Seelenjäger von Flordelis (Custos Mortis II) ================================================================================ Prolog: Brüder -------------- Die Stille lastete schwer auf seinen Ohren. Fast kam es ihm vor als wäre er das einzige Lebewesen in dieser felsigen Einöde und wüsste er nicht genau, dass jemand ihn erwartete, hätte er sogar tatsächlich geglaubt, als einziges zu existieren. Dies war kein Ort, an den Menschen oder jegliche andere Lebewesen sich hinverirrten. Meilenweit erblickten seine Augen nur einen mit Sternen übersäten grünlichen Himmel, zerklüftete Felsformationen, umgeben von grünem Sand, der unter seinen Füßen knirschte und dabei Geräusche entstehen ließ, die klangen als würde jemand zu ihm sprechen und versuchen ihn zu überzeugen, wieder nach Hause zu gehen. Ein klägliches Unterfangen, besaß er doch keinerlei Ort, den man Zuhause nennen könnte. Da er allerdings auch kein Mensch war, sondern nur wie einer anmutete, kümmerte ihn das auch nicht. Es war seine Bestimmung, seine Aufgaben zu erfüllen und nicht heimzukehren, wo ihn ein Ofen, ein Bett, etwas zu essen und möglicherweise eine Familie erwartete – er kannte das alles, aber er benötigte es nicht und sehnte sich auch nicht im Mindesten danach. Im Gegensatz zu Kreios' anderen Wächtern, die man in der Welt der Menschen als Naturgeister bezeichnete, war er ein Custos und als solcher spürte er kein Verlangen nach weltlichen Dingen. Alles, was er im Moment ersehnte, war- „Ah!“ Sein Blick fand schließlich die gesuchte Person, die einsam auf einem Felsen saß und konzentriert in eine andere Richtung starrte, das Kinn auf der Hand abgestützt als würde er gerade über elementare Fragen des Seins nachgrübeln, aber wie üblich zu keinem Ergebnis kommen. Er näherte sich dem Wartenden vorsichtig. „Charon...“ Die violetten Augen blitzten erfreut und belustigt auf, als er den Ankömmling bemerkte. Hastig stand Charon auf. „Cronus, ich dachte schon, ich müsste eine Ewigkeit auf dich warten.“ Der Angesprochene zog seine Brauen zusammen, worauf seine türkis-farbenen Augen ein wenig dunkler zu werden schienen. „Das nächste Mal solltest du mir einfach eine bessere Angabe geben als in der Seelenwüste. Hast du eine Vorstellung davon, wie riesig dieses Gebiet ist?“ Würde man den Durchmesser in Kilometern angeben, so käme eine derart hohe Zahl dabei heraus, dass sie das Vorstellungsvermögen eines Menschen glatt sprengen würden. Allerdings war diese Größe notwendig, war die Seelenwüste doch für alle miteinander verketteten Welten... nun, zuständig. Laut Kreios, der es bislang als einziger geschafft hatte, diesen Ort vollkommen allein zu durchqueren, war es der Inbegriff der Hölle und dementsprechend diente dieses Gebiet für den Totenwächter Charon auch, Sünder dort abzuladen. Die Wächter anderer Welten taten es ihm offenbar gleich, jedes einzelne Sandkorn stand immerhin stellvertretend für eine Seele, deswegen war die Überlegung, dass etwas hier mit ihm zu sprechen versuchte, gar nicht so verkehrt. Doch auf Cronus' Einwurf, winkte Charon nur ab. „Schon gut, nächstes Mal stelle ich dir Schilder auf, Bruderherz.“ „Ich hasse es, wenn du mich so nennst“, brummte Cronus. Dabei fuhr er sich mit der Hand durch das schneeweiße Haar, um Charons Blick darauf zu lenken und ihm vor Augen zu halten, dass sie nichts gemein hatten, um diese Bezeichnung zu rechtfertigen. Doch er ließ sich nicht davon abbringen und lächelte nur vielsagend, bis Cronus seine Hand wieder sinken ließ. „In Ordnung, warum wolltest du nun, dass ich herkomme?“ Charons Gesicht leuchtete förmlich bei dieser Frage. „Vor ein paar Monaten war ein junger Mann bei mir und Orphne.“ Er machte eine Pause, vermutlich, um die Worte auf Cronus wirken zu lassen, doch dieser blickte ihn nur unbeeindruckt an. „Und? Zu euch kommen oft junge Männer.“ „Es war aber ein Lane.“ Cronus' Augenbraue zuckte, doch er bewahrte die Fassung. „Es gibt mit Sicherheit noch mehr Familien in Kreios' Welt, die 'Lane' heißen. Wahrscheinlich war es ein Zufall.“ „Das dachte ich auch erst, besonders weil er den Nachnamen für seine Beförderung zum Kommandanten bekam“, erwiderte Charon. „Aber während seiner Erinnerungen habe ich seinen Vater gesehen. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass dieser junge Mann wieder den Namen 'Lane' trägt.“ Diese Worte weckten nun doch Cronus' Interesse. „Du meinst also, der Stammbaum geht doch noch weiter? Ich befürchtete bereits das Ende der Familie.“ Auch wenn befürchtete vielleicht das falsche Wort war, es war ihm nicht nahegegangen, da die Lanes für ihn nur eine Familie wie so viele andere waren. Aber er kannte jemanden, dem diese Familie sehr am Herzen lag und diese Person war auch Cronus sehr wichtig. „Nun, nicht ganz... aber wie auch immer, deswegen habe ich dich nicht gerufen.“ Charon schob seine Brille zurecht, die aber direkt wieder nach vorne rutschte. Es schien als wäre sein Gesicht inzwischen zu schmal für das Gestell geworden. „Ich bin dann hierhergekommen, um seinen Vater zu finden.“ Die Art, wie er dieses Wort betonte, ließ Cronus hellhörig werden, doch er kannte seinen Gegenüber gut genug, um zu wissen, dass er ihm ohnehin nicht antworten würde, sollte er Fragen in diese Richtung stellen. Also konzentrierte er sich eher auf die andere vor ihm liegende Tatsache: „Und? Hast du das geschafft?“ Falls ja, würde sein gesamter Respekt Charon gelten. Unter den unzähligen Seelen dieser Wüste, war es immerhin nicht einfach, eine bestimmte herauszusuchen. Doch der Gefragte schüttelte mit dem Kopf und gab ihm zu verstehen, dass er ihm folgen sollte. Sie umrundeten den Felsen, auf dem Charon zuvor gesessen hatte und schon nach wenigen Schritten entdeckte Cronus, was ihm gezeigt werden sollte. Im Sand waren Ketten verankert, die fest angespannt um den Felsen geschlungen waren – und zwar um einen Mann daran zu fesseln. Cronus beugte sich ein wenig vor, um ihm genauer zu mustern. Das schwarze Haar und das spitz zulaufende Gesicht kam ihm durchaus bekannt vor, die Person atmete nicht, das linke Auge war erblindet. Es war unmöglich, dass diese Gestalt aus eigener Kraft in diese Welt gelangt und sich an den Stein gebunden hatte, schon allein weil das gar keinen Sinn gemacht hätte. „Ich weiß nicht, warum oder wie er hierher kam“, meinte Charon nachdenklich, da ihm ebenfalls bewusst war, dass Menschen nicht einfach so in die Seelenwüste stolperten. „Aber so fand ich ihn.“ Für Cronus war zumindest das Wie nachvollziehbar. Von all seinen Naturgeistern besaß nur eine einzige die Möglichkeit, in die Seelenwüste zu reisen und dort so etwas zu machen, auch wenn er den Grund noch nicht verstand. „Das muss Yarahs Werk sein“, erwiderte er daher. „Seine Seele befindet sich auch noch in der Menschenwelt.“ Das war für ihn als Custos Vitae unschwer festzustellen. Allerdings war es ihm nicht möglich, den genauen Aufenthaltsort zu bestimmen oder Yarahs Motivation zu hinterfragen, ohne sie vor sich zu haben – und selbst dann hätte sie ihm mit Sicherheit nicht geantwortet. Charon neigte den Kopf. „Wir bräuchten sie aber eher hier, nicht wahr? Denkst du, sein Sohn weiß, wo seine Seele ist?“ Statt einer Antwort musterte Cronus den Körper und die Ketten genauer. Er überlegte, ob es ihm möglich wäre, die Fesseln zu lösen, um den Mann mit sich zu nehmen, aber als er die Kette berührte, glühte diese in einem weißen Licht auf, so dass er automatisch zurückfuhr und auf seine Hand hinabblickte. Eine Verbrennung zog sich quer darüber, verheilte aber noch während er diese betrachtete und verschwand dann wieder spurlos. Er hatte keine Schmerzen gespürt, so etwas war ihm nicht möglich, aber er wusste, dass sein Körper es nicht verkraften würde, wenn er versuchte, die Ketten zu lösen, also musste er einen anderen Weg finden. „In diesen Erinnerungen... oder Träumen... hat er da irgendwas von Fileon an sich genommen?“ Charon schloss die Augen, rief sich jeden einzelnen Traum mit all seinen Details ins Gedächtnis – Cronus war in diesem Moment froh, dass er sich all das merken konnte – und nickte schließlich. „Landis – das ist eines von Fileons Fragmenten – hatte ein besonderes Schwert und sein Vater hat es an unseren Besucher weitergegeben.“ „Gut, dann weiß ich, wo ich die Seele zu suchen habe.“ Es sah nicht nur Yarah, sondern auch diesem Mann ähnlich, dass sie die Seele an ein Schwert banden, für die eine war es ein Instrument für den Kampf, für den anderen ein Mittel zum Schutz. „Charon, bleib bitte so lange wie möglich hier und achte darauf, dass dem Körper nichts geschieht. Man weiß nie, wann hier bösartige Seelen auftauchen.“ Es war nicht unüblich, dass eine verstorbene Seele derart stark und verunreinigt war, dass sie sich nicht dem Tod beugen wollte und versuchte, aus diesem Gefängnis auszubrechen. Die zerklüfteten Felsformationen waren das Ergebnis eben dieser Versuche. Charon nickte zustimmend. „Geht in Ordnung. Aber beeil dich. Yarah wird bestimmt auch irgendwann mitkriegen, was du vorhast und versuchen, das zu verhindern – und von diesen ganzen anderen Leuten, die was gegen ihn haben, wollen wir gar nicht erst anfangen.“ Cronus überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass auch Fileon sicherlich nicht sonderlich glücklich wäre, wenn er wüsste, dass sie versuchten, diesem Mann zu helfen, egal wie sehr sie ihm erklären würden, warum es wichtig war, gerade ihn zu retten. Es war das erste Mal, dass Cronus über Fileons Abwesenheit nicht unglücklich war. „Ich werde mich beeilen, versprochen.“ Er wandte sich an den leblosen Körper, der stur geradeaus starrte und offenbar nichts von dem mitbekam, was gerade vor sich ging. „Und dir verspreche ich es auch... Kieran.“ Kapitel 1: In den Zwangsurlaub ------------------------------ Nolan war es Leid. Seit fast sieben Monaten war er nun der neue Kommandant der Kavallerie und erst vor zwei Monaten kehrte er mit neuer Schaffenskraft aus dem Reich der Toten zurück – und schon befand er sich für einen Tadel in Kentons Büro. Dabei war er sich keiner Schuld bewusst. Sicher, er war in den letzten Tagen sehr ruppig zu den Kavalleristen gewesen und ja, er hatte deutlich mehr Strafen verteilt als für ihn üblich war – gewöhnlich lag die Anzahl bei Null – aber das war doch kein Grund, ihn gleich bei dem Berater der Königin anzuschwärzen. „Irgendwie muss ich meine Männer doch disziplinieren“, verteidigte er sich gegen die von Kenton aufgezählten Beschwerden. „Was soll ich denn sonst tun, damit sie merken, wer der Chef ist?“ Stumm blickte Kenton ihn an, die Mimik so neutral und nichtssagend, die grünen Augen so mitleidlos, dass Nolan am Liebsten geschrien und ihn durchgeschüttelt hätte. Normalerweise machte Nolan diese Miene nichts aus, kannte er seinen Freund doch schon sein ganzes Leben damit, aber in den letzten Tagen erinnerte ihn das auf schmerzhafte Weise an seine Vergangenheit. Sein Ausflug ins Jenseits war wohl auch ein Grund für seine lebhaften Erinnerungen. Kenton stieß die angehaltene Luft aus – es war kein Seufzen und auch kein Ton der Verzweiflung, er vergaß nur manchmal auszuatmen, wenn er sehr angestrengt nachdachte – und schüttelte sacht den Kopf. „Warst du es nicht, der sich früher über den viel zu strengen Dario beschwert hat?“ „Jetzt verstehe ich, warum er so streng war“, kam die sofortige Antwort. „Keiner hier weiß mehr, was Disziplin bedeutet.“ Tatsächlich bewirkten diese Worte eine Veränderung an Kentons Mimik. Allerdings wurde sie nicht verständnisvoll, sondern mitleidig, was Nolan fast noch weniger ertragen konnte – zumindest, wenn es von Kenton kam. „Ist es schon wieder diese Zeit im Jahr?“ Es war selten, dass die Stimme des Beraters einen solch sanften Klang annahm, weswegen Nolan sofort bewusst wurde, wovon er sprach, obwohl er die letzten Tage sein Möglichstes versucht hatte, um dieses Datum zu verdrängen. Er senkte den Blick und nuschelte undeutlich eine Bestätigung. Er musste nicht erst fragen, wie sein Freund ihn durchschaut hatte, auch ihm war wieder wieder einmal der Spruch aufgefallen, den er oft von seinem verstorbenen Vater gehört hatte, wann immer es um die Kavallerie gegangen war. „In dem Fall“ – Kenton fuhr fort, wieder mit neutraler Miene – „wäre es vielleicht besser, wenn du dir wieder ein paar Tage freinimmst. Besuch doch Cherrygrove und entspann dich ein wenig.“ „Das ist der letzte Ort, wo ich hinwill“, erwiderte Nolan grummelnd. Eine Rückkehr zu der Heimat seiner Kindheit erschien ihm auch eher kontraproduktiv. Dort würde er viel mehr mit seinen verstorbenen Eltern konfrontiert sein und mit der Abwesenheit seines besten Freundes noch obendrein. Entgegen seiner früheren Vermutung half ihm die Aussicht, ihn irgendwann einmal wiederzusehen, nicht über die derzeitige weltliche Trennung hinweg. Doch Kenton zeigte sich wie so oft unerbittlich. „Sieh es einfach als Befehl an. Ich bin sicher, es wird dir ganz gut tun, dich dort mal wieder auszuspannen. Meine Mutter wird sich dir deiner annehmen, wenn du willst.“ Das war es also Dieser Urlaub sollte nur eine getarnte Maßnahme sein, dass er sich von einer Ärztin untersuchen ließ. Im ersten Moment kochte er vor Wut – doch kaum wurde ihm das bewusst, verschwand der Zorn, um der Ernüchterung seinen Platz anzubieten. Vielleicht war es wirklich besser, wenn er sich die nächsten Tage von seiner Truppe fernhielt und sich einmal gründlich untersuchen ließ. