Seelenjäger von Flordelis (Custos Mortis II) ================================================================================ Kapitel 4: Erinnerungen ----------------------- Immer noch reichlich verwirrt und mit mehr Fragen als je zuvor beladen, verließ Nolan die Praxis wieder. Auch Yuina wusste nicht, was ihm damals zugestoßen war, Kieran wollte es ihr offenbar nie verraten, sie erinnerte sich aber noch daran, wie er immer herumgedruckst hatte, wenn es um diese Frage gegangen war. Immerhin hatte sie ihm aber bestätigen können, dass er körperlich gesehen gesund war, er sollte nur für eine Weile versuchen, dem Stress aus dem Weg zu gehen, weil sogar sie seine Anspannung bemerkt hatte. Also würde er wohl länger in Cherrygrove bleiben müssen. Er hoffte nur, dass die Kavallerie wirklich ohne ihn klarkam. Auf dem Weg zu seinem Treffpunkt mit Nel, überlegte er wieder, was wohl schuld an seinen seltsamen Erinnerungen war und was davon denn nun der Wahrheit entsprach. Außerdem warfen ihn diese neuen Erkenntnisse in verwirrendes Wechselbad der Gefühle. Einerseits war er erleichtert, weil Kieran ihn offenbar doch nicht misshandelt hatte, dann aber war er auch verärgert, weil er das Verhalten seines Vaters so noch weniger verstand, denn dessen Beschimpfungen hingen ihm immer noch im Ohr... aber wenn er genauer darüber nachdachte, dann stimmte das auch nicht so recht. Ja, diese Tiraden von Kieran hallten noch in seinem Inneren wieder, aber er war sich nicht wirklich sicher, ob er damit gemeint gewesen war. Wenn Nolan anwesend gewesen war, hatte Kieran meistens geschwiegen, stur auf seine Zeitung oder etwas anderes gestarrt, das gerade seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte und nur die nötigsten Worte mit ihm gewechselt, aber das war schon immer so gewesen, auch zu Lebzeiten Aydeens. Diesen Beschimpfungen hatte Nolan immer nur durch geschlossene Türen gelauscht... vielleicht waren sie gar nicht gegen ihn gerichtet gewesen? Er wünschte, Kieran würde noch leben, damit er diesen fragen könnte, auch auf die Gefahr hin, dass er keine Antwort erhalten oder – schlimmer noch – Prügel beziehen würde. Nel riss ihn aus den Gedanken, indem sie die Hand hob, als sie ihn bereits von weitem näherkommen sah. „Tuturu~“, flötete sie melodisch, ein Laut, der ihn verwirrt die Brauen zusammenziehen ließ. Vor ihr blieb er wieder stehen und neigte den wenig den Kopf. „Was soll das denn bedeuten?“ Sie lachte verlegen, dabei legte sie die zuvor erhobene Hand auf ihren Hinterkopf. „Eines der Kinder hier hat es mir beigebracht. Das sagen die Kinder und Jugendlichen heutzutage anscheinend anstatt einer Begrüßung.“ „Tun sie das?“, fragte er verwundert. „Das habe ich noch nie gehört... aber gut, ich habe selten etwas mit Kindern zu tun, denke ich.“ Wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er eigentlich nur mit Emily zu tun und das auch nur, weil sie die Tochter von Oriana war, mit der er wiederum nur wegen Landis und Frediano befreundet war – und schon wieder kehrten seine Gedanken zu den Verstorbenen zurück und trübten seine Stimmung. „Alles in Ordnung?“, fragte Nel besorgt, die den Umschwung durchaus bemerkt hatte. Er bemühte sich sofort, wieder zu lächeln und nickte. „Wollen wir dann reingehen?“ Diesmal war es an ihr, verwundert den Kopf zu neigen. Sie folgte seinem Fingerzeig mit dem Blick und er konnte richtiggehend beobachten, wie der Schauer über ihren Rücken lief. Er begann bei ihren Schultern, die sich für einen flüchtigen Moment verkrampft zusammenzogen und bewegte sich dann rasch nach unten, was damit endete, dass ihr Körper sich einen Lidschlag lang schüttelte. „Da rein?