose fragen, dann wollte Ladon ihn nur töten, weil er eifersüchtig auf Russel war. Würde man Asric fragen, würde er diese Theorie als Unsinn bezeichnen. Glücklicherweise wurde keiner der beiden gefragt. Diana ging nach einer kurzen Verabschiedung davon, während Fileon, Aurea und Asterea in die andere Richtung aufbrachen und die Gäste sich ihnen sofort anschlossen. Niemand verabschiedete sich von Cronus, der sich bereits wieder an die Arbeit machte und Bücher in die Regale einsortierte, auch wenn es nun viel weniger waren als zuvor. „Ihr habt hier ziemlich viele Wächter“, merkte Russel an, als sie Cronus' Hörweite verlassen hatten. Aurea nickte zustimmend. „Meister Kreios fand, es wäre besser, wenn er sich vier Wächter und ansonsten nur Naturgeister zur Unterstützung schafft.“ „Vier Wächter?“, hakte Seline nach und blickte bereits zu Asterea, die allerdings mit dem Kopf schüttelte. „Ich bin ein Naturgeist“, erklärte sie. „Eine Nymphe, die in den Sternen liest, um genau zu sein. Die Wächter sind Cronus und Fileon, die das Leben verkörpern und Orphne und Charon, die den Tod symbolisieren.“ Russels Augen flackerten amüsiert. „Eurer Kreios muss ein ganz schöner Griechenland-Fan sein.“ „Griechenland?“, fragten die drei Einheimischen einstimmig. Er erklärte ihnen, dass es in seiner Welt einmal ein Land mit diesem Namen gegeben hatte und Ambrose erinnerte sich daran, ihn einmal auf einer alten Karte gelesen zu haben, als er... als er... Die Erinnerung zerrann ihm wie Sand zwischen den Fingern, als er sie festzuhalten versuchte und war sofort wieder verschwunden und plötzlich wusste er nicht mehr, ob er den Namen wirklich einmal gelesen hatte oder ob er sich das nur einbildete. „Möglicherweise stammt euer Kreios aus unserer Welt“, schloss Russel den Bericht ab, dem alle drei begierig gelauscht hatten. „Ist das denn überhaupt möglich?“, wandte Seline zaghaft ein. Russel, der immer noch ihre Hand hielt, wie Ambrose plötzlich auffiel, wandte ihr den Blick zu. „Wir sind doch auch hier.“ Dieser Logik und diesem Blick gab sie sich geschlagen, so dass sie nichts mehr sagte und stattdessen das Gesicht abwandte, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen. „Es gibt nur eine Sache, die mir zu denken gibt“, sagte Asric plötzlich, so dass sich alle ihm zuwandten. „Welche denn?“, fragte Ambrose neugierig. Asric hatte die Stirn gerunzelt als würde er angestrengt über ein Problem grübeln und dabei einfach nicht vorankommen. Als er den Mund öffnete, um die Frage zu beantworten, wusste Ambrose bereits, dass er es eigentlich gar nicht mehr hören wollte: „Wenn wir hier sind, muss das bedeuten, dass Ladon auch hierher kommen könnte, oder?“ Kapitel 8: Noch mehr ungebetene Gäste ------------------------------------- Nach Asrics Worten hatte eine gespenstische Stille bei der Gruppe Einzug gehalten. Seline, die bislang nicht im Mindesten die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, dass Ladon ihnen folgen könnte, schauderte regelrecht und drängte sich ein wenig dichter an Russel. Dieser war im Moment auch nicht so selbstsicher wie sonst. Seine Stirn war gerunzelt, während er darüber nachdachte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung Ladons war – zumindest glaubte sie, dass es das war, was in seinem Kopf vorging und er für sich behielt. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie dunkel es in diesem Gang war, in dem sie sich gerade aufhielten. Kaum eine Lampe erhellte die Finsternis und wenn sie es tat, tauchte sie nur wenige Meter in ein unheimliches grünes Licht, durch das die Schatten noch undurchdringlicher schienen und allerlei Monster in sich beherbergen könnten, allen voran Ladon. Aber ihr wurde noch etwas bewusst: Weder Fileon noch Aurea schien es zu interessieren, um wen es sich bei ihrem Verfolger handeln könnte, beide warteten eher geduldig darauf, dass sie endlich weiterziehen könnten. Waren sie ungeheuer taktvoll oder wussten sie etwas? Nein, sie verwarf diesen Gedanken sofort. Woher sollten sie Ladon kennen? Außerdem schien Cronus zuvor keine Ahnung zu haben – und er wirkte wesentlich weiser und erfahrener als die anderen. Auch wenn das Aussehen natürlich täuschen kann, fuhr es ihr durch die Gedanken. Asterea dagegen schien sich nicht einmal für ihr Gespräch zu interessieren, sie blickte in die Dunkelheit als würde sie dort etwas entdecken, das allen anderen verborgen blieb. Ein Kopfschütteln von Russel holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück und lenkte ihre Aufmerksamkeit genau wie die der anderen auf ihn zurück. „Wir sollten nicht zu viel darüber nachdenken“, sagte er. „Wir wissen immerhin nicht, warum wir hierher gekommen sind. Und solange wir diesen Faktor nicht einberechnen können, bringt es nichts, wenn wir uns großartig Gedanken darum machen.“ „Klingt ja einerseits logisch“, erwiderte Asric mit zusammengezogenen Brauen, „aber ist es wirklich so einfach, wenn wir das ignorieren?“ „Wovor hast du Angst?“ Ambroses Frage hätte bei jedem anderen provozierend und sarkastisch geklungen, aber er klang ernsthaft verwundert und interessiert. Asric wirkte allerdings tatsächlich ein wenig angegriffen von dieser Frage, denn er ging sofort in eine Verteidigungshaltung über und knurrte sogar leise. „Ich habe keine Angst, klar? Es gibt ohnehin keinen Grund, dass er mir etwas tun sollte, immerhin habe ich nichts getan.“ Dass es seine Windmühle gewesen war – wo auch immer er sie versteckt hielt, wenn er sie nicht benötigte –, die verhindert hatte, dass Ladons Zauber Ambrose verletzte, war entweder bereits erfolgreich von ihm verdrängt worden oder er sah das wirklich nicht als große Sache. Seline war sich nicht sicher, ob sie das als Mut oder als Dummheit betrachten sollte. „Dann kannst du es ja einfach ignorieren“, schloss Ambrose daraus lächelnd, worauf Asric resignierend seufzte. „Fein, dann tun wir einfach so als wäre es vollkommen egal, dass der ein oder andere hier den Zorn eines Gottes auf sich gezogen hat und spielen heile Welt.“ Bei diesen Worten warf er Russel, Seline und auch Ambrose finstere Blicke zu, doch keiner der drei zeigte sich irgendwie schuldbewusst – letzterer lächelte sogar. „Ich wusste doch, dass du es verstehst.“ Was Seline nicht von sich behaupten konnte. Die Beziehung der beiden blieb ihr nach wie vor ein Rätsel. Sie wirkten einerseits wie Freunde, andererseits wie zwei Personen, die sich nur widerwillig miteinander abgaben – und Asric erschien manchmal wirklich nur wie ein resignierter Pfleger für einen Kranken. Aber da fällt mir ein... Sie warf erneut einen Seitenblick zu Russel, der zwar amüsiert die weitere Unterhaltung zwischen Ambrose und Asric beobachtete, aber immer noch die Stirn gerunzelt hatte, was, wie sie vermutete, wohl bedeutete, dass er sich immer noch Sorgen machte. Wie wirken wir beide wohl auf andere? Wirklich wie ein Liebespaar? Bei Gelegenheit, so nahm sie sich vor, würde sie einfach einen der anderen fragen, in der Hoffnung, dass keiner von ihnen es falsch verstehen würde. „Wir sollten weitergehen“, meldete Asterea sich plötzlich zu Wort, doch trotz ihres ernsten Tonfalls, schmunzelte sie auf einmal. „Ich muss Cronus nachher noch mehr auf die Nerven gehen.“ Keiner von ihnen hinterfragte, warum sie das tat, wenn er doch offensichtlich so viel Besseres zu tun hatte, stattdessen setzten sie allesamt ihren Weg fort, deutlich neugierig, was sie wohl in dieser Welt und dieser Zeit erwarten würde. Die wieder auf ihren Platz zurückgekehrte Diana musste derweil zum zweiten Mal an diesem Tag das Eindringen von Fremden in die Gähnende Schlucht bemerken – und dieses Mal spürte sie sofort den geradezu bösartigen Willen, diesen Hauch von Grausamkeit, der sie alle umgab. Das Schwert im Anschlag wartete sie darauf, dass die Neuankömmlinge sich zeigen und mit einem Angriff direkt einen bleibenden Eindruck hinterlassen würden – doch zu ihrer Überraschung kamen ihr alle drei gesittet und friedlich entgegen. Den Mann in der Mitte, mit dem silber-grauen Haar und der Brille, erkannte sie sogar wieder. „Du musst Ladon sein.“ Wenige Schritte vor ihr blieben die drei wieder stehen. Der Gott lächelte, wenngleich ein Hauch von Spott darin zu erkennen war. „Eilt mein Ruf mir etwa bereits voraus? Ah nein, ich weiß schon.“ Sein Lächeln wandelte sich zu einer Grimasse, als er sich an etwas zu erinnern schien, was sie gar nicht wissen wollte. „Jedenfalls will ich, dass du uns zu Cronus bringst – ohne Umwege, wenn ich bitten darf.“ Bevor sie etwas sagte, begutachtete Diana die beiden anderen, die bislang nur schweigend danebengestanden hatten. Der junge Mann mit dem moosgrünen Haar trug wertvoll aussehende Kleidung, die mit aufwendigen Goldstickereien verziert war, ein Hauch von Würde umgab ihn, weswegen es für sie umso unerklärlicher war, dass er gemeinsam mit diesem Gott hier war. Die junge Frau auf Ladons anderer Seite blickte derweil desinteressiert auf das Tor hinter Diana und fuhr sich dabei immer wieder betont gelangweilt durch das lange schwarze Haar. „Oh, wie unhöflich“, stellte Ladon plötzlich amüsiert fest. „Diese schweigsame Dame hier neben mir ist Melathosa und dieser Gentleman ist Phoibos.“ Als Reaktion auf diese Vorstellung verbeugte der junge Mann sich, während sie sich nur die Brille wieder auf ihren angestammten Platz zurückschob als wäre sie nicht einmal an dieser Unterhaltung beteiligt und nur zufällig gerade hier vorbeigekommen. „Bringst du uns jetzt zu Cronus?“ Ladons Blick wurde plötzlich finster. „Bitte?“ Wäre jemand anderes ihr mit diesem respektlosen Ton gegenübergetreten, hätte sie ihn ohne zu zögern abgewiesen, mit dem Ratschlag, erst wiederzukehren, wenn er Manieren erlernt hätte. Aber bei diesem Gegner wusste sie auch ohne jene Geschichten, die sie dank Kreios und Cronus von ihm kannte, dass es besser wäre, ihn nicht unnötig zu erzürnen. Er mochte hier nicht in seiner Welt sein, aber seine Kräfte waren dennoch nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen durfte. Also fuhr sie herum, um diesen Gästen ebenfalls den Weg in die Bibliothek zu zeigen, auch wenn ihr das gar nicht gefallen wollte. Nicht nur, weil Cronus über eine weitere Störung sicherlich nicht sehr erbaut wäre, er würde auch im Mindesten nicht gutheißen, wer diese Personen waren, die sie da zu ihm führte. Zu ihrer Erleichterung waren aber zumindest die vorigen Gäste nicht mehr in der Bibliothek, ihre Auren waren verschwunden, vermutlich waren sie bereits irgendwo in der Welt unterwegs, um Aurora zu suchen, was ein längeres Unterfangen werden könnte. Obwohl Diana ihn ermahnte, es nicht zu tun, griff Ladon in eines der Regale und zog zielsicher ein Buch hervor. Er lächelte ihr nur gütig entgegen, wie man es bei einem Kind tat, wenn dieses einen zu schelten versuchte und kümmerte sich dann nicht weiter um ihre Worte. Statt noch etwas zu sagen, führte sie ihn weiter zu Cronus, den sie dieses Mal nicht in die Arbeit vertieft vorfand. Er musste die Anwesenheit der weiteren ungebetenen Gäste bemerkt und sich deswegen entschlossen haben, sie ein wenig standesgemäßer zu empfangen. Der eisige Blick war aber nach wie vor derselbe. „Was willst du?“ „Begrüßt man so etwa den alten Freund seines Herrn?“, fragte Ladon amüsiert. „Aber, oh, ich habe gehört, ihr hättet den armen Kreios abgesetzt.“ „Was geht dich das an? Er hat nicht ohne Grund deine Welt verlassen.“ „Und mir ein trojanisches Pferd geschenkt“, ergänzte Ladon fast schon vergnügt. „Aber genug von der Vergangenheit, ich bin hier um deine Hilfe in Anspruch zu nehmen, um dieses Pferd wiederzufinden, weil es mir etwas sehr Kostbares gestohlen hat.“ Cronus presste die Lippen aufeinander, sichtlich unwillig zu antworten. Während weder Ladon noch Phoibos sich daran zu stören schienen, stieß Melathosa genervt Luft aus. „Warum diskutieren wir überhaupt so lange? Wir sollten ihm einfach gleich-“ „Ah!“, unterbrach Ladon sie. „Keine unnötige Gewalt, meine Liebe. Außerdem hat Cronus keine Angst vor Gewalt. Das stimmt doch, oder?“ Zur Bestätigung reckte der Custos das Kinn in die Höhe und fand nun endlich seine Stimme wieder: „Ich weiß nicht, von was für einem Pferd du sprichst.“ Ungeduld glimmte in Ladons Augen auf, Diana wich zurück, als sie bemerkte, wie die düstere Aura um ihn herum für einen kurzen Moment anschwoll, nur um direkt wieder unter Kontrolle gebracht zu werden, als dem Gott bewusst wurde, dass er seinem eigenen Ziel gerade schadete. „Du weißt sehr genau, wovon ich spreche“, erwiderte Ladon mit zusammengebissenen Zähnen. „Oder willst du mir sagen, du weißt nichts von dieser Chronik?“ Damit hob er das Buch empor, das er soeben aus einem der Regale gezogen hatte, ehe er fortfuhr: „Siehst du, das ist der Nachteil an eurem Bibliothekensystem: Es gibt immer einen verräterischen Beweis, den man euch unter die Nase reiben kann. Ich gehe davon aus, dass es auch das war, was euch auf Kreios' Spur brachte, oder?“ Cronus zog es erneut vor zu schweigen und Diana befand es ebenfalls für besser, nichts zu sagen – und im Moment war sie auch sehr froh darum, dass Fileon nicht da war. Der viel zu nette Custos hätte mit Sicherheit sofort alles gesagt, egal wie bedrohlich Ladon ihm erschienen wäre, zumindest schätzte Diana ihn so ein. „Also antworte mir lieber!“, forderte Ladon scharf. „Wo ist Levante?!“ Cronus schwieg noch immer, worauf Melathosa kurzentschlossen Ladon das Buch aus der Hand riss und es wahllos auf irgendeiner Seite aufschlug. „Sehen wir doch einfach nach, statt hier lange zu diskutieren, was ohnehin zu nichts führt.“ „Aber das hat doch keinen Stil“, warf Phoibos ein, wurde allerdings nicht weiter von ihr beachtet. Triumphierend hielt sie schließlich auf einer Seite inne. „Ich hab ihn! Lasst uns verschwinden.“ Damit schlug sie das Buch bereits wieder zu und reichte es Cronus, sie schien überzeugt zu sein, es nicht weiter zu gebrauchen und Ladon widersprach ihr auch nicht, sondern nickte stattdessen. „Gute Idee. Ich bin ja mal gespannt, was Kreios alles aus dieser Welt gemacht hat.“ Lachend fuhr er herum und ging gemeinsam mit Melathosa davon, während Phoibos sich erst kurz verbeugte, ehe er ihnen ebenfalls folgte. Diana blieb gemeinsam mit Cronus zurück, die Luft schien augenblicklich weniger Spannung zu enthalten. Der Custos drückte das Buch an sich, so als würde er es im Nachhinein beschützen oder vielleicht sogar trösten wollen. Sein Gesichtsausdruck verriet wie eh und je nicht, was er dachte oder fühlte, aber genau wie Diana ihn kannte, fasste er bereits einen Plan. Er wandte sich ihr zu. „Hör zu, vergiss die Gähnende Schlucht erst einmal, unsere größte Gefahr ist gerade in dieser Welt, das ist wichtiger. Ich will, dass du dieser Gruppe folgst und sie nicht mehr aus den Augen lässt. Ladon an sich ist schon gefährlich, aber seine beiden Begleiter...“ Sie nickte sofort, damit er diesen Satz nicht beenden musste. „Ich werde darauf achten, versprochen.“ „Am Liebsten wäre es mir, er würde Levante nicht treffen. Ich war ja schon erleichtert, dass er mir meine Schauspielleistung abgenommen hat.“ Missmutig blickte er auf das Buch hinab, das er gerade hielt. „Ich hätte es doch im anderen Bereich der Bibliothek aufbewahren sollen.“ „Hinterher ist man immer schlauer, so sagt man doch, oder?“ Er nickte seufzend und gab ihr dann zu verstehen, dass sie gehen sollte. Sie bemerkte, dass er genervt brummte, als sie sich leise kichernd von ihm entfernte, dann beschloss sie, ihn genug von seinen Bedenken abgelenkt zu haben und machte sich eilig auf den Weg, um Ladon und seine Begleiter einzuholen, damit sie die drei im Auge behalten könnte. Außerdem würde sie die drei auch ein wenig durch das Gängesystem ihrer Geisterkorridore lotsen können, um Fileon damit ein wenig mehr Zeit zu verschaffen, in der Hoffnung, dass er sie gut zu nutzen verstehen würde, auch wenn er nichts von dieser Bedrohung ahnte. Oh bitte, Fileon, sei wenigstens einmal professionell. Kapitel 9: Kristall ------------------- Als sie endlich aus der Dunkelheit und diesem seltsamen Gang wieder ins Freie traten, musste Seline erst einmal die Augen zusammenkneifen. Die Sonne blendete sie derart, dass sie im ersten Moment glaubte, dass sie in dieser Welt wesentlich heller wäre, auch wenn sie diese Meinung später wieder revidieren musste. Kaum war ihre Fähigkeit zu sehen wieder da, kam ihr die Fähigkeit zu atmen abhanden. Soweit das Auge reichte, erstreckten sich saftige, grüne Wiesen, lediglich von vereinzelten Ortschaften unterbrochen. Selbst von dem Felsvorsprung des Gebirges, auf dem sie standen, war zu erkennen, dass ein geradezu sanfter Friede über allem schwebte, wie jener nach einem reinigendem Gewitter. Vereinzelte, schwer zu erkennende, Rauchfäden, die sich in den Himmel kräuselten, verrieten, dass es noch immer Leben gab. „Hier gefällt es mir“, sagte Ambrose beeindruckt. „Ich will hier einziehen.