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass sein letzter Urlaub seine Spuren hinterlassen hatte. „Wird es nicht seltsam sein, wenn ich mir schon wieder freinehme?“ Der sonst so korrekte Kenton winkte lediglich ab. „Überlass das nur mir. Ich regle das schon mit Ihrer Majestät.“ Daran zweifelte Nolan nicht. Kenton verstand es auf wundersame Weise, der Königin so manche Entscheidungen nahezubringen, bei denen andere Monarchen nur spöttisch gelacht oder empört den Kopf geschüttelt hätten. Damit wurden alle Entschuldigen Nolans ungültig. „In Ordnung.“ Am Liebsten hätte er geseufzt, trotz des Wissens, dass dies alles nur zu seinem Besten war, doch er hielt sich selbst davon ab, um sich vor einem allzu erbärmlichen Eindruck zu schützen. Dennoch schaffte Kenton es, ihn zu durchschauen. „Das ist kein Zeichen von Schwäche, wenn du an seinem Todestag so reagierst. Du hast immerhin ziemlich viel mit Kieran durchgemacht.“ Als ob sie nur auf dieses Stichwort gewartet hätte, begannen einige der Narben auf seinem Rücken wieder zu kneifen. Sie schmerzten seit Jahren nicht mehr, aber manchmal bekam er das Gefühl, sie glaubten, regelmäßig an sich erinnern zu müssen, indem sie spannten oder eben zu kneifen begannen, damit er nicht vergaß, was ihm beigebracht worden war. Nolan verzichtete gegenüber Kenton auf eine Erwiderung „Gilt mein Urlaub ab sofort?“ Sein Freund nickte bestätigend, worauf Nolan aufstand, sich wortkarg verabschiedete und hinausging. Den ganzen Weg durch den Palast und anschließend zur Stadt hin, haderte er mit den unterschiedlichsten Gefühlen in seinem Inneren. Er fühlte Wut auf die Kavalleristen, die ihn angeschwärzt hatten und auch auf Kenton, der ihn zu dieser Untersuchung drängte; gleichzeitig aber auch Freude, dass sein Freund sich solche Sorgen um ihn machte; Verzweiflung, weil er sich nicht dagegen wehren konnte und Trauer darüber, dass er erneut an all seine Verluste erinnert wurde. Auch ärgerte er sich darüber, dass er es offenbar nicht schaffte, mit all dem, was früher war, abzuschließen. Zwar spürte er nicht mehr den Wunsch, ebenfalls sterben zu wollen, aber dafür diesen unbändigen Zorn je näher Kierans Todestag rückte – und er wusste nicht mal genau, warum das so war. Der Tod dieses Mannes war das Beste gewesen, was in Nolans Leben hatte geschehen können, warum war er also gleichzeitig so wütend, statt erleichtert? Erst als die Tür des Lokals, das sein Ziel gewesen war, hinter ihm zufiel, hörte dieser irritierende Gefühlscocktail auf, ihn zu verfolgen. Mit erleichterten Schritten durchquerte er den sonnenlichtdurchfluteten Schankraum, in dem sich um diese Zeit kaum jemand aufhielt. Um genau zu sein waren außer ihm nur noch zwei Personen anwesend: Ein älterer Mann mit bereits ergrautem Haar und Bauchansatz hinter der Theke, die aus hellem freundlichen Holz bestand – Nolan wusste durch seine regelmäßigen Besuche inzwischen, dass dieser Mann der Besitzer des Lokals war – und eine junge Frau in einer hellblauen Uniform, die gerade eifrig dabei war, die Tische abzuwischen. Dabei strich sie sich immer wieder braune Haarsträhnen aus der Stirn, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Nolan kam nicht nur wegen dem Alkohol und der Atmosphäre hierher, sondern hauptsächlich, um Zeit mit dieser Frau zu verbringen. Der Gedanke, sie für einige Tage verlassen zu müssen, behagte ihm gar nicht, deswegen hatte sein erster Weg ihn hierher geführt. Zielstrebig hielt er auf sie zu und setzte sich ungefragt an den Tisch, den sie gerade wischte. „He, Nadia.“ Erschrocken hielt sie in ihrer Arbeit inne und blickte ihn an. Offensichtlich hatte sie ihn bislang nicht bemerkt und auch nicht mit ihm gerechnet, wie ihre nächsten Worte bewiesen: „Was machst du denn so früh hier?“ „Ich hab Urlaub“, erwiderte er lapidar, worauf sie eine Augenbraue hob. „Schon wieder?“ „Erstaunlich, nicht?“ Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm dieser erzwungene Urlaub mit Therapiefaktor zusetzte, dennoch setzte Nadia sich zu ihm, statt seine Bestellung aufzunehmen. Daran merkte er, trotz ihrer bisherigen Wortwahl, dass sie sich Gedanken um ihn machte. Landis hatte sie von seiner Reise mit nach New Kinging gebracht und Nolan noch vor seiner ersten Begegnung mit ihr davor gewarnt, dass sie ein wenig ruppig war und lediglich auf plumpe Art und Weise Freundlichkeit ausdrücken konnte. Und dennoch war Landis der Überzeugung gewesen, dass sie beide geradezu perfekt füreinander waren. „Was wirst du jetzt tun?“, fragte Nadia, ihre rotbraunen Augen blickten ihn besorgt an, so wirkten sie kleiner als sonst und ließen sie nicht mehr so jung erscheinen. „Ken will, dass ich nach Cherrygrove gehe, um mich auszuruhen.“ Die angekündigte medizinische Untersuchung verschwieg er lieber. „Das ist hart...“ Nadia wusste zumindest Teile aus seiner Vergangenheit und diese genügten offenbar, dass sie von selbst darauf kam, dass ihm das alles gar nicht gefiel. Er schmunzelte, als ihm plötzlich ein Gedanke kam: „He, willst du mich nicht begleiten?“ Dann würde er immerhin nicht auf sie verzichten müssen. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, wirkte sie verwirrt. Offenbar war dieser Zustand auch für sie neu, weswegen sie nicht sofort antwortete. Das übernahm aber auch bereits der Mann hinter der Theke für sie: „Natürlich kommt sie mit.“ Nadia warf einen vernichtenden Blick über ihre Schulter, doch der Inhaber ließ sich davon nicht beeindrucken, nein, er gluckste darüber sogar vergnügt. Schließlich setzte sie wieder ihre bekannt kühle Miene auf. „Gut, ich begleite dich, aber nicht heute. Ich kann erst ab Morgen.“ Diesmal sagte der Inhaber nichts, also schien es wohl zu stimmen und es gab keinen kurzfristigen Ersatz, der für sie einspringen konnte. Für Nolan kam das ohnehin gelegen. Er würde noch am selben Tag nach Cherrygrove reisen, sich von Kentons Mutter untersuchen lassen und ab dem nächsten Tag seinen Urlaub, gemeinsam mit Nadia, genießen – perfekt. Als er ihr vorschlug, dass sie nachreisen könne, da er unbedingt fort aus New Kinging wolle, nickte sie zustimmend. „Geht in Ordnung. Und keine Sorge, ich weiß genau, wo es ist.“ Er hatte gerade ausgeholt, um ihr den Weg zu erklären, hielt nun aber inne und nickte stattdessen nur verständig. Landis war immerhin bereits mit ihr dort gewesen, es war also nicht weiter verwunderlich, dass sie es bereits wusste. Nolan würde ihr allerdings mit Sicherheit noch ein paar interessante Dinge mehr zeigen als Landis es getan hatte. Der erzwungene Urlaub schien tatsächlich noch einen positiven Aspekt zu bekommen und er hatte die Absicht, es so gut wie möglich zu genießen. Schon lange beobachtete sie dieses Gebäude, sehr lange, aber niemand ging hinein oder hinaus, hinter den Fenstern blieb es dunkel, die Pflanzen im Garten verkümmerten. Aber zwischen all den vertrockneten Blumen gab es auch die Sprösslinge eines Baumes, die sich tapfer dem Sonnenlicht entgegenstreckten als wären sie von der Verzweiflung, die dieses Gebäude umgab, nicht im Mindesten ergriffen. Sie beobachtete das Haus von außen schon seit vielen Jahren, obwohl das, was sie interessierte, sich eigentlich in seinem Inneren befand. Da niemand mehr dort wohnte und sich auch die restlichen Bewohner dieses kleinen Städtchens scheinbar nicht in die Nähe trauten, wäre es eigentlich ein Leichtes gewesen, dort einzubrechen. Aber es gab es einen bestimmten Grund, warum sich die Menschen fernhielten, auch wenn diesen gar nicht wirklich bewusst war, was sie fernhielt. Sie hatte durch Beobachtung und unbemerktem Lauschen herausgefunden, dass dieses Gebäude einst das Zuhause einer kleinen Familie gewesen war. Der Vater war irgendwann arbeitslos geworden, die Mutter war unter mysteriösen Umständen gestorben und dann war der kleine Sohn stets mit unerklärlichen Verletzungen bei der Ärztin der Stadt aufgetaucht. Erst Jahre später war der Vater ermordet worden – und alle in der Stadt waren davon überzeugt, dass es der Sohn gewesen war. Deswegen hielten sich alle von diesem Haus fern, sie glaubten, dass all das darin geschehene Unglück und Leid von den Wänden aufgesaugt worden war und sie deswegen schaudern mussten, wenn sie daran vorbeikamen. Zumindest glaubten sie alle, dass dies der Grund war. Sie dagegen wusste es besser, ihre Augen verrieten ihr, was wirklich so furchterregend war und das war auch der Grund, weswegen sie nicht hineinkonnte. Dieses Haus war durch eine unfassbar finstere Aura geschützt, die es ihr unmöglich machte, sich auch nur zu nähern. Das Blut eines Jägers, dem das Wohlergehen der Bewohner wichtig gewesen war, musste einmal darin vergossen worden sein. Das behinderte ihren Plan, nein, ihre Mission! Wie sollte sie hineinkommen und etwas suchen, wenn sie sich nicht einmal nähern konnte, ohne furchtbare Schmerzen zu erleiden? Sie müsste abwarten, bis ein Naturgeist hineinging und den Schutzwall damit kurzzeitig außer Kraft setzte – aber wie groß standen ihre Chancen schon, dass so etwas irgendwann geschehen würde? Seit einer Woche stand sie nun jeden Tag vor diesem Haus, statt es nur aus der Ferne zu betrachten und jeden Tag wuchs das Misstrauen ihr gegenüber. Auch an diesem spürte sie plötzlich wieder die Blicke der Bewohner auf sich, einige von ihnen trugen die silber-blauen Uniformen der Cherrygrove Stadtwache, so dass sie direkt wusste, dass man nur auf einen Grund wartete, sie festnehmen zu können. Wohl nicht zuletzt, weil man hier Menschen mit violettem Haar und goldenen Augen mit gerunzelter Stirn betrachtete, da das nicht unbedingt häufig vorkam. Hastig setzte sie sich daher in Bewegung, um das Misstrauen zu zerstreuen. Sie wandte ihren Blick von dem Gebäude ab und ließ ihre Schritte sie irgendwohin lenken, auch wenn ihre Gedanken nach wie vor bei diesem Haus blieben – und der verzweifelten Frage, wie sie nur dort hineinkommen sollte. Kapitel 2: Begegnung -------------------- Nur wenige Stunden später war Nolan bereits aufgebrochen, um nach Cherrygrove zu kommen, die Untersuchung hinter sich zu bringen und dann alles für Nadias Ankunft herzurichten. Er war zuletzt vor Jahren – er wusste nicht einmal mehr, wie viele es waren – in seinem Elternhaus gewesen und musste daher erst einmal ausgiebig putzen, ehe Nadia am nächsten Tag kommen würde. Er trug kein Gepäck mit sich, in seinem Elternhaus gab es noch genug Kleidung, die ihm passen sollte und in Landis' Elternhaus lagen auch noch Kleider seines besten Freundes, die auch die für ihn passende Größe haben dürften. Allerdings trug er das Schwert mit sich, das ihm von Richard auf Landis' Beerdigung in die Hand gedrückt worden war. Er wusste nicht genau, weswegen, aber beim Betrachten der Klinge, die so einsam auf einem Regal in seinem Wohnzimmer gelegen hatte, war er von dem Verlangen übermannt worden, das Schwert mitzunehmen, auch wenn er nicht mit einem Kampf rechnete. Genau wie er erwartet hatte, gab es keinerlei wilde Tiere oder angriffslustige Banditen, die auf der Ebene herumstreunten, so dass er problemlos vorankam. Doch seine Ankunft verzögerte sich ungeplant. Kaum kamen die ersten Häuser von Cherrygrove in Sichtweite, spürte er eine starke Welle von Abneigung in seinem Inneren. Er wollte dort nicht hin, zumindest nicht jetzt sofort. Da kam es wie gerufen, dass er nicht weit entfernt ein Waldstück entdeckte, das ihn geradezu zu rufen schien. Er konnte sich das nicht erklären, schob es aber einfach darauf, dass er nach jedem Strohhalm griff, der ihn davon abhielt, Cherrygrove zu erreichen. Er erinnerte sich gut an dieses Waldstück – allerdings nur deswegen, weil es einst verboten gewesen war, diesen Hain zu betreten. Die Bewohner von Cherrygrove hatten stets mit gesenkten Stimmen von einem Geist gesprochen, der dort sein Unwesen treiben würde. Allerdings wusste Nolan ganz genau, dass sein Vater mehr als einmal ebenfalls dort gewesen war – und jedes Mal äußerst müde zurückgekehrt war. Was er dort gemacht hatte, wusste Nolan selbstredend nicht und im Moment kümmerte es ihn auch nicht weiter, stattdessen nutzte er die Gelegenheit sich im Wald umzusehen. Egal, wohin man sah, überall sprossen Blumen aus dem Boden, das saftige Grün des Laubs und die Sonnenstrahlen, die sich durch das Blätterdach der Bäume kämpften, gaben diesem Ort zusätzlich eine gewisse Schönheit und verliehen ihm auch etwas Geheimnisvolles. Obwohl er den Gesang vieler unterschiedlicher Vögel hören konnte und er auch spüren konnte, dass Eichhörnchen und Kaninchen sich hinter seinem Rücken umherbewegten, konnte er kein einziges Tier sehen. Wann immer er sich umsah, entdeckte er nur weitere Bäume und Blumen. Erst als er das Zentrum des Waldes erreichte, fand er etwas anderes. „Hm? Was ist das?“ Nolan stand vor einem seltsam geformten, großen Stein mit vielen breiten Rissen, aus denen eine Vielzahl von Blumen hervorsprossen. Etwas in seinem Inneren reagierte darauf, sein Herz begann augenblicklich zu schmerzen, er hatte das Gefühl, einmal mit Landis hier gewesen zu sein. In ihrer Kindheit waren sie wahrhaftige Rabauken gewesen, die nie vor Gefahr zurückgeschreckt waren, um einmal Helden zu werden – aber dieser Ort war nicht dabei gewesen. Seufzend kniete er sich vor dem Stein nieder. „Na bitte, schon denke ich an die Vergangenheit. Deswegen wollte ich nicht hierher zurück.