Seelenjäger von Flordelis (Custos Mortis II) ================================================================================ Kapitel 11: Mutter und Sohn --------------------------- Loreleys Einheit erreichte New Kinging einige Stunden nach der Ankunft der Botschafterin, was Nolan weiterhin Sorge bereitete, auch als er am nächsten Morgen mit Nel und Nadia in einer Kutsche saß, die sie nach Jenkan bringen sollte. Nadia hatte er eingeladen, weil Kenton darauf bestand und Nel war neugierig gewesen, wie seine Geburtsstadt wohl aussah, weswegen er beschlossen hatte, sie auch einfach mitzunehmen, sehr zum Verdruss von Nadia, wie er feststellen musste. Sie zeigte es nicht öffentlich, machte keine scharfen Bemerkungen gegenüber Nel oder starrte sie immerzu wütend an, aber sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt, die Unterlippe leicht vorgeschoben, was Nolan verriet, dass sie innerlich schmollte. Nel schien das allerdings nicht zu bemerken oder nur nicht beachten zu wollen, sie war damit beschäftigt, aus dem Fenster zu sehen und die Umgebung, die an ihnen vorbeizog, zu begutachten. Sie hatte zwar gesagt, dass sie Király schon länger bereiste, aber so interessiert wie sie alles betrachtete, konnte er sich das nicht vorstellen. Alles in allem war sie ihm wirklich ein Rätsel. „Also deine Mutter, ja?“ Nadias Stimme riss Nolan aus seinen Überlegungen. Inzwischen schien sie nicht mehr zu schmollen, dafür sah sie ihn besorgt an. „Meinst du, sie lebt wirklich noch? Der Brief muss schon sehr alt sein.“ Nolan hob die Schultern. „Ich hoffe es zumindest. Ich nehme an, dass nur sie mir sagen kann, wer mein Vater ist. So wie ich meine Großeltern kenne, würden sie sich lieber die Zungen abbeißen, sie braten und dann essen, als über so etwas zu reden.“ Bei diesen Worten wandte Nel sich wieder vom Fenster ab und sah ihn mit großen Augen an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ „Du kennst meine Großeltern nicht“, erwiderte er darauf nur. Sicher würden sie nicht derart weit gehen, aber erzählen würden sie ihm dennoch nichts, dafür kannte er sie bereits zu gut. „Dann willst du deine Mutter nur kennenlernen, weil sie dir von deinem Vater erzählen kann?“, fragte Nadia. „Also verübeln könnte ich es dir nicht. Ich würde meine nur kennenlernen wollen, damit ich ihr sagen kann, was ich davon halte, dass sie uns allein gelassen hat.“ Einen kurzen Augenblick befürchtete Nolan, dass sie von Loreleys Ankunft in New Kinging wusste, aber dann sagte er sich wieder, dass sie immer derart wütend auf die Erwähnung ihrer Mutter reagierte, selbst nach all diesen Jahren. Er dagegen war sich nicht sicher, was er empfinden sollte. Die Aussicht darauf, seine leibliche Mutter, an die er sich nicht im Mindesten erinnern konnte, wiederzusehen, erfüllte ihn mit einer seltsamen Vorfreude, die durch die Nervosität gedämpft wurde, die er bei dem Gedanken empfand, dass sie versucht hatte, ihn umzubringen. Dazu kam noch der Faktor, dass sie Aydeens Zwilling war, was bedeutete, dass er quasi jener Person gegenübertreten würde, die aussah wie jene, die er sein ganzes Leben lang für seine Mutter gehalten hatte und die viel zu früh von ihm gegangen war. Er war sich nicht sicher, wie er dabei empfinden sollte. „Es gibt viele Gründe, sie sehen zu wollen“, erklärte er schließlich. „Aber herauszufinden, wer mein Vater ist, bildet einen der Hauptgründe.