“ „Ich glaube kaum, dass das funktioniert“, brummte Asric. Fileon lachte leise. „Ja, immerhin sind wir hier auf einem Berg. Wenn überhaupt, solltest du in einem Dorf da unten einziehen.“ „Das meine ich ja“, erwiderte Ambrose. Russel ignorierte diesen Dialog und ging bereits voraus, Seline folgte ihm sofort und stellte dabei reichlich überrascht fest, dass er ihre Hand inzwischen losgelassen hatte. Selbst für die enorm kurze Zeit, in der sie sich nun kannten, war es für sie ein Leichtes, festzustellen, dass er besorgt und auch bedrückt war. Etwas nagte an ihm und sie wollte wissen, was es war, um ihm zu helfen. Er wandte ihr den Kopf zu, als sie ihn ansprach und lächelte ein wenig, um sie zu beruhigen. „Mach dir keine Gedanken, ich habe nur darüber nachgedacht, ob wir wieder nach Hause kommen.“ Sie konnte ihm das nicht glauben, aber an diesem Punkt wollte sie auch nicht weiter nachhaken. Alles in allem kannten sie sich immerhin erst seit wenigen Stunden und waren eher aus Gründen der Zweckmäßigkeit zusammen unterwegs – nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – weswegen sie das Gefühl hatte, dass es besser war, wenn sie nicht zu viel in seinen Gedanken herumstocherte. Während sie dem Pfad folgten, um zum Fuß des Berges zu kommen, lauschte Seline den Erklärungen Fileons, der erläuterte, dass die Tore zum Reich der Naturgeister und Wächter stets an Orten versteckt waren, an denen sich nicht ohne Weiteres Menschen aufhielten. „Und wer würde schon diesen Berg besteigen wollen?“, schloss er seine Erklärung. „Er hat einen Pfad, um das Bergsteigen an sich reizlos zu machen und auf dem Gipfel gibt es nichts, nicht einmal Pflanzen, die einen Aufstieg rechtfertigen würden.“ „Das ist nicht mal blöd“, bemerkte Asric als hätte er eigentlich erwartet, dass die Erklärung jeglicher Logik entbehren würde. „Natürlich ist es das nicht“, wies Asterea ihn zurecht. „Immerhin hat Cronus sich das alles ausgedacht.“ Obwohl ihre Worte nach Bewunderung klangen, konnte Seline sehen, dass sie mit den Augen rollte. Sie hielt wohl nicht sonderlich viel von Cronus, was die Prinzessin durchaus nachvollziehen konnte. Nicht, dass sie nichts von dem Wächter halten würde, aber Freundschaft könnte sie nie mit ihm schließen. Als sie endlich am Fuß des Berges angekommen waren, übernahm Fileon die Führung und leitete sie sicher über das weite Feld, in dem Seline nur eine Sache vermisste: „Gibt es eigentlich keine Wälder oder Bäume oder sonst etwas hier?“ Fileon und Aurea warfen sich einen Blick zu, aber keiner der beiden antwortete, weswegen Asterea es übernahm: „Vor kurzem gab es hier nicht einmal mehr Wiesen. Der Kampf zwischen uns und Meister Kreios zehrte nicht nur an unserer Macht, sondern auch an der dieser Welt. Dank unseren vereinten Kräften konnten wir sie ansatzweise wieder in Form bringen, aber es ist noch ein weiter Weg.“ Die Worte „Ich kann es euch nachempfinden“ lagen Seline bereits auf der Zunge, aber sie ließ diese nicht an ihren Zähnen vorbei. Ihre Welt war lange vor ihrer Zeit vor dem Abgrund gestanden, bei Selines Geburt war sie allerdings bereits wieder in geregelten Bahnen gelaufen. Sie hatte nie etwas von dem Überlebenskampf mitbekommen, nur von den Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Rassen, aber selbst davon war sie meist abgeschottet worden. Selbst auf ihrer Reise schien jeder nur darauf erpicht gewesen zu sein, sie davon fernzuhalten. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich naiv. „Was ist denn das?“, fragte Ambrose und stürmte bereits voraus, um das Objekt seiner Neugierde näher in Augenschein nehmen zu können. Zu Selines Überraschung hielt er wieder an etwas inne, das ihr bislang noch nicht aufgefallen war – obwohl es einem eigentlich aufgrund der Ungewöhnlichkeit direkt ins Auge stechen musste. Es war ein Gebilde, das entfernt an einen Baum erinnerte, aber es bestand vollständig aus einem purpurfarbenen Kristall, dessen scharfe Kanten gefährlich aussahen – und wie man an Ambrose sah, der eine blutige Wunde an seinem Finger mit den Lippen bedeckte. „Tut es sehr weh?“, fragte Aurea besorgt. Er schüttelte mit dem Kopf, aber da er nicht antworten konnte, übernahm es dieses Mal Asric: „Er ist wesentlich Schlimmeres gewohnt, mach dir keine Gedanken.“ Seline nahm an, dass Ambrose diese Mitteilung nicht sonderlich gut aufnehmen würde, aber stattdessen nickte er zustimmend und lächelte dabei sogar ein wenig. „Das hier“ – Asterea kam wieder auf Ambroses ursprüngliche Frage zurück – „ist eines der noch deutlichsten Zeichen für den zurückliegenden Kampf. Es war einmal ein Baum, auch wenn es jetzt nur noch entfernt daran erinnert. Als wir gegen Kreios kämpften, mobilisierten er und wir alle Kräfte auf die wir zugreifen konnten, auch jene von Lebewesen.“ Seline glaubte, vor sich zu sehen, wie ein ganzer Wald langsam zu Kristall wurde, angefangen von der Spitze der höchsten Bäume bis zu deren tiefsten Wurzeln unter der Erde. Aber was war mit den nicht-pflanzlichen Lebewesen, die dort existiert hatten? Asterea schien diese innere Befürchtung zu spüren. „Keine Sorge, Menschen und Tiere wurden nicht in Kristalle verwandelt.“ „Aber einige Stammbäume wurden damit vorzeitig ausgerottet“, fügte Fileon mit gequältem Gesichtsausdruck hinzu. „Immerhin nahmen wir ihnen den Lebensraum.“ Und die Ressourcen zum Leben, ergänzte Seline in Gedanken. „Ich bin nur froh, dass genug Menschen überleben konnten, damit die Bevölkerung nicht vollkommen ausgerottet wird.“ „Ja, die Menschheit ist gut darin, sich aus wenigen schnell wieder zu reproduzieren, sobald sie sich auf eine Situation eingestellt hat.“ Russel klang überraschend nüchtern und kühler als sonst, was wohl der Grund war, weswegen sich alle ihm zuwandten und den kristallinen Baum vergaßen. Nur sein Blick blieb nach wie vor darauf gerichtet, den Kopf leicht in den Nacken gelegt als würde er über irgendetwas Wichtiges nachdenken – und diesmal glaubte Seline nicht, dass er noch immer über Ladon oder ihre Heimkehr nachdachte. Sie glaubte eher, dass er sich an etwas erinnerte oder das zumindest versuchte, es aber nicht schaffen konnte. Zumindest kannte sie diesen Gesichtsausdruck nur allzugut von ihrem Vater, der oft stundenlang am Fenster gestanden hatte, um hinauszusehen. Sie erinnerte sich auch noch daran, was sie unternommen hatte, um ihren Vater abzulenken, aber das wollte sie nicht bei Russel machen – jedenfalls nicht, wenn alle dabei waren. Da er nichts mehr sagte, wurde es Ambrose offenbar zu langweilig und so wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Baum zu. „Wird er jetzt für immer hier stehenbleiben?“ Es hätte Seline nicht gewundert, da er immerhin aus Kristall war, aber Aurea schüttelte bereits mit dem Kopf. „Früher oder später zerfallen sie... ungefähr so.“ Mit diesen Worten trat sie vor und berührte das Gebilde. Doch diese sanfte Berührung genügte, um den Kristall plötzlich in zahllose winzige Splitter und Staub zerfallen zu lassen. „Je länger sie stehen, desto schwächer werden sie und irgendwann genügt auch ein Windhauch, um sie verschwinden zu lassen“, erklärte sie dabei. Während Seline die Splitter und den Staub betrachteten, die allesamt im Sonnenlicht glitzerten, als sie vom Wind fortgetragen wurden, dachte sie nur darüber nach, wie hübsch es aussah und dass sie das auch gerne in ihrer Welt hätte, zumindest in Maßen. Doch Asric brachte sie mit seiner Frage auf einen ganz anderen Gedanken: „Ist das nicht gefährlich? Also, wenn dieses Zeug einfach so in der Luft herumschwebt und irgendwer das einatmet oder so.“ Statt zu antworten, blickten Asterea, Fileon und Aurea sich ratlos und bedrückt an, was den anderen sagte, dass keiner von ihnen jemals darüber nachgedacht hatte. „Also...“ Fileon fühlte sich schließlich genötigt etwas zu sagen. „Cronus hat nie irgendwas gesagt und wenn er nichts sagt, dann gehen wir davon aus, dass schon alles seine Richtigkeit hat.“ Asric brummte unzufrieden. „Wie die Schafe...“ Seline rechnete mit empörten Reaktionen, Zurückweisungen – doch stattdessen warfen sich Fileon und Aurea einen bedrückten Blick zu, während Asterea wohlwollend und zustimmend nickte. „Genau das sage ich auch immer. Aber Cronus scheint es zu gefallen.“ „Er will nur nicht, dass einem von uns etwas passiert, wenn wir aus der Reihe fallen“, wandte Fileon zaghaft ein. „Das ist doch nett von ihm.“ „Er denkt nur an seinen eigenen Vorteil und-“ Urplötzlich verstummte Asterea als ob sie sich gerade erst bewusst geworden war, dass die anderen auch noch anwesend waren und diese nichts von dem, was hinter den Kulissen vor sich ging, erfahren sollten. Sie wandte sich den anderen zu und hustete, um die Verlegenheit zu überspielen. „Wie auch immer, ich denke, wir sollten-“ „Warte mal!“, unterbrach Asric sie. „Du kannst doch in die Zukunft sehen, oder? Kannst du nicht sehen, ob irgendeine Krankheit von diesem Kristallstaub ausgeht?“ Dieses Mal erwartete Seline, dass Asterea sich einfach umwenden und ihn ignorieren würde – doch wieder wurde sie überrascht, denn die Sternennymphe blickte ihn mit großen Augen an. „Du willst... meine Meinung wissen?“, hauchte sie. „Wirklich?“ So wie sie klingt, fragt sonst nie jemand nach ihrer Meinung, fuhr es Seline durch die Gedanken. „Äh, klar.“ Verwirrt über ihre Gegenfragen runzelte er die Stirn. Sie lächelte glücklich, als sie zur Antwort ansetzte: „Also im Moment kann ich nicht sonderlich viel sehen, wie gesagt, da ist nur Zerstörung. Aber ansonsten ist dieser Staub nicht weiter bedenklich, sofern er nicht in großer Konzentration eingeatmet wird. Einen solchen Fall habe ich aber noch nirgends feststellen können.“ Asric bedankte sich bei ihr für die Antwort und schien nun wesentlich erleichterter, während Asterea weiterhin... verzückt wirkte. Außer Seline schien das aber niemandem aufzufallen, vor allem nicht Russel, der nun in den Himmel starrte, da der Kristallbaum nicht mehr da war. Aber sein Blick verriet, dass er immer noch keine Antwort gefunden hatte, auf welche Frage auch immer. „Wir sollten weitergehen“, sagte Fileon. „Wer weiß, was Aurora noch einfällt, während wir hier herumstehen.“ Die anderen nickten zustimmend und ließen ihn erneut vorangehen, damit er sie weiterführen konnte. Lediglich Russel und Seline blieben noch einen Moment stehen. Er blickte weiterhin gedankenverloren in den Himmel, bis sie ihn an den Ellenbogen griff. Endlich wandte er sich vom Himmel ab und ihr zu. „Was ist los? Gehen wir weiter?“ „Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Aber natürlich, mit mir ist immer alles in Ordnung.“ Er lächelte wieder und es wirkte tatsächlich aufrichtig, aber Seline kam nicht umhin zu bemerken, dass hinter diesem Lächeln noch immer ein Hauch von Traurigkeit steckte, eine jener Art, die sie nicht einmal begreifen konnte. „Wollen wir gehen?“ Sie hielt ihm lächelnd die Hand entgegen, die er ohne Umschweife ergriff, um dann gemeinsam mit ihr den Weg fortzusetzen. Aber auch wenn er in diesem Moment wieder zu seiner alten Form zurückgefunden zu haben schien, so wurde Seline doch das Gefühl nicht los, dass er etwas mit sich herumtrug, das ihm das Leben unnötig erschwerte. Möglicherweise die Antwort auf eine Frage, die ihn schon lange belastete – nur dass diese noch um einiges schwerer wog. Sie konnte ihm das nicht abnehmen, aber sie könnte zumindest versuchen, diese Schwere mit ihm zu teilen, um ihm ein wenig von der Last zu nehmen, auch wenn sie nicht so genau wusste, woher dieses Verlangen, ihm zu helfen, überhaupt kam. Aber es war da und sie würde es nicht so einfach ignorieren, so wahr sie die Prinzessin der Drachen war. Kapitel 10: Iss einen Apfel am Tag und du hast dir den Arzt gespart ------------------------------------------------------------------- Für Selines Geschmack verlief die weitere Reise ein wenig zu leise, jedenfalls dafür, dass sie zu siebt unterwegs waren. Fileon und Aurea schienen sich ohne jedes Wort zu verstehen, Asric war nicht an Konversationen interessiert, Ambrose zu sehr in die Betrachtung der Umgebung vertieft, Russel noch immer mit seinen Gedanken beschäftigt und Seline wusste nicht, was sie sagen sollte, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Asterea schien ihr die einzige, die etwas Sinnvolles tat, indem sie nach Anzeichen der Gesuchten Ausschau hielt. Bislang war es Seline nie aufgefallen, aber es war doch gar nicht so leicht, Unterhaltungen zu führen, wenn man so viele verschiedene Menschen um sich herum hatte. Im Palast waren es ohnehin immer dieselben gewesen und das hatte ihr aus verschiedenen Gründen keinerlei Probleme bereitet: Mit dem Personal hatte man nur oberflächliche Worte gewechselt und Ballbesuchern war man nur einige Male im Jahr begegnet, man verbrachte keine ganzen Tage mit ihnen – und auch mit ihnen waren die Themen nie sonderlich tiefgründig gewesen. Fast schon vermisste sie diese absolut einfachen Zeiten, als sie sich keine Gedanken um interessante Gespräche hatte machen müssen – und mit diesen Überlegungen verbrachte sie ihre Zeit, statt wirklich darüber nachzudenken, welche Themen die anderen wohl interessieren könnten. Ein plötzlicher, wortloser Ausruf von Asterea brachte alle dazu, sich ihr zuzuwenden. Sie deutete mit dem Finger in die Entfernung, wo deutlich sichtbar zwei Personen auf einem gepflügten Feld standen und zu überlegen schienen. Während Seline sich noch fragte, was das zu bedeuten hatte, erkannte Fileon eine der Personen offenbar ebenfalls: „Ah, da ist Aurora ja! Wir haben sie ziemlich schnell gefunden.“ Asric atmete erleichtert auf, ehe sie auf dieses Feld zuhielten. Während sie näherkamen, konnte Seline erkennen, dass es sich bei den beiden Personen um einen Mann und eine Frau – das musste Aurora sein – handelte. Sie schüttelte immer wieder den Kopf, worauf ihr rosafarbenes, zu einem Pferdeschwanz hochgebundenes, Haar durcheinanderwirbelte. Das schelmische Glitzern in ihren goldenen Augen sorgte dafür, dass Seline sie sofort mochte, noch bevor sie überhaupt das erste Wort miteinander gewechselt hatten. „Asti!“, flötete Aurora entzückt und fiel dieser begeistert um den Hals. Asterea schien ein wenig verlegen, erwiderte die Umarmung aber tatsächlich. „Es ist eine Weile her, was, Aurora?“ Seline lehnte sich ein wenig näher zu Aurea, damit sie flüsternd etwas fragen konnte: „Stehen die beiden sich sehr nahe?“ Wenn man sich Aurora ansah, schien es so zu sein, aber Asterea wirkte ein wenig zurückhaltender. Allerdings war sich Seline nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Nicht alles war immerhin so wie es schien. Aurea nickte. „Sie sind wie Schwestern... gut, sie sind auch Schwestern, aber sie benehmen sich auch so, nicht wie andere Naturgeister.“ Aurora warf einen begeisterten Blick in die Runde, in der sie zwar kaum jemanden kannte, was sie aber nicht im Mindesten störte, jedenfalls sah es so aus. „Was führt euch alle zu mir?“ Sie fragte nicht einmal nach Namen oder einer allgemeinen Vorstellungsrunde, was so manche Person als unhöflich bezeichnet hätte, aber Seline empfand es eher als... offen. Aurora interessierte sich nicht für einzelne Namen oder Lebensumstände, sie kümmerte nur, wie jemand sich verhielt. „Rora, wir brauchen die Kristallhälfte, die ich dir geliehen habe“, sagte Fileon. „Cronus will diese Leute wieder zurück nach Hause schicken, aber dazu... äh, brauchen wir die Kristallhälfte.