“, fragte sie schließlich, ihre Stimme einen Ton höher als sonst. Nolan nahm sich einen Moment die Zeit, das Haus ebenfalls zu begutachten, um einen Grund für diese Ablehnung zu finden. Er war lange nicht mehr hier gewesen und fühlte sich dementsprechend auch ein wenig beunruhigt, wenn er das Gebäude zu lange betrachtete. Es war ein unangenehmes Prickeln in seinem Inneren, das ihn dazu bewegen wollte, auf der Stelle kehrtzumachen und sich so schnell wie möglich zu entfernen – aber dadurch, dass er lange darin gelebt hatte, konnte er diesem Gefühl ganz einfach widerstehen und irgendwo hinter diesem Fluchtinstinkt spürte er auch einen Hauch von Freude, wieder einmal hineinzugehen, in all den zurückgebliebenen Gegenständen zu wühlen und dabei wundervolle Erinnerungen an früher wieder wachzurufen. „Ja, da rein“, bestätigte er schließlich. Es war wohl sein bestimmtes und furchtfreies Auftreten, das sie schließlich einknicken ließ und dafür sorgte, dass sie ihm folgte. Wenige Schritte vor der Tür hielt sie aber noch einmal inne und deutete mit vor Begeisterung glänzenden Augen auf etwas im Vorgarten. „Was ist das denn?“ Er folgte ihrem Fingerzeig und erneut wurde ihm das Herz schwer. Es war der noch junge Spross eines Baumes, etwas weniger als einen Meter hoch und trotz der kräftigen grünen Blätter auch zart und zerbrechlich, aber dank seiner Biegsamkeit ideal geeignet, um jedem Sturm zu trotzen, bis die Wurzeln einmal stark genug sein würden, um ihn vor einem Sturz zu bewahren. „Das ist ein Dipaloma-Apfelbaum“, erklärte Nolan. „Oder zumindest wird er mal einer, wenn er groß ist.“ Er unterbrach sich selbst, um leise zu lachen. „Als mein Vater noch Händler war, brachte er mir von jeder Reise einen oder mehrere Dipaloma-Äpfel mit, weil das meine Lieblingssorte ist. Er sagte außerdem, ich solle die Kerne vergraben und mir etwas wünschen – wenn die Kerne keimen, wird der Wunsch wahr.“ „Oh“, entfuhr es Nel begeistert. „Und was hast du dir bei diesen Kernen gewünscht?“ Hätte sie ihn bei eventuellen Sprösslingen hinter dem Haus gefragt, wäre ihm die Antwort selbst nicht mehr eingefallen, denn dort hatte er jene Kerne seiner Kindheit vergraben, mit teilweise so absurden Wünschen wie einem sich nie ändernden Alltag oder ewige Jugend – oder sogar der Bitte, seine Mutter zurückzubekommen. Im Vorgarten dagegen war nur ein einziger Kern gepflanzt worden, mit nur einem Wunsch: Landis' Rückkehr. Er hatte sich tatsächlich erfüllt und nun wuchs an dieser Stelle ein Baum, Kierans Prophezeiungen waren in Erfüllung gegangen, aber Landis war auch wieder fort und obwohl er gesagt hatte, dass sie sich wieder begegnen würden, glaubte Nolan noch nicht so recht daran. „Es ist doch unwichtig“, sagte er. „Lass uns lieber reingehen.“ Zu seinem Glück bestand sie auch nicht weiter darauf, sondern folgte ihm weiter. An der Tür hielt er noch einmal inne, um diese aufzuschließen, was ein wenig dauerte, da es seit dem letzten Mal lange her war und seine Hand noch dazu vor Angst und Freude gleichermaßen zitterte. Aber schließlich gab das Schloss mit einem leisen, fast schon seufzenden Klicken nach und erlaubte ihm, das Innere des Gebäudes zu betreten. Als er seinen ersten Schritt hineintat, hatte er das Gefühl, einem mit einem Vakuum versiegelten Ort zu betreten. Schon an der Schwelle wurde er von dem altbekannten Geruch seiner Eltern umfangen, der selbst nach dem Tod der beiden nie verschwunden war und ihn in seinen Gedanken immer wieder in glücklichere Zeiten zurückgezogen hatte. Sofort wurde er von allerlei Erinnerungen heimgesucht, die alle in Verbindung mit seinen Eltern oder sogar Landis standen. Es war als hätte das Haus das alles nur für den Tag aufbewahrt, an dem er wieder hierher zurückkehren würde. Während er den Geruch für angenehm befand, rümpfte Nel die Nase. „Hier war wirklich schon lange niemand mehr drin, oder?“ „Nachdem ich vor ein paar Jahren ausgezogen bin, dürfte niemand mehr hier hereingekommen sein.“ „Ist dann nicht etwas ein wenig seltsam?