“ Der Gedanke an Landis war nicht leicht zu ertragen, noch immer nicht und er ahnte, dass es noch lange dauern würde, trotz des Versprechens, dass sie sich bald wiedersehen würden, da sie immerhin nach wie vor die besten Freunde waren. Bei näherer Betrachtung des Steins entdeckte er einen eingeritzten Text, den man wegen der vielen Risse nicht mehr richtig lesen konnte. Mit einem Schmunzeln stellte er sich vor, dass irgendjemand an diesem Ort eine Liebeserklärung verfasst hatte und bedauerte, dass er die Worte nicht lesen konnte „Entschuldigung?“, sprach ihn plötzlich jemand von hinten an und er erschrak innerlich, da er nicht damit gerechnet hatte hier auf jemanden zu treffen. Er erhob sich wieder und nahm die unerwartete Gesellschaft in Augenschein. Es handelte sich um eine Frau. Sie war fast genauso groß wie er selbst, dafür aber zierlich gebaut. Feuerrotes, langes Haar hing zu einem Zopf zusammengeflochten über ihre rechte Schulter und ein rehbraunes Augenpaar blickte ihn hilfesuchend an. Ihr schneeweißes, mit Rüschen bestücktes Kleid war an einigen Stellen verdreckt, so als hätte sie sich damit irgendwo auf die Erde gesetzt. Seiner Schätzung nach war sie etwas jünger als er. Alles in allem entsprach sie genau der Art von Frau, der er in jeder Notlage helfen würde, für einen Moment vergaß er sogar all seine Bedenken und Nadia. „Was kann ich für Sie tun, Fräulein?“, antwortete er routiniert freundlich mit einer Gegenfrage. Erst zog sie beide Augenbrauen zusammen, als würde ihr etwas an seiner Ausdrucksweise nicht passen, aber offenbar empfand sie es nicht als wichtig, das anzusprechen. „Kommen Sie zufällig von hier?“ „Ich habe hier meine Kindheit verbracht, also ja.“ „Oh.“ Die junge Frau fing an amüsiert zu kichern. „Sie sind wohl Kavallerist oder so, was?“ „Kommandant“, fügte Nolan hinzu und musste bei dem Gedanken an die undisziplinierten Kavalleristen, die nun wohl über seine Abwesenheit feierten, erneut seufzen. „Woran haben Sie das gemerkt?“ Schließlich war er in Urlaub und demnach in Zivil unterwegs. Andererseits war er Kommandant, also war es wiederum nichts allzu ungewöhnliches, wenn er irgendwo erkannt wurde. Doch da sie ihn nicht als diesen, sondern als Kavallerist eingestuft hatte konnte er nur annehmen, dass ihre Vermutung auf etwas anderes zurückzuführen war. „Sie klangen so danach, so einstudiert freundlich.“ Sie runzelte ihre Stirn, um damit auszudrücken, dass ihr das gar nicht gefiel, er dagegen neigte verwirrt den Kopf. Einstudiert freundlich? So hatte man es auch noch nicht ausgedrückt. Aber er musste zugeben, dass etwas daran war, immerhin hatte er bei Antritt seines neuen Postens, erst einmal einige Unterrichtsstunden im Thema Führungsverhalten von Kenton bekommen – und einstudierte Freundlichkeit und Höflichkeit waren dem Berater im Umgang mit der Öffentlichkeit äußerst wichtig gewesen. Ehe er etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort. „Ich habe einen ziemlich schlechten Orientierungssinn und habe mich verlaufen. Ich wollte nach Cherrygrove, um mir dort die Kirschblüten anzuschauen, von denen man sich so viel erzählt.“ Er fand das regelrecht... süß, wie er zugeben musste. Besonders ihr leicht verwirrter Gesichtsausdruck, der in ihm den Wunsch weckte, sie an der Hand zu nehmen und mit sich zu führen, damit sie ihm nicht verlorenging. „Kein Problem, ich wollte auch dorthin und kann Sie also begleiten.“ Er nickte der Frau zu und schenkte seine Aufmerksamkeit noch einmal dem Stein. Neben ihn tretend betrachtete sie diesen ebenfalls, da er anscheinend sehr abwesend dabei aussah und somit ihr Interesse geweckt hatte. Neugierig fragte sie nach, ob dieser Stein eine besondere Bedeutung für ihn habe, doch er zuckte nur unsicher mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wenn ich hier stehe habe ich nur so das Gefühl, einem alten Freund zu begegnen, dabei war ich hier noch nie.“ Zumindest nicht, dass er sich daran erinnern würde. Er und Landis hatten nicht oft auf die Erwachsenen gehört, aber er erinnerte sich gut daran, dass Landis' Mutter Asterea ihnen oft ein Märchen über ein Mädchen erzählt hatte, das wegen seines Ungehorsams auf immer und ewig in einem Wald herumirren musste – und zumindest Nolan war viel daran gelegen, ein solches Schicksal zu umgehen, immerhin hätte das seinem Plan, ein Held zu werden, ernsthaft behindert. Aufgeregt klopfte die Frau ihm auf die Schulter. „Ich auch! Mich hat auch so ein Gefühl hierher gezogen und ich glaube, diesen Wald zu kennen, obwohl ich zum ersten Mal hier bin.“ Darauf zog Nolan eine Augenbraue hoch und grinste leicht. „Ich dachte, Sie hätten sich verlaufen?“ „Nicht ganz.“ Sie winkte mit einem Lächeln ab. Eine Weile blieben sie einfach stehen, sagten kein Wort und betrachteten jeder in Gedanken verloren den Stein vor sich, aber egal wie lange er sich darüber den Kopf zermarterte, es fiel ihm einfach nicht ein, als ob die entsprechende Erinnerung sich irgendwo in den tiefsten Abgründen seines Gedächtnisses befinden würden, wo er sie nicht erreichen könnte. Also gab er auf, deutete in eine bestimmte Richtung und setzte sich gemeinsam mit der Fremden in Bewegung. Wie er es anstellte, war auch für ihn immer ein Mysterium gewesen, aber es war ihm von klein auf möglich gewesen, sich anhand der geringsten Anzeichen überall zu orientieren, um genau dorthin zu kommen, wohin er wollte. Die wenigen Male, bei denen das nicht der Fall gewesen war, vergaß er lieber, auch wenn ihn das manchmal zu interessanten Begegnungen geführt hatte. Auf dem Weg nach Cherrygrove unterhielten er und die Fremde sich ausgiebig miteinander und kamen auf allerlei Themen zu sprechen, wobei sie beide das Gefühl hatten sich mit einem Freund zu unterhalten, den sie ewig nicht gesehen hatten – und dessen Namen sie nicht wussten. „Sie sind also wegen den Kirschblütenbäumen hier“, wiederholte er interessiert. „Also eine Reisende?“ Das war nichts Seltenes wie er wusste. Schon während seiner Kindheit waren die Kirschbäume in Cherrygrove in ganz Király berühmt gewesen. Reisende waren gekommen, um sie in ihrer Blüte zu bewundern, Paare waren von überall her in das kleine Dorf gereist, um sich unter den Bäumen die Treue zu schwören, denn eines der bekanntesten und auch schönsten Gerüchte, die sich um das Dorf rankten, war immer jenes gewesen, dass ein unter den den blühenden Bäumen geschlossenes Versprechen, auf ewig halten würde. Nolan erinnerte sich gut daran, dass Kieran und auch Richard ihm oft erzählt hatten, dass das gesamte Dorf unter dem Segen eines bestimmten Naturgeistes stand – nur dummerweise war ihm der Name entfallen. „Kann man so sagen“, sagte die Frau. „Ich bin derzeitig auf Erkundungstour…“ Er beneidete sie regelrecht darum. In diesem Moment erinnerte er sich wieder einmal daran, dass er als Kind auch immer davon geträumt hatte, das gesamte Land zu erkunden – genau wie Kieran es aufgrund seines Berufs getan hatte. Wann war ihm dieser Wunsch nur abhanden gekommen? „Sie brauchen übrigens nicht so förmlich zu sein“, fuhr sie plötzlich fort, „das mag ich nicht so.“ Schmunzelnd kratzte er sich am Kopf. „Aber Sie sind doch selber auch so förmlich.“ Und wenn er eines von Kenton gelernt hatte, dann war es, niemals von selbst irgendjemanden vertraut anzusprechen. Er war nun nicht mehr nur Nolan, der beste Freund aller Fremden, er war Nolan Lane, der Kommandant der stolzen und ehrwürdigen Kavallerie von Király und sollte der von ihm erwarteten Höflichkeit daher nicht im Mindesten nachstehen, wenn er kein schlechtes Licht auf die gesamte Kavallerie werfen wollte – und das lag nun wirklich nicht in seinem Interesse, selbst wenn er sich dafür ein wenig verbiegen musste. „Nur weil Sie angefangen haben.“ Unschuldig pfeifend faltete sie die Hände ineinander, was ihn leise lachen ließ. Diese Frau erschien ihm doch recht sympathisch, noch dazu tat es ihm gut, sich mit jemandem zu unterhalten, den er noch nicht kannte, der keine Erwartungen an ihn hatte, die er erfüllen musste und auch keine Erinnerungen an ihn, denen er nicht einmal mehr im Mindesten gerecht wurde. Allerdings hatte er auch nie Schwierigkeiten gehabt, neue Leute kennenzulernen, er war immer sehr kontaktfreudig gewesen und daher störte es ihn auch nicht, wenn sie Förmlichkeiten nicht so leiden konnte und lieber gleich per Du sein wollte – schon allein weil er normalerweise auch lieber jeden vertraut ansprach und jede Person, die er traf, mit Spitznamen bedachte. „Wie du willst“, betonte er. „Mein Name ist Nolan, und deiner?“ Ihn sichtlich zufrieden anlächelnd, neigte sie den Kopf leicht zur Seite. „Ich heiße Nel.“ Kaum hatte sie das gesagt, spürte er erneut diesen Stich in seiner Brust, er war nicht schmerzhaft, so wie er es oft gespürt hatte, wenn er von Liebeskummer überfallen worden war, es schien ihm eher als würde eine warme Hand an sein Herz klopfen, in der sicheren Überzeugung, dass die Erinnerung, die er suchte, dort verborgen war. Egal wie kitschig das für ihn klang – er war regelrecht froh darüber, dass niemand seine Gedanken mitbekam. Ein wenig verlegen senkte sie den Blick. „Irgendwie habe ich den Eindruck, deinen Namen schon einmal gehört zu haben, No.“ Sie war direkt zu der Koseform seines Namens übergegangen, was ihn nicht im Mindesten störte, nicht zuletzt weil er ohnehin das Gefühl hatte, sie schon lange zu kennen. „Das habe ich bei deinem Namen auch“, gab er zu. „Fast so als wären wir uns irgendwann schon einmal begegnet.“ Sie lachte leise. „Vielleicht in einem anderen Leben.“ Er lächelte über diese Annahme, nicht weil er sie für vollkommen haltlos befand, immerhin glaubte er an wirklich viele Dinge, Reinkarnationen, Naturgeister, Dämonen.. alles Dinge, an die er schon als Kind geglaubt hatte und die ihm durch Landis' Geschichte endlich bestätigt worden waren. Als ihm sein Freund wieder einfiel, verdüsterte sein Gesicht sich erneut, was ihr sofort auffiel, aber wieder sprach sie es nicht an. Sie wandte ihm den Blick zu. „Wenn du Kommandant der Kavallerie bist, warum bist du dann zu Fuß auf dem Weg nach Cherrygrove?“ „Wenn ich mit einem Pferd unterwegs wäre, würde ich ja noch früher ankommen“, brummte er, worauf sie fragend die Stirn runzelte und er sich hastig räusperte. „Eigentlich wollte ich gar nicht nach Cherrygrove, aber der Berater der Königin hat mich in den Zwangsurlaub geschickt, damit ich mich bei meiner alten Ärztin untersuchen lassen kann.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe meine Kavalleristen in letzter Zeit wohl nicht so gut behandelt.“ Sie ging gar nicht weiter auf dieses Thema ein, was ihn durchaus erleichterte, dafür lächelte sie direkt wieder. „Oh, dann hast du ja genug Zeit, mir einige Dinge in Cherrygrove zu zeigen.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Sicher, kein Problem.“ Im Moment dachte er nicht einmal mehr im Mindesten daran, dass Nadia am nächsten Tag nachkommen wollte und er deswegen eigentlich sein Elternhaus säubern wollte. Stattdessen spürte er zum ersten Mal seit Langem wieder eine gewisse Form der Vorfreude auf sein altes Zuhause und vergaß deswegen für den Moment all seine negativen Gedanken. Kapitel 3: Cherrygrove ---------------------- Cherrygrove war schon immer ein hübscher Ort gewesen. Ein ruhiges Dorf, umgeben von Wäldern, Heimat eines ehemaligen Waisenhauses, dessen letzter Bewohner vor dreißig Jahren in die Volljährigkeit gekommen war, weswegen es danach zu einer Mädchenschule umfunktioniert worden war, die sich rasant ein hohes Ansehen erarbeitete und dafür bekannt wurde, dass viele ihrer Absolventinnen danach auf Elite-Universitäten wechselten oder einen hohen Posten in den unterschiedlichsten Einrichtungen bekamen. Daneben wurden auch die Kavalleristen in diesem Dorf ausgebildet, damit wurde die weiträumigen Felder und Koppeln rund herum genutzt, um jungen Menschen das Reiten, das Kämpfen und alle wichtigen Etiketten, gepaart mit einer gesunden Portion Allgemeinwissen zu vermitteln. Alle zwei oder drei Jahre wurde dann wieder eine Handvoll frischgebackener Kavalleristen nach New Kinging geschickt, wo sie ihren letzten Schliff erhielten und nicht selten bereits in der Probezeit unter den reellen Anforderungen nachgaben und die Kavallerie verließen. Das Namensgebende an diesem Dorf und der Grund für die meisten Besuche von Touristen waren allerdings die unzähligen Kirschbäumen, deren zartrosa Blüten sich in jedem Frühjahr wie Schnee auf die Wege und die Dächer legten. Gemeinsam mit Landis hatte Nolan einmal versucht, alle Bäume zu zählen, doch es war ihnen bald zu lästig geworden, so dass sie nie über 26 hinausgekommen waren. 26... in jenem Alter befand sich Nolan, als er nach acht Jahren erstmals wieder heimkehrte. Während er feststellte, dass es aussah als hätte sich nichts geändert, fühlte er sich erneut an Landis erinnert. So musste sein Freund sich nach seiner Rückkehr gefühlt haben, diesen Hauch Melancholie, der einem einen fast schon wohltuenden Stich ins Herz versetzte, gefolgt von der Erkenntnis, dass man endlich nach Hause zurückgekehrt war – nur um gleich darauf festzustellen, dass das Zuhause nicht mehr existierte, obwohl es sich in Griffweite und direkt vor den eigenen Augen befand. Doch statt etwas deswegen zu sagen, stieß er nur die angehaltene Luft aus. Nel wandte ihm den Blick zu, worauf er ihr zulächelte. „Ich muss jetzt erst einmal zu einer Untersuchung, ich würde vorschlagen, dass du dich solange ein wenig umsiehst. Zu dieser Jahreszeit ist es hier immer besonders schön.