“ Sie nickte zwar verstehend, setzte aber ein entschuldigendes Lächeln auf, so dass Seline sofort wusste, dass sie umsonst gekommen waren. „Oh, tut mir Leid, Fil, aber ich habe die Hälfte weiterverliehen.“ Ehe er fragen konnte, meldete sich Asric, den etwas ganz anderes beschäftigte: „Hast du eigentlich für jeden einen Spitznamen?“ Doch Aurora kam nicht zum Antworten, denn der Mann neben ihr stöhnte genervt. „Ja, hat sie. Sie nennt mich dauernd Ken – dabei habe ich ihr schon zehnmal gesagt, dass ich Kenneth heiße!“ Erstmals wandte die Gruppe sich dem bis dahin für unwichtig befundenen Mann zu. Neben der ausgefallenen Aurora wirkten sein braunes Haar und die grünen Augen erschreckend langweilig, selbst sein deutlich genervtes Gesicht war ein krasser Gegensatz zu ihr. „Kenneth?“, fragte Asterea irritiert. „Kenneth Dipaloma“, bestätigte er. „Mir gehört das Land, auf dem ihr gerade steht.“ Automatisch blickten alle auf den Boden hinab und Seline war vollkommen davon überzeugt, dass mindestens einer aus der Gruppe sich fragte, wie jemandem Land gehören konnte. „Oh ja.“ Asterea schien sich wieder zu erinnern. „Du wolltest, dass ein Naturgeist dich bei deinen Plänen mit diesem Acker unterstützt.“ Er brummte zur Antwort. „Das war das letzte Mal.“ Asric spielte sich wieder in den Vordergrund, um sein Anliegen weiterzuverfolgen: „Aber warum hast du für jeden einen Spitznamen? Du kannst doch einfach die normalen Namen verwenden.“ „Das wäre doch langweilig“, erwiderte Aurora mit gerunzelter Stirn. „Außerdem ist das Leben, besonders für Menschen, doch viel zu kurz, um jeden einzelnen Namen vollständig auszusprechen.“ Kenneth stieß erneut ein genervtes Stöhnen aus, ließ es aber zu, dass Fileon nun wieder mit seinem eigenen Anliegen vorankam: „Wem hast du die Hälfte denn geliehen?“ „Lika“, kam die vergnügte Antwort, worauf Asterea, Fileon und Aurea ein verstehendes „Ah“ von sich gaben und Russel erneut die Stirn runzelte. Da ihr niemand den Gefallen tat, stellte Seline schließlich die Frage: „Wer oder was ist Lika?“ Zur ihrer Überraschung war es Russel, der sich ihr für eine Antwort zuwandte: „Sie reden von Tuulikka. Sie ist kein Naturgeist, sondern so wie Ladon oder der Gott dieser Welt, ein überirdisches Wesen, das aus einem gänzlich anderen Reich stammt.“ „Davon habe ich auch schon gehört“, sagte Asric. „Die Götter, die das Leben erschaffen haben, sollen ursprünglich aus einer anderen Ebene kommen, wo sie selbst eher... wie Menschen sind.“ Russel nickte und warf Seline dann einen Blick zu, der ihr sagte, dass er ihr ein andermal mehr erklären würde, falls sie noch Fragen dazu hätte, weswegen sie nichts mehr sagte. „Aber was will diese Lika dann damit?“, fragte Ambrose ratlos. „Wenn sie ein solches Wesen ist, muss sie doch genug Kraft haben.“ Aurora zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gefragt. Wenn Lika einen um etwas bittet, gibt man es ihr, sie ist einfach soooo süß.“ Sie lachte amüsiert bei der Erinnerung an die bittende Tuulikka. „Aber sie hat versprochen, den Kristall wiederzubringen, wir müssen also nur auf sie warten.“ Die anderen seufzten ergeben, da Russel bestätigte, dass es wohl eher sinnlos war, sie suchen zu wollen. „Am besten wäre es, wenn ich dann wieder zu Cronus zurückgehe“, sagte Aurea plötzlich. „Ihr kommt bestimmt auch ohne mich zurecht.“ „Owwww, wirklich, Liebes?“ Aurora schien davon am meisten betroffen zu sein. Aurea nickte noch einmal. „Immerhin ist es meine Aufgabe, auf Kreios aufzupassen, dem sollte ich wieder nachgehen.“ Ein Argument, dem keiner etwas entgegenzusetzen wusste. „Sei vorsichtig auf dem Rückweg“, bat Fileon sie bei der Verabschiedung. „Man weiß nie, was einem unterwegs alles geschehen kann.“ „Mach dir keine Sorgen“, erwiderte sie lächelnd. Die anderen Abschiede fielen wesentlich kürzer aus und schon kurz darauf war sie auch schon wieder aus dem Blickfeld der Gruppe verschwunden. Allein schien sie wesentlich schneller unterwegs zu sein als in Begleitung der anderen. „Was wollen wir eigentlich machen, bis Lika wieder auftaucht?“, fragte Ambrose, der sich offenbar bereits langweilte. „Wie wäre es, wenn ihr euch endlich mal um das kümmert, weswegen ich überhaupt einen Naturgeist hier haben wollte?“, meldete Kenneth sich wieder brummend zu Wort, worauf sich die gesamte Aufmerksamkeit wieder ihm zuwandte. „Weswegen wolltest du denn einen?“, fragte Seline interessiert. Dankbar, dass es endlich jemanden gab, der sich wirklich für das interessierte, was er wollte, wandte er sich ihr zu. „Nachdem sich die Erde endlich von der Kristallplage erholt hat, habe ich beschlossen, etwas auf meinen Feldern anzubauen – aber ich weiß einfach nicht, was.“ Auch wenn Seline erst vor kurzem die bedrückenden Auswirkungen mitbekommen hatte, konnte sie nicht anders als die Bezeichnung Kristallplage irgendwie hübsch zu finden. Es klang weniger bedrohlich, mehr wie ein wünschenswerter Zustand – zumindest in ihren Ohren. „Es gibt viel zu viele Dinge zu bedenken“, fuhr Kenneth fort. „Deswegen wollte ich eigentlich eine Nymphe, die sich mit solchen Dingen auskennt, aber alles, was ich bekommen habe, ist...“ Er warf einen genervten Blick zu Aurora hinüber, die allerdings nur entschuldigend lächelte und dann eine Grimasse zog, als er wieder wegsah. „Na ja, wir haben eigentlich nur Lilium, die sich damit auskennt“, gab Fileon zu, „aber sie darf ihren Heimatort nicht verlassen, deswegen mussten wir improvisieren.“ Kenneth musste sich deutlich auf die Lippen beißen, damit er keine scharfe Erwiderung von sich gab, immerhin spürte man deutlich, dass es Fileon wirklich Leid tat und es nichts brachte, ihn deswegen anzufahren. „Ich habe eine Idee“, meldete Ambrose sich zu Wort. „Ich weiß, was hier angepflanzt werden sollte!“ Kenneth wandte sich nun ihm zu und wartete auf die Verkündung der Idee, die auch sofort folgte: „Apfelbäume!“ Seline versuchte, sich vorzustellen, wie die Gegend wohl mit Apfelbäumen aussehen würde – was an und für sich kein schlechter Anblick war – und fragte sich dann, wieso er ausgerechnet auf so etwas kam. Eine Frage, die sich Russel offensichtlich nicht stellte: „Das macht Sinn. Wie heißt es so schön? Iss einen Apfel am Tag und du hast dir den Arzt gespart.“ „Also könnten gesunde Äpfel dafür sorgen, dass die verunsicherte Bevölkerung sich wieder beruhigt“, schloss Kenneth nickend daraus. „Aber das Problem ist, dass Apfelbäume lange zum Wachsen brauchen und eventuell nicht auf diesem Boden Wurzeln schlagen.“ „Das ist kein Problem!“, ließ Ambrose sich erneut frohlockend vernehmen. „Ich kann die Samen mit einem Zauber bearbeiten, der sie widerstandsfähiger sein lässt. Daraus würde eine ganz neue Sorte werden können. Dipaloma Äpfel... oder so.“ Sonderlich schmackhaft hörte sich das für Seline nicht an, aber wie sie wusste hatte auch ihr Vater derlei Experimente mit verschiedenen Gemüsesorten gestartet und sie musste sagen, dass all jene Sorten überaus köstlich waren. Möglicherweise würde das dann auch für Ambroses Versuche mit Äpfeln gelten, sie sollte nicht derart vorurteilsbeladen sein. „Überzeugt bin ich ja nicht“, meinte Kenneth seufzend. „Aber von mir aus, das ist der beste Vorschlag, den ich die letzten Tage gehört habe.“ Aurora warf ihm einen gespielt beleidigten Blick zu, grinste dann aber sofort wieder. „Und da ihr alle schon da seid, könntet ihr vielleicht helfen... oder?“ Keiner von ihnen sagte etwas dagegen, Asric zuckte sogar mit den Schultern. „Ist dasselbe wie früher, ich bin das gewohnt.“ Zufrieden über diesen Zuspruch, kniete Kenneth sich hin, damit er die Landwirtschaftsgeräte aufheben konnte, die neben seinen Füßen lagen. „Das Feld ist noch nicht fertig bestellt, das solltet ihr heute also tun.“ Er drückte jedem seiner Besucher ein solches Werkzeug in die Hand, selbst Seline, die ihre Hacke nur irritiert mustern konnte. „Stimmt etwas nicht?“, fragte Kenneth. Da Seline nicht antwortete, sprang Russel für sie ein: „Sie ist eine Prinzessin, da wird sie wohl eher selten dazu gekommen sein, Felder umzupflügen. Sie hat es wohl höchstens mal beobachtet.“ Kenneth wollte sich gerade entschuldigen und ihr die Hacke wieder abnehmen, als sie einen Schritt zurückwich. „Das ist schon okay“, sagte sie hastig. „Ich kann das bestimmt auch. Ich will nicht, dass nur die anderen arbeiten müssen.“ Allein der Gedanke war ihr unangenehm. Sie war schon den Großteil ihres Lebens immer in irgendeiner Art und Weise in einer besonderen Position gewesen, die zwar in den Augen vieler beneidet, aber von ihr stets gehasst worden war. Immer war sie ausgeschlossen, auf ein Podest gehoben und unter einer Glaskuppel aufbewahrt worden als hätte sie bei einer falschen Bewegung zerbrechen können. An diesem Punkt der Konversation war sie früher immer ignoriert worden, man hatte ihr alles wieder abgenommen und sie dann beiseite geschoben, damit sie nicht im Weg stand. Aber hier war das nun nicht der Fall. „Klar kannst du das“, sagte Asric. „Ambrose und ich werden dir zeigen, wie das geht. Und wenn selbst der das kann, lernst du das erst recht.“ „Was soll das denn schon wieder heißen?“, fragte Ambrose irritiert und auch ein klein wenig verletzt, wie es schien. Seline blendete das folgende Wortgefecht der beiden aus. In diesem Moment war sie zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihre Freude zu konzentrieren, die sie empfand. Obwohl jeder wusste, dass sie eine Prinzessin war, behandelte sie niemand anders, nein, man bot ihr sogar noch an, ihr zu zeigen, wie diese, mit Sicherheit schwere, Arbeit zu verrichten wäre. In diesem Augenblick wusste sie einfach, dass ihr Platz bei dieser Gruppe war – und fast schon wünschte sie sich, dass Lika niemals auftauchen würde, damit sie nicht wieder nach Hause zurückkehren und sich von den anderen trennen müsste. Sie ahnte noch nicht, wie schnell sich diese Gefühle wieder ändern würden. Diana warf immer wieder einen nervösen Blick zu Ladon, der sich nicht im Mindesten aus der Ruhe bringen ließ. Egal durch wie viele Gänge sie ihn führte, die in Sackgassen endeten oder nicht im Mindesten dieselbe Richtung einschlugen wie Russel und die anderen, seine Mundwinkel blieben immer leicht erhoben. Im Gegensatz zu der Stimmung seiner beiden Begleiter. Melathosas Gesichtsausdruck schien ohnehin nur schlecht gelaunt sein zu können und Phoibos' Stimmung sank mit jedem Schritt weiter. „Das reicht langsam!“, fauchte er schließlich und blieb stehen. „Wie lange willst du uns eigentlich noch in die Irre führen und für blöd verkaufen?!“ Sie blieb ebenfalls stehen und wandte sich ihm zu. „Ich bin für die Gähnende Schlucht zuständig, nicht für diesen Bereich und deswegen-“ „Lass das endlich!“, fauchte Phoibos. „Jeder weiß doch, dass du uns nur an der Nase herumführst! Du hast gar nicht vor, uns zu den anderen zu bringen!“ Melathosa rollte genervt mit den Augen, Ladon dagegen lächelte sanft. „Bitte, Phoibos, lass es gut sein. Denk doch daran, dass wir nur Gäste in dieser Welt sind.“ Sein Gegenüber runzelte missbilligend die Stirn, sagte aber nichts mehr, was für Diana auch wesentlich angenehmer war. Er mochte wie ein gut erzogener Herr wirken, aber seine Geduld war nicht unbedingt die beste, wie es schien. Ladon dagegen wirkte nach außen ruhig und gefasst, beherbergte aber derart viel Energie in seinem Inneren, dass es ihr graute, in seiner Nähe sein zu müssen. Und Melathosa schließlich war einfach nicht einzuschätzen. Das gesamte Trio bereitete ihr Unbehagen, besonders als Ladon fortfuhr: „Außerdem hat sie uns nicht annähernd so vom Weg abgebracht, wie du zu glauben scheinst, Phoibos.“ Er nickte zu einem Seitengang hinüber, wo eine leise summende Aurea gerade den Rückweg zur Bibliothek beschritt und dabei keinen von ihnen bemerkte. Dianas Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus – ehe sie bemerkte, dass das Mädchen allein war, keiner der anderen war bei ihr. „Wenn wir ihre Spur zurückverfolgen, sollten wir in der Lage sein, die anderen zu finden“, erklärte Ladon triumphierend und blickte dann zu Melathosa. „Du weißt, was ich möchte, oder?“ Sie schob ihre Brille zurecht, nickte schweigend und lief dann voraus, um etwas zu folgen, was nur sie sehen konnte, zumindest hatte Diana diesen Eindruck. Die anderen beiden liefen ihr hinterher, doch nicht ehe Ladon dem Naturgeist nicht noch einen spöttischen Blick zuwerfen konnte, der ihr zeigte, wie wenig er von ihr hielt. Mit einem weiterhin flauen Gefühl im Magen schloss sich Diana ihnen ebenfalls an – und mit jedem Schritt reifte in ihr eine düstere Vorahnung heran. Kapitel 11: Ein Gespräch am Abend --------------------------------- Als Lohn für ihre Arbeit lud Kenneth die gesamte Gruppe für die Nacht in sein Anwesen ein, das zu Selines Überraschung eine ansehnliche Größe besaß. Viel mehr verwunderte sie aber, dass man das Anwesen in ihrer Welt dem japanischen 16. Jahrhundert zugeordnet hätte und deswegen gar nicht zum Rest der kleinen Stadt passen wollte. Das im Quadrat angelegte Anwesen verfügte über eine rund herum verlaufende Holzterrasse und Schiebetüren, der Boden war ausgelegt mit gemütlichen Tatamimatten – und noch dazu gab es einen Innenhof, in dem es eine heißes Bad gab. Auf ihr Nachhaken erklärte Kenneth, dass sein Anwesen von einem reisenden Fremden entworfen worden war, woraus sie schloss, dass dieser Reisende einst aus ihrer Welt gekommen sein musste. Allerdings hätte sie nie gedacht, einmal selbst in einem derartigen Gebäude zu wohnen – wenn auch nur für eine Nacht – und ein Bad im Freien derart auszukosten. Die letzten Wochen und Monate hatte sie stets in Flüssen oder Seen gebadet, die aber auch alle entsprechend kalt gewesen waren. Demzufolge war das heiße Bad eine angenehme Abwechslung gewesen. Sehr zufrieden mit sich selbst und der Welt, ging sie im Anschluss durch die Gänge des Hauses in Richtung des Zimmers, das sie mit Asterea und Aurora teilte. Kenneth hatte ihr angeboten, einen Raum ganz für sie allein herzurichten, aber um so normal wie möglich zu sein, hatte sie sofort abgelehnt – außerdem war Aurora von dem Gedanken begeistert, eine Übernachtungsfeier abzuhalten. Sie war schon enttäuscht genug gewesen, dass Seline nicht mit ihr und Asterea hatte baden wollen, das war der Prinzessin dann aber doch zu viel des Guten gewesen. Während sie durch den Gang lief, zupfte sie an der doch recht engen Kleidung, die Kenneth ihr zur Verfügung gestellt hatte. Grün war normalerweise nicht ihre Farbe, aber seit einiger Zeit mochte sie diese mehr als früher – und den Grund dafür fand sie im ersten Stock auf einem Balkon sitzend. Neben zwei Stühlen stand dort auch ein Tisch, auf dem eine Flasche Rotwein und zwei langstielige Gläser standen. Russels Blick galt dem Innenhof, auch wenn er von seiner Position aus lediglich den gerade leeren Bereich des Bads sehen konnte. Die andere Hälfte der Quelle war durch eine Bambuswand von jeglichen Blicken abgeschirmt, aber das amüsierte Gelächter und Getratsche von Asterea und Aurora war gut zu hören und Seline konnte sich gut vorstellen, dass Russels Fantasie davon angeregt wurde. Eine Vorstellung, die ihr ganz und gar unbehaglich war, weswegen sie hastig seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. „He, Russel.“ Er reagierte sofort und wandte ihr lächelnd den Blick zu. „Ah, bist du auf dem Weg ins Bett?“ „So ziemlich.“ Sie erwartete eine gewisse Reaktion, die auch sofort kam, als er auf den anderen Stuhl deutete. „Setz dich doch, lass uns zusammen ein Glas Wein trinken.“ Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, sie setzte sich sofort und widersprach auch nicht, als er ihr einschenkte. „Wie kommt es, dass du hier draußen sitzt und Wein trinkst?“ Sie erwartete keine Antwort, weswegen es sie überraschte, dass sie doch eine bekam: „Hier oben ist der Wind besser. Seine Geschichten klingen interessanter, wenn man wirklich alles mitbekommt.“ „Du verstehst, was der Wind dir sagt?“, hakte sie nach. „Aber natürlich, ich bin immerhin der Gott des Windes, da muss ich doch verstehen können, was er mir zu sagen hat. Du würdest Drachen doch auch verstehen, oder?