“ Erst als sie diese äußerst unspezifische Frage stellte, fiel ihm ebenfalls etwas auf, das nicht so ganz stimmen konnte. Wohin auch immer er blickte, nirgends war auch nur ein Staubkorn auszumachen oder die Spur eines Spinnennetzes, als ob jemand regelmäßig hereingekommen wäre, um sauberzumachen. Wobei, wenn ich mich richtig zurückerinnere... Bereits als er damals noch in diesem Haus gewohnt hatte, war nie sonderlich viel Staub und Dreck darin angesammelt worden, obwohl er viel gespielt und selten am Putzen gewesen war. Damals hatte er nicht viel darüber nachgedacht und später war er überzeugt gewesen, dass irgendeiner der Erwachsenen heimlich bei ihm gewesen wäre, um sauberzumachen. Aber nun zweifelte er selbst daran. „Ein wenig schon“, stimmte er zu. „Aber meine Mutter sagte immer, ich solle ein Wunder lieber nicht hinterfragen.“ Er lächelte ihr zu, schloss dann die Tür und machte sich daran, die Fenster zu öffnen, damit ein bisschen frische Luft durchziehen konnte. Während er die Räume im Erdgeschoss durchlief, hielt er Ausschau nach Staub oder Dreck, konnte aber nirgends welchen finden – und vom Grad der Stickigkeit war er davon überzeugt, dass außer ihm niemand mehr hier drinnen gewesen war, um sauberzumachen. Wie konnte das also sein? Im Wohnzimmer lag noch immer der Teppich, auf dem er als Kind immer mit seinen Bauklötzen gespielt hatte, er glaubte sogar fast, seine Mutter wieder dort sitzen zu sehen, ihr langes schwarzes Haar berührte den Boden, ihr sanftes Lächeln sagte ihm, wie stolz sie auf ihn war. Doch nach einem kurzen Blinzeln war das Bild verschwunden. Ein kurzer Blick in den verwilderten Garten bestätigte ihm schließlich, dass keiner der anderen Kerne gekeimt war, er sich also keinerlei Hoffnungen auf eine Rückkehr seiner Mutter machen musste. Ein genauerer Blick hätte ihm allerdings gezeigt, dass sich durchaus ein winziger Sprössling den Weg aus der Erde gebahnt hatte, allerdings wäre ihm entfallen, mit welchem Wunsch er verbunden gewesen war. Statt diesen zu bemerken, ging er in die Küche, wo Nel bereits stand und neugierig alles begutachtete als würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine solche sehen. „Sag mir nicht, du würdest instinktiv den Wunsch verspüren, uns ein köstliches Abendessen zu kochen“, sagte er lachend, wobei ihm auffiel, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Nel schüttelte mit dem Kopf und deutete auf einen hölzernen Blick auf der Arbeitsplatte. „Mir ist nur aufgefallen, dass hier ein Messer fehlt. Hast du es mitgenommen?“ „Nein. Es muss irgendwo hier im Haus sein, ich glaube, mein Vater hat es mal an sich genommen und nicht mehr zurückgelegt.“ Sie sah ihn fragend an, worauf er sich daran zurückerinnerte, wann er das Messer zuletzt gesehen hatte. Es war einer dieser seltenen Tage, an denen selbst in Cherrygrove Ruhe und Frieden herrschte. Niemand veranstaltete ein Wettrennen quer durch das Dorf, keiner verkündete lautstark, ein Held werden zu wollen und nichts war am Zaun der Hühnerfarm zu entdecken. Man konnte, ohne zu übertreiben, sagen, dass sämtliche Dorfbewohner geradezu vor Erleichterung aufatmeten und die Stille genossen, so sehr, dass sie sich sogar nur flüsternd miteinander unterhielten, um die Ruhe nicht zu stören. Die Personen, die sich normalerweise für jeglichen Aufruhr verantwortlich zeigten, waren noch dabei, sich von ihrer letzten Heldentat zu erholen, wofür sie im Schatten eines Kirschbaums lagen und vor sich hindösten. In der Nacht zuvor waren sie wach geblieben, um einen Geist zu jagen, der die Hühner auf der Farm immer erschreckte – aber er hatte sich als gewöhnlicher Fuchs entpuppt, der nach einer kleinen Verfolgungsjagd das Weite gesucht hatte. Ihr Versuch, im Anschluss zu schlafen war am Schulbeginn gescheitert, also holten sie es einfach am Nachmittag nach. Zumindest versuchten sie es, aber die Ankunft einer Reisenden ließ beide schließlich wieder aufstehen und fragend in ihre Richtung sehen. Aufgrund ihres Umhangs, dessen Kapuze sie tief in die Stirn gezogen hatte, war es keinem von beiden möglich, sie zu erkennen, aber beide wussten sofort, dass sie diese Frau noch nie zuvor gesehen hatten. Allein die erhabene Aura, die von ihr ausging und jeden auf Distanz halten wollte, verriet ihnen das, da sie so etwas noch nie zuvor gespürt hatten – außer vielleicht bei Kieran, aber nicht in diesem Ausmaß. Da sie sich immer wieder suchend umsah, beschlossen beide, ihr Hilfe anzubieten, was sie mit einem Lächeln registrierte. „Das ist sehr lieb von euch, Jungs. Ich suche nach einem Mann namens Kieran, kennt ihr ihn vielleicht?