Seelenjäger von Flordelis (Custos Mortis II) ================================================================================ Kapitel 1: In den Zwangsurlaub ------------------------------ Nolan war es Leid. Seit fast sieben Monaten war er nun der neue Kommandant der Kavallerie und erst vor zwei Monaten kehrte er mit neuer Schaffenskraft aus dem Reich der Toten zurück – und schon befand er sich für einen Tadel in Kentons Büro. Dabei war er sich keiner Schuld bewusst. Sicher, er war in den letzten Tagen sehr ruppig zu den Kavalleristen gewesen und ja, er hatte deutlich mehr Strafen verteilt als für ihn üblich war – gewöhnlich lag die Anzahl bei Null – aber das war doch kein Grund, ihn gleich bei dem Berater der Königin anzuschwärzen. „Irgendwie muss ich meine Männer doch disziplinieren“, verteidigte er sich gegen die von Kenton aufgezählten Beschwerden. „Was soll ich denn sonst tun, damit sie merken, wer der Chef ist?“ Stumm blickte Kenton ihn an, die Mimik so neutral und nichtssagend, die grünen Augen so mitleidlos, dass Nolan am Liebsten geschrien und ihn durchgeschüttelt hätte. Normalerweise machte Nolan diese Miene nichts aus, kannte er seinen Freund doch schon sein ganzes Leben damit, aber in den letzten Tagen erinnerte ihn das auf schmerzhafte Weise an seine Vergangenheit. Sein Ausflug ins Jenseits war wohl auch ein Grund für seine lebhaften Erinnerungen. Kenton stieß die angehaltene Luft aus – es war kein Seufzen und auch kein Ton der Verzweiflung, er vergaß nur manchmal auszuatmen, wenn er sehr angestrengt nachdachte – und schüttelte sacht den Kopf. „Warst du es nicht, der sich früher über den viel zu strengen Dario beschwert hat?“ „Jetzt verstehe ich, warum er so streng war“, kam die sofortige Antwort. „Keiner hier weiß mehr, was Disziplin bedeutet.“ Tatsächlich bewirkten diese Worte eine Veränderung an Kentons Mimik. Allerdings wurde sie nicht verständnisvoll, sondern mitleidig, was Nolan fast noch weniger ertragen konnte – zumindest, wenn es von Kenton kam. „Ist es schon wieder diese Zeit im Jahr?“ Es war selten, dass die Stimme des Beraters einen solch sanften Klang annahm, weswegen Nolan sofort bewusst wurde, wovon er sprach, obwohl er die letzten Tage sein Möglichstes versucht hatte, um dieses Datum zu verdrängen. Er senkte den Blick und nuschelte undeutlich eine Bestätigung. Er musste nicht erst fragen, wie sein Freund ihn durchschaut hatte, auch ihm war wieder wieder einmal der Spruch aufgefallen, den er oft von seinem verstorbenen Vater gehört hatte, wann immer es um die Kavallerie gegangen war. „In dem Fall“ – Kenton fuhr fort, wieder mit neutraler Miene – „wäre es vielleicht besser, wenn du dir wieder ein paar Tage freinimmst. Besuch doch Cherrygrove und entspann dich ein wenig.“ „Das ist der letzte Ort, wo ich hinwill“, erwiderte Nolan grummelnd. Eine Rückkehr zu der Heimat seiner Kindheit erschien ihm auch eher kontraproduktiv. Dort würde er viel mehr mit seinen verstorbenen Eltern konfrontiert sein und mit der Abwesenheit seines besten Freundes noch obendrein. Entgegen seiner früheren Vermutung half ihm die Aussicht, ihn irgendwann einmal wiederzusehen, nicht über die derzeitige weltliche Trennung hinweg. Doch Kenton zeigte sich wie so oft unerbittlich. „Sieh es einfach als Befehl an. Ich bin sicher, es wird dir ganz gut tun, dich dort mal wieder auszuspannen. Meine Mutter wird sich dir deiner annehmen, wenn du willst.