“ „Da ich noch nie einem begegnet bin, ist das wohl lediglich eine wohlwollende Annahme von dir.“ Statt etwas darauf zu erwidern, nahm er einen Schluck aus seinem Glas, was sie ihm nachtat, nur um direkt danach zu erschauern. Bislang hatte sie im Palast keinen puren Alkohol bekommen, wenn überhaupt war er immer mit Wasser oder Limonade verdünnt gewesen. Sie zweifelte nicht daran, dass dieser Wein gut war, aber für ihre noch nicht sonderlich reifen Geschmacksnerven war es doch ein wenig bitter. „Weißt du eigentlich, dass wir uns jetzt seit 24 Stunden kennen?“, fragte er plötzlich. Bislang hatte sie gar nicht darüber nachgedacht, aber diese Zeiteinheit kam ihr doch viel zu wenig vor. „Bist du sicher?“ „Dadurch, dass wir auch noch in eine andere Welt geraten sind, ist der Zeitstrom ein wenig durcheinander, aber es ist jetzt etwas mehr als 24 Stunden her“, bestätigte er noch einmal, sagte ihr aber nicht, wie er darauf gekommen war. „Kommt einem viel länger vor, was?“ Ihr lag die Frage auf der Zunge, ob er das im positiven oder negativen Sinn meinte, aber sie wusste nicht so recht, wie sie das anstellen sollte, ohne dass es seltsam und aufmerksamkeitsheischend klingen würde. Ein spitzer Schrei aus Richtung des Bads lenkte sie aber auch direkt von dieser Sache ab. „W-was soll das denn, Aurora?!“, fragte Asterea in einer unnatürlich hohen Stimme. „Na stell dich mal nicht so an“, kam die amüsierte Antwort. „Ich wollte doch nur wissen, ob du dich überall so weich anfühlst.“ „Kannst du da nicht vorher fragen?“ „Das wäre wider des Klischees.“ Seline neigte den Kopf, während sie an so manche Geschichte dachte, die sie früher gehört hatte und in denen es zu ähnlichen Situationen gekommen war. „Ich wusste nicht, dass man hier so etwas auch kennt.“ Russel schmunzelte. „Das hat sie von mir. Während du gebadet hast, habe ich ihr davon erzählt.“ „Wolltest du diese Sache inszenieren?“ „Oh, ich hab zumindest darauf gehofft, ja. Wie oft hat man schon die Gelegenheit, so etwas mitzuerleben?“ Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, beschloss aber, nichts dagegen zu sagen, immerhin wirkte er nun endlich ein wenig fröhlicher als noch zuvor und das wollte sie nicht direkt wieder kaputtmachen. Außerdem folgte erneut ein spitzer Schrei, der wieder alle Aufmerksamkeit auf das Bad lenkte. „W-was tust du denn hier?“, fragte Asterea schockiert. Dem folgte eine wesentlich leisere Stimme, deren genaue Worte Seline nicht verstehen konnte, aber es war eindeutig Asric, der da sprach. Sie richtete sich ein wenig mehr auf und verrenkte den Hals, um hinter die Bambuswand sehen zu können – und tatsächlich schaffte sie es, einen Blick auf einen verlegenen Asric zu erhaschen, der sich den Hinterkopf kratzte. „Ich bin nur durch Zufall hier vorbeigekommen, echt. Ich wusste nicht, dass ihr gerade badet und...“ Er verstummte, da er anscheinend einen wesentlich interessanteren Anblick gefunden hatte, den er aber sofort wieder bereute, als eine der Frauen einen Waschzuber in seine Richtung warf. Er kauerte sich zusammen, so dass die Wanne nur die Wand traf, aber der Schreck stand ihm danach deutlich ins Gesicht geschrieben und brachte auch ein wenig von seinem Wortschatz wieder: „He! Warum seid ihr so unhöflich?! Ich habe doch gerade gesagt, dass-!“ Er konnte den Satz nicht beenden, da Ambrose in diesem Moment ebenfalls dazukam und seinen Freund am Ohr packte. „Ich habe dir doch gesagt, dass du die Frauen in Ruhe lassen sollst! Also komm jetzt und sei brav.“ Mit erstaunlich viel Kraft zog er Asric mit sich aus dem Sichtbereich des Bads. „Was für ein seltsamer Zeitgenosse“, kommentierte Aurora. „Eher süß“, erwiderte Asterea ein wenig kleinlaut. Statt weiter über dieses Thema zu sprechen, spritzte eine der beiden mit Wasser, was sie wieder zu ihrem vorigen amüsierten Verhalten führte, weswegen Seline wieder auf ihrem Stuhl zurücksank. „Hach, die Jugend“, gab Russel begeistert von sich. „Immer wieder für eine Überraschung gut.“ „Dann hast du das nicht arrangiert?“, hakte Seline nach. „Nein, das war eine ungeplante, interessante Wende.“ Er lächelte zufrieden. „Aber mal wieder zu einem anderen Thema zurück: Kommt es dir auch länger vor?“ Dieses Mal konnte sie eher sagen, dass er es positiv meinte, denn seine Stimme klang gelöst und überaus zufrieden. „Irgendwie schon“, gab sie zu. Seit sie ihm begegnet war, hatte sie immerhin kaum noch einen ruhigen Moment gehabt und auf diese Weise schien einem das Leben viel schneller vorüberzugehen. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, müde zu werden. Aber während sie nun auf diesem Balkon saß und dabei an ihrem Weinglas nippte, merkte sie durchaus, wie schwer ihre Lider wurden. Und Russel fiel das ebenfalls auf. „Du solltest ins Bett gehen.“ „Ja, gleich“, erwiderte sie. „Ich falle hier schon nicht direkt um.“ „Wie hast du das eigentlich gemacht, als du unterwegs gewesen bist?“, fragte er interessiert. „Du wirst wohl kaum jede Nacht ein gemütliches Bett gefunden haben, oder?“ „Nur weil ich eine Prinzessin bin, bedeutet das nicht, dass ich verwöhnt bin“, konterte sie. „Genau genommen schlafe ich recht gern unter freiem Himmel. Aber hin und wieder ist es auch nett, in einem Bett zu übernachten.“ „Konntest du nicht einfach zu irgendeinem Haus gehen und den Einwohnern befehlen, dich bei ihnen schlafen zu lassen? Viele hätten sich sicher gefreut, der Prinzessin helfen zu dürfen.“ „Oder sie hätten die Gelegenheit ergriffen, Geld für meine Freilassung zu fordern“, antwortete sie trocken. „Nicht jeder Einwohner von Drakani ist der kaiserlichen Familie gut gesinnt.“ Auch wenn sich das erst mit dem Tod ihres Vaters so entwickelt hatte. Er war sehr beliebt gewesen beim Volk, aber ihr Bruder... eher nicht. Das lag vermutlich an seiner Unerfahrenheit und seiner offensichtlichen Unlust, das Volk zu regieren. Noch ein Grund, weswegen sie so verstimmt war, dass sie nicht den Thron hatte übernehmen dürfen. Unter ihrer Herrschaft wäre die Familie noch immer beliebt, davon war sie überzeugt. „Immerhin weißt du so etwas“, sagte Russel lächelnd. „Du könntest auch richtig naiv sein.“ „Nein, davon kann ich mich definitiv lossagen. Deswegen sind mir auch deine Stimmungsschwankungen nicht entgangen, seit wir hier sind.“ „Ich würde es eher als nachdenkliche Anfälle bezeichnen, aber nun gut.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm völlig gleichgültig. „Das hat aber mehr damit zu tun, dass ich mir Gedanken darum mache, dass mir das alles irgendwie bekannt vorkommt.“ „Als ob du schon einmal hier gewesen wärst?“, riet sie. Er nickte zur Antwort. „Aber es ist nur ein Gefühl. Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, denn ich erinnere mich hier an nichts – und anscheinend erinnert sich auch sonst niemand an mich.“ „Vielleicht hast du es auch nur vergessen?“ Auch wenn ihr nicht einfiel, weswegen man so etwas einfach vergessen würde. „Vielleicht habe ich das“, meinte er gedankenverloren, während er noch einen Schluck nahm. „Aber dann bleibt die Frage, warum ich es vergessen habe...“ Für den Moment spannte sich die Atmosphäre unangenehm an und ließ Seline bereuen, es überhaupt angesprochen zu haben. Aber plötzlich lachte Russel amüsiert. „Ach, wie auch immer. Ich gehe jetzt jedenfalls ins Bett. Falls du mich begleiten willst...“ Er ließ den Satz offen, aber sein Schmunzeln implizierte ihr auch so, was er sagen wollte. Statt allerdings empört Luft in ihre Backen zu pumpen, erwiderte sie das Schmunzeln amüsiert. „Oh, ich würde dich sofort vor das Gericht bringen, sobald wir wieder zu Hause sind. Also erspar dir das lieber.“ Er lachte noch einmal und stand auf. „Dann schlaft gut, Prinzessin.“ Sie glaubte bereits, dass er sich wieder beruhigt hätte, aber in dem Moment, in dem er sich abwandte, konnte sie sehen, wie sein Gesicht sich wieder verfinsterte. Allerdings tat sie nichts mehr, um ihn aufzuhalten, stattdessen hoffte sie einfach, dass es ihm nach dem Schlafen wieder besser gehen würde. Mit einem leisen Seufzen leerte sie ihr Glas und stellte es dann wieder auf dem Tisch ab. Gewohnt, dass sich einer der Bediensteten darum kümmern würde, stand sie auf und ging dann weiter, um ihr Zimmer aufzusuchen und selbst ins Bett zu gehen. Vielleicht würde sie noch ein wenig Schlaf bekommen, ehe Aurora und Asterea ebenfalls dazukämen – immerhin schien keine der beiden daran interessiert zu sein, wirklich zu schlafen. Aber schon nach wenigen Schritten wanderten ihre Gedanken wieder zu Russel und der Möglichkeit, dass er möglicherweise einmal in dieser Welt gewesen war. Wenn das wirklich stimmte, müsste sie sich die Frage stellen, wie es möglich sein könnte, dass er das vergessen hatte und ob sie das ebenfalls einmal betreffen könnte. Sie wollte nicht vergessen, was sie in dieser Welt erlebte, am besten niemals. Ich denke schon wieder viel zu weit voraus! Das sollte ich nicht tun. Stattdessen sollte sie erst einmal abwarten und herausfinden, woher sein Gedächtnisverlust wirklich rührte – und davor sollte sie unbedingt schlafen, wie sie erneut feststellte, als sie in das Zimmer kam, das ihr zugewiesen worden war. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sie sich in das Bett fallen und war innerhalb weniger Minuten tief und fest eingeschlafen, so dass nicht einmal Aurora und Asterea sie wecken konnten, als sie kurz danach hereinkamen. In ihrem tiefen, von verwirrenden Träumen durchzogenen Schlaf, ahnte sie nicht im Mindesten, dass Ladon und seine beiden Vasallen sich ihnen unaufhörlich näherten und die friedliche Zeit bereits am nächsten Morgen wieder enden würde. Kapitel 12: Ein Beweis der Macht -------------------------------- Bereits als Seline erwachte, spürte sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Das war allerdings nicht ganz korrekt, wenn sie weiter darüber nachdachte. Es war alles in Ordnung – noch. Aber da war etwas, ganz am Rand ihrer Wahrnehmung, das ihr verriet, dass bald etwas anders sein würde. Als sie die Augen öffnete und weder Asterea noch Aurora sehen konnte, stand sie auf, um herauszufinden, wo die beiden waren. Im Haus herrschte eine angespannte Stille, die ihr nicht behagen wollte. Hinter einigen Türen konnte sie gedämpfte Stimmen hören, die sich flüsternd miteinander unterhielten, als fürchteten sie, entdeckt zu werden und doch ihren Mitteilungsdrang nicht unter Kontrolle halten konnten. Doch die genauen Inhalte der Konversationen waren für sie nicht verständlich, weswegen sie einfach den Weg zum Haupteingang zurücklegte, in der Hoffnung, dass einer ihrer Gefährten dort zu finden sein würde. Nein, eigentlich hoffte sie nur auf Russel, er wäre ihr im Moment vollkommen genug gewesen, nicht zuletzt, weil er ihr verlässlicheren Schutz versprach als alle anderen. Bevor sie die Tür erreichte, begegnete sie Kenneth, der sich mit gerunzelter Stirn umblickte. Sie befürchtete, seinen Unmut auf sich gezogen zu haben, doch da er die Mundwinkel zum Anflug eines Lächelns hob, als er sie entdeckte, stellte sie erleichtert fest, dass sich sein Ärger nicht auf sie bezog. „Guten Morgen, Kenneth“, grüßte sie ihn lächelnd. „Was gibt es?“ „Guten Morgen.“ Er unterbrach sich mit einem schweren Seufzen. „Unter meinen Angestellten befindet sich eine Prophetin, sie sagt, heute wird schlimmes Unheil über das Anwesen hereinbrechen und deswegen weigern sie sich allesamt, zu arbeiten.“ Obwohl er es vortrefflich verstand, sein Augenrollen zu unterdrücken, konnte sie es dennoch deutlich aus seinen Worten heraushören, was sie amüsierte. Aber dann wurde ihr bewusst, was er eben gesagt hatte und das erinnerte sie wieder an ihr eigenes Gefühl der Anspannung. Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. „Du auch?“, fragte Kenneth mit wachsender Verzweiflung. Sie wollte ihn nicht weiter belasten, deswegen wehrte sie ab und erklärte, dass ihr lediglich kalt wäre. Das überzeugte ihn zwar offenbar nicht sonderlich, aber er war respektvoll genug, nicht weiter darauf einzugehen. „Falls du deine Begleiter suchst, einige von ihnen sind in der Küche und im hinteren Garten. Da meine Angestellten heute nicht arbeiten, haben sie sich bereit erklärt, auszuhelfen.“ So viel Einsatzbereitschaft brachte ihn offenbar zum Lächeln, denn sein Stirnrunzeln verschwand augenblicklich, was ihr auch direkt ein besseres Gefühl vermittelte und sie die angespannte Atmosphäre erst einmal vergessen ließ. Nachdem sie sich bedankt hatte, setzte sie ihren Weg in die Küche fort, um nach den anderen zu sehen. Noch mehrere Meter entfernt, hörte sie bereits die Stimmen von Aurora und Asterea, die angeregt über etwas sprachen, was sich – je näher sie kam – als eine Diskussion über den richtigen Salzgehalt in der Speise entpuppte. Als Seline die Küche betrat und die beiden Naturgeister entdeckte, hielt sie erst einmal überrascht inne. Beide trugen nicht nur eine weiße Schürze, sondern auch weiße Kopftücher, Auroras Haar war wie üblich zu einem Pferdeschwanz gebunden und Asterea tat es ihr an diesem Morgen gleich. Mit Kochlöffeln und Untertassen bewaffnet standen sie vor einem steinernen Herd, in dem ein Feuer loderte und diskutierten, ob es zu viel oder zu wenig Salz in der Suppe gab. Erst als Seline ein wenig die Stellung änderte, bemerkte sie, dass auf dem Herd ein Topf stand, aus dem ein herrlicher Geruch strömte, der Selines Magen knurren ließ. Mit einem freundlichen Gruß auf den Lippen, näherte sie sich den beiden, die ihre Unterhaltung sofort einstellten und sich ihr zuwandten, um den Morgengruß zu erwidern. „Du hast ganz schön tief geschlafen“, bemerkte Aurora schmunzelnd. „Nicht mal ich habe ich dich wecken können... und ich hab wirklich alles versucht.“ Seline fragte sich, worin diese Versuche bestanden haben mochten, tat es aber nicht laut, da sie sich vor der möglichen Antwort sogar ein wenig fürchtete. Aber es war sicher gut zu wissen, dass sie einen tiefen Schlaf besaß. Etwas anderes interessierte sie in diesem Moment außerdem wesentlich mehr, weswegen sie sich Asterea zuwandte. „Kenneth sagt, die Prophetin unter seinen Angestellten hätte etwas für heute vorhergesehen. Kannst du es auch sehen?“ Die Sternennymphe hob die Schultern ein wenig und sah dabei nicht sonderlich erfreut aus, was Seline deutlich mitteilte, dass ihr diese Frage an diesem Morgen bereits mehrmals gestellt worden war. „Nein, kann ich nicht. Aber ich habe in den letzten Tagen allgemein nur wenig gesehen. Und sehr redebedürftig sind die Sterne derzeit auch nicht.“ „Sie reden mit dir?“, fragte Seline interessiert. „Es ist ein Flüstern. Sie sagen mir Dinge voraus... aber nicht immer sind es nützliche.“ Aurora nickte. „Und manchmal ignorieren sie auch Sachen, die eigentlich wesentlich wichtiger sind.“ Für diese Aussage erntete sie einen tadelnden Blick von Asterea, die es wohl nicht gern sah, wenn man ihre Geheimnisse verriet, was Seline in diesem Fall zu gut verstehen konnte. „Dann bedeutet das, du kannst das, wovon die Prophetin spricht, einfach nicht sehen?“ Als Asterea nickte, stieß Aurora ein leises Kichern aus. „Vielleicht bist du auch einfach nur zu sehr damit beschäftigt, Asric anzuhimmeln, um dich auf die Visionen zu konzentrieren. Das würde auch erklären, warum deine Suppe so versalzen ist.“ Damit begann die Diskussion über den Salzgehalt von neuem und Seline war direkt wieder vergessen, was diese nutzte, um den hinteren Garten aufzusuchen, zu dem man dank einer Tür in der Küche kam. Es war ein Gemüsegarten, wie sie feststellte, als sie hinaustrat, ein äußerst großzügiger noch dazu. Mehrere Beete, in denen Salate, Tomaten, Gurken und Kartoffeln wuchsen, waren zu sehen – und zwischendrin wurde sie Zeuge einer weiteren Diskussion, dieses Mal zwischen Asric und Ambrose, was die richtige Erntezeit für Kartoffeln anging. Da sie sich nicht einmischen wollte, ließ sie ihren Blick wandern und entdeckte Fileon und Russel auf einer steinernen Bank, die an der Wand des Hauses stand. Die beiden beobachteten die Diskutierenden in den Beeten und zeigten unterschiedliche Reaktionen darauf. Russel schmunzelte amüsiert, während Fileon den Kopf geneigt hielt und aus dem Gespräch schlau zu werden versuchte. „Habt ihr kein Interesse, ihnen zu helfen?