Seelenjäger von Flordelis (Custos Mortis II) ================================================================================ Kapitel 9: Lazarus ------------------ Am Abend klopfte es, zu Nolans Erleichterung, an der Tür seines Hauses. Für eine ganze Weile hatte er befürchtet, dass Kenton sich derart vor einem weiteren Wutausbruch fürchten würde, so dass er nicht kommen würde. Doch gerade als er sich überlegt hatte, stattdessen selbst den Berater aufzusuchen, da Nel sich bereits zum Schlafen hingelegt hatte, klopfte es an der Tür. Mit einem erleichterten, und doch ein wenig verlegenem, Lächeln, ließ Nolan ihn herein. „Guten Abend, Kenton.“ „Du scheinst dich wieder beruhigt zu haben“, stellte Kenton fest, während er eintrat und dem Gang in die Küche folgte, wo er sich ungebeten an den Tisch setzte. Nolan störte sich nicht weiter an diesem Verhalten, das gar nicht zum Berater der Königin passen wollte und setzte sich ihm gegenüber. „Ja, ich nehme an, ein wenig Zeit war ganz gut für mich.“ „Nun, es muss ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein.“ „Vergiss den Verrat nicht.“ Nolan konnte sich diese Anmerkung einfach nicht verkneifen, immerhin setzte ihm diese Geheimniskrämerei immer noch zu – aber er sah langsam auch ein, dass es vielleicht das Beste gewesen war. Er wusste selbst, dass er manchmal zu unüberlegten Handlungen neigte, wenn man ihm etwas erzählte und er wollte gar nicht wissen, was er getan hätte, wenn er bereits vor Landis' Rückkehr von dessen Verwicklungen erfahren hätte. Vermutlich wäre er direkt zu ihm geeilt, in einem Versuch, ihn von Sicarius Vita loszueisen und wer weiß, wie das Ende dieser Geschichte gewesen wäre? „Jetzt bin ich ja aber hier, um dir davon zu erzählen“, erwiderte Kenton im versöhnlichem Tonfall. „Auch wenn ich zugeben muss, dass ich nicht jedes Detail weiß. Ich hatte noch nie Kontakt mit der Gilde selbst, lediglich mit Nathan Greenrow, der mir davon erzählt hat.“ „Das würde mir vorerst reichen“, versicherte Nolan ihm. „Ich weiß bislang nur, dass es sich um Dämonenjäger handelt und mein Vater und Kieran beide Mitglieder gewesen waren.“ Kenton atmete tief durch und überlegte wohl, wie er anfangen sollte, als Nolan wieder einfiel, was für ein furchtbarer Gastgeber er gerade war und er dem Berater erst noch einen Tee anbot, den dieser dankend annahm. An der Tasse nippend, nickte er schließlich, als ihm offenbar tatsächlich eine Idee für einen Ansatz gekommen war. Dennoch nahm er sich erst die Zeit, die Tasse wieder abzusetzen und die Hände auf dem Tisch zu verschränken. „Die Lazarus-Gilde gibt es schon seit etwa dreihundert Jahren. Sie wurde damals von dem Dämonenjäger Ambrose Lane und dessen Gefährtin Cerise gegründet. Es heißt, dass er von dem Custos Vitae Fileon von den Toten zurückgeholt wurde und er diese Eigenschaft – das einmalige Auferstehen als Lazarus – an all seine Nachfahren, egal wie weit entfernt sie sind, weitervererbt.“ Nolan zog die Brauen zusammen, während er sich wieder daran erinnerte, dass Oriana ihm einmal von diesem Fileon und auch Ambrose erzählt hatte. Die beiden waren der Mittelpunkt ihrer liebsten Geschichte gewesen, aber von Dämonenjägern war niemals die Sprache gewesen – spontan musste er sich fragen, ob man auch über ihn einmal Geschichten erzählen und wieviel man dann weglassen würde, sein Wutanfall gehörte hoffentlich dazu. „Da Ambrose viele Kinder und Enkel hatte, gelang es dem Lazarus-Gen, sich in ganz Király und auch Monerki auszubreiten. Es ist gut möglich, dass wesentlich mehr Leute auf zig Umwegen mit dir verwandt sind, als du selbst denkst.