“ Landis neigte ein wenig den Kopf, während Nolan direkt nickte. „Klar, das ist mein Vater. Wir können Sie zu ihm bringen.“ Interessiert musterte sie ihn daraufhin noch einmal genauer, dann verwarf sie den ihr eben gekommenen Gedanken aber offenbar sofort wieder und lächelte erneut. „Ich bitte darum.“ Die beiden begleiteten die junge Frau zu Kierans Haus und betrachteten sie dabei gleichermaßen neugierig von der Seite. Sie kam nicht von hier, möglicherweise nicht einmal aus der näheren Umgebung, dafür war ihre Haut zu braun gebrannt und der Umhang aus einem ihnen unbekannten Stoff. Wer immer sie war, sie musste einen weiten Weg auf sich genommen haben, um zu Kieran zu kommen – aber was könnte sie von ihm wollen? Nolan hing ein wenig seinen Gedanken und seinen Vorstellungen nach, möglicherweise war sie eine alte Kundin von Kieran, die nun gekommen war, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Aydeen würde das sicherlich nicht begeistern, auch wenn sie es nicht zeigen würde, so wie er sie kennengelernt hatte. Statt sich weiter darüber Gedanken zu machen, betraten sie das Haus und fanden Kieran in der Küche. Er saß dort und las wie üblich in der Zeitung, auch wenn Nolan oft den Eindruck hatte, dass er diese nur als Schutzschild benutzte und um sich beschäftigt zu geben. Von Aydeen war nichts zu sehen, vermutlich war sie einkaufen oder verbrachte ihre Zeit bei Asterea. „Was wollt ihr?“, brummte er, ohne aufzublicken. „Wir haben Besuch für dich mitgebracht“, verkündete Nolan euphorisch, worauf Kieran stutzte und tatsächlich die Zeitung senkte. Sein musternder Blick huschte über die Anwesenden und verdunkelte sich, als er an der Fremden hängenblieb. Offensichtlich kannte er sie tatsächlich. „Nolan, Landis, ich möchte, dass ihr uns allein lasst.“ Sein Tonfall war gereizt, mehr noch als sonst, was Landis dazu bewog, seinen Freund am Arm zu ergreifen, um ihn mit sich zu ziehen. Doch Nolan blieb standhaft. „Was ist los, Papa?“ „Raus!“, fauchte Kieran statt einer Erklärung. „Sofort!“ Der Schreck über diese plötzliche Aggressivität sorgte dafür, dass Landis es endlich schaffte, ihn mit sich zu ziehen, bis sie im Freien standen. Doch nun war die Neugierde der beiden Jungen geweckt, weswegen sie um das Haus huschten, bis sie am offenen Küchenfenster angekommen waren und vorsichtig hineinsehen konnten. Sie fürchteten zuerst, entdeckt zu werden, doch stellten sie schnell fest, dass die beiden so sehr in ihr Gespräch vertieft waren, dass es keinen Grund zur Besorgnis gab. Sie standen immer noch, Kieran mit dem Rücken zum Fenster, die Frau hatte ihre Kapuze abgestreift, um ihr weißblondes Haar freizulegen, ihr Blick war auf ihren Gegenüber fixiert. „Ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht zurückkommen werde“, sagte Kieran. „Dieses Kapitel meines Lebens ist abgeschlossen und wird nie wieder geöffnet werden.“ „Ich hatte gehofft, dich umstimmen zu können“, erwiderte sie. „Anfangs.“ Ein hinterhältiges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. „Aber ich habe vorhin deinen Sohn getroffen, mein Lieber.“ Nolan fragte sich, was das bedeuten sollte. Wollte sie ihn entführen, um seinen Vater damit zu erpressen? Oder drohte sie gerade indirekt, ihm etwas anzutun? Es schauderte ihn, wenn er daran dachte, dass es irgendwen geben könnte, der ihm etwas antun wollte, nur wegen seinem Vater. Aber schon im nächsten Moment war dieses Schaudern wieder verflogen, denn Kieran knurrte drohend. „Wehe, du kommst ihm nur einen Schritt zu nahe!“ Normalerweise wurde Nolan nur selten von seinem Vater beschützt oder bekam er es sonst nur nicht mit? Gerade war er sich da gar nicht so sicher. Die Fremde lachte amüsiert. „Was willst du denn tun, wenn ich ihm zu nahe komme?