“ Dieser Mann, den Kieran gehasst hatte, interessierte Nolan mehr als die Frau, über die Kieran kaum ein Wort verloren hatte und die niemals von Aydeen, die immer seine Mutter bleiben würde, erwähnt worden war. Es musste eine außergewöhnliche Person gewesen sein, die es schaffte, sogar von dem sonst eher uninteressierten Kieran gehasst zu werden und sie war vermutlich immer noch dort draußen, arbeitete als Lazarus und war damit Nolans verlässlichste Verbindung zu dieser Gilde. All diese Gedanken ließen seinen Kopf schmerzen, weswegen er sich mit der rechten Hand an die gespannten Schläfe griff und abwesend daran zu reiben begann. Die beiden Frauen, die ihn begleiteten, blickten ihn besorgt an, sagten aber nichts, so dass sich Schweigen über das Innere des Gefährts senkte. Erst als sie in Jenkan wieder ausstiegen, entfuhr Nel ein Seufzen. „Hier bist du also geboren?“ Dem konnte Nolan leider nicht widersprechen. Besonders als er feststellte, dass sich nichts verändert zu haben schien. Jedes einzelne Gebäude sah genauso aus wie das vorige, die Mauern vollkommen weiß, die Dachziegel deprimierend dunkelbraun, ohne jeden Farbtupfer, selbst die Webstuben, in denen die Stoffe gefertigt wurden, die im ganzen Land beliebt waren, wirkten... spießig. So hatte Landis diesen Ort stets bezeichnet, zumindest als er dieses Wort endlich gelernt hatte, davor war die Stadt lediglich idiotisch gewesen. Doch ungeachtet des Wortes war Nolan immer seiner Meinung gewesen. Wenn man noch dazu die kühle Art der Bewohner, sowohl Fremden gegenüber als auch untereinander, in Betracht zog, war Nolan immer wieder froh, nicht hier aufgewachsen zu sein. Er wollte gar nicht wissen, wie er sich dann benehmen würde. „Ja, ich bin das Beste, was diese Stadt je hervorgebracht hat“, sagte er schmunzelnd. Als die Kutsche fortfuhr, überlegte Nolan, was sie nun tun sollten. Er hatte die Wahl, direkt die Einrichtung aufzusuchen, in der sich seine Mutter befinden sollte oder erst zu seinen Großeltern zu gehen. Letzteres empfand er allerdings als schlechte Wahl, da sie ihn sicherlich nicht so einfach würden davonkommen lassen, besonders wenn er ihnen erst einmal sagte, weswegen er eigentlich in die Stadt gekommen war. Nein, es war besser, er besuchte sie erst später und stellte sie dann vor vollendete Tatsachen. Also setzte er sich in Bewegung und versuchte, den kürzesten Weg zu diesem Ort zu finden, was ihn direkt über den Hauptplatz führte, den er sonst lieber mied. Der Grund dafür war das Gebilde, das in der Mitte davon stand. Es bestand zu großen Teilen aus Holz, das angekohlt war, das teilweise aber auch aus frischem Material bestand. Der Scheiterhaufen wurde dazu gebraucht, um Patienten aus der Anstalt zu verbrennen, sobald man der Überzeugung erlag, dass sie an unheilbaren und dafür ansteckenden Krankheiten litten. Nolan war bei keiner dieser Hinrichtungen anwesend gewesen, aber er erinnerte sich gut daran, wie wütend Kieran und wie traurig Aydeen bei der geringsten Erwähnung dieses Brauchs geworden war. Nadias Blick verfinsterte sich, als sie den Scheiterhaufen sah. „Haben die das Teil immer noch hier herumstehen? Ich dachte, nachdem Sicarius Vita hier jemanden getötet haben soll, würden sie das endlich abschaffen.“ Nel zuckte kaum merklich zusammen. „Hier wurde jemand getötet?“ „Der Direktor dieser Anstalt, zu der wir gehen“, bestätigte Nadia. „Vita hat ihn einfach verbrannt und uns danach die Schuld in die Schuhe geschoben.