“, fragte Seline. Beide wandten sich ihr sofort zu und schwiegen erst einmal, als müssten sie sich in ihren Gedanken erst einmal miteinander verständigen, wer von ihnen anfangen sollte. „Ich kenne mich hiermit nicht aus“, verteidigte Fileon sich. „Da stehe ich eher im Weg.“ „Außerdem diskutieren sie doch gerade so schön“, meinte Russel. „Da sollte sich lieber niemand einmischen, finde ich.“ Dem konnte sie nicht widersprechen. Asric und Ambrose schienen ihr am Glücklichsten zu sein, wenn sie miteinander diskutieren oder streiten konnten. Dabei war nichts davon wirklich Teil eines aggressiven Verhaltens, sie testeten wohl nur gern ihre gegenseitigen Grenzen, während sie nebenbei ihre Dickköpfigkeit unter Beweis stellten. Dies weckte Selines Interesse, was die gemeinsame Vergangenheit der beiden betraf, aber so ganz traute sie sich nicht, zu fragen. Im Grunde ging sie auch nichts davon an. Dem hitzigen Gespräch zu lauschen, dabei in der Sonne zu stehen und den Frieden zu genießen, war fast schon genug für Seline, um all die unguten Dinge zu vergessen, die in den letzten zwei Tagen geschehen waren. Die Entführung, der Angriff Ladons... all das rückte plötzlich weit fort, so dass es kaum noch erkennbar war. Doch dann geschah das, was sie lediglich aus Büchern kannte, wenn der entsprechende Protagonist gerade tief in Gedanken an schlimme Dinge versunken war. Unvermittelt wurde sie von einem heftigen Schauer erfasst, der sie immer dann überkam, wenn sich Ladon in der Nähe befand. Sie glaubte noch, es sich einfach nur eingebildet zu haben, aber im selben Moment erhoben Russel und Fileon sich von der Bank, mit Gesichtern, die ungewohnt ernst waren. Zeitgleich beendeten Asric und Ambrose ihre Diskussion, als hätten sie ebenfalls ebenfalls etwas bemerkt. All diese finsteren Vorzeichen verscheuchten Selines Hunger und ersetzten ihn durch Übelkeit. Fileon, Ambrose und Asric strebten auf die Tür zu und gingen ins Haus zurück, vermutlich befand sich die Quelle auf der anderen Seite des Gebäudes und sie war nur nicht fähig, es zu spüren. Lediglich Russel blieb erst einmal zurück. Er stand vor ihr, sah sie jedoch nicht an, sein Blick ging ebenfalls zur Tür, als könnte er durch all die Wände und Räume hindurchsehen. „Jemand ist am Eingang des Anwesens“, sagte er. „Ich bin sicher, dass einer von ihnen Ladon ist... aber bei den anderen bin ich mir nicht sicher.“ „Es sind mehrere Personen?“ Er nickte. „Ich glaube, es wäre besser, wenn du-“ „Ich gehe mit“, sagte sie und unterbrach ihn damit. „Ich möchte nicht einfach zurückstehen – und vielleicht kann ich ja auch etwas tun.“ Wenn sie direkt, von Anfang an, mit Russel und den anderen kämpfte, würde sie nicht so hilflos sein, wie bei ihrer letzten Begegnung mit Ladon. Sie würde ihre mühsam erlernten Fertigkeiten einsetzen, um sich selbst zu beweisen, dass sie nicht so nutzlos war, wie sie sich bislang vorkam. Sie hatte befürchtet, Russel würde wütend werden, aber stattdessen lächelte er sanft. „Nichts anderes wollte ich vorschlagen. Gut, dass wir uns so verstehen.“ Er sagte nichts weiter, sondern bedeutete ihr, ihm zu folgen, was sie auch sofort tat, als er ebenfalls in die Küche zurückkehrte. Diese war inzwischen leer, auch wenn die Suppe noch immer vor sich hinkochte. Doch dieses Mal schaffte sie es nicht, Selines Hunger zu wecken. Das unangenehme Gefühl der bevorstehenden Gefahr hatte sich festgesetzt und drückte sich weiterhin in Übelkeit aus, die ihr keinerlei Platz für etwas anderes ließ. Je näher sie dem Eingang kamen, desto schlimmer wurde es, aber sie schaffte es, dagegen anzukämpfen, um sich ebenfalls dem sicherlich kommenden Kampf zu stellen. Dennoch lief sie nur widerwillig durch die Eingangstür und stellte dabei fest, dass es sich anfühlte, als würde sie versuchen durch eine widerstandsfähige Wand zu gehen. Direkt vor dem Gebäude standen Fileon, Ambrose und Asric, die mit gerunzelter Stirn in eine Richtung blickten. Asterea und Aurora standen ein wenig abseits, sie hatten die Schürzen und Kopftücher abgelegt und wirkten vielmehr wie interessierte Beobachter, die gerade zufällig vorbeigekommen waren. Nur wenige Schritte vor dem Gebäude stand, zu Selines Überraschung, Diana, die nicht sonderlich glücklich wirkte. Bei ihr waren zwei Personen, die Seline nicht kannte und noch dazu Ladon, der die Versammelten alle mit einem trügerischen Lächeln musterte. „Guten Morgen“, grüßte er gut gelaunt. „Ich hoffe, ich habe niemanden von euch geweckt.“ „Deine gespielte Höflichkeit ist furchtbar“, erwiderte Russel. „Wenn du wirklich so höflich wärst, würdest du erst gar nicht auftauchen.“ Doch Ladon ließ sich von dieser Erwiderung nicht aus der Ruhe bringen. „Du weißt doch sicher, dass dieses liebe Mädchen mir einst seine Seele versprochen hat, oder? Ich bin nur hier, um mir das zu holen, was mir zusteht.“ Eigentlich, das musste Seline ihm wirklich zugestehen, war er tatsächlich im Recht. Er hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt, also war es nun eigentlich an ihr, nachzuziehen. Aber noch bevor sie überhaupt der aufkeimenden Neigung, einfach aufzugeben, nachgeben konnte, erhob Russel wieder die Stimme: „Ich werde sie dir nicht überlassen. Das habe ich schon beim letzten Mal nicht – und werde es jetzt erst recht nicht.“ Ladons Mundwinkel zuckten, als wäre er kurz davor, die Fassung zu verlieren, aber ein kurzer Seitenblick zu Diana genügte, um ihn wieder zu beruhigen. „Willst du uns nicht lieber deine beiden Begleiter vorstellen?“, fragte Russel. „Ist doch ziemlich unhöflich von dir, meinst du nicht?“ „Wenn du so viel Wert darauf legst. Das hier ist Melathosa Lane.“ Er deutete auf die schwarzhaarige Frau hinter sich, die gerade ihre Brille zurechtschob, dann deutete er auf den Edelmann mit dem moosgrünen Haar. „Und das ist Phoibos. Diese beiden dürften euren Mitstreitern nicht ganz fremd sein.“ Seline sah zu Ambrose und Asric hinüber, die inzwischen nicht mehr die Stirn gerunzelt hatten, aber immer noch nicht sonderlich zufrieden wirkten. Ambrose sah traurig aus, fast schon enttäuscht, Asric dagegen... „Was soll das denn?!“, stieß er verärgert aus. „Ist man nicht mal hier vor euch sicher? Und dann tut ihr euch noch mit so einem Kerl zusammen...“ „Ich weiß wirklich nicht, wo dein Problem liegt“, meinte Phoibos. „Alles, was er will ist, sein Eigentum zu holen. Genau wie ich – und was Melathosa will... na ja, das weiß wohl keiner, außer sie und Ambrose.“ Dieser wirkte allerdings eher verwirrt über diese Aussage. Was immer in seiner Vergangenheit geschehen war, es verhinderte, dass er sich daran erinnerte, was Phoibos meinen könnte, zumindest sah es so aus, wenn Seline ihn näher betrachtete. Melathosa kümmerte sich allerdings nicht weiter darum, dass er ahnungslos war. Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust, aber ihre Stimme triefte vor Langeweile: „Können wir es endlich hinter uns bringen? Wir haben noch etwas vor.“ Ladons Lächeln änderte sich unversehen um eine Nuance. Nun sah er weniger gutgelaunt ist, vielmehr so als ob er etwas planen würde, bei dem allein der Gedanke daran ihn bereits in Entzücken versetzte. Russel bemerkte es ebenfalls und breitete ein wenig die Arme aus, um Seline daran zu hindern, nach vorne zu stürmen und gleichzeitig jeden zu hindern, sie zu erreichen. Aber bevor er etwas tun konnte, trat Diana vor und blickte Ladon an. „Ich habe dich zu ihnen geführt, aber ich kann dir nicht erlauben, einem von ihnen etwas anzutun. Ich muss dich bitten, wieder zu gehen. Dies ist nicht deine Welt, du bist hier nur ein Gast.“ Verständnisvoll blickte er sie an und Seline wunderte sich bereits, wie es kam, dass er bei ihr ein derart zahmes Verhalten an den Tag legte und es sogar schon so aussah, als würde er nachgeben und seinen beiden Begleitern mitteilen, dass sie – oder zumindest er – wieder zurückkehren würde. Auch wenn das so gar nicht dem Ladon entsprach, den sie in den letzten sechs Jahren kennen gelernt hatte. Der Gott, der sie sogar in ihre Träume verfolgt hatte, bis ihr das Einschlafen als furchtbare Sache vorgekommen war. Der Gott, der nicht davor zurückgeschreckt hatte, sie sogar in diese Welt zu verfolgen, die nicht die seine war. Das Gefühl, beobachtet zu werden, lenkte sie ab und ließ sie einen Blick hinter sich werfen. An den Fenstern des Gebäudes scharten sich die Angestellten und Kenneth selbst, um zu beobachten, was hier draußen vor sich ging. Sie verstand die Neugier der anderen gut und sie hoffte, dass keinem von ihnen etwas geschehen würde, dass sie rechtzeitig zu fliehen versuchten, sollte es nötig sein. Nachdem sie das sichergestellt hatte, blickte sie wieder zu Ladon, der wieder die Stimme erhob: „Ich habe da eine Frage an dich, Mondnymphe.“ Diana runzelte missbilligend die Stirn über diese Anrede, gab sonst aber nicht zu verstehen, dass es sie störte, so dass er fortfuhr: „Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es in eurer Welt gerade keinen amtierenden Gott, nicht wahr? Ich hörte, Kreios würde sich in einer Art Koma befinden.“ Sie antwortete nicht, zuckte allerdings nervös, was Seline verriet, dass sie bereits ahnte, worauf es hinauslaufen würde, was ihr nicht im Mindesten gefallen wollte. Aber da Ladon so geduldig schwieg, übernahm Fileon es, zu antworten: „Das ist richtig. Cronus übernimmt diese Aufgaben aktuell... aber er ist nicht mit einem Gott vergleichbar.“ Diana sah ihn wütend an, worauf er ein wenig kleiner zu werden schien und auch zurückwich. Dabei war das reichlich überflüssig, wie Seline fand, Ladon hatte die Antwort ohnehin gewusst. „Natürlich nicht“, sagte Ladon lächelnd. „Er ist immerhin nur ein kleiner Bibliothekar im kosmischem System.“ Seine selbstgefällige Stimme ließ sie glauben, dass er mehr über Cronus wusste, aber er führte es nicht aus. „Und wisst ihr, es gibt da eine Sache, die für jede einzelne Welt gilt. Auch für jene, über die ich normalerweise herrsche und die ich mir damals zunutze gemacht habe.“ Russel zuckte mit den Schultern, als die anderen ihn ratlos ansahen. Seline versuchte derweil, sich selbst einen Reim darauf zu machen, aber sie fand einfach keinen, immerhin beschäftigte sie sich nur selten mit irgendwelchen göttlichen oder kosmischen Gesetzen. Ladon breitete die Arme aus und schloss die Augen für seinen theatralischen Auftritt: „Dei Gratia. Gottesgnadentum.“ Die anderen wirkten nach wie vor ratlos, während Seline und Russel die Bedeutung der Worte begriffen, aber gleichermaßen verwirrt darüber waren. „Was hat ein göttlich gegebener Anspruch auf den Thron hiermit zu tun?“, fragte Russel. „Ja, du hast doch nicht vor, König zu werden, oder?“, fügte Seline hinzu. „Das wäre nicht wirklich dein... Niveau.“ Für diese Worte schenkte Ladon ihr ein Lächeln, das ihr unheimlich bekannt vorkam. So, als hätte sie es schon unzählige Male gesehen, nur in Verbindung mit einer anderen Person und als ob sie es immer, schon ihr ganzes Leben lang, geliebt hätte. Aber ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wann, wo und bei wem das gewesen sein könnte. „Es ist schön, dass ich es nicht jedem erklären muss“, fuhr er fort. „Das Gottesgnadentum bezieht sich nicht nur auf Könige, viel mehr wurde es von diesen fälschlicherweise übernommen. In Wahrheit ist es eine kosmische Regel, die von demjenigen eingeführt wurde, der diesen Kosmos mit all seinen miteinander verbunden Welten geschaffen hat.“ Wer immer das gewesen sein mag, ergänzte Seline in ihren Gedanken. „Es besagt, dass wann immer jemand in eine Welt kommt, über die noch niemand einen Herrschaftsanspruch gestellt hat, er sich dieser annehmen darf, um seine Gnade über ihr niedergehen zu lassen. Menschen beten täglich um diese Gnade, was denkst du, wie frustrierend es sein muss, wenn ihre Gebete im Nichts untergehen, weil niemand sie erhören kann.“ Seline sog scharf die Luft ein, als ihr bewusst wurde, was das zwangsläufig bedeuten würde. Sobald Ladon diese Welt übernahm, wäre sie auch an diesem Ort schutzlos und noch dazu wären weitere Menschen seinem Willen ausgesetzt – und das alles nur wegen ihr. „Russel...“ Vorsichtig berührte sie seinen Arm, doch er schüttelte entschieden schweigend den Kopf. Sie fühlte sich erleichtert darüber, dass er sie immer noch nicht gehen lassen wollte, da war es ihr sogar vollkommen gleichgültig, ob er das nur tat, weil er nur nicht hinter dem anderen zurückstehen wollte. „Aber das funktioniert nicht so einfach“, erwiderte Diana. „Stimmt's?“ „Das stimmt natürlich“, gab Ladon zu. „Damit nicht jeder x-beliebige Mensch sich zum Gott einer Welt aufschwingen und darunter zerbrechen kann, gibt es eine kleine Qualifikation, die man erfüllen muss, damit der Bibliothekar einen einträgt. Weiß einer hier, woraus diese besteht?“ Aufmerksam blickte er seine Zuhörer an, die allerdings weiter ratlos oder einfach desinteressiert waren. Er lächelte nachsichtig darüber. „Man benötigt einen Beweis seiner Macht, dieser kann aus allem möglichen bestehen. Zum Beispiel der Seele eines übernatürlichen Wesens, das in dieser Welt heimisch ist.“ Keinem der Anwesenden blieb Zeit zu realisieren, was das bedeuten sollte. Ladon hob seine rechte Hand, die hell in einem farblosen Licht zu glühen begann und stieß sie in Dianas Brust. Er durchstieß nicht ihre Haut, es gab kein Blut, viel mehr sah es aus, als würde er in einen Geist hineingreifen, aber das entsetzte und verzerrte Gesicht der Nymphe verriet, dass es nicht ohne Schmerzen ablief. Nur den Bruchteil einer Sekunde später, kaum genug Zeit, dass einer von ihnen reagieren konnte, zog er die Hand wieder heraus und hielt sie triumphierend nach oben, während Dianas Körper reglos zu Boden stürzte. Seine Faust war geschlossen, aber durch die Zwischenräume seiner Finger strömte ein silbernes, geradezu traumgleiches Licht, das allein jedem verriet, dass er erfolgreich gewesen war. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, seinen Erfolg auch lautstark zu verkünden: „Ich, Ladon, halte hier den Beweis für meine Überlegenheit in der Hand. Hiermit berufe ich mich auf Gottesgnadentum und ernenne mich selbst zum neuen Gott dieser Welt!“ Kapitel 13: Die Verweigerung ---------------------------- Seline hätte mit vielem als Reaktion auf diese Worte gerechnet: Ein aufziehendes Unwetter, Blitze und Donner aus heiterem Himmel, eine Sonnenfinsternis oder sogar einem blutigen Regen. Aber nichts von alledem geschah. Die Stille, die sie alle umhüllte, war noch gespenstischer, als all ihre Vermutungen, was geschehen könnte, zusammen. Ladon stand mehrere Sekunden mit erhobenem Arm da und ließ ihn schließlich sinken, als nichts passierte und er offenbar auch nichts spürte. Mit vor Verwirrung gerunzelter Stirn, betrachtete er seine Hand. Melathosa rückte sich seufzend die Brille zurecht. „Scheint als hätte dein Plan nicht viel Substanz. Wie ich direkt vermutet habe.“ Er warf ihr einen mahnenden Blick zu, der sie daran erinnern sollte, es nicht zu weit zu treiben – Seline war erschrocken, als sie feststellte, wie viel sie auf seinem Gesicht lesen konnte – und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder ihr und ihren Begleitern zu. „Nun, es sieht aus, als hätte jemand etwas dagegen, dass ich von diesem göttlichen Recht Gebrauch mache.“ „Glücklicherweise“, murmelte Russel, gerade einmal laut genug, dass sie es hören konnte. Asterea trat einen Schritt vor und deutete auf Dianas reglosen Körper. „Dann gib ihr ihre Seele wieder zurück. Dein Plan ist offensichtlich gescheitert, also brauchst du sie nicht mehr.“ Ladon blickte sie über den Rand seiner Brillengläser hinweg nachdenklich an, für einen winzigen Moment gab Seline sich der Hoffnung hin, dass er wirklich darüber sinnierte, ob er das tun oder doch eher verweigern sollte, da hob er bereits wieder die Stimme: „Ich habe eine andere Idee. Vielleicht genügt es nicht, wenn ich nur die Seele einer Nymphe habe. Vielleicht brauche ich noch mehr.“ Asterea wich wieder einen Schritt zurück, aber Aurora ließ sich nicht so einfach einschüchtern. „Denkst du wirklich, du kannst hier einfach in unsere Welt platzen und uns eine nach der anderen ernten? Das werde ich sicher nicht zulassen!