“ Mit einer kaum sichtbaren, unglaublich schnellen Bewegung, griff Kieran hinter sich und zog ein Messer aus dem auf der Arbeitsplatte stehenden Holzblock. Drohend streckte er es der Frau entgegen. „Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, werde ich dafür sorgen, dass du dir wünschen wirst, nie geboren worden zu sein!“ Sie zeigte sich unbeeindruckt, aber Nolan konnte sehen, dass ihre Augen verdächtig glitzerten als würde sie gerade gegen die Tränen ankämpfen. Er dagegen war beeindruckt von dem, was er hier von Kieran zu sehen bekam. Noch nie zuvor hatte er seinen Vater derart emotional für eine Sache eintreten sehen und dass er derjenige war um den es ging, ließ ein angenehmes Gefühl von Sicherheit in seinem Inneren entstehen. „Ich habe keine Angst vor dir“, erwiderte sie und reckte dabei das Kinn in die Höhe, um nicht so verletzlich zu wirken. Aber Kieran schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, er spannte nicht einmal die Schultern an. „Das solltest du aber. Du weißt sehr gut, wozu ich in der Lage bin und wie viele Schmerzen ich einem Menschen bereiten kann.“ Im Gegensatz zu ihr klang seine Stimme plötzlich überraschend ruhig, er wusste sehr genau, dass er die Situation beherrschte und nutzte das auch gekonnt aus. Nolan hätte ihn niemals als so berechnend und taktisch eingeschätzt. Die Fremde sagte nichts mehr, aber ihr Gesicht sprach dafür Bände. Sie war wütend, aber die Furcht vor ihm war wesentlich stärker, weswegen sie zurückwich. „Das wirst du bereuen, Kieran!“ Mit diesen Worten fuhr sie herum und huschte eilig davon. Es dauerte nicht lange, bis sie hörten, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die beiden Jungen setzten sich auf die Erde, ehe Kieran auf die Idee kommen würde, sich umzudrehen und blickten sich fragend an. „Was war das denn?“, flüsterte Landis. Nolan zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung.“ Aber was immer es gewesen war, er mochte diese neue, unbekannte Seite an seinem Vater, die ihm mehr Leben verlieh als sein mürrisches Selbst, das er seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit nicht mehr abzulegen verstand. „Wollen wir wieder rein?“ Nolan nickte und lief bereits voraus, um wieder ins Haus hineinzukommen, wo er vorsichtig in die Küche hineinblickte. Kieran saß wieder am Tisch, allerdings nicht, um in die Zeitung zu sehen, stattdessen hatte er das Messer abgelegt und raufte sich mit den Händen die Haare. Ein Anblick, der dem von eben komplett widersprach und der Nolans Herz berührte. „Papa?“ Kieran zuckte zusammen und hob den Blick, er wirkte erschrocken und gleichzeitig erleichtert, als er ihn erkannte. „Du bist es, Nolan.“ „Alles okay?“ Er bemühte sich zu lächeln, etwas was Nolan schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte. „Ja, alles in Ordnung. Geh ruhig wieder spielen.“ Auch wenn es ihm nicht gefiel, er wusste, dass er nichts würde tun können, um seine Meinung zu ändern, deswegen nickte er zustimmend und drehte sich um, damit er der Anweisung folgen könnte – als er wegen Kierans Stimme noch einmal innehielt: „Eines noch, Nolan. Wenn jemand Fremdes versucht, dich mit sich zu nehmen...“ „Werde ich sofort nach Hilfe rufen und weglaufen“, ergänzte Nolan, worauf Kieran erleichtert nickte und den Jungen seinen Weg fortsetzen ließ. Er blickte auf den Tisch, wo das Messer damals gelegen hatte, an diesem Tag war nichts mehr davon zu sehen. Nel hatte seiner Erzählung, die wesentlich kürzer als seine Erinnerung ausgefallen war, neugierig gelauscht und neigte nun den Kopf. „War ihre Drohung ernst gemeint?“ Nolan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich habe sie danach nie wieder gesehen. Und kurz danach starb meine Mutter, da hatte ich nicht mehr viel Zeit, um über solche Dinge nachzudenken.“ „Wie ist sie gestorben?“ Jemand anderes hätte Nel darauf hingewiesen, dass es nicht sonderlich pietätvoll war, jemanden so etwas zu fragen, aber Nolan seufzte leise. „Sie ist die Treppe hinabgestürzt und war sofort tot.