“ Nolan musste wieder an Landis denken und dessen Erzählung bezüglich der Ereignisse während der Zeit von Sicarius Vita. Aber er hatte auch von niemandem gehört, dass man auch nur überlegte, diesen Brauch abzuschaffen, so unmenschlich und grausam er auch sein mochte. Offenbar interessierte es nicht einmal die Königin, also blieb Nolan nur die Möglichkeit, auf Prinz Svarog zu hoffen, der immerhin die Nachfolge antreten würde. Vorerst blieb er aber erst einmal vor dem Gebäude stehen, das sich lediglich durch ein Schild von allen anderen darum herum unterschied. In das hölzerne Schild waren die Worte Asyl, Zufluchtsort, eingeritzt. Nolan fand es überaus... seltsam, wenn er so darüber nachdachte. Das Gebäude verströmte eine finstere Aura von Verzweiflung und Trauer und plötzlich erschien es ihm wie eine furchtbar schlechte Idee, hierhergekommen zu sein. Es gab unzählige Möglichkeiten, wie diese ganze Situation enden würde, seine Mutter könnte bereits tot sein, sie könnte vollkommen wahnsinnig sein, man könnte ihn erst gar nicht zu ihr lassen oder aber vielleicht war sie schon vor langer Zeit entlassen worden und war zu einem unbekannten Ort gegangen, wo niemand sie je finden würde. Keine dieser Möglichkeiten erschien ihm sonderlich prickelnd, aber es gab nur eine Möglichkeit, wirklich herauszufinden, was davon zutraf. Er wandte sich den beiden Frauen zu. „Es wäre mir lieber, wenn ihr hier warten würdet.“ „Bist du sicher?“, fragte Nadia. „Also, ich kann mir denken, dass das eine Sache ist, die du allein ausfechten musst, aber schaffst du das?“ Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte, dass sie ihm beistehen wollte oder ob er sich angegriffen fühlen sollte, dass sie ihm die dafür nötige Stärke nicht zutraute, aber stattdessen hob er die Schultern. „Ich denke schon. Ich habe schon ganz andere Dinge geschafft.“ Aus einem ihm unerfindlichen Grund musste er dabei zu Nel sehen, die seinen Blick lächelnd erwiderte. Dann deutete er allerdings ein Kopfschütteln an und wandte sich wieder der Tür zu. „Bis später.“ Es war das erste Mal, dass er das Gebäude betrat und er hoffte, dass es das letzte Mal bleiben würde. Die Aura von Verzweiflung war hier noch stärker greifbar und sie wurde nicht besser dadurch, dass sie sich im Halbdunkel befanden, da die Jalousien halb heruntergelassen waren. Die wenigen Sonnenstrahlen, die hereinfielen, wirkten zwar umso heller, tauchten alles andere dafür aber in tiefe Schatten. Staubkörner tanzten im Licht und unterstützten lediglich die deprimierende Atmosphäre, da es so aussah als wäre seit Jahren niemand mehr hier gewesen. Die Wände waren mit grauen Aktenschränken belegt, in denen sich vermutlich Informationen zu den Insassen befanden, die einzige Tür, die er sehen konnte, war geschlossen. Erst nachdem er dies alles in sich aufgenommen hatte, sah er zur Rezeption, einer einfachen Theke, hinter der ein Mann saß, der ihn bislang erfolgreich ignorierte und sich dafür auf seine Zeitung konzentrierte. Fast erinnerte er Nolan an Richard, zumindest wenn dieser mehr Gewicht und weniger Haare hätte. Der Besucher räusperte sich, aber der Rezeptionist hob den Kopf nicht, stattdessen brummte er nur, worauf Nolan nun doch noch ein „Entschuldigen Sie“ hinterherschob. Erst auf diese Worte hin, hob er nun doch den Kopf und musterte den vor sich Stehenden. „Was gibt es?“, fragte der Mann. „Mein Name ist Nolan Lane.“ Im ersten Moment überlegte er, ob er seinen Rang ebenfalls erwähnen sollte, aber allein sein Name brachte bereits eine Wirkung hervor. Die Augen des Rezeptionisten weiteten sich und Nolan glaubte bereits, das läge daran, dass er einen Nachnamen trug, aber der Mann belehrte ihm gleich eines Besseren: „Der Nolan? Etaíns Sohn?“ „Ja, genau der – und ich möchte gerne meine Mutter sehen.