“ Für einen Moment schien es ihm als würde sie sich ihm aufdrängen wollen, aber schon im nächsten Augenblick nickte sie zustimmend. „Aber wo treffe ich dich, wenn du fertig bist?“ Er deutete einen der Wege hinunter, der, im Gegensatz zu den Straßen in sonstigen Städten in Király, nicht gepflastert war. „Am Ende dieses Weges steht ein verlassenes Haus, dort werde ich später hingehen, wir können uns dann da treffen.“ Sie prägte sich das ein, dann nickte sie und ging davon. Er blickte ihr hinterher und bemerkte dabei, dass sie auch die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich zog, während sie an diesen vorbeiging. Aufgrund ihres Aussehens und der ungewöhnlichen, aber wohltuenden Aura, die sie umgab, kam das für ihn aber auch nicht im Mindesten überraschend. Doch schließlich verschwand sie aus seinem Blickfeld und er beschloss, sich selbst auf den Weg zu machen. Lächelnde, altbekannte Gesichter grüßten ihn, was von ihm jedes Mal aufs Neue vergnügt erwidert wurde, obwohl ihm nicht wirklich der Sinn danach stand. Zu einigen Gesichtern fehlte ihm ohnehin der komplette Name oder jegliche Erinnerung, warum er diese Person kennen sollte. Lediglich die vertraute Anrede eben jener verriet ihm, dass er sie wohl eigentlich kannte. Statt einen Umweg über irgendeinen Ort zu machen, den er schon lange nicht mehr gesehen und vermisst hatte, suchte er ohne Umschweife die Praxis auf, in der Kentons Mutter ihre Patienten zu behandeln pflegte. Bei dem Gedanken an die strenge, aber herzensgute Ärztin widersetzten seine Mundwinkel sich seinem sonstigen Befinden und verzogen sich zu einem Lächeln. Er erinnerte sich noch lebhaft an all die Standpauken, die er und Landis von ihr bekommen hatten, wenn sie wieder mal verletzt bei ihr aufgetaucht waren. Aber genausogut erinnerte er sich auch an ihre sanfte und gefasste Stimme, als das verletzte Eichhörnchen gestorben war, das sie ihr zu Heilung gebracht hatten. Landis' andauerndes Heulen nach diesem Ereignis, war ihm auch noch gut im Gedächtnis. Auch im Inneren der Praxis schien sich absolut nichts geändert zu haben. Der Geruch der Desinfektionsmittel kitzelte noch immer in seiner Nase, das im Raum vorherrschende Weiß brannte in seinen Augen – aber mittendrin, als wäre sie nie fort gewesen, saß Kentons Mutter immer noch an ihrem Schreibtisch und notierte sich etwas auf einer Akte. Das einstmals kräftige schwarze Haar war inzwischen weitaus dünner und wesentlich blasser, ihr Gesicht von den ersten Falten gezeichnet und die dunklen Augen so erbarmungslos wie eh und je – und doch lächelte sie, als sie ihn sah. „Wenn das mal nicht der kleine Nolan ist. Meine Güte, bist du groß geworden. Ich erinnere mich noch daran, als du klein genug warst, um unter einem Zaun hindurchzukriechen.“ „Daran erinnere ich mich lieber nicht“, erwiderte er gequält. Eine der längsten Narben auf seinem Rücken stammte nicht von Kieran, sondern von erwähntem Zaun – er war eben doch nicht klein genug dafür gewesen. Doch statt dem weiter nachzuhängen, lächelte er wieder. „Es ist schön, dich mal wiederzusehen, Tante Yuina.“ Skeptisch hob sie eine Augenbraue. „Seit wann bist du so förmlich? Früher nanntest du mich selbst gegen meinen ausdrücklichen Wunsch nur Tante Yu, damit kannst du gern fortfahren.“ „Geht klar“, entfuhr es ihm erleichtert. „Also, weißt du, warum ich hier bin?“ Sie neigte den Kopf ein wenig und hob einen Brief, der sich auf ihrem Schreibtisch befand. Nolan erkannte sofort die saubere und klare Schrift von Kenton, die jedem Beamten vor Neid die Tränen in die Augen getrieben hätte. „Kenton hat mir bereits von dir berichtet, diese Untersuchung war meine Idee.“ Es überraschte Nolan ein wenig, dass sie sich offenbar solche Gedanken um ihn gemacht hatte, besonders nachdem er immer der Meinung gewesen war, dass sie ihr ganzes Leben lang eher genervt von ihm gewesen war. Wie üblich tauschte sie keine weiteren Begrüßungsfloskeln oder Erinnerungen mit ihm aus, sondern forderte ihn dazu auf, seinen Oberkörper freizumachen und sich auf die Liege zu setzen, die an der Wand stand. Das braune Leder war abgegriffen und an vielen Stellen bereits mit schwarzen Flicken versehen, die Erinnerungen an all die Male, an denen er auf dieser Liege gesessen oder gelegen hatte, ließ ihn unwillkürlich lächeln, auch wenn ihm das direkt danach wieder verging. Yuina bat ihn, sich ein wenig zur Seite zu drehen, damit sie seinen Rücken untersuchen konnte, genau wie damals bereits. Sie betrachtete ihn eingehend, ehe sie vorsichtig über die Narben strich, um festzustellen, ob er Schmerzen hatte dadurch. „Es scheint, dass keine neuen Verletzungen dazugekommen sind“, stellte sie tonlos fest. „Seit Papas Tod habe ich darauf geachtet, dass keine neuen Narben dazukommen. Sie tun bislang ohnehin schon weh genug.“ Sie gab ein verstehendes Geräusch von sich, sagte aber erst einmal nichts weiter darauf, so dass er wieder in seinen Erinnerungen versinken konnte. Aber etwas stimmte daran nicht, wie er plötzlich selbst feststellte. Bislang waren all seine Erinnerungen an die Nächte, in denen Kieran ihm Narbe um Narbe zugefügt hatte, tief in sein Gedächtnis gebrannt gewesen, jedes kleinste Detail, sogar der Geruch von Alkohol war so präsent gewesen, als stünde Kieran immer noch neben ihm. Aber als er nun, nach so vielen Jahren, wieder einmal bewusst daran denken wollte, war alles verschwommen, unwirklich so als wäre das gar nicht seine Erinnerung, sondern die eines anderen, die ihm nur aufgebürdet worden war. Er wusste, er müsste sich eigentlich darüber freuen, dass er endlich frei von diesen Ketten sein könnte, wenn das so weiterging, aber gleichzeitig fachte es aus irgendeinem Grund sein Misstrauen an. Etwas stimmte nicht und er wollte wissen, was es war. „Ich weiß, du willst es möglicherweise nicht hören...“ Yuinas Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen und trotz ihrem einleitenden Satz war er doch recht gespannt, was sie ihm in diesem Moment erzählen wollte. „Vermutlich erinnerst du dich nicht einmal mehr daran, aber nach jeder neuen Verletzung, brachte Kieran dich immer zu mir.“ Das hatte Nolan nicht mehr gewusst, aber als sie es erwähnte, glaubte er tatsächlich, sich wieder daran zu erinnern, wie er mehr tot als lebendig, überaus müde, auf dem Sofa in Yuinas Wohnzimmer lag, eine dunkle Decke unter sich, die sein Blut gierig in sich aufsaugte, er hörte die gedämpften Stimmen von Yuina und Kieran, die sich miteinander unterhielten, ohne dass er genaue Worte ausmachen konnte. Aber diese Erinnerung war derart diffus, neu und unbekannt für ihn, dass er nicht wusste, was er davon halten sollte und deswegen wieder Yuina lauschte, als sie fortfuhr: „Kieran war immer seltsam gewesen, ein wenig emotionsarm, selbst nach Aydeens Tod hat er nicht geweint. Aber jedes Mal, wenn er wieder mit dir bei mir auftauchte, wirkte er so als ob er direkt in Tränen ausbrechen wollte. Deswegen fiel es mir immer schwer zu glauben, dass er-“ „Aber die Verletzungen sollten dir doch Beweis genug gewesen sein“, unterbrach er sie, zugegeben ein wenig zornig. „Wie konntest du da noch zweifeln?“ Yuina hielt inne, die Hand immer noch auf einer seiner Narben ruhend. Sie wartete, bis er nicht mehr derart zitterte, dass sie befürchten musste, ihn mit jedem falschen Wort dazu zu bringen, zu verschwinden. „Welche Instrumente hat Kieran benutzt?“ „Keine“, erwiderte er mit zusammengepressenen Zähnen. „Er hat nur seine Fäuste benutzt.“ Wieder versuchte er, sich einen dieser zahllosen Abende in Erinnerung zu rufen, in denen er unter Kierans Schlägen gelitten hatte. Aber stattdessen sah er sich plötzlich gemeinsam mit seinem Vater in einem Wald, mitten in der Nacht, ein überraschter Ausruf erklang und dann spürte er einen brennenden Schmerz in seinem Rücken, der jenem ähnelte, den man erlitt, wenn man sich mit einem Messer schnitt, nur wesentlich schlimmer. Direkt danach konnte er hören, wie Kieran seinen Namen rief, besorgt, fast schon panisch. Aber er war sich absolut sicher, dass das alles nie geschehen war und sein Gehirn gerade nur eine seltsame Geschichte zusammenspann, um Kieran wieder in eine Heldenrolle zu rücken. Als er Yuinas folgende Worte hörte, verlor er allerdings sämtlichen Glauben an sein eigenes Gedächtnis, das er zumindest in diesem Bereich immer als überaus zuverlässig betrachtet hatte: „Das kann nicht sein. Ich habe all deine Verletzungen behandelt und ich kann dir versichern, dass bis auf eine einzige, die du dir durch diesen Zaun zugezogen hast, sie alle von einer ungleichmäßigen – und giftigen – Klinge verursacht wurden.“ Obwohl sie eine Dämonin war, musste sie zugeben, dass sie – nach all den Tagen, die sie nun bereits in Cherrygrove verbracht hatte – die Menschenwelt doch zu schätzen gelernt hatte. Das Essen war geradezu köstlich (wenn auch nicht wirklich gut gewürzt), die Luft durchaus angenehm (wenn man sich erst einmal an die fehlende Hitze, die so wohltuend in der Lunge brannte, gewöhnt hatte), die Menschen waren sehr amüsant zu beobachten (besonders wenn sie sich miteinander stritten) und zuguterletzt waren in dieser Stadt auch die Kirschbäume sehr schön anzusehen. Nicht unbedingt aus den Gründen, die von den nicht-sehenden Menschen angegeben wurden. Mit ihren Augen konnte sie einiges mehr sehen, nicht nur die Barriere des Jägers um das Haus herum, in dem der von ihr gesuchte Gegenstand war, sondern auch das, was die Faszination dieser Bäume ausmachte und weswegen die darunter ausgesprochenen Versprechen stets wahr wurden: Jeder einzelne Baum war von einer dünnen Schicht Magie umgeben, dunkelblaue, fast schon schwarze, Funken hatten sich um die Stämme, jeden Ast und auch jede einzelne Blüte versammelt und einen lückenlosen Mantel gebildet. Es war die Magie eines Naturgeistes, eigentlich war auch diese geradezu Gift für Dämonen wie sie, aber in diesem Fall gehörte sie zu einem dunklen Naturgeist, diese war der Magie ihrer Art äußerst ähnlich und war so eher ungefährlich für sie. Aber sie war doch recht erstaunt, dass dunkle Magie etwas so Schönes schaffen konnte. Wer immer der entsprechende Naturgeist war, als er seinen Zauber über dieses Dorf gelegt hatte, musste er wirklich sehr glücklich gewesen sein. Nur dummerweise half ihr alles Bewundern immer noch nicht bei ihrem Problem. Das Haus war ihr immer noch verschlossen, das, was sie suchte, damit unerreichbar für sie. Fast schon spielte sie mit dem Gedanken, irgendjemanden darum zu bitten, ihr das Gewünschte herauszubringen, wenn sie nur genug bettelte, so wusste sie auch, dass es in diesem Fall absolut nichts bringen würde. Die Menschen verabscheuten dieses Haus geradezu und bedachten es nicht einmal mit Blicken, wenn sich das vermeiden ließ. Keiner von ihnen würde auch nur einen Schritt hineinsetzen. Ihr Blick wanderte über die einzelnen Menschen, die sie alle schon einmal gesehen hatte, offensichtlich lebten sie hier. Aber dann entdeckte sie plötzlich eine neue Person, die schon allein anhand ihrer Bewunderung für die Bäume als neu eingetroffene Touristin erkennbar war. Das feuerrote, zu einem Zopf gebundene, Haar wirkte ebenfalls nicht sonderlich natürlich für Menschen, weswegen auch sie immer wieder neugierig von den Bewohnern betrachtet wurde. Aber für sie war dieser Neuzugang noch wesentlich mehr als nur eine Touristin. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten Lächeln, als ihr bewusst wurde, dass die Lösung ihres Problems gerade vor ihr stand. Wenn sie sich jetzt, aus welchem Grund auch immer, wirklich in dieses Haus begeben würde, dann wäre die Barriere vorübergehend außer Kraft gesetzt. Während sie darüber nachdachte, wie sie das am besten bewerkstelligen sollte, ahnte sie noch nicht einmal im Mindesten, dass sich das bald von ganz allein klären würde. Kapitel 4: Erinnerungen ----------------------- Immer noch reichlich verwirrt und mit mehr Fragen als je zuvor beladen, verließ Nolan die Praxis wieder. Auch Yuina wusste nicht, was ihm damals zugestoßen war, Kieran wollte es ihr offenbar nie verraten, sie erinnerte sich aber noch daran, wie er immer herumgedruckst hatte, wenn es um diese Frage gegangen war. Immerhin hatte sie ihm aber bestätigen können, dass er körperlich gesehen gesund war, er sollte nur für eine Weile versuchen, dem Stress aus dem Weg zu gehen, weil sogar sie seine Anspannung bemerkt hatte. Also würde er wohl länger in Cherrygrove bleiben müssen. Er hoffte nur, dass die Kavallerie wirklich ohne ihn klarkam. Auf dem Weg zu seinem Treffpunkt mit Nel, überlegte er wieder, was wohl schuld an seinen seltsamen Erinnerungen war und was davon denn nun der Wahrheit entsprach. Außerdem warfen ihn diese neuen Erkenntnisse in verwirrendes Wechselbad der Gefühle. Einerseits war er erleichtert, weil Kieran ihn offenbar doch nicht misshandelt hatte, dann aber war er auch verärgert, weil er das Verhalten seines Vaters so noch weniger verstand, denn dessen Beschimpfungen hingen ihm immer noch im Ohr... aber wenn er genauer darüber nachdachte, dann stimmte das auch nicht so recht. Ja, diese Tiraden von Kieran hallten noch in seinem Inneren wieder, aber er war sich nicht wirklich sicher, ob er damit gemeint gewesen war. Wenn Nolan anwesend gewesen war, hatte Kieran meistens geschwiegen, stur auf seine Zeitung oder etwas anderes gestarrt, das gerade seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte und nur die nötigsten Worte mit ihm gewechselt, aber das war schon immer so gewesen, auch zu Lebzeiten Aydeens. Diesen Beschimpfungen hatte Nolan immer nur durch geschlossene Türen gelauscht... vielleicht waren sie gar nicht gegen ihn gerichtet gewesen? Er wünschte, Kieran würde noch leben, damit er diesen fragen könnte, auch auf die Gefahr hin, dass er keine Antwort erhalten oder – schlimmer noch – Prügel beziehen würde. Nel riss ihn aus den Gedanken, indem sie die Hand hob, als sie ihn bereits von weitem näherkommen sah. „Tuturu~“, flötete sie melodisch, ein Laut, der ihn verwirrt die Brauen zusammenziehen ließ. Vor ihr blieb er wieder stehen und neigte den wenig den Kopf. „Was soll das denn bedeuten?