“ „Dann hat dein Vater es wohl wirklich bereut“, sagte Nel – und das stieß etwas in Nolans Inneren an, das ihn einen unangenehmen Schluss ziehen ließ. Ihrem Tonfall nach schien sie selbst aber keine tiefere Bedeutung hinter ihren Worten zu vermuten und meinte es lediglich im übertragenen Sinne, weswegen er nichts sagte und den Gedanken für sich behielt. Vielleicht war es kein Unfall... vielleicht hat diese Frau etwas damit zu tun. Wenn ich mir auch nicht erklären kann, wie sie das angestellt haben soll. Aber das würde erklären, warum Papa danach derart depressiv wurde... Wenn er sich selbst die Schuld an ihrem Tod gegeben hatte, war es für Nolan nur allzu logisch, dass Kieran im Anschluss in Depressionen versunken war. Er selbst wollte sich nicht einmal vorstellen, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er für etwas Derartiges verantwortlich wäre. Aber eigentlich war es auch unwichtig, denn er würde ohnehin nie herausfinden, ob seine Vermutung der Wahrheit entsprach oder nicht. „Gehen wir nach oben?“, fragte Nel aufgeregt. Einen Moment lang blickte er sie verwirrt an, da er bereits kurzzeitig vergessen hatte, dass sie überhaupt da war, aber dann neigte er den Kopf. „Vorhin wolltest du nicht einmal hereinkommen und jetzt willst du das gesamte Haus unter die Lupe nehmen?“ Sie lachte verlegen. „Na ja, wenn man erst einmal drinnen ist, fühlt man sich wesentlich besser als wenn man davor steht, finde ich. Und ich bin neugierig, wie Menschen, äh, du, meine ich, als Kinder gelebt haben.“ Ein wenig verwunderten ihre Worte ihn zwar, aber er dachte sich auch nichts weiter dabei, nicht zuletzt, weil er selbst ebenfalls oft wunderliche Dinge sagte – zumindest wenn man Orianas Worten Glauben schenken wollte – und nickte. „Dann lass uns hochgehen. Ich muss ohnehin schauen, ob ich dich guten Gewissens in meinem alten Zimmer unterbringen kann.“ Immerhin gehörte es sich für einen Gastgeber, eine junge Frau in einem gemütlichen Bett unterzubringen – und er wollte nicht, dass sie im Zimmer seiner Eltern schlafen musste... oder auf dem Sofa im Wohnzimmer. Nolan vergaß das Messer und die Frage nach seinem derzeitigen Aufenthaltsort und verließ gemeinsam mit Nel die Küche wieder. Schon nach wenigen Schritten kam er am Fuß der Treppe an, wo er glaubte, seine Mutter und dann seinen Vater abwechselnd auf dem Boden liegen zu sehen. Eine Blutlache umgab Kierans Körper, während Aydeens Augen ihn vorwurfsvoll anblickten, weil er ihr nicht zur Hilfe gekommen war. Er versuchte, diese Bilder zu ignorieren und ging langsam die Treppe hinauf, eine Hand immer auf dem hölzernen Geländer. Die Stufen ächzten leise unter dem ungewohnten Gewicht, bereiteten ihm allerdings keinerlei Sorgen, er wusste, dass sie nicht einfach unter ihm wegbrechen würden. Oben angekommen vermied er den Blick nach unten und öffnete stattdessen die Tür direkt neben dem oberen Absatz, um in sein Zimmer zu treten. Tatsächlich war auch hier alles, wie er es zurückgelassen hatte. Der Teppich lehnte zusammengerollt an der Wand neben dem Regal, in dem die Bücher nach Größe statt Titel oder Autor sortiert geordnet waren; das Bett war gemacht, obwohl es nicht bezogen war; sämtliches Spielzeug ruhte in einer Kiste unter dem Tisch; abgesehen von einem Stapel Briefpapier, einem Füllfederhalter und einem Tintenfass war nichts mehr auf dem Schreibtisch zu sehen. Wenn er sich recht erinnerte war auch der Schrank so gut wie leer, die Kleidung, die er als Kind getragen hatte, war entweder in den Keller oder auf den Dachboden verbannt worden – in beiden Fällen hatte eine Tierfamilie sie benötigt, um ein Nest daraus zu bilden. „Hmm...“ Mit diesem Laut ging Nel nachdenklich in den Raum hinein, blieb in der Mitte davon stehen und blickte sich interessiert um. „Es kommt mir vor als würde ich diesen Geruch kennen.“ „Vielleicht riechen viele Jungen so?“ Wenn er versuchte sich darauf zu konzentrieren, roch es nach Schlamm, Staub – und altem Papier. Es war ihm nicht möglich, seinen Geruch herauszufiltern. Aber möglicherweise war Nels Nase auch einfach besser oder er war zu sehr an sich selbst gewöhnt. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Ich habe das Gefühl, ihn irgendwann einmal gerochen zu haben. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.“ Sie lachte verlegen und wandte sich ihm wieder zu. „Ich muss ziemlich seltsam wirken, was?“ „Es ist schon in Ordnung“, entgegnete er darauf lächelnd. „Ähm, falls es dich nicht stört, wirst du später hier schlafen. Ich werde dir das Bett noch beziehen.“ Während er das sagte, wandte Nel ihre Aufmerksamkeit bereits wieder anderen Dingen zu. Sie schritt auf das Fenster zu und öffnete es, um einen heftigen Windstoß hereinzulassen. Dann fuhr sie lächelnd wieder zu ihm herum. „Es stört mich überhaupt nicht. Aber wo schläfst du?“ Er schmunzelte ein wenig darüber, dass sie automatisch davon ausging, dass er nicht vorhatte, das Bett mit ihr zu teilen. „Ich werde auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen.“ „Ist das wirklich okay?“, fragte sie besorgt. „Aber natürlich.“ Sofort kehrte ihr fröhliches Lächeln zurück. „Gut, dann werde ich zum Dank das Abendessen kochen. Oh, schau nicht so, ich bin eine gute Köchin, wirklich.“ „Wenn du das sagst... aber schlechter als ich kannst du ohnehin nicht sein“, meinte er lachend. „Brauchst du Geld für den Einkauf? Es wird wohl kaum noch etwas hier sein.“ „Ich hab selbst welches“, erklärte sie – und war bereits aus der Tür verschwunden und lief die Treppe hinab. Sie war so schnell fort, dass er einen Wimpernschlag lang noch auf die Stelle starrte, an der sie zuvor gestanden hatte. Doch nachdem er realisiert hatte, dass sie nicht mehr da war, setzte er seinen Weg fort, um zuguterletzt noch das Schlafzimmer seiner Eltern aufzusuchen. Er wollte dort auch nicht die Nacht verbringen, die Atmosphäre darin war bedrückend, geradezu deprimierend, er bekam dort seit dem Tod von Kieran kein Auge mehr zu und vermied es auch dort hineinzugehen. Dementsprechend war dort alles noch genauso wie es kurz nach der Beerdigung von Asterea hergerichtet worden war. Die beiden Betten, die durch einen Nachttisch voneinander getrennt waren, waren noch immer mit pastellfarbener Wäsche bezogen, keinerlei Dinge lagen herum – abgesehen von einem Teddybären, der auf Kierans Bett, direkt neben dem Kissen saß und Nolan mit seinen schwarzen Knopfaugen anstarrte. Lächelnd trat er auf das Stofftier zu und hob es hoch. „Er hat dich also doch aufbewahrt...“ Mit einem angenehmen Gefühl in der Brust, erinnerte er sich daran zurück, wie er Kieran diesen Bären geschenkt hatte. Es war für Nolan ungewöhnlich, dass er morgens aufstand und von seinem Vater weit und breit nichts zu sehen war. Normalerweise war Kieran bereits vor Sonnenaufgang wach und bereitete das Frühstück zu, damit er sich dann zurückziehen und Nolan allein essen konnte. Aber er saß im Anschluss stets im Wohnzimmer und las dort irgendetwas. An diesem Tag allerdings... Um herauszufinden, was los war, suchte er das Schlafzimmer auf, das Kieran einst mit Aydeen geteilt hatte, bis sie vor zwei Jahren gestorben war. Normalerweise ging Nolan nur ungern hinein, weil er befürchtete, dass sein Vater sich darüber aufregen würde, aber an diesem Tag überwog für ihn die Frage, was mit diesem los war. Kieran lag noch immer im Bett, aber Nolans erste Sorge, dass er möglicherweise tot sein könnte, löste sich glücklicherweise schnell in Luft auf, als sein Vater sich mit einem leisen, schmerzgeplagten Stöhnen auf die andere Seite drehte. Mit müdem, fieberverhangenem Blick sah er Nolan entgegen. „Wie spät ist es?“, fragte er mit heiserer, krächzender Stimme. „Acht Uhr“, antwortete Nolan, worauf Kieran versuchte, sich aufzurichten, aber der Junge sprang sofort zu ihm, um zu protestieren. „Bleib liegen, du bist krank!“ „Aber ich muss dir Frühstück machen“, erwiderte Kieran. „Und Mittagessen und-“ „Ich esse bei Tante Asti, mach dir keine Gedanken.