“ Die Vorstellung gefiel Nolan äußerst gut, immerhin hieß das, dass er nicht wirklich... allein war. Er war nicht der Meinung, dass Blutsverwandtschaft allein Familie ausmachte, aber es gab einem eine erste Verbindung, noch bevor man sich überhaupt kennengelernt hatte und das war in seinen Augen etwas Schönes. „Früher operierten die Lazari wesentlich offener, man lernte sogar im Unterricht über sie. Aber dann begannen die Herrscher Monerkis die Mystischen jeder Art zu fürchten. Vielleicht erinnerst du dich noch an deinen Geschichtsunterricht...“ Nolan nickte sofort. „In Fabia 27, also 27 Jahre nach Beginn der offiziellen Zeitrechnung entstand auf dem Nordkontinent das Königreich Pelegrina und gleichzeitig begannen beide Reiche, mit dem Krieg gegen die mystischen Wesen. Auch wenn niemand weiß, warum.“ Jedenfalls war davon nie etwas im Unterricht gesagt worden, selbst wenn er oder Landis nachgehakt hatte. Es war immer mit den Schultern gezuckt und geantwortet worden, dass es wohl in den Aufzeichnungen verloren gegangen wäre. „Nicht weiter verwunderlich“, meinte Kenton. „Die Herrscher beider Reiche misstrauten den Lazari, weil sie sterben und dann mit übermenschlichen Fähigkeiten wiederauferstehen. Trotz Cerises Versuchen, die ganze Situation unter Kontrolle zu bringen, weitete sich das bald zu einem Krieg gegen alle mystischen Kreaturen aus, der sechs Jahre später darin gipfelte, dass die Beschwörer eine Katastrophe unter ihresgleichen anrichteten und dabei auch Ambrose töteten. Danach zogen die mystischen Wesen sich auf eine eigene Insel zurück, während die Lazari schworen, nur noch im Geheimen tätig zu sein und die Menschen weiter vor Dämonen zu schützen.“ Nolan unterdrückte das bewundernde Seufzen, das seiner Kehle entringen wollte. Kämpfer im Geheimen, die in der Dunkelheit Menschen retteten, die nicht einmal wussten, dass es sie gab. Sie bekamen keinen Lob, kein Geld, keinerlei Ruhm, nicht einmal im Mindesten Anerkennung für ihre Taten – etwas Heldenhafteres konnte er sich gar nicht vorstellen. Und Kieran war einer von ihnen... Noch fiel es ihm ein wenig schwer, den griesgrämigen, verschlossenen Mann in einer solchen Rolle zu sehen, aber vielleicht war auch das nur eine falsche Erinnerung gewesen, wie Kieran es in seinem Brief geschrieben hatte. Er wusste nicht mehr, was in seinem Gedächtnis noch Wahrheit oder Lüge war, aber von einer Sache war er überzeugt: Seine Gefühle logen nicht. Er hatte Kieran irgendwann auch einmal als Helden gesehen, ihn bewundert und ihn wie einen Vater geliebt, das konnte einfach nicht gefälscht sein. „In Fabia 275 war die Gilde trotz der geheimen Operationen gerade auf ihrem Höhepunkt“, fuhr Kenton fort. „Die Stimmung war gut und man bejubelte den neuen Helden Cathan sogar außerhalb der Gilde, weil er sich dort als Retter mancher Stadt einen Ruf erarbeitet. Er war der Archetyp des Lazarus: Ein selbstloser, furchtloser Kämpfer, der sich selbst in den aussichtslosesten Situationen nicht unterbringen ließ und das Vertrauen aller erhielt, mit denen er in Kontakt kam – und dennoch war er ein bescheidener Mann, für den es eine Selbstverständlichkeit war, das alles zu tun.“ Nolans Herz flatterte regelrecht, als er das hörte. Alles, was er über Cathan erzählte, erinnerte ihn daran, wie er selbst gern als Held sein wollte und er bedauerte regelrecht, ihn nie kennengelernt zu haben. Mit Sicherheit wären sie gut miteinander ausgekommen. „Alles schien perfekt, als er drei Jahre später einen Sohn bekam, bei dem man davon ausging, dass er eines Tages den Heldenstatus seines Vaters weitertragen würde. Dieser Junge bekam den Namen Kieran.