“ Sie lachte verlegen, dabei legte sie die zuvor erhobene Hand auf ihren Hinterkopf. „Eines der Kinder hier hat es mir beigebracht. Das sagen die Kinder und Jugendlichen heutzutage anscheinend anstatt einer Begrüßung.“ „Tun sie das?“, fragte er verwundert. „Das habe ich noch nie gehört... aber gut, ich habe selten etwas mit Kindern zu tun, denke ich.“ Wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er eigentlich nur mit Emily zu tun und das auch nur, weil sie die Tochter von Oriana war, mit der er wiederum nur wegen Landis und Frediano befreundet war – und schon wieder kehrten seine Gedanken zu den Verstorbenen zurück und trübten seine Stimmung. „Alles in Ordnung?“, fragte Nel besorgt, die den Umschwung durchaus bemerkt hatte. Er bemühte sich sofort, wieder zu lächeln und nickte. „Wollen wir dann reingehen?“ Diesmal war es an ihr, verwundert den Kopf zu neigen. Sie folgte seinem Fingerzeig mit dem Blick und er konnte richtiggehend beobachten, wie der Schauer über ihren Rücken lief. Er begann bei ihren Schultern, die sich für einen flüchtigen Moment verkrampft zusammenzogen und bewegte sich dann rasch nach unten, was damit endete, dass ihr Körper sich einen Lidschlag lang schüttelte. „Da rein?“, fragte sie schließlich, ihre Stimme einen Ton höher als sonst. Nolan nahm sich einen Moment die Zeit, das Haus ebenfalls zu begutachten, um einen Grund für diese Ablehnung zu finden. Er war lange nicht mehr hier gewesen und fühlte sich dementsprechend auch ein wenig beunruhigt, wenn er das Gebäude zu lange betrachtete. Es war ein unangenehmes Prickeln in seinem Inneren, das ihn dazu bewegen wollte, auf der Stelle kehrtzumachen und sich so schnell wie möglich zu entfernen – aber dadurch, dass er lange darin gelebt hatte, konnte er diesem Gefühl ganz einfach widerstehen und irgendwo hinter diesem Fluchtinstinkt spürte er auch einen Hauch von Freude, wieder einmal hineinzugehen, in all den zurückgebliebenen Gegenständen zu wühlen und dabei wundervolle Erinnerungen an früher wieder wachzurufen. „Ja, da rein“, bestätigte er schließlich. Es war wohl sein bestimmtes und furchtfreies Auftreten, das sie schließlich einknicken ließ und dafür sorgte, dass sie ihm folgte. Wenige Schritte vor der Tür hielt sie aber noch einmal inne und deutete mit vor Begeisterung glänzenden Augen auf etwas im Vorgarten. „Was ist das denn?“ Er folgte ihrem Fingerzeig und erneut wurde ihm das Herz schwer. Es war der noch junge Spross eines Baumes, etwas weniger als einen Meter hoch und trotz der kräftigen grünen Blätter auch zart und zerbrechlich, aber dank seiner Biegsamkeit ideal geeignet, um jedem Sturm zu trotzen, bis die Wurzeln einmal stark genug sein würden, um ihn vor einem Sturz zu bewahren. „Das ist ein Dipaloma-Apfelbaum“, erklärte Nolan. „Oder zumindest wird er mal einer, wenn er groß ist.“ Er unterbrach sich selbst, um leise zu lachen. „Als mein Vater noch Händler war, brachte er mir von jeder Reise einen oder mehrere Dipaloma-Äpfel mit, weil das meine Lieblingssorte ist. Er sagte außerdem, ich solle die Kerne vergraben und mir etwas wünschen – wenn die Kerne keimen, wird der Wunsch wahr.“ „Oh“, entfuhr es Nel begeistert. „Und was hast du dir bei diesen Kernen gewünscht?“ Hätte sie ihn bei eventuellen Sprösslingen hinter dem Haus gefragt, wäre ihm die Antwort selbst nicht mehr eingefallen, denn dort hatte er jene Kerne seiner Kindheit vergraben, mit teilweise so absurden Wünschen wie einem sich nie ändernden Alltag oder ewige Jugend – oder sogar der Bitte, seine Mutter zurückzubekommen. Im Vorgarten dagegen war nur ein einziger Kern gepflanzt worden, mit nur einem Wunsch: Landis' Rückkehr. Er hatte sich tatsächlich erfüllt und nun wuchs an dieser Stelle ein Baum, Kierans Prophezeiungen waren in Erfüllung gegangen, aber Landis war auch wieder fort und obwohl er gesagt hatte, dass sie sich wieder begegnen würden, glaubte Nolan noch nicht so recht daran. „Es ist doch unwichtig“, sagte er. „Lass uns lieber reingehen.“ Zu seinem Glück bestand sie auch nicht weiter darauf, sondern folgte ihm weiter. An der Tür hielt er noch einmal inne, um diese aufzuschließen, was ein wenig dauerte, da es seit dem letzten Mal lange her war und seine Hand noch dazu vor Angst und Freude gleichermaßen zitterte. Aber schließlich gab das Schloss mit einem leisen, fast schon seufzenden Klicken nach und erlaubte ihm, das Innere des Gebäudes zu betreten. Als er seinen ersten Schritt hineintat, hatte er das Gefühl, einem mit einem Vakuum versiegelten Ort zu betreten. Schon an der Schwelle wurde er von dem altbekannten Geruch seiner Eltern umfangen, der selbst nach dem Tod der beiden nie verschwunden war und ihn in seinen Gedanken immer wieder in glücklichere Zeiten zurückgezogen hatte. Sofort wurde er von allerlei Erinnerungen heimgesucht, die alle in Verbindung mit seinen Eltern oder sogar Landis standen. Es war als hätte das Haus das alles nur für den Tag aufbewahrt, an dem er wieder hierher zurückkehren würde. Während er den Geruch für angenehm befand, rümpfte Nel die Nase. „Hier war wirklich schon lange niemand mehr drin, oder?“ „Nachdem ich vor ein paar Jahren ausgezogen bin, dürfte niemand mehr hier hereingekommen sein.“ „Ist dann nicht etwas ein wenig seltsam?“ Erst als sie diese äußerst unspezifische Frage stellte, fiel ihm ebenfalls etwas auf, das nicht so ganz stimmen konnte. Wohin auch immer er blickte, nirgends war auch nur ein Staubkorn auszumachen oder die Spur eines Spinnennetzes, als ob jemand regelmäßig hereingekommen wäre, um sauberzumachen. Wobei, wenn ich mich richtig zurückerinnere... Bereits als er damals noch in diesem Haus gewohnt hatte, war nie sonderlich viel Staub und Dreck darin angesammelt worden, obwohl er viel gespielt und selten am Putzen gewesen war. Damals hatte er nicht viel darüber nachgedacht und später war er überzeugt gewesen, dass irgendeiner der Erwachsenen heimlich bei ihm gewesen wäre, um sauberzumachen. Aber nun zweifelte er selbst daran. „Ein wenig schon“, stimmte er zu. „Aber meine Mutter sagte immer, ich solle ein Wunder lieber nicht hinterfragen.“ Er lächelte ihr zu, schloss dann die Tür und machte sich daran, die Fenster zu öffnen, damit ein bisschen frische Luft durchziehen konnte. Während er die Räume im Erdgeschoss durchlief, hielt er Ausschau nach Staub oder Dreck, konnte aber nirgends welchen finden – und vom Grad der Stickigkeit war er davon überzeugt, dass außer ihm niemand mehr hier drinnen gewesen war, um sauberzumachen. Wie konnte das also sein? Im Wohnzimmer lag noch immer der Teppich, auf dem er als Kind immer mit seinen Bauklötzen gespielt hatte, er glaubte sogar fast, seine Mutter wieder dort sitzen zu sehen, ihr langes schwarzes Haar berührte den Boden, ihr sanftes Lächeln sagte ihm, wie stolz sie auf ihn war. Doch nach einem kurzen Blinzeln war das Bild verschwunden. Ein kurzer Blick in den verwilderten Garten bestätigte ihm schließlich, dass keiner der anderen Kerne gekeimt war, er sich also keinerlei Hoffnungen auf eine Rückkehr seiner Mutter machen musste. Ein genauerer Blick hätte ihm allerdings gezeigt, dass sich durchaus ein winziger Sprössling den Weg aus der Erde gebahnt hatte, allerdings wäre ihm entfallen, mit welchem Wunsch er verbunden gewesen war. Statt diesen zu bemerken, ging er in die Küche, wo Nel bereits stand und neugierig alles begutachtete als würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine solche sehen. „Sag mir nicht, du würdest instinktiv den Wunsch verspüren, uns ein köstliches Abendessen zu kochen“, sagte er lachend, wobei ihm auffiel, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Nel schüttelte mit dem Kopf und deutete auf einen hölzernen Blick auf der Arbeitsplatte. „Mir ist nur aufgefallen, dass hier ein Messer fehlt. Hast du es mitgenommen?“ „Nein. Es muss irgendwo hier im Haus sein, ich glaube, mein Vater hat es mal an sich genommen und nicht mehr zurückgelegt.“ Sie sah ihn fragend an, worauf er sich daran zurückerinnerte, wann er das Messer zuletzt gesehen hatte. Es war einer dieser seltenen Tage, an denen selbst in Cherrygrove Ruhe und Frieden herrschte. Niemand veranstaltete ein Wettrennen quer durch das Dorf, keiner verkündete lautstark, ein Held werden zu wollen und nichts war am Zaun der Hühnerfarm zu entdecken. Man konnte, ohne zu übertreiben, sagen, dass sämtliche Dorfbewohner geradezu vor Erleichterung aufatmeten und die Stille genossen, so sehr, dass sie sich sogar nur flüsternd miteinander unterhielten, um die Ruhe nicht zu stören. Die Personen, die sich normalerweise für jeglichen Aufruhr verantwortlich zeigten, waren noch dabei, sich von ihrer letzten Heldentat zu erholen, wofür sie im Schatten eines Kirschbaums lagen und vor sich hindösten. In der Nacht zuvor waren sie wach geblieben, um einen Geist zu jagen, der die Hühner auf der Farm immer erschreckte – aber er hatte sich als gewöhnlicher Fuchs entpuppt, der nach einer kleinen Verfolgungsjagd das Weite gesucht hatte. Ihr Versuch, im Anschluss zu schlafen war am Schulbeginn gescheitert, also holten sie es einfach am Nachmittag nach. Zumindest versuchten sie es, aber die Ankunft einer Reisenden ließ beide schließlich wieder aufstehen und fragend in ihre Richtung sehen. Aufgrund ihres Umhangs, dessen Kapuze sie tief in die Stirn gezogen hatte, war es keinem von beiden möglich, sie zu erkennen, aber beide wussten sofort, dass sie diese Frau noch nie zuvor gesehen hatten. Allein die erhabene Aura, die von ihr ausging und jeden auf Distanz halten wollte, verriet ihnen das, da sie so etwas noch nie zuvor gespürt hatten – außer vielleicht bei Kieran, aber nicht in diesem Ausmaß. Da sie sich immer wieder suchend umsah, beschlossen beide, ihr Hilfe anzubieten, was sie mit einem Lächeln registrierte. „Das ist sehr lieb von euch, Jungs. Ich suche nach einem Mann namens Kieran, kennt ihr ihn vielleicht?“ Landis neigte ein wenig den Kopf, während Nolan direkt nickte. „Klar, das ist mein Vater. Wir können Sie zu ihm bringen.“ Interessiert musterte sie ihn daraufhin noch einmal genauer, dann verwarf sie den ihr eben gekommenen Gedanken aber offenbar sofort wieder und lächelte erneut. „Ich bitte darum.“ Die beiden begleiteten die junge Frau zu Kierans Haus und betrachteten sie dabei gleichermaßen neugierig von der Seite. Sie kam nicht von hier, möglicherweise nicht einmal aus der näheren Umgebung, dafür war ihre Haut zu braun gebrannt und der Umhang aus einem ihnen unbekannten Stoff. Wer immer sie war, sie musste einen weiten Weg auf sich genommen haben, um zu Kieran zu kommen – aber was könnte sie von ihm wollen? Nolan hing ein wenig seinen Gedanken und seinen Vorstellungen nach, möglicherweise war sie eine alte Kundin von Kieran, die nun gekommen war, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Aydeen würde das sicherlich nicht begeistern, auch wenn sie es nicht zeigen würde, so wie er sie kennengelernt hatte. Statt sich weiter darüber Gedanken zu machen, betraten sie das Haus und fanden Kieran in der Küche. Er saß dort und las wie üblich in der Zeitung, auch wenn Nolan oft den Eindruck hatte, dass er diese nur als Schutzschild benutzte und um sich beschäftigt zu geben. Von Aydeen war nichts zu sehen, vermutlich war sie einkaufen oder verbrachte ihre Zeit bei Asterea. „Was wollt ihr?“, brummte er, ohne aufzublicken. „Wir haben Besuch für dich mitgebracht“, verkündete Nolan euphorisch, worauf Kieran stutzte und tatsächlich die Zeitung senkte. Sein musternder Blick huschte über die Anwesenden und verdunkelte sich, als er an der Fremden hängenblieb. Offensichtlich kannte er sie tatsächlich. „Nolan, Landis, ich möchte, dass ihr uns allein lasst.“ Sein Tonfall war gereizt, mehr noch als sonst, was Landis dazu bewog, seinen Freund am Arm zu ergreifen, um ihn mit sich zu ziehen. Doch Nolan blieb standhaft. „Was ist los, Papa?“ „Raus!“, fauchte Kieran statt einer Erklärung. „Sofort!“ Der Schreck über diese plötzliche Aggressivität sorgte dafür, dass Landis es endlich schaffte, ihn mit sich zu ziehen, bis sie im Freien standen. Doch nun war die Neugierde der beiden Jungen geweckt, weswegen sie um das Haus huschten, bis sie am offenen Küchenfenster angekommen waren und vorsichtig hineinsehen konnten. Sie fürchteten zuerst, entdeckt zu werden, doch stellten sie schnell fest, dass die beiden so sehr in ihr Gespräch vertieft waren, dass es keinen Grund zur Besorgnis gab. Sie standen immer noch, Kieran mit dem Rücken zum Fenster, die Frau hatte ihre Kapuze abgestreift, um ihr weißblondes Haar freizulegen, ihr Blick war auf ihren Gegenüber fixiert. „Ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht zurückkommen werde“, sagte Kieran. „Dieses Kapitel meines Lebens ist abgeschlossen und wird nie wieder geöffnet werden.“ „Ich hatte gehofft, dich umstimmen zu können“, erwiderte sie. „Anfangs.