“ Die einzige Reaktion des Mannes darauf war, ihn fassungslos anzustarren. Das ging so lange, dass Nolan die Situation bereits ein wenig verlegen machte und er zurückweichen wollte, aber da sprach er bereits wieder: „Und ich dachte immer, sie spinnt nur. Scheint als hätte ich eine Wette verloren.“ Ihm blieb nur, mit den Schultern zu zucken. „Ich... habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“ „Oh, schon gut, schon gut. Ich bringe Euch zu ihr.“ Er kam hinter der Rezeption hervor und zog bereits einen Schlüssel aus der Tasche, mit dem er die Tür aufschloss, die tiefer ins Gebäude hineinführte. Jenseits der Tür befand sich ein Gang, der lediglich durch die angebrachten Gaslampen erhellt wurde. Zu beiden Seiten befanden sich Türen, die in verschiedene Räume führten, Schilder verrieten, dass es sich dabei um Behandlungsräume oder Büros von Ärzten handelte. Nach vier Türen weitete sich der Gang ein wenig, ein vergittertes Fenster ließ Tageslicht herein und spendete dem scheinbaren Aufenthaltsraum genug Licht, dass zwei unscheinbare Männer miteinander Schach spielen und eine Frau, auf einem Sessel in der Ecke, ein Buch lesen konnte. Ansonsten war niemand zu sehen, Nolan fragte sich, ob es sich dabei um Insassen handelte, was ihm sofort von dem Rezeptionisten bestätigt wurde: „Abgesehen von den dreien ist nur noch Etaín hier. Glücklicherweise macht keiner von ihnen Ärger.“ So normal wie sie wirkten, während sie sich selbst beschäftigten, kam Nolan nicht umhin, sich zu fragen, ob sie überhaupt an diesen Ort gehörten. Aber das war etwas, was er nicht fragen wollte, er glaubte nicht, dass es ihn etwas anging. Ihn erstaunte allerdings, dass die Verzweiflung hier durch eine seltsame Form von Friedlichkeit ersetzt worden war. Fast so als ob diese Menschen sich damit abgefunden hatten, hier zu sein und nun das beste daraus zu machen versuchten. Der Gang verengte sich wieder, kehrte erneut zur Gasbeleuchtung zurück und den Türen auf beiden Seiten. Diesmal waren es aber widerstandsfähige Stahltüren, was dafür sprach, dass es sich dabei um die Zimmer der Insassen handelte. Die Tafeln neben den Türen verrieten die Namen der jeweiligen Bewohner und vor jener mit der Aufschrift Etaín hielt der Rezeptionist wieder inne. Nolans Inneres schien plötzlich mit Eiswasser gefüllt zu sein. Nur noch diese eine Tür trennte ihn von seiner echten Mutter, von einer Person, die vermutlich aussah wie Aydeen und ihn schmerzhaft wieder an diese erinnern würde. Aber es gab kein Zurück mehr. Der Mann schloss die Tür auf und rief dann „Du hast tatsächlich Besuch, Etaín“ in den Raum hinein, ehe er Nolan bedeutete, einzutreten. Dieser atmete noch einmal tief durch, trommelte seinen Mut zusammen und ging dann hinein. Hinter ihm wurde die Tür wieder geschlossen, so dass er sich erneut im Halbdunkeln wiederfand. Durch das vergitterte Fenster fiel gerade ausreichend Licht herein, um das Zimmer zu erhellen. Da er so lange wie möglich versuchen wollte, dem Anblick seiner Mutter auszuweichen, sah er sich erst einmal an dem Ort um, den sie die letzten Jahre bewohnt hatte, um sich ein besseres Bild von ihr zu machen – und zu seiner Überraschung fand er sogar mehrere Bilder. Eine Schnur war quer durch den Raum gespannt und an dieser war mehrere Bögen Papier befestigt, die allesamt Kohlezeichnungen aufwiesen. Nolans Blick glitt flüchtig über die ersten, die direkt neben ihm zu sehen waren und hielt erst inne, als er eines der Motive eindeutig erkannte. Es zeigte sowohl ihn als auch Landis, wie sie gemeinsam unter einem Kirschbaum saßen und dabei friedlich zu schlafen schienen. Irgendwann war dies tatsächlich einmal geschehen, sogar ziemlich oft, wenn er