“ Nolan glaubte, sich verhört zu haben, obwohl der Name in seinem Inneren widerhallte. Kieran war der Sohn eines Helden gewesen, ein Mann, der sein eigenes Leben dem Kampf im Dunkeln gewidmet hatte – so verwunderte es ihn nicht weiter, dass es auch ihm leichtgefallen war, diesen Pfad zu beschreiten und sich selbst vollkommen aufzugeben. „Aber als Kieran gerade sechs Jahre alt gewesen war, geriet alles außer Kontrolle. Ein Dämon tötete seine Mutter, ehe er von Cathan gestoppt werden konnte – und diese Erkenntnis ließ Cathans Weltbild und auch seinen Heldenstatus zerbrechen, als wäre beides aus hauchdünnem Glas gefertigt. Er verließ die Gilde und reiste mehrere Jahre mit Kieran durch das Land. Zwar bekämpfte Cathan weiterhin Dämonen, doch versuchte er gleichzeitig zu verhindern, dass Kieran etwas von der Lazarus-Gilde erfuhr. Niemand weiß so recht warum, aber er wollte nicht, dass sein Sohn zur Gilde zurückkehrt, deren Ruf langsam aber sicher Risse bekam und auch die Moral der anderen Mitglieder sank tief in den Keller.“ Nolan konnte sich durchaus vorstellen, warum Cathan das gewollt hatte. Es war vermutlich derselbe Grund, weswegen Kieran bei ihm gezögert hatte: Die Jagd war gefährlich und kein Vater wollte seinen Sohn derart in Gefahr wissen und vielleicht war auch Kieran damals einfach zu gutherzig gewesen, um ernsthaft gegen Dämonen in den Kampf geschickt zu werden. „Als Kieran neun Jahre alt war, wurde er von einer Dämonin angegriffen, die es schaffte, Cathan zu töten. Fortan war er auf sich allein gestellt und landete so während seiner Wanderschaft schließlich in Cherrygrove.“ So ist er also dort hingekommen... Diese Geschichte hatte Nolan lange interessiert, aber ihm war lediglich erzählt worden, dass Kieran sich nicht daran erinnerte, was vor seiner Zeit in Cherrygrove geschehen war und sein Gedächtnis erst wirklich dann einsetzte, als er das erste Mal im Waisenhaus aufgewacht war. „Dort erwachte er als Lazarus, um Richard zu retten.“ Wieder fühlte Nolan sich überrascht. Ihm war bewusst gewesen, dass Kieran und Richard sich nahegestanden hatten und immer beste Freunde gewesen waren, aber dass er sogar für diesen einmal gestorben war, fand er reichlich rührend und es erfüllte ihn mit einer Woge von Zuneigung, denn es zeigte ihm etwas, das er mit Kieran teilte: Seine Bindung zu seinen Freunden und den unerschütterlichen Glauben an diese. „Nachdem das geschehen war, wurde Kieran von der Gilde einberufen und er musste feststellen, dass sie ihren einstigen Glanz verloren hatte. Die meisten Mitglieder waren der Verzweiflung nahe oder flüchteten sich in Zynismus und Kaltherzigkeit, während sie einen offenen Krieg gegen Dämonen und jene Menschen führte, die von ihnen wussten. Kieran versuchte, der Held zu sein, der sein Vater gewesen war, um die Gilde wieder zur Zusammenarbeit zu bewegen, aber nichts, was er tat, funktionierte – und dann erkannte er dein Potential.“ Nolan deutete ein Nicken an. „Der Rest ist mir bekannt, Kieran hat es in seinem Brief geschrieben.“ Fast schon bedauerte er allerdings, ihn nur noch mit seinem Vornamen anzusprechen, auch in seinen Gedanken, denn nachdem, was er nun gehört hatte, war Kieran ein Held gewesen. Kein sonderlich erfolgreicher vielleicht, aber er hatte alles gegeben, was er besaß, um das zu erreichen und das nicht für seinen eigenen Ruhm, sondern nur um anderen etwas Gutes zu tun. Er wünschte sich, das alles bereits wesentlich früher gewusst zu haben. „Heute sieht es bei den Lazari noch schlimmer aus“, bemerkte Kenton mit gerunzelter Stirn. „Der Gilde mangelt es an Mitgliedern, weil viele es vorziehen, lieber doch nicht zu kämpfen oder sie einfach inkompatibel mit anderen und deswegen nicht tragbar sind. Wenn das so weitergeht, wird die Gilde bald komplett zerbrechen und jeder einzelne Lazarus wird auf sich allein gestellt sein.