“ Ein hinterhältiges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. „Aber ich habe vorhin deinen Sohn getroffen, mein Lieber.“ Nolan fragte sich, was das bedeuten sollte. Wollte sie ihn entführen, um seinen Vater damit zu erpressen? Oder drohte sie gerade indirekt, ihm etwas anzutun? Es schauderte ihn, wenn er daran dachte, dass es irgendwen geben könnte, der ihm etwas antun wollte, nur wegen seinem Vater. Aber schon im nächsten Moment war dieses Schaudern wieder verflogen, denn Kieran knurrte drohend. „Wehe, du kommst ihm nur einen Schritt zu nahe!“ Normalerweise wurde Nolan nur selten von seinem Vater beschützt oder bekam er es sonst nur nicht mit? Gerade war er sich da gar nicht so sicher. Die Fremde lachte amüsiert. „Was willst du denn tun, wenn ich ihm zu nahe komme?“ Mit einer kaum sichtbaren, unglaublich schnellen Bewegung, griff Kieran hinter sich und zog ein Messer aus dem auf der Arbeitsplatte stehenden Holzblock. Drohend streckte er es der Frau entgegen. „Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, werde ich dafür sorgen, dass du dir wünschen wirst, nie geboren worden zu sein!“ Sie zeigte sich unbeeindruckt, aber Nolan konnte sehen, dass ihre Augen verdächtig glitzerten als würde sie gerade gegen die Tränen ankämpfen. Er dagegen war beeindruckt von dem, was er hier von Kieran zu sehen bekam. Noch nie zuvor hatte er seinen Vater derart emotional für eine Sache eintreten sehen und dass er derjenige war um den es ging, ließ ein angenehmes Gefühl von Sicherheit in seinem Inneren entstehen. „Ich habe keine Angst vor dir“, erwiderte sie und reckte dabei das Kinn in die Höhe, um nicht so verletzlich zu wirken. Aber Kieran schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, er spannte nicht einmal die Schultern an. „Das solltest du aber. Du weißt sehr gut, wozu ich in der Lage bin und wie viele Schmerzen ich einem Menschen bereiten kann.“ Im Gegensatz zu ihr klang seine Stimme plötzlich überraschend ruhig, er wusste sehr genau, dass er die Situation beherrschte und nutzte das auch gekonnt aus. Nolan hätte ihn niemals als so berechnend und taktisch eingeschätzt. Die Fremde sagte nichts mehr, aber ihr Gesicht sprach dafür Bände. Sie war wütend, aber die Furcht vor ihm war wesentlich stärker, weswegen sie zurückwich. „Das wirst du bereuen, Kieran!“ Mit diesen Worten fuhr sie herum und huschte eilig davon. Es dauerte nicht lange, bis sie hörten, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die beiden Jungen setzten sich auf die Erde, ehe Kieran auf die Idee kommen würde, sich umzudrehen und blickten sich fragend an. „Was war das denn?“, flüsterte Landis. Nolan zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung.“ Aber was immer es gewesen war, er mochte diese neue, unbekannte Seite an seinem Vater, die ihm mehr Leben verlieh als sein mürrisches Selbst, das er seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit nicht mehr abzulegen verstand. „Wollen wir wieder rein?“ Nolan nickte und lief bereits voraus, um wieder ins Haus hineinzukommen, wo er vorsichtig in die Küche hineinblickte. Kieran saß wieder am Tisch, allerdings nicht, um in die Zeitung zu sehen, stattdessen hatte er das Messer abgelegt und raufte sich mit den Händen die Haare. Ein Anblick, der dem von eben komplett widersprach und der Nolans Herz berührte. „Papa?“ Kieran zuckte zusammen und hob den Blick, er wirkte erschrocken und gleichzeitig erleichtert, als er ihn erkannte. „Du bist es, Nolan.“ „Alles okay?“ Er bemühte sich zu lächeln, etwas was Nolan schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte. „Ja, alles in Ordnung. Geh ruhig wieder spielen.“ Auch wenn es ihm nicht gefiel, er wusste, dass er nichts würde tun können, um seine Meinung zu ändern, deswegen nickte er zustimmend und drehte sich um, damit er der Anweisung folgen könnte – als er wegen Kierans Stimme noch einmal innehielt: „Eines noch, Nolan. Wenn jemand Fremdes versucht, dich mit sich zu nehmen...“ „Werde ich sofort nach Hilfe rufen und weglaufen“, ergänzte Nolan, worauf Kieran erleichtert nickte und den Jungen seinen Weg fortsetzen ließ. Er blickte auf den Tisch, wo das Messer damals gelegen hatte, an diesem Tag war nichts mehr davon zu sehen. Nel hatte seiner Erzählung, die wesentlich kürzer als seine Erinnerung ausgefallen war, neugierig gelauscht und neigte nun den Kopf. „War ihre Drohung ernst gemeint?“ Nolan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich habe sie danach nie wieder gesehen. Und kurz danach starb meine Mutter, da hatte ich nicht mehr viel Zeit, um über solche Dinge nachzudenken.“ „Wie ist sie gestorben?“ Jemand anderes hätte Nel darauf hingewiesen, dass es nicht sonderlich pietätvoll war, jemanden so etwas zu fragen, aber Nolan seufzte leise. „Sie ist die Treppe hinabgestürzt und war sofort tot.“ „Dann hat dein Vater es wohl wirklich bereut“, sagte Nel – und das stieß etwas in Nolans Inneren an, das ihn einen unangenehmen Schluss ziehen ließ. Ihrem Tonfall nach schien sie selbst aber keine tiefere Bedeutung hinter ihren Worten zu vermuten und meinte es lediglich im übertragenen Sinne, weswegen er nichts sagte und den Gedanken für sich behielt. Vielleicht war es kein Unfall... vielleicht hat diese Frau etwas damit zu tun. Wenn ich mir auch nicht erklären kann, wie sie das angestellt haben soll. Aber das würde erklären, warum Papa danach derart depressiv wurde... Wenn er sich selbst die Schuld an ihrem Tod gegeben hatte, war es für Nolan nur allzu logisch, dass Kieran im Anschluss in Depressionen versunken war. Er selbst wollte sich nicht einmal vorstellen, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er für etwas Derartiges verantwortlich wäre. Aber eigentlich war es auch unwichtig, denn er würde ohnehin nie herausfinden, ob seine Vermutung der Wahrheit entsprach oder nicht. „Gehen wir nach oben?“, fragte Nel aufgeregt. Einen Moment lang blickte er sie verwirrt an, da er bereits kurzzeitig vergessen hatte, dass sie überhaupt da war, aber dann neigte er den Kopf. „Vorhin wolltest du nicht einmal hereinkommen und jetzt willst du das gesamte Haus unter die Lupe nehmen?“ Sie lachte verlegen. „Na ja, wenn man erst einmal drinnen ist, fühlt man sich wesentlich besser als wenn man davor steht, finde ich. Und ich bin neugierig, wie Menschen, äh, du, meine ich, als Kinder gelebt haben.“ Ein wenig verwunderten ihre Worte ihn zwar, aber er dachte sich auch nichts weiter dabei, nicht zuletzt, weil er selbst ebenfalls oft wunderliche Dinge sagte – zumindest wenn man Orianas Worten Glauben schenken wollte – und nickte. „Dann lass uns hochgehen. Ich muss ohnehin schauen, ob ich dich guten Gewissens in meinem alten Zimmer unterbringen kann.“ Immerhin gehörte es sich für einen Gastgeber, eine junge Frau in einem gemütlichen Bett unterzubringen – und er wollte nicht, dass sie im Zimmer seiner Eltern schlafen musste... oder auf dem Sofa im Wohnzimmer. Nolan vergaß das Messer und die Frage nach seinem derzeitigen Aufenthaltsort und verließ gemeinsam mit Nel die Küche wieder. Schon nach wenigen Schritten kam er am Fuß der Treppe an, wo er glaubte, seine Mutter und dann seinen Vater abwechselnd auf dem Boden liegen zu sehen. Eine Blutlache umgab Kierans Körper, während Aydeens Augen ihn vorwurfsvoll anblickten, weil er ihr nicht zur Hilfe gekommen war. Er versuchte, diese Bilder zu ignorieren und ging langsam die Treppe hinauf, eine Hand immer auf dem hölzernen Geländer. Die Stufen ächzten leise unter dem ungewohnten Gewicht, bereiteten ihm allerdings keinerlei Sorgen, er wusste, dass sie nicht einfach unter ihm wegbrechen würden. Oben angekommen vermied er den Blick nach unten und öffnete stattdessen die Tür direkt neben dem oberen Absatz, um in sein Zimmer zu treten. Tatsächlich war auch hier alles, wie er es zurückgelassen hatte. Der Teppich lehnte zusammengerollt an der Wand neben dem Regal, in dem die Bücher nach Größe statt Titel oder Autor sortiert geordnet waren; das Bett war gemacht, obwohl es nicht bezogen war; sämtliches Spielzeug ruhte in einer Kiste unter dem Tisch; abgesehen von einem Stapel Briefpapier, einem Füllfederhalter und einem Tintenfass war nichts mehr auf dem Schreibtisch zu sehen. Wenn er sich recht erinnerte war auch der Schrank so gut wie leer, die Kleidung, die er als Kind getragen hatte, war entweder in den Keller oder auf den Dachboden verbannt worden – in beiden Fällen hatte eine Tierfamilie sie benötigt, um ein Nest daraus zu bilden. „Hmm...“ Mit diesem Laut ging Nel nachdenklich in den Raum hinein, blieb in der Mitte davon stehen und blickte sich interessiert um. „Es kommt mir vor als würde ich diesen Geruch kennen.“ „Vielleicht riechen viele Jungen so?“ Wenn er versuchte sich darauf zu konzentrieren, roch es nach Schlamm, Staub – und altem Papier. Es war ihm nicht möglich, seinen Geruch herauszufiltern. Aber möglicherweise war Nels Nase auch einfach besser oder er war zu sehr an sich selbst gewöhnt. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Ich habe das Gefühl, ihn irgendwann einmal gerochen zu haben. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.“ Sie lachte verlegen und wandte sich ihm wieder zu. „Ich muss ziemlich seltsam wirken, was?“ „Es ist schon in Ordnung“, entgegnete er darauf lächelnd. „Ähm, falls es dich nicht stört, wirst du später hier schlafen. Ich werde dir das Bett noch beziehen.“ Während er das sagte, wandte Nel ihre Aufmerksamkeit bereits wieder anderen Dingen zu. Sie schritt auf das Fenster zu und öffnete es, um einen heftigen Windstoß hereinzulassen. Dann fuhr sie lächelnd wieder zu ihm herum. „Es stört mich überhaupt nicht. Aber wo schläfst du?“ Er schmunzelte ein wenig darüber, dass sie automatisch davon ausging, dass er nicht vorhatte, das Bett mit ihr zu teilen. „Ich werde auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen.“ „Ist das wirklich okay?“, fragte sie besorgt. „Aber natürlich.“ Sofort kehrte ihr fröhliches Lächeln zurück. „Gut, dann werde ich zum Dank das Abendessen kochen. Oh, schau nicht so, ich bin eine gute Köchin, wirklich.“ „Wenn du das sagst... aber schlechter als ich kannst du ohnehin nicht sein“, meinte er lachend. „Brauchst du Geld für den Einkauf? Es wird wohl kaum noch etwas hier sein.“ „Ich hab selbst welches“, erklärte sie – und war bereits aus der Tür verschwunden und lief die Treppe hinab. Sie war so schnell fort, dass er einen Wimpernschlag lang noch auf die Stelle starrte, an der sie zuvor gestanden hatte. Doch nachdem er realisiert hatte, dass sie nicht mehr da war, setzte er seinen Weg fort, um zuguterletzt noch das Schlafzimmer seiner Eltern aufzusuchen. Er wollte dort auch nicht die Nacht verbringen, die Atmosphäre darin war bedrückend, geradezu deprimierend, er bekam dort seit dem Tod von Kieran kein Auge mehr zu und vermied es auch dort hineinzugehen. Dementsprechend war dort alles noch genauso wie es kurz nach der Beerdigung von Asterea hergerichtet worden war. Die beiden Betten, die durch einen Nachttisch voneinander getrennt waren, waren noch immer mit pastellfarbener Wäsche bezogen, keinerlei Dinge lagen herum – abgesehen von einem Teddybären, der auf Kierans Bett, direkt neben dem Kissen saß und Nolan mit seinen schwarzen Knopfaugen anstarrte. Lächelnd trat er auf das Stofftier zu und hob es hoch. „Er hat dich also doch aufbewahrt...“ Mit einem angenehmen Gefühl in der Brust, erinnerte er sich daran zurück, wie er Kieran diesen Bären geschenkt hatte. Es war für Nolan ungewöhnlich, dass er morgens aufstand und von seinem Vater weit und breit nichts zu sehen war. Normalerweise war Kieran bereits vor Sonnenaufgang wach und bereitete das Frühstück zu, damit er sich dann zurückziehen und Nolan allein essen konnte. Aber er saß im Anschluss stets im Wohnzimmer und las dort irgendetwas. An diesem Tag allerdings... Um herauszufinden, was los war, suchte er das Schlafzimmer auf, das Kieran einst mit Aydeen geteilt hatte, bis sie vor zwei Jahren gestorben war. Normalerweise ging Nolan nur ungern hinein, weil er befürchtete, dass sein Vater sich darüber aufregen würde, aber an diesem Tag überwog für ihn die Frage, was mit diesem los war. Kieran lag noch immer im Bett, aber Nolans erste Sorge, dass er möglicherweise tot sein könnte, löste sich glücklicherweise schnell in Luft auf, als sein Vater sich mit einem leisen, schmerzgeplagten Stöhnen auf die andere Seite drehte. Mit müdem, fieberverhangenem Blick sah er Nolan entgegen. „Wie spät ist es?“, fragte er mit heiserer, krächzender Stimme. „Acht Uhr“, antwortete Nolan, worauf Kieran versuchte, sich aufzurichten, aber der Junge sprang sofort zu ihm, um zu protestieren. „Bleib liegen, du bist krank!“ „Aber ich muss dir Frühstück machen“, erwiderte Kieran. „Und Mittagessen und-“ „Ich esse bei Tante Asti, mach dir keine Gedanken.“ Nolan hob die Hand, um Kierans Stirn zu fühlen, fuhr aber sofort wieder zurück. Die Haut seines Vaters war glühend heiß, er war eindeutig krank und nicht in der Lage, aufzustehen und irgendwelche Mahlzeiten zuzubereiten. Nolan fürchtete sogar, dass er in seinem derzeitigen Zustand die Treppe hinunterfallen und ihn vollkommen allein zurücklassen würde. „Du solltest heute im Bett bleiben“, sagte er überraschend vernünftig. „Dann geht es dir bestimmt bald wieder besser. Ich kümmere mich um dich, bevor ich zu Tante Asti gehe.