“ Das war es also Dieser Urlaub sollte nur eine getarnte Maßnahme sein, dass er sich von einer Ärztin untersuchen ließ. Im ersten Moment kochte er vor Wut – doch kaum wurde ihm das bewusst, verschwand der Zorn, um der Ernüchterung seinen Platz anzubieten. Vielleicht war es wirklich besser, wenn er sich die nächsten Tage von seiner Truppe fernhielt und sich einmal gründlich untersuchen ließ. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass sein letzter Urlaub seine Spuren hinterlassen hatte. „Wird es nicht seltsam sein, wenn ich mir schon wieder freinehme?“ Der sonst so korrekte Kenton winkte lediglich ab. „Überlass das nur mir. Ich regle das schon mit Ihrer Majestät.“ Daran zweifelte Nolan nicht. Kenton verstand es auf wundersame Weise, der Königin so manche Entscheidungen nahezubringen, bei denen andere Monarchen nur spöttisch gelacht oder empört den Kopf geschüttelt hätten. Damit wurden alle Entschuldigen Nolans ungültig. „In Ordnung.“ Am Liebsten hätte er geseufzt, trotz des Wissens, dass dies alles nur zu seinem Besten war, doch er hielt sich selbst davon ab, um sich vor einem allzu erbärmlichen Eindruck zu schützen. Dennoch schaffte Kenton es, ihn zu durchschauen. „Das ist kein Zeichen von Schwäche, wenn du an seinem Todestag so reagierst. Du hast immerhin ziemlich viel mit Kieran durchgemacht.“ Als ob sie nur auf dieses Stichwort gewartet hätte, begannen einige der Narben auf seinem Rücken wieder zu kneifen. Sie schmerzten seit Jahren nicht mehr, aber manchmal bekam er das Gefühl, sie glaubten, regelmäßig an sich erinnern zu müssen, indem sie spannten oder eben zu kneifen begannen, damit er nicht vergaß, was ihm beigebracht worden war. Nolan verzichtete gegenüber Kenton auf eine Erwiderung „Gilt mein Urlaub ab sofort?“ Sein Freund nickte bestätigend, worauf Nolan aufstand, sich wortkarg verabschiedete und hinausging. Den ganzen Weg durch den Palast und anschließend zur Stadt hin, haderte er mit den unterschiedlichsten Gefühlen in seinem Inneren. Er fühlte Wut auf die Kavalleristen, die ihn angeschwärzt hatten und auch auf Kenton, der ihn zu dieser Untersuchung drängte; gleichzeitig aber auch Freude, dass sein Freund sich solche Sorgen um ihn machte; Verzweiflung, weil er sich nicht dagegen wehren konnte und Trauer darüber, dass er erneut an all seine Verluste erinnert wurde. Auch ärgerte er sich darüber, dass er es offenbar nicht schaffte, mit all dem, was früher war, abzuschließen. Zwar spürte er nicht mehr den Wunsch, ebenfalls sterben zu wollen, aber dafür diesen unbändigen Zorn je näher Kierans Todestag rückte – und er wusste nicht mal genau, warum das so war. Der Tod dieses Mannes war das Beste gewesen, was in Nolans Leben hatte geschehen können, warum war er also gleichzeitig so wütend, statt erleichtert? Erst als die Tür des Lokals, das sein Ziel gewesen war, hinter ihm zufiel, hörte dieser irritierende Gefühlscocktail auf, ihn zu verfolgen. Mit erleichterten Schritten durchquerte er den sonnenlichtdurchfluteten Schankraum, in dem sich um diese Zeit kaum jemand aufhielt. Um genau zu sein waren außer ihm nur noch zwei Personen anwesend: Ein älterer Mann mit bereits ergrautem Haar und Bauchansatz hinter der Theke, die aus hellem freundlichen Holz bestand – Nolan wusste durch seine regelmäßigen Besuche inzwischen, dass dieser Mann der Besitzer des Lokals war – und eine junge Frau in einer hellblauen Uniform, die gerade eifrig dabei war, die Tische abzuwischen. Dabei strich sie sich immer wieder braune Haarsträhnen aus der Stirn, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Nolan kam nicht nur wegen dem Alkohol und der Atmosphäre hierher, sondern hauptsächlich, um Zeit mit dieser Frau zu verbringen. Der Gedanke, sie für einige Tage verlassen zu müssen, behagte ihm gar nicht, deswegen hatte sein erster Weg ihn hierher geführt. Zielstrebig hielt er auf sie zu und setzte sich ungefragt an den Tisch, den sie gerade wischte. „He, Nadia.