“ Er neigte den Kopf und wirkte nun doch eher verwirrt. „Auch wenn ich nicht weiß, wo bei dieser Sache das Problem liegt. Es gibt da sicherlich etwas, das Nathan mir verschwiegen hat oder selbst nicht weiß.“ Nolan kümmerte sich allerdings nicht weiter darum, er war davon überzeugt, dass er das schon selbst feststellen würde. „Mein richtiger Vater war einer von ihnen. Dann bin ich ebenfalls ein Lazarus... aber ich bin noch nicht gestorben.“ „Dann werden deine Kräfte auch noch nicht erwacht sein“, vermutete Kenton. „Du musst also keine Dämonen jagen gehen und kannst weiter unser Kommandant bleiben.“ Er lächelte und zeigte damit, dass er versuchte, lustig zu sein, was Nolan ihm damit anerkannte, dass er ebenfalls die Mundwinkel hob. „Aber ich muss auch-“ „Herausfinden, wer dein Vater ist, ich weiß“, unterbrach Kenton ihn. „Ich verstehe das und ich verspreche dir, dass du tun darfst, was du willst, sobald du diesen Staatsbesuch abgewickelt hast.“ „Oh ja...“ Diesen hatte Nolan schon fast wieder verdrängt. „Wann ist er denn?“ „Übermorgen. Du wirst an die Grenze von Monerki reisen und...“ Dieses Mal unterbrach er sich selbst und schüttelte dabei den Kopf. „Darüber können wir morgen reden, wenn du in mein Büro kommst. Heute hast du genug Dinge erfahren, über die du nachdenken kannst.“ „Das stimmt allerdings“, sagte Nolan und lachte humorlos. „Dabei ist denken echt ätzend.“ Er versuchte, Kenton wieder zu beruhigen, indem er einfach Sätze sagte, die er bereits in seiner Kindheit verwendet hatte, auch wenn diese ihn schmerzhaft an Landis erinnerten – und auch an Kieran und Aydeen und an all die Dinge, die er bislang nicht gewusst hatte. Die beiden Personen, die ihn aufgezogen hatten, waren nicht seine wirklichen Eltern gewesen, was nichts daran änderte, dass er sie nach wie vor als solche betrachtete, immerhin war er bei ihnen aufgewachsen. Kieran war der Sohn eines Helden gewesen und hatte alles getan, um ebenfalls einer zu werden. Er war sogar so weit gegangen, sich selbst aufzugeben, um ihn – Nolan – zu einem Lazarus zu machen, der neue Wege beschreiten würde, um Dämonen und Lazari zu ändern. Denn er gehörte genau wie sein Vater und auch Kieran zu einer Gilde von Dämonenjägern, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hatte, von Menschen nicht angesehen war und deren Mitglieder zuerst sterben mussten, bevor sie vollwertig waren. Zuguterletzt lebte seine richtige Mutter noch, fristete ihre Tage aber in der Anstalt von Jenkan, so nah an seinen Großeltern, die ihm nie etwas davon gesagt hatten. Es war viel, das er an diesem Tag erfahren hatte, so viel, dass er sich wünschte, Landis wäre hier, einfach damit dieser ihm mit ernstem Blick lauschen würde, während er ziellos alles aussprach, was ihm durch den Kopf ging, egal wie unzusammenhängend das alles war. Landis würde ihn kein einziges Mal unterbrechen, ihm aufmerksam zuhören und ihm am Ende etwas raten, das für sie beide das beste wäre. Aber er war nicht hier und so würde Nolan die halbe Nacht wachliegen und sich selbst damit beschäftigen müssen, um seine Gedanken zu sortieren, bis er schließlich vor Erschöpfung einschlief, so wie er es jedes Mal tat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)