sich richtig zurückerinnerte. Derart aufmerksam geworden, blickte er nun doch noch die anderen Bilder an. Sie zeigten ihn als Kleinkind auf Kierans Arm; als Junge mit einem Ball; als Kind an einem mysteriösen Grabmal, an das er sich nicht erinnerte; als Jugendlicher, der zur Marionette einer düsteren Frau geworden war und als Erwachsener, der gemeinsam mit Charon auf einem Blumenfeld stand. All diese Bilder zeigten Dinge in seinem Leben, teilweise sogar Ereignisse, die niemand außer ihm wissen dürfte. Warum hingen sie hier? Schlussendlich sah er nun doch auf Etaín, die am Tisch vor dem Fenster saß, sich über ein Blatt Papier beugte und darauf etwas mit Kohle zeichnete. Sie wandte ihm den Rücken zu und war vollkommen in ihre Zeichnung vertieft. Ihr langes Haar, das genau wie das von Aydeen glatt bis an ihre Hüften fiel, war schneeweiß, als wäre sie vorzeitig gealtert und eröffnete ihm die Möglichkeit, zu erfahren, wie es wohl ausgesehen hätte, wäre sie nicht vorzeitig gestorben. Als sie seinen Blick bemerkte, hielt sie plötzlich im Zeichnen inne und wandte den Kopf, so dass sie ihn über ihre Schulter hinweg ansehen konnte. Im selben Moment schien Nolan die Luft wegzubleiben. Ihre grünen Augen waren fast dieselben wie die von Aydeen, lediglich der warmherzige Schimmer fehlte darin, aber ansonsten war es, als würde sie ihn gerade anblicken. Nachdem sie ihn einige Sekunden lang gemustert hatte, erhob sie sich, wobei die Stuhlbeine unangenehm über den Boden kratzten. Dann drehte sie sich um und sah ihn direkt an, ohne jedes Lächeln auf den Lippen, ohne jede Freude in einem Gesicht, das in der Zeit eingefroren zu sein schien. Dabei machte sie keinerlei Anstalten, ihn umarmen zu wollen. Sein Herz wollte aussetzen, er fühlte sich von Aydeen verstoßen, obwohl seine Logik wusste, dass es sich hierbei um eine ganz andere Person handelte. „Du bist Nolan.“ Ihre tonlose Stimme erzeugte einen Kloß in seiner Kehle. „Ich habe auf dich gewartet.“ Stumm wartete sie auf seine Erwiderung, die Schultern dabei nach rechts gesenkt, aber er wusste nicht, wie er sie ansprechen sollte. Sollte er sie Mutter nennen? Oder Etaín? Ihm war nur klar, dass er sie nicht Mama nennen konnte, das war viel zu intim für diese quasi Unbekannte. Etaín war für ihn allerdings seine Anima, der er letztes Jahr in Charons und Orphnes Reich begegnet war. Also blieb ihm wirklich nur eine Alternative. „Mutter...“ Über diese Anrede erstaunt, hob sie die Augenbrauen ein wenig, sagte aber nichts, so dass er fortfahren konnte: „Ich weiß gar nicht so recht, was ich sagen soll.“ Es war nicht gelogen. Kaum hatte er den Mut gefunden, sie anzusprechen, war es als ob ein Damm in seinem Inneren brechen würde und er wollte viel zu viele Dinge gleichzeitig von ihr wissen. Warum war sein Vater verschwunden? Warum hatte sie versucht, ihn umzubringen? Was sollten all diese Bilder bedeuten? Woher wusste sie, dass er kommen würde? Doch schließlich siegte tatsächlich die für ihn wichtigste Frage in diesem Moment: „Warum hast du mir das damals angetan?“ Müde hob sie die rechte Hand und strich sich durch das Haar. „Du musst dich klarer ausdrücken. Meinst du, warum ich dich zur Welt gebracht habe? Oder warum ich dich die Treppe hinabwarf?“ Ersteres war für ihn keine schlechte Sache, er lebte immerhin ganz gern, letzteres interessierte ihn da schon eher, weswegen er ihr dies bestätigte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und legte dann die rechte Hand an ihr Kinn. „Ich wollte immer nur dein Bestes – und wenn das deinen Tod bedeutete, sollte mir das recht sein.