“ Er konnte nicht sagen, dass er zu Landis gehen würde, denn dieser war ebenfalls krank und in solchen Zeiten schlief er fast ausschließlich. Vermutlich war Kieran deswegen auch krank geworden. Sein Vater sagte nichts mehr und sank wieder ins Bett zurück, was einer Kapitulation gleichkam. Nolan seinerseits ging in die Küche, weil er noch genau wusste, was Aydeen stets gemacht hatte, wenn er krank gewesen war: Dipaloma-Tee. In seinen Augen war es das beste, was man bei Krankheit zu sich nehmen konnte – und immerhin war er stets äußerst schnell wieder gesund geworden. Glücklicherweise hatte er Aydeen oft bei der Teezubereitung beobachtet, so dass er innerhalb kürzester Zeit eine duftende Tasse mit dampfenden Tee hatte, mit der er wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte. Kieran war noch wach und schien nur noch vor sich hinzudösen, möglicherweise hatte er tatsächlich auf seine Rückkehr gewartet. Nolan stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. „Das ist Dipaloma-Tee, Mama hat ihn mir früher immer gemacht, wenn ich krank war.“ Sein Vater murmelte etwas, was sich verdächtig nach einem verlegenen Danke anhörte. „Trink ihn, solange er noch heiß ist“, riet Nolan und wollte sich gerade verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. Wenn ich gehe, ist er ja ganz allein... Ohne etwas zu sagen, huschte er aus dem Raum in sein eigenes Zimmer, wo er einen Teddybären von seinem Bett nahm – das einzige Kuscheltier, mit dem er noch schlief – und kehrte dann wieder zu Kieran zurück, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, um aus der Tasse zu trinken. Fragend blickte er auf den Bären, den Nolan ihm entgegenhielt. „Der ist für dich“, erklärte sein Sohn. „Damit du nicht so einsam bist, wenn ich nicht da bin. Dafür hast du ihn mir immerhin mal von einer deiner Reisen mitgebracht.“ Als er das erwähnte, schien Kieran sich auch wieder daran zu erinnern. Ein rötlicher Schimmer erschien auf seinem Gesicht, als er ihm den Bären mit einem weiteren Murmeln abnahm. Nolan lächelte zufrieden. „Du kannst ihn auch behalten, wenn du wieder gesund bist. Dann musst du nicht mehr ganz allein in diesem großen Zimmer schlafen. Gib ihn mir einfach wieder, wenn du dich nicht mehr einsam fühlst.“ Noch ehe Kieran irgendetwas darauf sagen konnte, verabschiedete Nolan sich lachend von ihm und verließ dann das Haus, ohne noch einmal zurückzublicken. Mit einem sanften Lächeln drückte Nolan den Bären an sich. Allerlei verschiedene Gefühle kämpften in seinem Inneren um die Vorherrschaft, vermischten sich am Ende aber nur zu einem einzigen: Verwirrung. „Oh Papa...“, seufzte er leise. „Ich würde dich so viele Sachen gern fragen...“ Warum nur besaß er diese verschwommenen Erinnerungen, dass Kieran ihn geschlagen hatte? Wovon war er wirklich verletzt worden? Warum hatte sein Vater nie wirklich darüber gesprochen? Und warum änderten sich seine Erinnerungen gerade in diesen Tagen? Alles hätte so viel leichter sein können, wenn er nur die Wahrheit über seine Vergangenheit wüsste. Aber selbst Charon hatte doch gesagt, dass Kieran ihn misshandelt- Er stockte in seinen eigenen Gedanken. Nein, er sagte, dass, was mein Vater mir angetan hat. Das könnte für alles stehen. Wäre ihm das nur damals bereits aufgefallen, dann hätte er ihn direkt fragen können. Nun war es zu spät und er glaubte nicht, dass er noch einmal eine Gelegenheit bekommen würde, um ihn zu fragen. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte an die dunkle Holzdecke, die auch keinerlei Antwort für ihn bereithielt. „Mama... was soll ich nur tun?“ Kapitel 5: Unerwünschter Besuch ------------------------------- Nel hatte, Nolans Zweifel zum Trotz, recht behalten: Sie war eine gute Köchin. Das Abendessen jedenfalls, das aus Reis, Gemüse und Fleisch bestand, war durchaus lecker gewesen. Nichts Ausgefallenes, aber dennoch besser als das, was er kochte, wenn er es musste. In den letzten Jahren hatte er entweder bei Oriana oder Richard gegessen, manchmal auch in einem Restaurant, wenn er dazu gekommen war. Und ganz früher, nach Kierans Tod, war er bei jedem Cherrygrove-Einwohner ein gern gesehener Gast gewesen oder war von den Schülerinnen der Mädchenschule bekocht worden. Davor wiederum hatten seine Eltern, ja selbst Kieran, immer für ihn gekocht. Er konnte sich nicht beklagen, jemals wirklich Hunger gelitten zu haben, eine Tatsache, für die er viel zu selten dankbar war, wie ihm auffiel. Nach dem Essen und dem Aufräumen waren sie noch zusammengesessen, um zu reden, bis Nel müde geworden war – und als Nolan den Abend in Gedanken Revue passieren ließ, während er versuchte einzuschlafen, bemerkte er, dass Nel nur selten von sich redete. Bislang hatte er nur von sich gesprochen, er wusste nicht einmal, woher sie das Geld hatte, mit dem sie einkaufen gewesen war. Er würde sie am nächsten Tag fragen müssen – und gerade als er das dachte, fiel ihm auch wieder ein, dass Nadia kommen wollte. Ihm blieb nur zu hoffen, dass sie keine voreiligen Schlüsse zog. Was denke ich da eigentlich? Ist ja nicht so, als wären wir zusammen. In Gedanken ging er alle möglichen oder unmöglichen Reaktionen durch, die Nadia zeigen könnte, während er im Dunkeln an die Decke starrte und nach Geräuschen lauschte. Das Knacken des arbeitenden Holzes war ihm noch genauso vertraut wie damals, als wäre er nie weg gewesen. Und je länger er so dalag und jedes einzelne Geräusch seinem Ursprung zuordnen konnte, wurde ihm bewusst, dass er dieses Haus auch nie wirklich verlassen hatte. Ein Teil von ihm war immer hier gewesen und dieser freute sich nun, dass er wieder da war und hielt ihn wach, um ihn an all die guten Zeiten zu erinnern, die er in diesem Gebäude erlebt hatte. Netterweise verzichtete sein Gedächtnis dieses Mal darauf, ihm rätselhafte Bilder zu schicken, sondern beschränkte sich wirklich auf glückliche Ereignisse. Vor seinem inneren Auge sah er gemütlichen Feiern bei Kierans Rückkehr, bei denen nur er und seine Eltern am Tisch gesessen hatten; Aydeens Märchenstunden, während denen er zahlreiche Geschichten von seiner Mutter erfahren hatte, die er in keinem Buch finden konnte; Spieleabende mit Landis, die sich immer bis in die Nacht ausgedehnt hatten und er sah Geburtstage, komplett mit weißen Torten auf denen rote Kerzen brannten, um zu zeigen, wie alt das Geburtstagskind war. Irgendwann, während des Schwelgens in Erinnerungen, musste er doch eingeschlafen sein, denn ein lautes, ungewohntes Geräusch riss ihn jäh aus dem Schlaf. Einen Atemzug später saß er bereits aufrecht auf dem Sofa, die plötzliche Kälte, als seine Decke von seinem freien Oberkörper rutschte, erzeugte eine Gänsehaut auf seinen Armen, unwillkürlich war er froh, die Hose anbehalten zu haben. Er blickte sich um, während er sich zu orientieren und gleichzeitig das Geräusch einzuordnen versuchte. Es war zu laut, um vom Holz erzeugt zu werden, eher so als ob jemand etwas umgestoßen hätte – und es kam von oben. Vorsichtig stand er auf und griff nach dem Schwert, das gegen das Sofa lehnte. Sofort überkam ihn ein vertrautes, beruhigendes Gefühl, das ihn klar genug werden ließ, um daran zu denken, dass es vielleicht Nel war. Dennoch verstand er nicht, was sie tat, um so einen Lärm zu veranstalten. Um dem auf den Grund zu gehen, ging er die Treppe hinauf und vermied dabei unwillkürlich jene Stufen, die zum Knarren neigten, wenn man auf sie trat. Das Holz fühlte sich unter seinen nackten Füßen unangenehm kühl an, aber er wollte nicht zurückgehen, um sich seine Schuhe zu holen. Je näher er dem oberen Absatz kam, desto deutlicher wurde ihm, dass die Geräusche aus dem Schlafzimmer seiner Eltern kamen und es so klang als würde jemand dort nach etwas suchen und dafür Schränke und Schubladen aufreißen. Dass dieser Jemand nicht Nel war, erkannte er schnell, denn sie stand neben der Tür und warf verstohlene Blicke in den Raum hinein, um die Person zu beobachten. Es war zwar nicht ausgeschlossen, dass sie doch dazugehörte, aber er musste dieses Risiko so oder so eingehen – und er konnte sich kaum vorstellen, dass sie wirklich so etwas tun würde. Er nutzte den Lärm, den der Suchende machte, um Nel mit einem leisen Laut auf sich aufmerksam zu machen. Sie fuhr erschrocken herum, lächelte aber sofort, als sie Nolan erkannte, doch ehe sie etwas sagen konnte, legte er erst einen Finger auf seine Lippen und bedeutete ihr dann, ein wenig näher zu kommen. Auf Zehenspitzen kam sie zu ihm herüber und hielt direkt vor ihm inne. Er nickte in Richtung des Raums und hoffte, dass sie verstand, was er meinte – und zu seinem Glück tat sie das auch. Sie hob einen Finger und formte mit den Lippen deutlich das Wort Person. Er erwiderte, indem er Sicher formte, was sie mit einem entschlossenen Nicken beantwortete. Wer immer dort drin war, verhielt sich also wirklich absolut unvorsichtig, das könnte und sollte er ausnutzen. So vorsichtig wie möglich setzte er seine Füße auf den Boden. An dieser Stelle des Flurs wusste er nicht so recht, welche Dielen knarrten. Zwar war es ihm möglich gewesen, nachts, solange er wachgelegen hatte, die Schritte seiner Eltern zu hören und damit auch das Knarren verschiedener Bretter, aber obwohl er die Geräusche noch ganz genau kannte, wusste er eben nicht, welches zu welchem Teil des Bodens gehörte. Ohne jedes Knarren an der Tür angekommen, schickte er erst einmal ein kurzes Dankesgebet an die Naturgeister, dann beugte er sich ein wenig vor, um ebenfalls in das Zimmer hineinsehen zu können. Kleidung lag auf dem Boden verstreut, also räumte die Person gerade die Schränke seiner Eltern aus, warum auch immer jemand das tun sollte. Normalerweise hätte er nun versucht, sich hineinzuschleichen, um herauszufinden, wie viele Eindringlinge es gab, aber er vertraute auf Nels Aussage, dass es nur eine Person war – und diese trat auch gerade in sein Blickfeld, was ihn stutzen ließ. Es war eine Frau mit schulterlangem, violetten Haar, die zuerst seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Erst im zweiten Moment bemerkte er die dunkle, bedrohliche Aura, die sie umgab; zwar konnte er sie nicht sehen, aber sie war derart machtvoll und böse, dass sie ihm fast den Atem raubte. Er war überzeugt, dass diese Aura ihn kurzerhand gelähmt hätte, wenn er ihr unbedacht zu nahe gekommen wäre. Aber da kam ihm noch ein anderer Gedanke: Wenn ich ihre Aura spüren kann, dann müsste sie- Im selben Moment fuhr sie plötzlich herum, ihre goldenen Augen glühten zornig in der Dunkelheit, aber ihm blieb keine Zeit, sie bewundernd zu betrachten, denn in derselben Bewegung schleuderte sie eine aus Funken bestehende Kugel in seine Richtung. Instinktiv zog er sich zurück, um in Deckung zu gehen und zu seinem Glück verpuffte die Kugel an der Wand. Die Frau stieß einen Fluch aus, in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte, aber das kümmerte ihn vorerst nicht weiter. Er verließ seine Deckung, um die Frau anzugreifen, nicht um sie zu töten, sondern um sie kampfunfähig zu machen und herauszufinden, was sie wollte. Doch so weit kam er gar nicht. In dem Moment, in dem er und die Frau sich gegenüberstanden, bemerkte er eine Bewegung, die von seinem Schwert ausging. Eine Kette schoss aus dem Ende des Griffs hervor, so wie er es damals bei Landis gesehen hatte, und versuchte, die Eingedrungene zu umfassen. Sie wich aus, aber die Kette folgte ihren Bewegungen als besäße sie einen eigenen Willen und als könne sie sehen oder fühlen, was um sie herum vorging, dabei verlängerte sie sich nach Bedarf, obwohl Nolan selbst ohne einen prüfenden Blick sicher war, dass die Kette eigentlich keinen Platz im Griff haben dürfte. Landis hat da wirklich ein Zauberschwert angeschleppt... was sagt man dazu? Schließlich schaffte die Kette es, sich um den Fußknöchel der Eingedrungenen zu schlingen. Diese stieß einen lautes Heulen aus, das Schmerz und Empörung in sich vereinte. „Lass mich los! Lass mich los!“ Wütend trat sie mit dem anderen Fuß auf die Kette ein und während sie derart abgelenkt war, stellte Nolan erschrocken fest, dass die Fessel ihr tatsächlich Schmerzen verursachen musste. Die Haut an ihrem Knöchel färbte sich rot, als würde sie sich gerade verbrennen und allein der Anblick ließ Nolans Herz verkrampfen. „Hör auf damit, bitte!“ Er wusste nicht, was er sonst tun sollte, um die Kette damit aufhören zu lassen – und zu seiner großen Erleichterung funktionierte es tatsächlich. Sie löste sich von dem Knöchel der Frau und zog sich, wenn auch scheinbar widerwillig, wieder in den Schwertgriff zurück. Nolan atmete erleichtert auf, die Frau fluchte erneut in einer ihm unbekannten Sprache, aber er konnte durchaus verstehen, dass sie diese Verletzung weiterhin schmerzte, sie war ja nicht einmal schön anzusehen. Doch gerade als er ihr anbieten wollte, ihr damit zu helfen, wenn sie ihm verriet, was er wissen wollte, fuhr sie herum, verwandelte sich in eine Fledermaus – was ihn nun wirklich erst recht in Erstaunen versetzte – und flatterte durch das offene Fenster davon, so dass er, zurückgelassen in dem von ihr verursachten Chaos, ihr nur hinterherstarren konnte. In der Dunkelheit war sie bald nicht mehr zu sehen, weswegen er einen Blick auf das Schwert in seiner Hand warf. Das Gefühl, dass dieser Klinge einem Bewusstsein innewohnte, war nun nicht mehr nur stärker als zuvor, seiner Meinung nach hatte sich das sogar bestätigt. Aber woher hatte Landis dieses Schwert und wie war es ihm möglich gewesen, es einfach so zu kontrollieren und damit so elegant umzugehen? „Was... war das denn?