Seelenjäger von Flordelis (Custos Mortis II) ================================================================================ Kapitel 5: Unerwünschter Besuch ------------------------------- Nel hatte, Nolans Zweifel zum Trotz, recht behalten: Sie war eine gute Köchin. Das Abendessen jedenfalls, das aus Reis, Gemüse und Fleisch bestand, war durchaus lecker gewesen. Nichts Ausgefallenes, aber dennoch besser als das, was er kochte, wenn er es musste. In den letzten Jahren hatte er entweder bei Oriana oder Richard gegessen, manchmal auch in einem Restaurant, wenn er dazu gekommen war. Und ganz früher, nach Kierans Tod, war er bei jedem Cherrygrove-Einwohner ein gern gesehener Gast gewesen oder war von den Schülerinnen der Mädchenschule bekocht worden. Davor wiederum hatten seine Eltern, ja selbst Kieran, immer für ihn gekocht. Er konnte sich nicht beklagen, jemals wirklich Hunger gelitten zu haben, eine Tatsache, für die er viel zu selten dankbar war, wie ihm auffiel. Nach dem Essen und dem Aufräumen waren sie noch zusammengesessen, um zu reden, bis Nel müde geworden war – und als Nolan den Abend in Gedanken Revue passieren ließ, während er versuchte einzuschlafen, bemerkte er, dass Nel nur selten von sich redete. Bislang hatte er nur von sich gesprochen, er wusste nicht einmal, woher sie das Geld hatte, mit dem sie einkaufen gewesen war. Er würde sie am nächsten Tag fragen müssen – und gerade als er das dachte, fiel ihm auch wieder ein, dass Nadia kommen wollte. Ihm blieb nur zu hoffen, dass sie keine voreiligen Schlüsse zog. Was denke ich da eigentlich? Ist ja nicht so, als wären wir zusammen. In Gedanken ging er alle möglichen oder unmöglichen Reaktionen durch, die Nadia zeigen könnte, während er im Dunkeln an die Decke starrte und nach Geräuschen lauschte. Das Knacken des arbeitenden Holzes war ihm noch genauso vertraut wie damals, als wäre er nie weg gewesen. Und je länger er so dalag und jedes einzelne Geräusch seinem Ursprung zuordnen konnte, wurde ihm bewusst, dass er dieses Haus auch nie wirklich verlassen hatte. Ein Teil von ihm war immer hier gewesen und dieser freute sich nun, dass er wieder da war und hielt ihn wach, um ihn an all die guten Zeiten zu erinnern, die er in diesem Gebäude erlebt hatte. Netterweise verzichtete sein Gedächtnis dieses Mal darauf, ihm rätselhafte Bilder zu schicken, sondern beschränkte sich wirklich auf glückliche Ereignisse. Vor seinem inneren Auge sah er gemütlichen Feiern bei Kierans Rückkehr, bei denen nur er und seine Eltern am Tisch gesessen hatten; Aydeens Märchenstunden, während denen er zahlreiche Geschichten von seiner Mutter erfahren hatte, die er in keinem Buch finden konnte; Spieleabende mit Landis, die sich immer bis in die Nacht ausgedehnt hatten und er sah Geburtstage, komplett mit weißen Torten auf denen rote Kerzen brannten, um zu zeigen, wie alt das Geburtstagskind war. Irgendwann, während des Schwelgens in Erinnerungen, musste er doch eingeschlafen sein, denn ein lautes, ungewohntes Geräusch riss ihn jäh aus dem Schlaf. Einen Atemzug später saß er bereits aufrecht auf dem Sofa, die plötzliche Kälte, als seine Decke von seinem freien Oberkörper rutschte, erzeugte eine Gänsehaut auf seinen Armen, unwillkürlich war er froh, die Hose anbehalten zu haben. Er blickte sich um, während er sich zu orientieren und gleichzeitig das Geräusch einzuordnen versuchte. Es war zu laut, um vom Holz erzeugt zu werden, eher so als ob jemand etwas umgestoßen hätte – und es kam von oben. Vorsichtig stand er auf und griff nach dem Schwert, das gegen das Sofa lehnte. Sofort überkam ihn ein vertrautes, beruhigendes Gefühl, das ihn klar genug werden ließ, um daran zu denken, dass es vielleicht Nel war. Dennoch verstand er nicht, was sie tat, um so einen Lärm zu veranstalten. Um dem auf den Grund zu gehen, ging er die Treppe hinauf und vermied dabei unwillkürlich