“ Seine Verwirrung wuchs mit jeder Sekunde nur weiter an. „Was... meinst du damit?“ „Nach all diesen Jahren ist in dir sicher der Eindruck erwacht, dass ich dich nicht liebe.“ Dem konnte er nicht widersprechen, aber einen richtigen Vorwurf konnte er ihr dennoch nicht machen, immerhin war ihm bis vor wenigen Tagen nicht einmal bewusst gewesen, dass es sie überhaupt gab. Und all diese Bilder von ihm sprachen doch immerhin eine recht eindeutige Sprache. „Aber das Gegenteil ist der Fall“, fuhr sie auch sofort fort, „ich habe dich so sehr geliebt, dass ich das Wissen, dass du leiden würdest, nicht ertragen konnte.“ Auf diese Worte hin zeigte sie das erste Mal Emotionen. Ihr Gesicht verzerrte sich als litt sie wirklich unter körperlichen Schmerzen, sie schwankte für einen kurzen Moment unter der Wucht der Gefühle. Doch für Nolan war das nur noch weiter verwirrend. Er zog sich einen zweiten Stuhl heran, der neben dem Bett gestanden hatte und bedeutete ihr, sich ebenfalls wieder zu setzen, damit sie nicht plötzlich stürzen würde. „Es wäre vielleicht besser, du erzählst mir das von Anfang an, ich verstehe das noch nicht so wirklich.“ „Haben Kieran und Aydeen dir nichts erzählt?“ Nolan schüttelte mit dem Kopf, was sie traurig seufzen ließ, weswegen er rasch hinzufügte: „Ma-, Aydeen ist gestorben, als ich klein war und Kieran ein paar Jahre später. Ich weiß von dir nur, weil ich einen Brief von ihm gefunden habe.“ Das erhellte ihre Stimmung allerdings nicht, stattdessen griff sie sich, plötzlich wieder müde aussehend, an die Stirn. „Ich wusste es. Ich wusste, dass dich dein ganzes Leben lang nur Trauer und Leid begleiten würde.“ „Woher wusstest du es?“ Er glaubte nicht, dass sie über hellseherische Fähigkeiten verfügte, das war mehr etwas, das zu Asterea gehörte und niemand in seiner Familie war ein Naturgeist. In einer verschwörerischen Geste beugte sie sich vor und flüsterte: „Sie hat es mir gesagt. Sie kam zu mir und Farran, als ich gerade erst erfahren hatte, dass ich schwanger war und sie sagte, dass mein Sohn ein Leben voller Qualen erleiden würde.“ Mit einer fahrigen Handbewegung deutete sie zu den Bildern. „Das sind alles Zeichen davon.“ Wieder ließ er den Blick über die Zeichnungen schweifen, dann zeigte er auf jenes, auf dem er und Landis unter einem Baum schliefen. „Das war aber keine Qual.“ „Der Junge neben dir ist tot“, wies sie ihn tonlos hin. „Ihm fehlt sein Herz.“ Nolan fühlte sich an, als würde seines gerade herausgerissen werden. Er blickte noch einmal genauer auf das Bild und stellte dann tatsächlich einen dunklen Fleck auf Landis' Brust fest, der eine Wunde darstellen könnte. „Das ist aber nie passiert“, widersprach er rasch. „Er wurde um einiges älter als das und-“ „Ich kenne die Details nicht“, unterbrach sie ihn rasch. „Ich zeichne nur, was sie mir erzählt.“ Er wusste immer noch nicht, um wen es sich bei dieser Person handelte, aber etwas anderes war im Moment noch wichtiger und das ahnte sie offenbar auch, denn sie setzte sich wieder aufrecht hin und sprach dann normal weiter: „Ich nehme an, du kennst Farran nicht, wenn du erst jetzt zu mir kommst.“ „Weiß er denn, dass du noch lebst?