“ Sie ballte die Hände zu Fäusten, die sofort von Flammen eingehüllt wurden, ohne ihre Haut auch nur ansatzweise zu verbrennen. Phoibos und Melathosa wollten auf sie zustürmen, doch Ladon gebot ihnen mit einem Wink seiner Hand, es nicht zu tun. „Ich bin hier, um mir die Ehre zu verdienen, ein Gott zu werden. Ihr beiden solltet euch da nicht einmischen, solange nur sie mein Feind ist.“ Seinen beiden Verbündeten und jedem in der Gruppe war deutlich, was er damit sagen wollte, weswegen sich vorerst keiner der anderen kampfbereit machte. Russel wandte Aurora den Kopf zu. „Bist du sicher, dass du das tun solltest?“ „Im Moment schon“, antwortete sie und noch bevor er eine weitere Frage stellen konnte, jagte sie auf Ladon zu. Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als wäre ihr gesamter Körper in Flammen gehüllt, einer Bewegung ihres Arms folgend, schoss das Feuer vor, direkt auf ihren Kontrahenten. Ohne eine Miene zu verziehen, erschuf Ladon ein Schild vor sich, an dem der Angriff abprallte. Die hell glitzernden Waben, die diesen Schutz symbolisierten, färbten sich rötlich und zeigten erste Risse, was ihn nun doch die Stirn runzeln ließ. Statt einem erneuten Flammenangriff, trat Aurora mit aller Wucht, die sie aufzubringen vermochte, gegen das Schild und vergrößerte damit den Riss. Ladon ließ das Schild verschwinden und zog aus dem Nichts ein Schwert hervor, dessen Klinge von blassgrünen Flammen umgeben war. Aurora duckte sich unter seinem ersten Hieb hinweg und wich mit einem Sprung nach hinten aus. Kaum war sie erstaunlich sanft auf ihren Füßen gelandet, erschien in ihrer Hand etwas, das Seline nur als flammenden Schild bezeichnen konnte. Im Gegensatz zu Ladons Waffe schien es nicht einmal aus festem Metall, sondern nur aus Feuer, zu bestehen. Aber dennoch schaffte sie es damit, zwei seiner weiteren Angriffe abzuwehren, ehe sich das Schild in eine Lanze verwandelte, mit der sie versuchte Ladon aufzuspießen. Geistesgegenwärtig schaffte er es, auszuweichen, worauf sich ihre Waffe auflöste und sie einen leisen Fluch von sich gab. Wie auch immer Seline es betrachtete, auch während sie den weiteren Verlauf des Kampfes beobachtete, es war für sie eindeutig, dass die beiden sich zumindest im Moment ebenbürtig waren und deswegen keiner von ihnen die Oberhand gewinnen konnte. Aber der Kampf konnte auch nicht ewig weitergehen und sie war davon überzeugt, dass es Ladon wäre, der siegreich daraus hervorging, sobald es um die Ausdauer ging. „Sollten wir ihr nicht helfen?“, warf Seline daher ein. Sie hatte seine beiden Handlanger nicht vergessen, aber sie sah auch, dass sie diesen zahlenmäßig überlegen waren. Keiner der beiden würde es gleichzeitig mit ihnen sechs aufnehmen können. Asric allerdings schien genau davon überzeugt zu sein: „Phoibos und Melathosa werden uns nur in Stücke reißen, wenn wir das tun. Vielleicht schafft sie es ja auch so.“ Daran zweifelte Seline, als sie bemerkte wie schwer Aurora bereits atmete, während Ladon noch nicht einmal ins Schwitzen gekommen war. Es ist meine Schuld, zuckte es durch Selines Gedanken. Alles nur meine Schuld. Sie kam hinter Russels Rücken hervor und wollte auf die Kämpfenden zutreten, um es zu beenden. Doch sie hatte kaum einen Schritt hinter sich gebracht, als plötzlich drei Ketten aus dem Boden schossen, sich um ihren Oberkörper schlangen und sie an diesem Ort hielten. „Seline!“ Russel kniete sich sofort neben sie und versuchte, die Ketten zu lösen, aber sie schienen nicht nur direkt aus der Erde zu kommen, sie widerstanden auch jedem seiner Zauber, die er anwandte. Als sie den Blick hob, erkannte sie, dass Melathosa dafür verantwortlich war. Sie stand noch immer mit ausgestrecktem Arm da und betrachtete die Ketten mit einigem Wohlwollen. „Ihr solltet nicht zu leichtsinnig sein, Prinzessin“, sagte sie kühl. „Wir dürfen Euch nicht töten, aber für Eure Begleiter gilt das nicht.“ Nach diesen Worten erschienen weitere Ketten aus der Erde, doch diese wiesen scharf aussehende Spitzen auf, die kaum einen Zweifel daran ließen, dass sie einen Körper problemlos durchbohren könnten. „Ich hab es doch gesagt“, seufzte Asric. Russel stand wieder auf und schüttelte dabei den Kopf. „Und deswegen solltest du lieber hinter mir bleiben und nicht versuchen, auf eigene Faust loszuziehen.“ Am Liebsten hätte Seline ihm nun patzig erwidert, dass sie nicht immer schutzsuchend hinter jemandem stehen wollte, dass sie durchaus in der Lage war, Entscheidungen zu treffen, wenn es sein musste und diese dann auch umzusetzen, aber sie fühlte sich zu kraftlos dafür und erwiderte daher lediglich: „Aber was wird dann aus Aurora?“ Sie blickte wieder zu den Kämpfenden hinüber und stellte erschrocken fest, dass die Nymphe am Ende ihrer Kräfte angekommen zu sein schien und bereits erschöpft auf dem Boden kniete. Ladon dagegen sah reichlich entspannt aus – und er trug noch immer Dianas Seele in seiner Hand. Er hat sie mit nur einer Hand besiegt, indem er sie müde gemacht hat... Seline kam nicht umhin, Respekt für diesen Schachzug zu empfinden. Er hatte erkannt, dass Auroras loderndes Temperament dafür sorgen würde, dass sie ihre Kraft schneller aufbrauchte und sich das zunutze gemacht. Im Endeffekt hatte sie sich damit selbst besiegt. „Erlaube mir, dich von deinem Elend zu erlösen.“ Ladon hob seine leere Hand, Seline bemerkte, wie Russel trotz der Gefahr, dass die beiden Handlanger eingriffen, vorstürmen wollte, aber noch bevor er das tun konnte, schien es für einen kurzen Moment, als würde die Zeit anhalten. Jedes Geräusch erstarb, jede Bewegung war eingefroren – und als die Zeit wieder normal lief, standen plötzlich Cronus und Aurea vor Ladon, während Aurora gegen die Hauswand gelehnt dasaß und wieder zu Atem kommen versuchte. Ladon ließ die Hand sofort wieder sinken und wich einen Schritt zurück. Cronus kümmerte sich allerdings erst einmal nicht um ihn, sein Blick schweifte zu Dianas leblosen Körper. „Ich komme wohl zu spät“, stellte er monoton fest. Als er wieder Ladon ansah, lächelte dieser. „Oh, Verzeihung. Ich hatte nicht vor, das hier lange zu behalten.“ Damit hob er die andere Hand. Das silberne Licht war inzwischen kaum noch zu sehen, aber Cronus runzelte dennoch die Stirn. „Wenn du nun so nett wärst, mir deinen Segen zu geben, damit ich endlich der Gott dieser Welt werden kann, dann gebe ich ihr die Seele zurück.“ Ladons Mundwinkel zuckten, als wäre er kurz davor, laut loszulachen. „Ich nehme doch an, dass du dafür verantwortlich bist, Bibliothekar.“ „Das ist korrekt. Aber – und das sage ich ohne jedes Bedauern – ich kann dich nicht zum neuen Gott machen. Ich verweigere dir das Gnadentum.“ Einen Wimpernschlag lang schien es, als würde Ladon explodieren wollen, doch er beruhigte sich geradezu sofort wieder. „Weswegen?“ „Meister Kreios hat verfügt, dass niemand in dieser Welt vom Dei Gratia Gebrauch machen darf, solange seine Seele noch existiert, was sie auch tut. Aber vor allem hat er festgelegt, dass besonders du nicht Gott werden darfst.“ Plötzlich kam es Seline vor, als würde die Luft flirren und sie befürchtete bereits, dass Ladon selbst in Flammen aufgehen würde, aber stattdessen blieb er nach außen gefasst. „So, hat er das?“ Seine Stimme war schlagartig noch kälter und bedrohlicher geworden. „Tja, dann muss ich wohl auch keine Rücksicht mehr nehmen.“ Ein Wirbel von bläulichen Farben öffnete sich direkt neben ihm in der Luft, er streckte die Hand mit Dianas Seele hinein. „Sagt Lebe wohl zu eurer Mondnymphe.“ Er ließ keinem von ihnen Zeit zu reagieren, ein Splittern erklang und im nächsten Augenblick warf er bereits zahlreiche glitzernde Steine in den Wirbel hinein. In Aurea kehrte das Leben zuerst zurück. Sie rannte auf das Portal zu und sprang ohne zu zögern hinein, ehe es sich hinter ihr schließlich wieder schloss. „Aurea!“, rief Fileon entsetzt aus. Seline fiel erst in diesem Moment auf, wie ruhig er gewesen war, als ob er bereits gewusst hatte, dass Hilfe kommen würde, bevor auch Aurora etwas zustieß. Aber damit hatte er offenbar nicht gerechnet. „Es ist schon in Ordnung“, sagte Cronus über seine Schultern. „Sie wird wieder zurückkommen, mach dir keine Sorgen um sie.“ Das beruhigte Fileon zwar nicht wirklich, wie es schien, aber immerhin sagte er nichts mehr, so dass Cronus sich wieder auf Ladon konzentrieren konnte. Dieser trug inzwischen eine furchteinflößende Grimasse zur Schau. Er wusste, dass er diese Auseinandersetzung nicht mehr gewinnen konnte und war sichtlich verärgert darüber. „Für heute magst du gewonnen haben, Cronus, aber ich nehme-“ Er konnte den Satz nicht beenden. Seline hörte eine rasche Abfolge von undefinierbaren Geräuschen, die stets von Kettenrasseln begleitet waren und bemerkte im nächsten Augenblick, dass sie wieder frei war. Russel griff sofort nach ihrem Arm und zog sie wieder zurück, damit sie nicht noch einmal davonlaufen könnte, wie sie annahm. „Du wirst niemanden mitnehmen“, widersprach Cronus. „Du wirst jetzt verschwinden.“ Die Luft um den Custos schien zu schwingen, eine furchteinflößende Stärke ging von ihm aus und so verwunderte es Seline auch nicht, dass Ladon herumfuhr und seinen beiden Handlangern den Befehl gab, zu verschwinden. Sie befolgten diesen, wenn auch nur sehr widerwillig. Während Ladon mit langsamen Schritten davonging, warf er noch einen Blick über seine Schulter. „Für heute mögt ihr vielleicht sicher sein. Aber Cronus wird euch nicht immer helfen können, lasst euch das gesagt haben.“ Wenige Meter vor ihm öffnete sich erneut ein Portal, durch das Melathosa und Phoibos hindurcheilten, während er sich ein wenig mehr Zeit ließ. Sein letzter Blick, bevor sich das Tor wieder schloss, galt Seline, die erstmals feststellte, dass er tatsächlich traurig und enttäuscht wirkte. Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, verschwand das Portal und mit ihm die Bedrohung. „Wie hat er das gemacht?“, fragte Ambrose. Cronus fuhr herum und ging mit langsamen Schritten zu Dianas reglosem Körper. „Ich nehme an, er hat einen der Splitter ihrer Seele behalten. Jeder Naturgeist dieser Welt kann so etwas... solange sie sich hier aufhält zumindest.“ Es grauste Seline richtiggehend davor, dass er in dieser Welt nun über dieselbe omnipräsente Fähigkeit verfügte, wie in der ihren. Würde sie denn nie vor ihm fliehen können? Cronus kniete sich neben Diana, betrachtete sie eine Weile und schüttelte dann den Kopf. Seline erwartete, dass er sich nun darüber auslassen würde, welch sinnloses Opfer das gewesen war, wie bestürzend der Verlust und er dann zu der Erkenntnis kam, dass er die Fremden niemals in diese Welt hätte lassen dürfen – umso überraschter war sie daher von seinen wirklichen Worten: „Was für ein Jammer. Sie wird sich nicht regenerieren ohne ihre Seele. Ich muss also warten, bis Aurea zurück ist.“ „Was macht dich so sicher, dass sie alle Teile findet?“, fragte Asric skeptisch. Cronus wandte ihm nicht einmal den Kopf zu, als er antwortete: „Das nennt sich Vertrauen. Ich vertraue darauf, dass sie es schaffen wird. Genauso wie ich darauf vertraue, dass ihr weiterhin keinen Unsinn anstellen werdet.“ Nach diesen Worten schien es Seline wieder, als würde für einen kurzen Moment die Zeit stehenbleiben und als sie wieder normal lief, waren Cronus und Diana verschwunden. „Wie unhöflich“, kommentierte Ambrose. „Mich interessiert mehr, ob Aurea das wirklich schaffen wird.“ Asric war immer noch nicht von seinen Worten überzeugt, genausowenig wie Fileon: „Ich hoffe es wirklich.“ Asterea kniete inzwischen neben Aurora, der es wieder einigermaßen besser zu gehen schien, wie Seline erleichtert feststellte. Sie selbst fühlte sich allerdings gar nicht besser. Wegen ihr war Ladon in diese Welt gekommen und hatte Dianas Seele zerstört. Wenn Aurea nicht zurückkehrte oder es nicht schaffte, alle Fragmente zu finden, würde sie sich das niemals verzeihen können. Vielleicht sollte sie aufhören, wegzulaufen. Vielleicht sollte sie ihm einfach geben, was er verlangte. Doch in all ihre Gedanken hinein, hörte sie plötzlich Russels Stimme: „Mach dir keine Sorgen.“ Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. Da er in eine andere Richtung blickte, glaubte sie erst, sie hätte sich das nur eingebildet, aber plötzlich sprach er weiter: „Ich werde weiterhin auf dich aufpassen und Diana wird es bald wieder gutgehen. Cronus hat recht, du musst vertrauen.“ Ein Impuls in ihr, riet ihr, ihm zu widersprechen, zu sagen, dass sie in dieser Situation nicht einfach vertrauen konnte, sondern Verantwortung übernehmen musste, aber sie tat es nicht. Erstens hätte sie ihn damit lediglich erzürnt und zweitens wusste sie, dass sie zu tief hineingeraten war, um die Verantwortung auf die einfachste Art zu übernehmen. Sie musste sich etwas anderes überlegen, einen Weg, mit dem jeder einverstanden sein könnte. Sie würde Ladon nicht einfach ihre Seele und ihren Körper überlassen, stattdessen würde sie einen Weg finden, ihn zur Rechenschaft zu ziehen und das zu beenden, am Besten für immer. Während sie das dachte, kam ihr wieder Ladons trauriges Gesicht in den Sinn – und plötzlich glaubte sie, in diesem Blick die unausgesprochene Bitte zu sehen, dass sie dem allen ein Ende setzte. Selbst wenn sie das nur glauben wollte, um sich selbst zu beruhigen, es war genug für sie, um sie in diesem Vorhaben zu bestärken. Ich werde dich vernichten, Ladon. Und wenn es mich am Ende wirklich meine Seele kostet. Kapitel 14: Ambrose und Asric ----------------------------- Aurora erholte sich, für Seline, überraschend schnell. So kam es, dass die gesamte Gruppe nur wenige Stunden später wieder unterwegs war. Kenneth hatte sie mit ernstem Gesicht gebeten, das Haus zu verlassen, ehe Ladon zurückkehren und seine Angestellten weiter beunruhigen könnte und keiner von ihnen hatte widersprochen. Genau genommen schien Russel sogar sehr erleichtert darüber zu sein. Seline wusste nicht, weswegen, aber sie stellte sich vor, dass er einfach nur keine Zeit zum Nachdenken haben wollte und diesen Zustand erreichte er am ehesten, indem er unterwegs war. Es musste ein schrecklicher Gedanke sein, der ihn verfolgte. „Wenigstens war die Suppe lecker“, bemerkte Aurora plötzlich unbekümmert und brach damit das Schweigen. Asterea legte in einer betont nachdenklichen Geste eine Hand an ihr Kinn. „Dafür, dass sie so lange gekocht hat, war sie wirklich gut.“ „Ich fand, sie schmeckte leicht angebrannt“, erwiderte Asric, aber er klang als wolle er nur aus Prinzip widersprechen. Aurora bemerkte das offenbar ebenfalls, denn sie lief plötzlich neben ihm und legte einen Arm um seine Schulter. „Das sagt gerade der richtige. Hast du dir nicht drei Portionen genommen?“ Er knurrte leise, als er sich aus ihrer Umarmung zu befreien versuchte, was sie nur mit einem amüsierten Lachen quittierte. Es war Ambroses Einmischung, die sie wieder innehalten ließ: „Sei nicht so gemein zu ihm. Er ist noch im Wachstum, er braucht seine Nährstoffe.