jene Stufen, die zum Knarren neigten, wenn man auf sie trat. Das Holz fühlte sich unter seinen nackten Füßen unangenehm kühl an, aber er wollte nicht zurückgehen, um sich seine Schuhe zu holen. Je näher er dem oberen Absatz kam, desto deutlicher wurde ihm, dass die Geräusche aus dem Schlafzimmer seiner Eltern kamen und es so klang als würde jemand dort nach etwas suchen und dafür Schränke und Schubladen aufreißen. Dass dieser Jemand nicht Nel war, erkannte er schnell, denn sie stand neben der Tür und warf verstohlene Blicke in den Raum hinein, um die Person zu beobachten. Es war zwar nicht ausgeschlossen, dass sie doch dazugehörte, aber er musste dieses Risiko so oder so eingehen – und er konnte sich kaum vorstellen, dass sie wirklich so etwas tun würde. Er nutzte den Lärm, den der Suchende machte, um Nel mit einem leisen Laut auf sich aufmerksam zu machen. Sie fuhr erschrocken herum, lächelte aber sofort, als sie Nolan erkannte, doch ehe sie etwas sagen konnte, legte er erst einen Finger auf seine Lippen und bedeutete ihr dann, ein wenig näher zu kommen. Auf Zehenspitzen kam sie zu ihm herüber und hielt direkt vor ihm inne. Er nickte in Richtung des Raums und hoffte, dass sie verstand, was er meinte – und zu seinem Glück tat sie das auch. Sie hob einen Finger und formte mit den Lippen deutlich das Wort Person. Er erwiderte, indem er Sicher formte, was sie mit einem entschlossenen Nicken beantwortete. Wer immer dort drin war, verhielt sich also wirklich absolut unvorsichtig, das könnte und sollte er ausnutzen. So vorsichtig wie möglich setzte er seine Füße auf den Boden. An dieser Stelle des Flurs wusste er nicht so recht, welche Dielen knarrten. Zwar war es ihm möglich gewesen, nachts, solange er wachgelegen hatte, die Schritte seiner Eltern zu hören und damit auch das Knarren verschiedener Bretter, aber obwohl er die Geräusche noch ganz genau kannte, wusste er eben nicht, welches zu welchem Teil des Bodens gehörte. Ohne jedes Knarren an der Tür angekommen, schickte er erst einmal ein kurzes Dankesgebet an die Naturgeister, dann beugte er sich ein wenig vor, um ebenfalls in das Zimmer hineinsehen zu können. Kleidung lag auf dem Boden verstreut, also räumte die Person gerade die Schränke seiner Eltern aus, warum auch immer jemand das tun sollte. Normalerweise hätte er nun versucht, sich hineinzuschleichen, um herauszufinden, wie viele Eindringlinge es gab, aber er vertraute auf Nels Aussage, dass es nur eine Person war – und diese trat auch gerade in sein Blickfeld, was ihn stutzen ließ. Es war eine Frau mit schulterlangem, violetten Haar, die zuerst seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Erst im zweiten Moment bemerkte er die dunkle, bedrohliche Aura, die sie umgab; zwar konnte er sie nicht sehen, aber sie war derart machtvoll und böse, dass sie ihm fast den Atem raubte. Er war überzeugt, dass diese Aura ihn kurzerhand gelähmt hätte, wenn er ihr unbedacht zu nahe gekommen wäre. Aber da kam ihm noch ein anderer Gedanke: Wenn ich ihre Aura spüren kann, dann müsste sie- Im selben Moment fuhr sie plötzlich herum, ihre goldenen Augen glühten zornig in der Dunkelheit, aber ihm blieb keine Zeit, sie bewundernd zu betrachten, denn in derselben Bewegung schleuderte sie eine aus Funken bestehende Kugel in seine Richtung. Instinktiv zog er sich zurück, um in Deckung zu gehen und zu seinem Glück verpuffte die Kugel an der Wand. Die Frau stieß einen Fluch aus, in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte, aber das kümmerte ihn vorerst nicht weiter. Er verließ seine Deckung, um die Frau anzugreifen, nicht um sie zu töten, sondern um sie kampfunfähig zu machen und herauszufinden, was sie wollte. Doch so weit kam er gar nicht. In dem Moment, in dem er und die Frau sich gegenüberstanden, bemerkte er eine Bewegung, die von seinem Schwert ausging. Eine Kette schoss aus dem Ende