“ Nolan hob die Hand, um Kierans Stirn zu fühlen, fuhr aber sofort wieder zurück. Die Haut seines Vaters war glühend heiß, er war eindeutig krank und nicht in der Lage, aufzustehen und irgendwelche Mahlzeiten zuzubereiten. Nolan fürchtete sogar, dass er in seinem derzeitigen Zustand die Treppe hinunterfallen und ihn vollkommen allein zurücklassen würde. „Du solltest heute im Bett bleiben“, sagte er überraschend vernünftig. „Dann geht es dir bestimmt bald wieder besser. Ich kümmere mich um dich, bevor ich zu Tante Asti gehe.“ Er konnte nicht sagen, dass er zu Landis gehen würde, denn dieser war ebenfalls krank und in solchen Zeiten schlief er fast ausschließlich. Vermutlich war Kieran deswegen auch krank geworden. Sein Vater sagte nichts mehr und sank wieder ins Bett zurück, was einer Kapitulation gleichkam. Nolan seinerseits ging in die Küche, weil er noch genau wusste, was Aydeen stets gemacht hatte, wenn er krank gewesen war: Dipaloma-Tee. In seinen Augen war es das beste, was man bei Krankheit zu sich nehmen konnte – und immerhin war er stets äußerst schnell wieder gesund geworden. Glücklicherweise hatte er Aydeen oft bei der Teezubereitung beobachtet, so dass er innerhalb kürzester Zeit eine duftende Tasse mit dampfenden Tee hatte, mit der er wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte. Kieran war noch wach und schien nur noch vor sich hinzudösen, möglicherweise hatte er tatsächlich auf seine Rückkehr gewartet. Nolan stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. „Das ist Dipaloma-Tee, Mama hat ihn mir früher immer gemacht, wenn ich krank war.“ Sein Vater murmelte etwas, was sich verdächtig nach einem verlegenen Danke anhörte. „Trink ihn, solange er noch heiß ist“, riet Nolan und wollte sich gerade verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. Wenn ich gehe, ist er ja ganz allein... Ohne etwas zu sagen, huschte er aus dem Raum in sein eigenes Zimmer, wo er einen Teddybären von seinem Bett nahm – das einzige Kuscheltier, mit dem er noch schlief – und kehrte dann wieder zu Kieran zurück, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, um aus der Tasse zu trinken. Fragend blickte er auf den Bären, den Nolan ihm entgegenhielt. „Der ist für dich“, erklärte sein Sohn. „Damit du nicht so einsam bist, wenn ich nicht da bin. Dafür hast du ihn mir immerhin mal von einer deiner Reisen mitgebracht.“ Als er das erwähnte, schien Kieran sich auch wieder daran zu erinnern. Ein rötlicher Schimmer erschien auf seinem Gesicht, als er ihm den Bären mit einem weiteren Murmeln abnahm. Nolan lächelte zufrieden. „Du kannst ihn auch behalten, wenn du wieder gesund bist. Dann musst du nicht mehr ganz allein in diesem großen Zimmer schlafen. Gib ihn mir einfach wieder, wenn du dich nicht mehr einsam fühlst.“ Noch ehe Kieran irgendetwas darauf sagen konnte, verabschiedete Nolan sich lachend von ihm und verließ dann das Haus, ohne noch einmal zurückzublicken. Mit einem sanften Lächeln drückte Nolan den Bären an sich. Allerlei verschiedene Gefühle kämpften in seinem Inneren um die Vorherrschaft, vermischten sich am Ende aber nur zu einem einzigen: Verwirrung. „Oh Papa...“, seufzte er leise. „Ich würde dich so viele Sachen gern fragen...“ Warum nur besaß er diese verschwommenen Erinnerungen, dass Kieran ihn geschlagen hatte? Wovon war er wirklich verletzt worden? Warum hatte sein Vater nie wirklich darüber gesprochen? Und warum änderten sich seine Erinnerungen gerade in diesen Tagen? Alles hätte so viel leichter sein können, wenn er nur die Wahrheit über seine Vergangenheit wüsste. Aber selbst Charon hatte doch gesagt, dass Kieran ihn misshandelt- Er stockte in seinen eigenen Gedanken. Nein, er sagte, dass, was mein Vater mir angetan hat. Das könnte für alles stehen. Wäre ihm das nur damals bereits aufgefallen, dann hätte er ihn direkt fragen können. Nun war es zu spät und er glaubte nicht, dass er noch einmal eine Gelegenheit bekommen würde, um ihn zu fragen. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte an die dunkle Holzdecke, die auch keinerlei Antwort für ihn bereithielt. „Mama... was soll ich nur tun?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)