“ Erschrocken hielt sie in ihrer Arbeit inne und blickte ihn an. Offensichtlich hatte sie ihn bislang nicht bemerkt und auch nicht mit ihm gerechnet, wie ihre nächsten Worte bewiesen: „Was machst du denn so früh hier?“ „Ich hab Urlaub“, erwiderte er lapidar, worauf sie eine Augenbraue hob. „Schon wieder?“ „Erstaunlich, nicht?“ Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm dieser erzwungene Urlaub mit Therapiefaktor zusetzte, dennoch setzte Nadia sich zu ihm, statt seine Bestellung aufzunehmen. Daran merkte er, trotz ihrer bisherigen Wortwahl, dass sie sich Gedanken um ihn machte. Landis hatte sie von seiner Reise mit nach New Kinging gebracht und Nolan noch vor seiner ersten Begegnung mit ihr davor gewarnt, dass sie ein wenig ruppig war und lediglich auf plumpe Art und Weise Freundlichkeit ausdrücken konnte. Und dennoch war Landis der Überzeugung gewesen, dass sie beide geradezu perfekt füreinander waren. „Was wirst du jetzt tun?“, fragte Nadia, ihre rotbraunen Augen blickten ihn besorgt an, so wirkten sie kleiner als sonst und ließen sie nicht mehr so jung erscheinen. „Ken will, dass ich nach Cherrygrove gehe, um mich auszuruhen.“ Die angekündigte medizinische Untersuchung verschwieg er lieber. „Das ist hart...“ Nadia wusste zumindest Teile aus seiner Vergangenheit und diese genügten offenbar, dass sie von selbst darauf kam, dass ihm das alles gar nicht gefiel. Er schmunzelte, als ihm plötzlich ein Gedanke kam: „He, willst du mich nicht begleiten?“ Dann würde er immerhin nicht auf sie verzichten müssen. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, wirkte sie verwirrt. Offenbar war dieser Zustand auch für sie neu, weswegen sie nicht sofort antwortete. Das übernahm aber auch bereits der Mann hinter der Theke für sie: „Natürlich kommt sie mit.“ Nadia warf einen vernichtenden Blick über ihre Schulter, doch der Inhaber ließ sich davon nicht beeindrucken, nein, er gluckste darüber sogar vergnügt. Schließlich setzte sie wieder ihre bekannt kühle Miene auf. „Gut, ich begleite dich, aber nicht heute. Ich kann erst ab Morgen.“ Diesmal sagte der Inhaber nichts, also schien es wohl zu stimmen und es gab keinen kurzfristigen Ersatz, der für sie einspringen konnte. Für Nolan kam das ohnehin gelegen. Er würde noch am selben Tag nach Cherrygrove reisen, sich von Kentons Mutter untersuchen lassen und ab dem nächsten Tag seinen Urlaub, gemeinsam mit Nadia, genießen – perfekt. Als er ihr vorschlug, dass sie nachreisen könne, da er unbedingt fort aus New Kinging wolle, nickte sie zustimmend. „Geht in Ordnung. Und keine Sorge, ich weiß genau, wo es ist.