des Griffs hervor, so wie er es damals bei Landis gesehen hatte, und versuchte, die Eingedrungene zu umfassen. Sie wich aus, aber die Kette folgte ihren Bewegungen als besäße sie einen eigenen Willen und als könne sie sehen oder fühlen, was um sie herum vorging, dabei verlängerte sie sich nach Bedarf, obwohl Nolan selbst ohne einen prüfenden Blick sicher war, dass die Kette eigentlich keinen Platz im Griff haben dürfte. Landis hat da wirklich ein Zauberschwert angeschleppt... was sagt man dazu? Schließlich schaffte die Kette es, sich um den Fußknöchel der Eingedrungenen zu schlingen. Diese stieß einen lautes Heulen aus, das Schmerz und Empörung in sich vereinte. „Lass mich los! Lass mich los!“ Wütend trat sie mit dem anderen Fuß auf die Kette ein und während sie derart abgelenkt war, stellte Nolan erschrocken fest, dass die Fessel ihr tatsächlich Schmerzen verursachen musste. Die Haut an ihrem Knöchel färbte sich rot, als würde sie sich gerade verbrennen und allein der Anblick ließ Nolans Herz verkrampfen. „Hör auf damit, bitte!“ Er wusste nicht, was er sonst tun sollte, um die Kette damit aufhören zu lassen – und zu seiner großen Erleichterung funktionierte es tatsächlich. Sie löste sich von dem Knöchel der Frau und zog sich, wenn auch scheinbar widerwillig, wieder in den Schwertgriff zurück. Nolan atmete erleichtert auf, die Frau fluchte erneut in einer ihm unbekannten Sprache, aber er konnte durchaus verstehen, dass sie diese Verletzung weiterhin schmerzte, sie war ja nicht einmal schön anzusehen. Doch gerade als er ihr anbieten wollte, ihr damit zu helfen, wenn sie ihm verriet, was er wissen wollte, fuhr sie herum, verwandelte sich in eine Fledermaus – was ihn nun wirklich erst recht in Erstaunen versetzte – und flatterte durch das offene Fenster davon, so dass er, zurückgelassen in dem von ihr verursachten Chaos, ihr nur hinterherstarren konnte. In der Dunkelheit war sie bald nicht mehr zu sehen, weswegen er einen Blick auf das Schwert in seiner Hand warf. Das Gefühl, dass dieser Klinge einem Bewusstsein innewohnte, war nun nicht mehr nur stärker als zuvor, seiner Meinung nach hatte sich das sogar bestätigt. Aber woher hatte Landis dieses Schwert und wie war es ihm möglich gewesen, es einfach so zu kontrollieren und damit so elegant umzugehen? „Was... war das denn?“ Nels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, er wandte sich ihr zu und stellte fest, dass sie das Chaos besorgt betrachtete, dabei stand sie zwischen mehreren Kleidungsstücken auf einem kleinen Bodenausschnitt so als wäre sie auf einer kleinen, überfluteten Insel und fürchtete sich vor dem Wasser. „Das frage ich mich auch“, sagte er seufzend. „Vielleicht träume ich das aber auch nur?“ Menschen verwandelten sich immerhin nicht einfach in Fledermäuse, wenn überhaupt taten das nur Vampire und die gab es laut Kenton nicht, also konnte es nicht sein. Wieder war es Nel, die ihn aus den Gedanken riss, aber dieses Mal indem sie ihn in den Handrücken zwickte, was ihm einen leisen Schmerzenslaut entlockte. Verwirrt sah er sie an, doch sie lächelte sanft. „Siehst du? Du träumst nicht.“ „Ja...“ Aber freuen konnte er sich nicht darüber, denn es hieß, dass er weiterhin mit unbeantworteten Fragen in diesem Raum stand, mit einem Schwert in der Hand, dem ein Bewusstsein innewohnte. Und das alles lief für ihn vor allem auf mehrere Fragen hinaus: Woher hatte Landis dieses Schwert? Warum war das kein Teil seiner Erzählung gewesen? Weswegen durchsuchte eine Fledermausfrau, die ganz sicher kein Vampir war, das Zimmer seiner Eltern? Wieso war ihre Haut von der Kette verbrannt worden? Auch wenn er zu keiner dieser Fragen eine Antwort wusste, so gab es doch etwas, dem er sich ganz sicher war: All das stand in Verbindung mit seinem Vater, er müsste nur noch herausfinden, in welcher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)