“ Nach Kierans Brief hatte es eigentlich geklungen, als ob sein Vater spurlos verschwunden war, kaum war bekannt geworden, dass Etaín schwanger war. Sie fuhr herum, griff zielsicher nach einem Briefkuvert, das auf dem Tisch lag und reichte es Nolan dann zur Antwort. Ehe er sich versichern konnte, dass er ihn wirklich lesen dürfte, gab sie ihm bereits zu verstehen, dass er fortfahren sollte, worauf er den Papierbogen aus dem Umschlag hervorholte und den Brief zu überfliegen begann. Kierans Schrift war klein und eher rundlich gewesen, die von Farran war groß und kantig, sie erinnerte ihn an seine eigene, weswegen sein Magen sich wieder zusammenzog. Der Brief an sich berichtete davon, dass der Verfasser unglücklich darüber war, nicht bei der Empfängerin, die er öfter als Etaín bezeichnete, sein zu können und dass er sie tatsächlich liebte und bedauerte, dass sie keine Familie hatten sein können. Unterschrieben war der Brief mit Farran und als er ihn endlich derart bestätigt vor sich sah, glaubte er, diesen Namen zu kennen, ihn schon einmal gehört zu haben, ihm wollte nur nicht einfallen, woher. „Er ist der einzige, der mir schreibt“, sagte Etaín. „Für alle anderen scheine ich nicht mehr zu existieren. Aber es ist besser, wenn er mir fernbleibt.“ „Warum? Ich verstehe das einfach nicht.“ Mit einem hilflosen Lächeln hob sie die Schultern. „Ich nehme an, dass ich einfach nur Unglück bringe. Aber das interessiert dich doch im Moment nicht, oder?“ „Es gibt so viele Dinge, die mich gerade interessieren“, gab er zurück. „Wer ist diese Frau, die dir das alles gesagt hat? Wo ist dieser Farran?“ Das waren so ziemlich die Dinge, die ihn gerade im Bezug auf sie interessierten, aber in seinem Inneren stellte er sich noch wesentlich mehr Fragen, auf die sie allerdings wohl keine Antwort kennen würde und mit denen er sich im Moment auch nicht weiter beschäftigen wollte, um nicht noch in Depressionen zu versinken. „Farran ist vermutlich in Abteracht, der Heimat der Lazari“, antwortete sie. „Aber diese Frau kenne ich nicht. Farran sagte jedoch, dass sie eine hohe Position in der Gilde hätte.“ „Dann weißt du also von den Lazari?“ Sie nickte und blickte ihn dabei an, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sie es wüsste, was ihm seine eigene Unwissenheit umso stärker vor Augen führte. Aber immerhin war ihm nun klar, welchen Ansatz er brauchte und was er von Kenton nicht erfahren hatte. „War das alles, was du von mir wissen wolltest?“ Auch wenn sie sich offenbar Mühe gab, ihre Stimme tonlos klingen zu lassen, war Nolan überzeugt, etwas wie Schmerz darin zu hören. Und er konnte es gut nachvollziehen, wenn er daran dachte, dass sie gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Ihn würde es immerhin auch verletzen, wenn jemand, den er liebte, auftauchte und ihm sagte, dass er gar nichts von dieser Person wissen wollte und ihn nur benötigte, um an weitere Informationen zu kommen. Also versuchte er rasch, diesen Eindruck wieder zu relativieren: „Uhm, ich werde ein andermal wiederkommen, um mehr mit dir zu reden, ich habe nur Leute draußen stehen, die auf mich warten und die ich da nicht stehenlassen kann.“ Sie erwiderte nichts darauf, nicht einmal, ob sie bemerkte, dass er sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, ob er überhaupt weiter mit ihr zu tun haben wollte. Stattdessen neigte sie den Kopf ein wenig. „Könntest du mir zuvor eine Frage beantworten? Hast du viel in deinem Leben gelitten?“ Er stand nun vor der Entscheidung, das zu bejahen und ihre Entscheidung damit zu rechtfertigen, oder es zu verneinen und sie damit mit Reue zu füllen – oder aber ihr einfach die Wahrheit zu erzählen, wofür er sich schließlich auch entschied. „Na ja, ich denke, ich habe nicht mehr oder weniger gelitten als andere. Natürlich war es nicht immer leicht.“ Er musste da nur an den Tod seiner Pflegeeltern oder gar den von Landis und Frediano denken. „Aber all die großartigen Momente, die ich erlebte, wiegen das eindeutig wieder auf. Und solange ich am Leben bin, habe ich auch die Möglichkeit, alles weiterhin in die Bahnen zu lenken, die ich haben will.