“ Er hatte gerade ausgeholt, um ihr den Weg zu erklären, hielt nun aber inne und nickte stattdessen nur verständig. Landis war immerhin bereits mit ihr dort gewesen, es war also nicht weiter verwunderlich, dass sie es bereits wusste. Nolan würde ihr allerdings mit Sicherheit noch ein paar interessante Dinge mehr zeigen als Landis es getan hatte. Der erzwungene Urlaub schien tatsächlich noch einen positiven Aspekt zu bekommen und er hatte die Absicht, es so gut wie möglich zu genießen. Schon lange beobachtete sie dieses Gebäude, sehr lange, aber niemand ging hinein oder hinaus, hinter den Fenstern blieb es dunkel, die Pflanzen im Garten verkümmerten. Aber zwischen all den vertrockneten Blumen gab es auch die Sprösslinge eines Baumes, die sich tapfer dem Sonnenlicht entgegenstreckten als wären sie von der Verzweiflung, die dieses Gebäude umgab, nicht im Mindesten ergriffen. Sie beobachtete das Haus von außen schon seit vielen Jahren, obwohl das, was sie interessierte, sich eigentlich in seinem Inneren befand. Da niemand mehr dort wohnte und sich auch die restlichen Bewohner dieses kleinen Städtchens scheinbar nicht in die Nähe trauten, wäre es eigentlich ein Leichtes gewesen, dort einzubrechen. Aber es gab es einen bestimmten Grund, warum sich die Menschen fernhielten, auch wenn diesen gar nicht wirklich bewusst war, was sie fernhielt. Sie hatte durch Beobachtung und unbemerktem Lauschen herausgefunden, dass dieses Gebäude einst das Zuhause einer kleinen Familie gewesen war. Der Vater war irgendwann arbeitslos geworden, die Mutter war unter mysteriösen Umständen gestorben und dann war der kleine Sohn stets mit unerklärlichen Verletzungen bei der Ärztin der Stadt aufgetaucht. Erst Jahre später war der Vater ermordet worden – und alle in der Stadt waren davon überzeugt, dass es der Sohn gewesen war. Deswegen hielten sich alle von diesem Haus fern, sie glaubten, dass all das darin geschehene Unglück und Leid von den Wänden aufgesaugt worden war und sie deswegen schaudern mussten, wenn sie daran vorbeikamen. Zumindest glaubten sie alle, dass dies der Grund war. Sie dagegen wusste es besser, ihre Augen verrieten ihr, was wirklich so furchterregend war und das war auch der Grund, weswegen sie nicht hineinkonnte. Dieses Haus war durch eine unfassbar finstere Aura geschützt, die es ihr unmöglich machte, sich auch nur zu nähern. Das Blut eines Jägers, dem das Wohlergehen der Bewohner wichtig gewesen war, musste einmal darin vergossen worden sein. Das behinderte ihren Plan, nein, ihre Mission! Wie sollte sie hineinkommen und etwas suchen, wenn sie sich nicht einmal nähern konnte, ohne furchtbare Schmerzen zu erleiden? Sie müsste abwarten, bis ein Naturgeist hineinging und den Schutzwall damit kurzzeitig außer Kraft setzte – aber wie groß standen ihre Chancen schon, dass so etwas irgendwann geschehen würde? Seit einer Woche stand sie nun jeden Tag vor diesem Haus, statt es nur aus der Ferne zu betrachten und jeden Tag wuchs das Misstrauen ihr gegenüber. Auch an diesem spürte sie plötzlich wieder die Blicke der Bewohner auf sich, einige von ihnen trugen die silber-blauen Uniformen der Cherrygrove Stadtwache, so dass sie direkt wusste, dass man nur auf einen Grund wartete, sie festnehmen zu können. Wohl nicht zuletzt, weil man hier Menschen mit violettem Haar und goldenen Augen mit gerunzelter Stirn betrachtete, da das nicht unbedingt häufig vorkam. Hastig setzte sie sich daher in Bewegung, um das Misstrauen zu zerstreuen. Sie wandte ihren Blick von dem Gebäude ab und ließ ihre Schritte sie irgendwohin lenken, auch wenn ihre Gedanken nach wie vor bei diesem Haus blieben – und der verzweifelten Frage, wie sie nur dort hineinkommen sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)