“ Schlagartig schwang die Atmosphäre um, sie wurde so finster, dass sogar Auroras Lächeln erlosch und sie Asric wieder losließ, ohne dass er es noch einmal von ihr verlangen musste. Ambrose schien das allerdings nicht einmal zu bemerken, er lächelte immer noch, als er wieder nach vorne sah. Nicht einmal die wieder eingetretene, angespannte Stille schien ihn zu stören – sehr im Gegensatz zu Seline. Sie wünschte sich, Aurora würde wieder etwas sagen, Fileon würde einmal zur Unterhaltung beitragen, statt nur interessiert zu lauschen oder Russel würde etwas kommentieren, aber auf ihn musste sie im Moment nicht zählen. Sein Gesicht war immer noch verschlossen, genau wie zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs. Dieser Ausdruck erfüllte sie mit einem eisigen Gefühl in ihrer Brust, mit Furcht und einer schlimmen Vorahnung. Sie fragte sich, ob sie ihn darauf ansprechen sollte, beschloss aber, es zumindest vorerst nicht zu tun. Es war gut möglich, dass er nicht darüber reden wollte und sie wollte ihn nicht bedrängen, schon allein weil er ihre einzige, reelle Chance war, wieder nach Hause zu kommen und diese wollte sie nicht verspielen, weil sie zu aufdringlich war. Erst als es dunkel zu werden begann und sie noch keine Stadt ausgemacht hatten, besserte sich die Stimmung wieder ein wenig. Aurora entfachte ein Feuer für die Gruppe um das sie sich scharen konnten, um sich gegen die Kälte zu wappnen. Selbst während sie um die Flammen saßen und sich das karge Mahl teilten, das sie zubereitet hatten und lediglich aus Kartoffeln bestand, herrschte Schweigen vor. Ambroses Lächeln, das er die ganze Zeit dabei zur Schau trug, half auch nicht dabei, dass Seline sich wohler fühlte. Es war ihr bislang nicht aufgefallen, weil sie ihn nie derart aufmerksam betrachtet hatte, aber während er ihr am Feuer gegenübersaß, erschien es ihr überdeutlich: Es war das Lächeln einer Person, die nichts anderes wusste als wie man lächelt, es war fast schon... dement. Seline war geradezu erleichtert, als Ambrose sich als erstes entschied, sich schlafen zu legen und seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge bald darauf versicherten, dass er nichts mehr von eventuellen Unterhaltungen mitbekommen würde. Während sie also noch überlegte, wie sie am besten anfangen sollte, um Asric nicht vor den Kopf zu stoßen, beschloss Russel einfach, den kürzesten Weg zu gehen: „Was ist das eigentlich mit dir und Ambrose? Ihr reist doch nicht freiwillig zusammen umher.“ Asric fragte nicht einmal, ob es wirklich so offensichtlich war, er konnte es sich anscheinend bereits denken. „Ich begleite ihn, weil ich für ihn verantwortlich bin – und mir keine andere Wahl bleibt.“ „Das verstehe ich nicht“, bemerkte Asterea, die neben ihm saß. „Warum solltest du für ihn verantwortlich sein. Du bist doch viel jünger als er.“ Um sicherzugehen, dass Ambrose auch wirklich schlief, warf er noch einmal einen Blick hinter sich. Der andere schlief immer noch friedlich, den Rücken zum Feuer gewandt, als kümmerte ihn nicht, dass gerade über ihn gesprochen wurde als sei er ein kleines Kind. Erst nachdem Asric das sichergestellt hatte, wandte er sich wieder den anderen zu. „Ambrose war nicht immer so unbedarft und herzensgut, wie er euch jetzt erscheint. Es gab sogar eine Zeit, in der er regelrecht gefürchtet wurde – und es ist meine Schuld, dass er regelrecht wieder in den Geisteszustand eines Kindes versetzt wurde.“ „Inwiefern?“, hakte Seline nach, die das noch nicht so wirklich verstehen konnte. Mit ernstem Blick starrte Asric in die Flammen und begann dann zu erzählen. „Es ist geschehen, als ich sechzehn war.“ Damals lebte ich noch ein vollkommen normales Leben in einem kleinen Dorf, das sich fast vollständig auf Landwirtschaft spezialisiert hatte und darum bemüht war, sich möglichst autonom zu unterhalten. Es war kein leichtes Leben, vielleicht nicht einmal sonderlich gut, aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, war es einfach perfekt. An jenem Morgen, an dem mein normales Dasein endete, stand ich früh auf, um Wasser holen zu gehen. Um diese Uhrzeit war am Brunnen noch nichts los, deswegen zog ich es immer vor, dann dort zu sein, statt später, wenn dieser Platz zum allgemeinen Treffpunkt aller Bewohner wurde. Normalerweise war ich während des Morgenrauen allein – aber an diesem Tag kam ein streng aussehender Mann direkt auf mich zu, ein Fremder, den ich noch nie zuvor im Dorf gesehen hatte. Mein Blick blieb auf die Armbrust gerichtet, die er auf seinem Rücken trug, während ich in meinen Bewegungen innehielt als könnte er mich dann einfach nicht mehr sehen. Allerdings tat er das natürlich doch. „Bist du ganz allein hier?“ Kein Morgengruß, keine Vorstellung, nur diese Frage, die mich verärgert die Stirn runzeln ließ. „Sieht man doch, oder?“, gab ich zurück. Sein Blick verfinsterte sich. „Ist das die Art, wie man hier mit Erwachsenen spricht?“ „Nein, nur die Art, wie man mit dir spricht. Ein wenig Höflichkeit wäre nicht zu viel verlangt, oder?“ Ich sah, wie er mit den Zähnen knirschte, seine Finger zuckten nervös, aber er tat nichts, vor dem ich mich in Acht nehmen müsste. „Fein, wenn du darauf bestehst. Mein Name ist Ambrose Lane.“ In diesem Moment war ich froh, nichts in der Hand zu halten, denn bei der Erwähnung seines Namens wäre es mir sicherlich entglitten. Jeder im Dorf kannte ihn und jeder fürchtete ihn mindestens genauso. Nicht, weil er böse war, im Gegenteil, jeder wusste, dass er Gutes tat – aber jeder wusste auch, dass er dies ohne Rücksicht tat, weswegen er eine Spur der Verwüstung hinter sich herzog, die fast genauso schlimm war wie die von den Dämonen verursachte, die er immerhin bekämpfte. Angeblich, so hieß es, hatte er sogar einmal ein kleines Dorf, so wie unseres, einfach ausgelöscht, nur wegen des Verdachts, dass sie einen Dämon beherbergten. Mir war klar, dass ich mich eigentlich hätte entschuldigen müssen, aber ich wollte nicht, dass er merkte, dass ich Angst vor ihm hatte, weswegen ich leise schnaubte. „Und? Du bist nicht so bekannt als dass man dich erkennen müsste.“ Statt einer wütenden Erwiderung darauf, seufzte er. „Hör zu, Junge, ich suche nach einem Dämon und habe nicht viel Zeit. Hast du, außer mir, irgendwelche Fremden gesehen?“ „Keinen einzigen.“ Das war die Wahrheit. Und er spürte das offenbar auch, denn er stieß einen genervten Laut aus, als hätte er soeben viel zu viel Zeit mit mir vergeudet. „Ich verstehe. Danke für die Auskunft.“ Ohne jede Verabschiedung ging er an mir und dem Brunnen vorbei, hielt dann aber doch noch einmal inne. „Wenn du noch einen weiteren Fremden siehst, sei vorsichtig. Der Dämon, den ich verfolge, ist sehr gefährlich und unberechenbar.“ Ich hatte noch nie davon gehört, dass Ambrose Lane gute Ratschläge verteilte, weswegen ich fast glaubte, dass er eigentlich der Dämon war und der echte Jäger erst noch auftauchen würde. Aber statt das zu sagen, versicherte ich einfach, dass ich achtsam sein würde, worauf er seinen Weg fortsetzte und rasch wieder mit den Schatten des frühen Morgens verschmolz. Er war kaum fort, da kam jemand aus der anderen Richtung auf den Platz. „Was für ein unheimlicher Mann.“ Die Stimme gehörte, wie ich wusste, zu einer Besucherin des Dorfes, die erst vor wenigen Tagen eingetroffen und bereits bei allen beliebt war. Wenn man sich ihr offenherziges Lächeln ansah, das sogar ihre blauen Augen strahlen ließ, konnte sogar ich durchaus verstehen, weswegen. Ihr weißblondes Haar war an diesem Morgen zu einem Zopf geflochten, der über ihre Schulter hing und ein wenig mitwippte,während sie auf mich zukam. „Guten Morgen, Malina“, grüßte ich sie. „Du bist schon früh auf.“ Für einen kurzen Moment kam mir der Gedanke, dass Ambrose möglicherweise sie gemeint hatte, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es sich bei ihr um einen Dämon handelte, deswegen verwarf ich diese Überlegung sofort wieder. „Ich war sehr durstig“, erklärte sie, nachdem sie meinen Gruß erwidert hatte. „Und hungrig.“ „Du kannst bei uns frühstücken“, bot ich ihr sofort ohne nachzudenken an. „Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen.“ Ein – beunruhigend großes, wie ich heute sagen muss – Lächeln, ein Grinsen schon eher, breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Was für ein nettes Angebot, ich wer-“ Ich hörte ein Zischen, im nächsten Moment lag Malina bereits auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. In ihrem Hals steckte ein Armbrustbolzen, der ihr regelrecht das Wort abgeschnitten hatte. Augenblicklich schnürte mein Hals sich zu, das Atmen fiel mir schwer, als ich den Kopf wandte und direkt in Ambroses Richtung sah. Er hielt die Armbrust immer noch erhoben und zielte diesmal damit auf mich. „Findest du das lustig?!“, fauchte er wütend. „Ich sage dir, dass ich einen gefährlichen Dämon verfolge und du lädst sie auch noch in dein Haus ein!“ Ich erwiderte so wie es der Reaktion angebracht war – indem ich zurückschrie: „Und du?! Bist du wahnsinnig!? Malina ist kein Dämon und du hast sie einfach umgebracht! Das ist unmenschlich! Das... das...“ Während er vollkommen unbeeindruckt blieb, suchte ich nach Worten und fand sie schließlich auch: „Das ist typisch für einen Lane!“ Kaum hatte ich das gesagt, glaubte ich für einen Moment, hinter seine wohldurchdachte Fassade blicken zu können. Seine wütende Mimik wandelte sich für den Bruchteil einer Sekunde in eine bestürzte, nur um dann von einer gleichgültigen abgelöst zu werden. „Was sollte es mich kümmern, was irgendein Bauernjunge über mich denkt?“ „Es sollte dich vielleicht mehr kümmern, weil-“ Im nächsten Augenblick lag er bereits auf dem Boden, der Schmerzenslaut kam tatsächlich erst ein wenig danach. Verwundert drehte ich mich um und stand direkt vor Malina, die sich wieder aufgerichtet hatte, als wäre nie etwas gewesen. Ihr Aussehen hatte sich allerdings verändert. Ihre blauen Augen glühten nun regelrecht, ihr Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und schien ein Eigenleben entwickelt zu haben, jedenfalls bewegte es sich ohne dass dafür Wind aufkommen musste. Mit einem Ruck zog sie sich den Bolzen aus dem Hals und warf ihn achtlos zu Boden. „Ein Lane hat mich also gefunden.“ Verachtung sprach aus jedem ihrer Worte, ihre Stimme hatte nichts mehr mit jener gemein, die alle Dorfbewohner hatte um den Finger wickeln können. Ambrose richtete sich, unter Schmerzen, so wie er aussah, wieder auf und zielte erneut mit der Armbrust auf sie. „Und ein Lane wird dich jetzt auch töten.“ Ich handelte ohne nachzudenken und stellte mich mit ausgebreiteten Armen direkt zwischen die beiden. „Hört doch auf damit! Malina ist wirklich nicht böse!“ „Geh mir aus dem Weg!“, zischte Ambrose, seine Augen schienen mich geradewegs aufzuspießen, aber ich wankte dennoch nicht. „Ich gehe erst aus dem Weg, wenn du versprichst, Malina in Ruhe zu lassen!“ „Wenn ich sie in Ruhe lasse, wird sie dein gesamtes Dorf und alle, die du kennst und liebst, auslöschen! Willst du das?!“ Ich konnte ihm nicht glauben, nicht wenn er solch furchtbare Dinge über Malina sagte, die uns allen gegenüber immer so nett und hilfsbereit gewesen war. Ich war mir sicher, dass er log und ich wollte ihm nicht diesen Triumph gönnen. Doch dann hörte ich das Knistern. Es klang unheilverkündend und war direkt hinter. Als ich mich Malina zuwandte, entdeckte ich auch sofort den Ursprung: eine rote Kugel, die sich vor ihr bildete, indem sich zahllose kleine Blitze ineinander zu verstricken schienen. Schlagartig waren sämtliche Gedanken in meinem Kopf fort und ich konnte nur noch diese Kugel anstarren und mir dabei vorstellen, wie sie mich gleich umbringen würde. Der Schmerz, den ich mir dabei vorstellte, war überraschend echt und lähmte meinen Körper weiter. Ich hörte Ambrose rufen, verstand die Worte aber nicht; ich spürte, wie mich jemand zu Boden riss, im selben Moment, in dem die Kugel auf mich zuzurasen begann. Ambrose streckte die Hand aus, schrie etwas, das ich nicht ausmachen konnte und dann entstand ein Feld aus Licht vor uns – und es war der schönste Anblick meines ganzen Lebens. Es war ein hell schillerndes, perlweißes Schild, das aus einem milchigen Nebel zu bestehen schien und sich sacht bewegte als würde es zu fließen versuchen. Für diesen einen kurzen Moment schien alles gut. Und dann traf die Kugel auf das Schild. Das rote Licht schien regelrecht zu explodieren, die Blitze drangen in das weiße Licht ein, infizierten es mit ihrer Energie, bis sich das gesamte Schild blutrot färbte und zu pulsieren begann. Ambrose fluchte und hielt seinen Körper schützend über mich, so dass ich nichts mehr sehen konnte – aber der Schmerz, der gleich darauf einsetzte war derselbe wie jener in meiner Vorstellung davor und er ließ mich das Bewusstsein verlieren. Seline versuchte die ganze Erzählung über, sich Ambrose als griesgrämigen und viel zu ernsten Dämonenjäger vorzustellen und scheiterte daran kläglich. Der lebenslustige junge Mann konnte in ihren Augen einfach nicht derart skrupellos sein und Fileons geneigter Kopf und sein verwirrter Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er es ähnlich sah. „Als ich wieder aufwachte“, fuhr Asric fort, „schlief Ambrose noch und Malina war fort. Keiner wollte mir glauben, dass er ihr nichts angetan hätte, stattdessen warf man mir sogar noch vor, ihm dabei geholfen zu haben. Und es wurde nicht besser, als er endlich wieder aufwachte.“ Wieder warf er einen Blick über seine Schulter, diesmal wirkte es, als ob er sehen wollte, ob Ambrose es selbst demonstrieren könnte. Aber dieser schlief immer noch tief und fest. Also wandte Asric sich wieder den anderen zu. „Als er wieder erwachte, war er bereits... so. Als ob man ihm seine komplette Jugend weggenommen und ihm wieder den Geisteszustand eines Zwölfjährigen gegeben hätte. Er erinnerte sich an gar nichts mehr, weder wo er war, noch wer er war, noch was geschehen war. Um mich zu beschützen hatte er Malinas Zauber auf sich genommen und damit zwar nicht sein Leben, aber immerhin sein Gedächtnis verloren – und ich war mir zum ersten Mal bewusst, dass ich Verantwortung dafür übernehmen musste.“ Asterea griff nach seiner Hand und drückte diese sanft, ohne dass er sich dagegen wehrte. Stattdessen fuhr er ruhig fort: „Man war immer noch überzeugt, dass wir für Malinas Verschwinden verantwortlich waren, weswegen man uns aus dem Dorf verbannte und wir zu reisen begannen. Ich hoffte, er würde sich mit der Zeit wieder an alles erinnern, wir könnten Malina finden und dann dürfte ich wieder zurückkehren, aber... das einzige, woran er sich erinnerte war, wie man Dämonen aufspürte und sie vernichtete. Er blieb weiterhin derart naiv und kindisch und wir fanden in den ersten hundert Jahren keine Spur von Malina.“ „Hundert Jahre?“, fragte Aurora überrascht. „Ich dachte, du wärst gerade mal sechzehn...“ Seline war bislang davon ausgegangen, dass es sich bei ihm um einen Drachenmenschen handelte, weswegen es sie nicht weiter verwundert hatte, aber er schüttelte bereits den Kopf. „Ich dürfte jetzt 142 oder so sein. Die Wechselwirkung der beiden Zauber hat lediglich bewirkt, dass ich nicht mehr... altere.“ Und so wie er für einen kurzen Moment schnaubte, war es deutlich, dass er darüber frustriert war. Seline konnte einerseits verstehen, weswegen es ihn nervte, aber als Drachenmensch, der an die tausend Jahre alt werden konnte, war ihr diese Dauer des Wachstums nur allzugut bekannt, deswegen fiel es ihr schwer, seine Frustration vollkommen nachzuvollziehen. Doch, so dachte sie sich, möglicherweise war es eben etwas vollkommen anderes, wenn man als Mensch aufwuchs, der eigentlich nur hundert Jahre alt werden sollte und dann diese Alterspanne bei weitem überschritt. „Habt ihr Malina dann wiedergefunden?“, fragte Russel, um ihn von diesem Gedanken abzulenken. Asric nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „So ähnlich. Als wir sie endlich fanden, war sie bereits von einem anderen Dämon verschlungen worden – und der ist immer noch hinter uns her, wie es aussieht.“ „Dieser Phoibos?“, fragte Russel weiter. „Genau. Er und Melathosa machen gemeinsame Sache, um uns zu töten, auch wenn ich immer noch nicht weiß, weswegen. Ich weiß nur, dass Melathosa ebenfalls eine Lane ist und Ambrose ihr irgendetwas Schlimmes angetan haben soll – aber er erinnert sich ja nicht.“ Es klang vorwurfsvoll, aber Seline glaubte nicht, dass es auch so gemeint war. Dafür drückte sein Gesicht zu viel Sorge aus, sicher hoffte er immer noch, dass Ambrose sein Gedächtnis wiederfand und dann... dann... Sie fragte sich, was Asric dann machen wollte. Wenn er ein Mensch war, gab es vermutlich kein Dorf mehr, in das er zurückkehren könnte, weil es in seiner Heimat niemanden mehr gab, der sich an ihn erinnerte oder mit dem er eine emotionale Verbundenheit teilte. Aber würde er wirklich mit Ambrose weiterreisen, falls dieser tatsächlich wieder so werden würde wie früher? All das fragte sie sich im Stillen, wollte es aber nicht aussprechen. Sie glaubte nicht, dass er eine Antwort darauf wusste und wollte ihn auch nicht vor den anderen in die Situation bringen, dass er sich irgendetwas als Antwort einfallen lassen musste, das im Idealfall kein Ich habe keine Ahnung war. Außerdem stand er auch bereits plötzlich auf. „Ich gehe ebenfalls schlafen, Geschichten aus der Vergangenheit sind total einschläfernd.