“ Zumindest glaubte er, dies aus seinem kleinen Abenteuer in Charons Welt gelernt zu haben. Und obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, lächelte Etaín tatsächlich ein wenig. „Wenn diese Weissagung nicht der Wahrheit entsprach, gibt es vielleicht Hoffnung, dass dies nicht unser letztes Treffen war.“ Als er nachhakte, was sie damit meinte, griff sie hinter sich und zog das Bild hervor, mit dem sie bei seiner Ankunft beschäftigt gewesen war. Demonstrativ hielt sie es vor sich, so dass er es sehen konnte und dabei langsam immer blasser wurde. Die Zeichnung zeigte ihn von hinten, wie er in das Zimmer hineinblickte und in diesem war Etaín zu sehen, die Schnur um den Hals gewickelt, die Füße nicht mehr auf dem Boden. Sie war tot, erhängt. Seine Augen weiteten sich schockiert, er nahm den Blick von dem Bild und richtete ihn wieder auf Etaín: „Hast du etwa vor...?!“ Er konnte es nicht einmal aussprechen, es ließ ihn geradezu schaudern, so etwas auch nur anzunehmen. Deswegen atmete er auch erleichtert auf, als sie den Kopf schüttelte. „Nein, habe ich nicht. Aber sie hat gesagt, dass es so passieren wird.“ „Wer denn?“, fragte er und schwankte dabei zwischen Verwirrung und den letzten Nerven, die er für dieses Thema aufbringen konnte. Sie hatte die Antwort schon zuvor nicht gekannt, weswegen diese erneute Frage vermutlich eher aus Verzweiflung geboren war, einem tiefen Unverständnis, das eine Erklärung erforderte, auch wenn sie ihm diese nicht geben konnte. Aber dafür schien es, als würde jemand anderes ihm diese geben wollen, wenn auch nicht mit Worten. Ein großer Riss erschien plötzlich auf dem Fenster hinter Etaín, er breitete sich rasch immer weiter aus, verästelte sich und nahm schließlich die ganze Scheibe ein. Nolan betrachtete dies mit ungläubigem Erstaunen, ohne sich in der Lage zu sehen, etwas tun zu können. Noch sah er aber auch keine Bedrohung darin, immerhin sollten die Gitterstäbe vor den Fenstern eigentlich alles abhalten, was versuchen würde, hereinzukommen. Aber noch im selben Moment, in dem er das dachte, breiteten sich die Risse, begleitet von einem verdächtig knackenden Geräusch, auf der Wand aus und vergrößerte sich dabei immer schneller. Er handelte, ehe er weiter darüber nachdenken konnte, ergriff er die weltvergessene Etaín an den Schultern und warf sich gemeinsam mit ihr zu Boden, dabei hielt er seinen Körper schützend über sie. Im nächsten Moment kam es ihm vor als würde die Welt explodieren. Die Mauer zerbarst mit einem Knall, der Nolans Ohren derart kraftvoll klingeln ließ, dass sein ganzer Körper im Einklang zu schwingen schien, sein Kopf zu platzen drohte und er der festen Überzeugung war, hiernach für immer taub bleiben zu müssen. Als die Welt zumindest nicht mehr bebte, stellte er fest, dass er glücklicherweise nicht verletzt war und lediglich seine Ohren nicht mehr ganz zu funktionieren schienen, noch immer war lediglich ein durchdringendes Klingeln zu hören. Als er auf Etaín hinuntersah, um festzustellen, ob sie verletzt war, bemerkte er ihren überraschten Blick, der an seiner Schulter vorbei zur fehlenden Wand ging. Sie sagte etwas, aber sein Gehör versagte ihm immer noch den Dienst. Deswegen wandte er einfach den Kopf, um herauszufinden, was sie ihm mitteilen wollte – und erstarrte augenblicklich. In dem entstandenen Loch, die Sonne im Rücken, tat sich vor ihm eindeutig die Gestalt einer Harpyie auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)