“ Damit suchte er Ambroses Seite auf und legte sich neben ihn, ohne einem der andere eine Gute Nacht zu wünschen. Seline hoffte, dass er trotz der aufwühlenden Erzählung würde schlafen können und blickte zu Russel. Dieser starrte konzentriert in die Flamme und nur ihr war es in diesem Moment möglich zu hören, was er leise vor sich hermurmelte: „Er erinnert sich also auch nicht mehr an seine Vergangenheit... genau wie ich.“ Kapitel 15: Im Kristallwald --------------------------- „Wohin gehen wir eigentlich genau?“, fragte Seline am nächsten Morgen. Sie saß gerade mit Aurora und Asterea an einem nahgelegenen Fluss, um sich dort zu waschen, was aufgrund der angenehmen Temperaturen von beiden Naturgeistern gleich zu einem richtigen Bad ausgedehnt worden war. Seline hatte allerdings darauf bestanden, wesentlich früher wieder aus dem Fluss zu steigen und war inzwischen angezogen. Während sie die anderen beiden beobachtete, kam ihr der Gedanke, dass sie fragen könnte, wohin genau sie eigentlich gehen wollten. Sie erinnerte sich noch, dass sie Fileons Kristallhälfte suchten, damit Cronus sie wieder nach Hause bringen könnten – aber durch die Begegnung mit Ladon hatten sie bereits die ganzen Details wieder vergessen. Asterea stieg gerade selbst wieder aus dem Fluss und sah ratlos zu Aurora, die tatsächlich die Antwort wusste: „Lika sagte, sie will nach Südwesten und sich da mit Cerise treffen.“ Während die Sternennymphe darauf verstehend nickte und sich dem Anziehen widmete, runzelte Seline die Stirn. Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie ihre Kammerdienerin sie früher stets dafür zurechtgewiesen hatte. Stirnrunzeln führte zur vorzeitigen Faltenbildung und wie sollte ein Mann sich denn jemals für sie entscheiden, wenn sie Falten hatte? Aber jetzt kümmerte sie das nicht mehr im Mindesten, schon allein deswegen, weil sie gerade ganz andere Dinge beschäftigten. „Wer ist Cerise?“ „Sie kommt auch aus einer anderen Welt“, erklärte Aurora. „Aber einer, die mittels mehrerer Portale mit unserer verbunden ist.“ Selines Kopf schwirrte bereits, weswegen sie beschloss, lieber nicht mehr zu viel über diese Welt nachzudenken. Sie kannte nicht einmal viele Dinge über ihre eigene, vielleicht war es dann falsch, wenn sie versuchte, so viel über andere in Erfahrung zu bringen. „Südwesten also“, sagte sie daher. „Und du glaubst, sie ist dort?“ Aurora zog sich ihren Mantel wieder über. „Ich hoffe es. Wenn nicht, müssen wir weiter nach ihr suchen.“ Da sie offenbar bemerkte, dass diese Antwort zu keiner großen Freude bei ihren beiden Begleitern führte, fügte sie lächelnd noch etwas hinzu: „Wir werden sie schon finden, macht euch nur keine Sorgen. Warum seid ihr nur alle so negativ?“ Seline verkniff sich das Lächeln, spritzte sich noch einmal Wasser ins Gesicht und stand dann auf. „Wir sollten dann mal zurück, die anderen warten bestimmt schon.“ Also begaben sie sich wieder zu den Männern, die an diesem Morgen überraschend ruhig waren. Fileon, Ambrose und Asric saßen zusammen und unterhielten sich flüsternd, während Russel ein wenig abseits stand, den Rücken gegen einen Baum gelehnt und lächelte unschuldig – zu unschuldig, wie Seline fand. Während die Naturgeister Fileon von den anderen beiden Männern loseisten, um mit ihm über das weitere Vorgehen zu sprechen, ging Seline zu Russel hinüber. „Du bist heute so gut gelaunt.“ „Ist das ein Verbrechen?“, erwiderte er immer noch lächelnd. „Bei dir schon.“ Sie stemmte die Arme in die Hüften und schenkte ihm ein kokettes Lächeln. Er hob eine Augenbraue. „Du hast mich durchschaut, hm?“ Aufgrund all der Literatur in der Vergangenheit und auch der Erziehung durch ihre Diener, wusste sie, dass sie eigentlich verärgert sein müsste, aber stattdessen fühlte sie sich sogar ein wenig geehrt. „Hat dir wenigstens gefallen, was du gesehen hast?“ „Ja, Asterea und Aurora sind echt heiß.“ Er zwinkerte ihr zu und lachte dann, als sie ihm einen kraftlosen Schlag gegen den Arm verpasste. Dann wandte sie sich von ihm ab und bemerkte, dass die Gruppe inzwischen zusammengetreten war und nur noch sie fehlten. „Wir sollten uns den anderen vielleicht auch mal anschließen.“ Sie warfen sich noch einmal einen lächelnden Blick zu, dann gingen sie zu den anderen hinüber, die sie bereits erwarteten. „Wohin jetzt?“, fragte Russel. „Laut Aurora müssen wir in den Südwesten“, antwortete Fileon. „Dazu müssen wir durch einen Wald über dessen Zustand ich mir nicht ganz im Klaren bin. Es könnte ein normaler Wald sein oder er ist aus Kristall, so wie dieser Baum, den wir am Anfang der Reise gesehen haben.“ „Wahrscheinlich Kristall“, sagte Asterea. „In dieser Gegend ist die Regeneration noch nicht sonderlich weit fortgeschritten.“ Seline fragte sich, wie ein ganzer Wald, der aus solchen Bäumen bestand, wohl aussehen mochte. War es ein schöner Anblick? Ein unheimlicher? Brach sich das Licht in den Kristallen? Beim ersten Mal hatte sie gar nicht so sehr darauf geachtet, deswegen war sie sich da gerade gar nicht so sicher. „Bedeutet das, dass es gefährlich werden wird?“, fragte Russel. Fileon schüttelte mit dem Kopf. „So lange man sich nicht aus Versehen die Haut an den Kanten der Kristalle aufschneidet, dürfte nichts geschehen.“ Asric warf einen bedeutungsvollen Blick zu Ambrose, der das allerdings gar nicht registrierte und sich eher darauf zu freuen schien, dass sie so etwas Aufregendes planten. Russel kümmerte sich vorerst auch nicht darum. „Gut, dann machen wir das.“ Als die Gruppe ihn ansah, fragte Seline sich unwillkürlich, wann sie eigentlich bestimmt hatten, dass er ihr Anführer war. Da keiner ihm widersprach, zweifelte wohl auch niemand an, dass er dafür geeignet war und sie wäre ohnehin die letzte, die sich darüber beklagte, nachdem sie ihm schon in ihrer alten Welt vertraut hatte. Schließlich setzten sie ihre Reise fort, in Richtung Südwesten, nur mit der Hoffnung, dass sie Lika auch dort finden würden – zumindest bevor Ladon das nächste Mal auftauchte. Sie fragte sich ohnehin, worauf er wartete und weswegen er ihnen eine derart große Atempause ließ, aber sie zweifelte keine Sekunde, dass es zu seiner neuen Strategie gehörte. Als sie dann am Kristallwald ankamen, war Seline ein wenig enttäuscht von dessen Anblick. Ein einzelner Baum, der aus diesem pupurfarbenem Gestein bestand, mochte vielleicht wunderschön sein, aber wenn man sich gleich einem ganzen Wald davon gegenübersah, verlor es ein wenig. Außerdem brach sich das Licht nicht in diesen Kristallen, weswegen der Wald finster und gerade undurchdringbar schien. Schon nach wenigen Schritten hinein befanden sie sich in einer düsteren Umgebung, die nur von wenigen Lichtstrahlen durchdrungen wurde, gerade genug, dass sie sich zurechtfinden könnten. Russel, Asterea und Asric blieben stehen, während Seline mit Ambrose, Aurora und Fileon bereits weiterging, um sich den Wald genauer anzusehen. Sie spürte keinerlei Gefahr, weswegen sie nicht davon ausging, dass es eine schlechte Idee wäre, sich von den anderen zu entfernen. „Und die sind alle total scharf?“, fragte Ambrose im Laufen. „Du kannst es ja ausprobieren“, schlug Aurora vor, wogegen Fileon sofort protestierte: „Das ist wirklich gefährlich! Du solltest das doch wissen.“ Sie lachte leise und sah ihn mit einem entschuldigenden Lächeln an. „Ja, ja, ich weiß.“ Seline wollte gar nicht erst selbst in Erfahrung bringen, was der Nymphe wohl zugestoßen war, dass sie das unbedingt wissen müsste und blieb stattdessen auf einer Lichtung wieder stehen. Mehrere Wege zweigten von dieser ab, was ihr sagte, dass sie nicht weitergehen sollten, wenn sie sich nicht verlaufen und von den anderen getrennt werden wollten. Also fuhr sie herum. „Wir sollten zurück.“ Von hier aus konnte sie noch bis zum Eingang des Waldes sehen, wo Russel, Asric und Asterea immer noch standen und sich miteinander unterhielten. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit – bis sie jedenfalls eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Irritiert blickte sie zur Seite und bemerkte erschrocken, dass sich die Bäume zu bewegen begonnen hatten. Als sie genauer hinsah, fiel ihr allerdings auf, dass das eine falsche Beschreibung war. Die Bäume bewegten sich nicht – die Kristalle wuchsen einfach nur und das mit einer rapiden Geschwindigkeit. „Was passiert hier?“ „Ich weiß nicht“, sagte Fileon. „Das habe ich auch noch nie gesehen.“ Zu spät bemerkte Seline, dass die Kristalle eine Wand bildeten, die sie von dem Rest der Gruppe abzuschneiden versuchten. Sie holte erschrocken Luft und rief dann unwillkürlich Russels Namen. Er wandte sich ihr zu und im selben Moment, in dem er ebenfalls bemerkte, dass der Kristall nur noch ein schmales Sichtfenster ließ, rannte er auf sie zu – doch das Fenster schloss sich, ehe er sie erreichen konnte und so war es ihr nur noch möglich, ihn auf der anderen Seite leise fluchen zu hören. Zum ersten Mal, seit sie in dieser Welt angekommen war, fühlte sie sich plötzlich vollkommen verloren. Sie war nicht allein und doch kam es ihr vor, als wäre genau das der Fall. Sie sah zu Aurora und Fileon hinüber. „Was ist gerade geschehen?“ Die beiden zuckten ratlos mit den Schultern, weswegen sie, ohne große Hoffnung, zu Ambrose hinübersah. Dieser war bereits an die Kristallwand herangetreten und legte eine Hand darauf. Sein Gesicht war überraschend ernst, was sie so nicht von ihm kannte, ihr aber half, Asrics Geschichte der letzten Nacht tatsächlich zu glauben. Jenseits der Wand hörte sie, wie Russel mit Asterea diskutierte, aber es schien nicht so, als kämen sie zu einer Lösung, also blieb ihr nur, weiter auf Ambrose zu vertrauen. Dieser betastete vorsichtig den Kristall, ohne sich dabei zu verletzen und trat schließlich zurück. „Diese Wand besteht aus einem anderen Material, als die Bäume, auch wenn sie sich ähneln. ... Was ist?“ Als er sie verwirrt ansah, erkannte Seline Ambrose tatsächlich endlich wieder, davor war alles an ihm, inklusive seiner Stimme, vollkommen fremd gewesen. Aber das wollte sie ihm gerade nicht sagen, weswegen sie mit dem Kopf schüttelte. „Gar nichts.“ Sie fragte sich, woher der Kristall kam, wenn er anders war als der Rest des Waldes und fürchtete bereits, dass Ladon sie doch erwischt hätte – aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihnen eine solche Falle stellen würde. Bislang war er immer eher offensiv gewesen, wenn man von der versuchten Entführung absah, wegen der sie Russel überhaupt erst begegnet war. „Denkst du, wir können irgendetwas dagegen tun?“ „Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube es aber nicht. Wir können es aber versuchen.“ Auffordernd sahen sie zu Aurora, die sofort verstand und mit einem Lächeln die Hand hob. „Ja, überlasst das nur mir, meine Lieben und tretet einen Schritt zurück.“ Die beiden folgten dieser Aufforderung. Eine Flamme umspielte ihre Hand und wurde rasch größer, ehe Aurora sie gegen die Wand schleuderte. Für einen Moment schien der Kristall zu leuchten, er erstrahlte regelrecht in einem orange-farbenem Licht – aber schon einen Atemzug später erlosch es wieder. Aurora runzelte die Stirn, als sie das bemerkte. „Es bringt absolut gar nichts.“ Um sicherzugehen, betastete Ambrose die Wand noch einmal, schüttelte dann aber den Kopf. „Es hat wirklich nichts gebracht.“ Von der anderen Seite erklang Russels Stimme: „Was macht ihr da drüben!?“ „Experimentieren!“, rief Ambrose zur Antwort. „Habt ihr eine bessere Idee?“ Wieder erklang ein Murmeln auf der anderen Seite, ehe Russel antwortete: „Asterea sagt, ihr müsst einen der Wege nehmen, der tiefer in den Wald hineinführt. Ist euch das möglich?“ Seline blickte über ihre Schulter, es waren immer noch zwei Pfade, die sie sehen konnte, also bejahte sie die Frage und fügte dann eine eigene hinzu: „Aber welchen sollen wir nehmen?“ Noch ein Murmeln, dann die Antwort: „Sie weiß es nicht. Sucht euch einfach einen der beiden aus, wir treffen uns dann schon irgendwo.“ „In Ordnung.“ Sonderlich überzeugt war Seline nicht. Ohne Russel fühlte sie sich allein und Ambrose war ihr plötzlich fremd, weswegen sie sich nicht sicher war, ob das alles funktionieren würde. Doch als ob Aurora das bemerkt hätte, stellte sie sich direkt neben Seline und hakte sich bei ihr unter. „Dann gehen wir dieses Abenteuer an! Fileon, welchen Weg sollen wir nehmen?“ Der Custos blickte zwischen den Pfaden hin und her, aber für Seline sahen die beiden genau gleich aus. Wäre es ihre Aufgabe gewesen, einen der beiden zu wählen, wäre sie vollkommen ratlos gewesen. Fileon fand aber schließlich eine Möglichkeit, sich zu entscheiden. „Nehmen wir den rechten. Mein Gefühl sagt, dass es der bessere ist.“ Was auch immer wohl der schlechtere beinhalten mochte, aber das wollte sie nicht einmal herausfinden, deswegen hoffte sie, dass Fileon recht behielt. Ambrose zögerte nicht lange und lief direkt in die angegebene Richtung, wobei es sich wieder anfühlte, als wäre er nicht mehr derselbe wie zuvor. Etwas, das auch Aurora spüren konnte, wie sie gleich darauf demonstrierte, als Fileon außer Hörweite war, da er dem anderen folgte: „Was ist denn los mit Ambrose? Gestern war er noch voll süß und jetzt ... ist er so autoritär.“ „Finden wir das heraus“, sagte Seline. Aurora grinste sie an und zog sie dann mit sich, als könnte sie es gar nicht erwarten, so schnell wie möglich herauszufinden, was denn nun mit Ambrose los sei – und Seline war fast schon glücklich darüber, endlich jemanden zu haben, mit dem sie derartige Dinge machen konnte, bei dem sie sich wie ein ganz normaler Mensch fühlen konnte. Russel wandte sich derweil Asric und Asterea zu. „Wir müssen auch irgendwie tiefer in den Wald kommen. Und das bevor derjenige, der hier lebt, uns alle findet und auffrisst.“ Dabei warf er einen Blick zu Asterea, die unschuldig die Schultern hob. „Ich habe nicht gesagt, dass hier irgendetwas lebt. Ich weiß auch nicht, woher dieser Kristall kommt.“ „Deine Fähigkeit ist gerade nicht sonderlich hilfreich, was?“ Asric sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Warum bist du dann überhaupt noch die Sternennymphe?“ „Es liegt ja nicht an mir“, verteidigte sie sich. „Die Sterne sagen mir, dass bald alles vorbei sein wird. Aber sie können mir nicht sagen, warum.“ Mit gerunzelter Stirn dachte Russel darüber nach, dass es möglicherweise an Ladon lag, dass der Gott etwas plante, was unweigerlich den Untergang dieser Welt zur Folge hatte. Für ihn dürfte es ohnehin vollkommen gleichgültig sein, solange seine eigene Welt noch existierte – aber Russel konnte das nicht zulassen. Er musste verhindern, dass Ladon hier jemandem schadete und er hoffte, dass er sich dabei auf die anderen verlassen konnte, soweit es ihnen möglich war. „Was auch immer“, unterbrach er schließlich die entbrannte Diskussion zwischen den anderen beiden. „Wir müssen rein und nach Seline suchen.“ Asric warf ihm einen Blick zu, aber Russel ging nicht darauf ein. Fileon, Aurora und Ambrose konnten sicher kämpfen und sich selbst verteidigen, aber Seline schätzte er als nicht derart kampferfahren ein, weswegen sie seine Hilfe und seinen Schutz benötigte – und er wollte sie nicht zu lange darauf warten lassen. Da er nichts darauf sagte, zuckte Asric schließlich mit den Schultern. „Okay, gehen wir. Mir ist es auch lieber, wenn wir bald wieder bei den anderen sind.“ Dabei sah er vielsagend zu Asterea, die allerdings nicht im Mindesten darauf reagierte und stattdessen lieber in jene Richtung lief, in der sie zuvor einen anderen Weg gesehen hatten. Russel klopfte Asric aufmunternd auf die Schulter. „Komm schon, wir kriegen das hin.“ Der andere nickte ihm zu und setzte sich dann genauso in Bewegung, um Asterea zu folgen. Russel sah noch einmal zu der Wand, die ihn von Seline trennte, hoffte, dass sie in Sicherheit war und schloss sich dann seinen beiden Begleitern an, um ebenfalls tiefer in den Wald vorzudringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)