“ Nels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, er wandte sich ihr zu und stellte fest, dass sie das Chaos besorgt betrachtete, dabei stand sie zwischen mehreren Kleidungsstücken auf einem kleinen Bodenausschnitt so als wäre sie auf einer kleinen, überfluteten Insel und fürchtete sich vor dem Wasser. „Das frage ich mich auch“, sagte er seufzend. „Vielleicht träume ich das aber auch nur?“ Menschen verwandelten sich immerhin nicht einfach in Fledermäuse, wenn überhaupt taten das nur Vampire und die gab es laut Kenton nicht, also konnte es nicht sein. Wieder war es Nel, die ihn aus den Gedanken riss, aber dieses Mal indem sie ihn in den Handrücken zwickte, was ihm einen leisen Schmerzenslaut entlockte. Verwirrt sah er sie an, doch sie lächelte sanft. „Siehst du? Du träumst nicht.“ „Ja...“ Aber freuen konnte er sich nicht darüber, denn es hieß, dass er weiterhin mit unbeantworteten Fragen in diesem Raum stand, mit einem Schwert in der Hand, dem ein Bewusstsein innewohnte. Und das alles lief für ihn vor allem auf mehrere Fragen hinaus: Woher hatte Landis dieses Schwert? Warum war das kein Teil seiner Erzählung gewesen? Weswegen durchsuchte eine Fledermausfrau, die ganz sicher kein Vampir war, das Zimmer seiner Eltern? Wieso war ihre Haut von der Kette verbrannt worden? Auch wenn er zu keiner dieser Fragen eine Antwort wusste, so gab es doch etwas, dem er sich ganz sicher war: All das stand in Verbindung mit seinem Vater, er müsste nur noch herausfinden, in welcher. Kapitel 6: Der Brief -------------------- Am nächsten Morgen war Nolan wieder einmal froh, Nel bei sich zu haben. Nicht nur, dass sie ein Frühstück vorbereitet hatte, im Anschluss war sie ihm sogar wortlos zur Hand gegangen, um das Schlafzimmer seiner Eltern wieder aufzuräumen. Die Einbrecherin hatte ganze Arbeit geleistet, um alles zu verwüsten, aber noch immer war ihm unklar, wonach sie wohl gesucht haben mochte. Er glaubte nicht, dass Kieran über Vermögensgegenstände verfügt hatte oder sonst etwas, das es wert wäre, sich in einen Kampf zu begeben und sogar jemanden zu töten. Auch wenn sie sicher nicht menschlich gewesen war, er traute niemandem zu, einfach so jemanden umzubringen. „Was glaubst du, war das für ein Wesen?“, fragte Nel in die Stille hinein, während sie die Kleidung seiner Mutter sortierte und neu zusammenlegte. „Keine Ahnung“, antwortete er ehrlich. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Egal wie vielen Feinden er bereits gegenübergestanden war – so viele waren es eigentlich gar nicht gewesen – darunter hatte er nie jemanden gesehen, der sich in eine Fledermaus verwandeln konnte, um zu fliehen. Ob sie eine Dämonin gewesen war? Aber das machte dann noch weniger Sinn... Nel legte einen Stapel Blusen in die Kommode und blickte dann zu den Betten hinüber. „Du trägst dieses Schwert immer mit dir, oder?“ Nolan, der nicht ganz verstand, was sie meinte, folgte ihrem Blick und entdeckte ebenfalls Landis' Schwert auf dem Bett seines Vaters. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass er es mit sich nach oben genommen hatte an diesem Morgen. „Na ja... schon irgendwie. Es ist nicht gern allein, so seltsam es auch klingen mag.“ Sie kommentierte das nicht, denn etwas anderes hatte längst ein Fragezeichen auf ihr Gesicht gezaubert: „Warum haben deine Eltern eigentlich in getrennten Betten geschlafen? Ich dachte immer, Ehepaare schlafen zusammen?“ Darauf wusste er auch keine Antwort. Er selbst hatte sich diese Frage nie gestellt, denn für ihn war es von klein auf selbstverständlich gewesen, dass sie nicht in einem Bett schliefen. Deswegen konnte er nur raten: „Vielleicht, weil mein Vater manchmal erst nachts heimkam oder morgens schon früh gehen musste. Oder weil einer der beiden einen unruhigen Schlaf hatte?“ Es gab viele Gründe, die das erklären könnten und eine richtige Antwort konnte ihm niemand mehr geben, daher gab Nel sich damit zufrieden. „Das kann natürlich sein, ja.“ Schweigend machten sie weiter und als es auf Mittag zuging, hatten sie alles verräumt – und als Nolan die Schublade der Kommode schloss, fiel ihm das erste Mal in seinem Leben der dunkle Schrank ins Auge, der in einer Ecke des Zimmers stand als würde er sich dort verstecken wollen. Augenblicklich kam es ihm vor als würde dieses Möbelstück ihn zu sich locken wollen, damit es ihm etwas sagen könnte, ehe es wieder in die dunklen Schatten verschwand, um nicht von anderen gefunden werden zu können. Aber dennoch fühlte er sich wie festgewachsen, er konnte sich kaum noch rühren, geschweige denn auf den Schrank zugehen, um sich anzuhören, was er sagen wollte. Das Blut rauschte in seinen Ohren und machte es ihm unmöglich etwas zu hören – bis Nel ihn am Arm griff. „Alles in Ordnung?“ Er wandte sich ihr zu und nickte hastig. „Ja, alles okay. Aber dieser Schrank...“ Vielleicht war er auch nur eine Einbildung gewesen? Möglicherweise existierte er gar nicht, was erklären würde, warum er ihn bislang noch nicht gesehen hatte. Nels Blick ging an ihm vorbei, sie neigte den Kopf. „Was ist denn da drin?“ Etwas in ihm schien zu zerbrechen, als sie ihn ebenfalls sehen konnte. Er war also echt – aber er wollte dennoch nicht herausfinden, was in ihm war. Im Gegensatz zu Nel, die bereits auf ihn zulief, ohne von der finsteren Aura abgestoßen zu werden und ihn kurzerhand öffnete, was eigentlich, wenn er es recht überdachte, reichlich unhöflich war. Aber gerade als er sich zu ihr drehte, um sie zurechtzuweisen, fiel sein Blick auf den Inhalt des Schranks und erneut hielt er erschrocken inne. Was genau er im Inneren des dunklen Möbelstücks erwartet hatte, wusste er nicht, aber mit Sicherheit kein dunkler Umhang und ein dazu passender Hut mit breiter Krempe und auch keine Bücher – und vor allem keine fein säuberlich aufgereihte Auswahl an den verschiedensten Waffen, die allein schon durch ihre Farbe deutlich zeigten, dass sie nicht normal waren. Er entdeckte ein Schwert mit blauer Klinge, das leicht zu glühen schien; ein Speer mit einer elfenbeinfarbenen Spitze, die von tanzenden Funken umgeben war; ein Fächer, dessen rosa Schimmer fröhliche Stimmung zu verbreiten schien; ein Meteorhammer, dessen moosgrünes Glühen überraschend beruhigend wirkte – und mitten zwischen all diesen außergewöhnlichen Waffen, fast schon unscheinbar, befand sich eine einfache, abgenutzte Armbrust. Nolan verspürte den plötzlichen Impuls, die Hand auszustrecken, um sie zu berühren, doch er ließ es bleiben, aus Furcht, dass eine der anderen Waffen ihn angreifen könnte. „Was sagtest du, war dein Vater von Beruf?“, fragte Nel, nicht minder überrascht als er. „Händler... dachte ich jedenfalls immer.“ Kieran hatte ihm nie wirklich von seiner Arbeit erzählt, ihm immer nur geschildert, wo er gewesen war und wie es dort ausgesehen hatte, Erzählungen, an die er sich immer noch gern erinnerte. Aber hier kam ihm nun das erste Mal der Gedanke, dass Kieran möglicherweise einen ganz anderen Beruf ausgeübt hatte – nur was für einen? Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter, als er sich vorstellte, dass sein Vater unter Umständen umhergezogen war, um Menschen umzubringen. Etwas, das er sich nicht einmal bei Landis hatte vorstellen wollen, aber bei Kieran? Nein, es durfte einfach nicht sein! Mit all diesen verschwommenen Erinnerungen in seinem Inneren und der geringen Aussicht, dass sein Vater vielleicht doch immer die Person geblieben war, zu der er aufblicken konnte und die er geliebt hatte, durfte es nicht möglich sein, dass er ein niederträchtiger Mörder gewesen war. Nolan weigerte sich einfach, das zu akzeptieren und trat deswegen näher an den Schrank heran, um sich die Bücher anzusehen und daraus etwas ableiten zu können, das ihm besser gefallen würde. Die Titel sagten ihm auf jeden Fall schon auf den ersten Blick, dass man so etwas nicht in einem normalen Laden bekommen würde, mehr noch, jedes Buch beschäftigte sich mit der Jagd nach Dämonen und der Vernichtung derselben. „Dein Vater war wohl... ein Dämonenjäger“, zog Nel denselben Schluss wie er. „Hat er dir wirklich nie davon erzählt?“ „Nicht ein Wort.“ Aber plötzlich erschienen ihm die Geschichten seiner Mutter in einem gänzlich neuen Licht und beantworteten ihm die Frage, weswegen er sie bislang vergeblich in Märchenbüchern gesucht hatte. All ihre Erzählungen waren die Abenteuer von Kieran gewesen, während er Dämonen gejagt hatte. Das rückte seinen Vater für ihn erneut in eine vollkommen neue, ungewöhnliche Rolle. Er war nun nicht mehr nur der Mann, der stets einen kühlen Kopf behielt und auf fast jede Frage eine diplomatische Antwort wusste, er war auch der strahlende Held all dieser Erzählungen, der es nie geschafft hatte, den Dämonen auf anderen Wegen zu begegnen als im Kampf. Langsam begann Nolans Kopf von all diesen Überlegungen und überraschenden Wendungen zu schwirren und seine Gedanken zu kreisen – und plötzlich war da wieder diese Erinnerung, wie er gemeinsam mit Kieran bei Nacht durch einen Wald lief, sein Vater hielt die Armbrust, während er voranschritt und sich einen Weg durch das Unterholz bahnte. Nolan spürte seine Anspannung, seine Furcht, während er sich immer wieder umsah und plötzlich zu seinem Sohn herumfuhr, um ihn vor etwas zu warnen, viel zu spät. Doch erneut endete die Erinnerung mit einem schmerzhaften Brennen auf seinem Rücken. Wovor auch immer Kieran ihn gewarnt hatte, es musste für eine dieser Verletzungen verantwortlich sein und nicht sein Vater. Eine Erkenntnis, die ihn immer noch mit Erleichterung durchflutete. „Hm? Was ist denn das?“ Nel griff in den Schrank hinein und zog einen Umschlag hervor, der zwischen den Büchern hervorgeschaut hatte, um ihn zu betrachten. Doch schon einen Moment später, hielt sie ihn Nolan hin. „Der ist für dich.“ Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Umschlag, auf dem tatsächlich sein Name stand. Erst nachdem mehrere Sekunden verstrichen waren, nahm er ihr diesen ab und zog den eng beschrieben Bogen Briefpapier hervor. Er schloss einen kurzen Moment die Augen und öffnete sie dann wieder, um zu lesen, was Kieran – seine Handschrift war unverkennbar – ihm darin hatte mitteilen wollen. Nolan... Wie beginnt man einen Brief, an eine Person, die einen höchstwahrscheinlich hasst? Würde ich dich mit Lieber ansprechen, könntest du dich mit Sicherheit verhöhnt fühlen. Ein Hey dagegen wäre derart salopp, dass du dich von diesem Brief veralbert fühlst. Wenn du ihn überhaupt liest. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich diesen Brief beginnen und was ich darin schreiben soll.Es gibt keine Entschuldigung für die Schmerzen, die du durch mich erleiden musstest, aber du verdienst zumindest eine Erklärung, auch wenn ich nicht weiß, ob dir das, was ich dir schreiben kann, genügen wird. Zuerst einmal mag in dir der Eindruck entstanden sein, dass ich dich nicht geliebt hätte. Das ist allerdings nicht wahr. Du warst für mich wie ein Sohn, auch wenn du kein Teil von mir warst, eine Tatsache, die ich dir gleich erklären möchte. Und eben weil du für mich wie ein Sohn warst, habe ich lange mit mir gerungen, ehe ich diesen Weg eingeschlagen habe. Aber von Anfang an, bestimmt beschäftigt dich eher die Frage, was ich damit meine, dass du für mich nur wie ein Sohn warst. Mit Sicherheit wirst du dich an dieser Stelle fragen, was das bedeuten soll, bist du doch bei Aydeen und mir aufgewachsen. Dieser Brief dient auch als Erklärung dafür, da ich überzeugt bin, dass deine Großeltern es dir nie erzählen würden. Du erinnerst dich bestimmt daran, dass ich dir erzählte, ich sei Händler – eine Lüge, die du mir hoffentlich verzeihen wirst, wenn du erst einmal die Wahrheit kennst – aber auch wenn das nicht stimmt, so ist es doch wahr, dass ich durch ganz Király gereist bin. So lernte ich eines Tages auch deine Großeltern und ihre Zwillingstöchter kennen; Aydeen und Etaín. Etaín war sehr interessiert in ein Mitglied meiner Gilde, einen Mann, den ich wahrlich gehasst und verabscheut habe, aber sie war ihm verfallen und entschieden, ihn zu heiraten. In dieser Zeit geriet ich in einen unglücklichen Zwischenfall, der mich dazu zwang, Urlaub zu nehmen, den ich nutzte, um Richard und Asterea bei ihrer beginnenden Beziehung zu helfen. Es dauerte zwei Jahre, bis ich schließlich nach Jenkan zurückkehren konnte, um mir anzusehen, was aus dem verhassten Mitglied und Etaín geworden war. Wobei mich mehr Aydeens Schicksal interessierte, da ich sie als viel zu guten Menschen in Erinnerung hatte und solche Leute in meinem Leben nie lange durchgehalten hatten. Ich konnte kaum glauben, dass Etaín da bereits einen einjährigen Sohn – dich – hatte. Von ihrem Verlobten war allerdings keine Spur mehr zu sehen, Aydeen erzählte mir, dass er deine Mutter verließ, als sie mit dir schwanger geworden war. Eigentlich keine ungewöhnliche Situation, sollte man glauben – aber bei Etaín hatte es dafür gesorgt, dass sie wahnsinnig geworden war. Das ging sogar so weit, dass... Nun, wir wissen nicht genau, was geschehen ist, aber es war während meines Aufenthalts, dass du die Treppe herunterfielst. Du schienst nicht weiter verletzt, aber deine Großeltern beschlossen, dass es so nicht weitergehen konnte. Allerdings sahen sie auch ihren Ruf in Gefahr, solltest du von jemand anderem als Etaín in Jenkan aufgezogen werden. Ich weiß nicht mehr, was in jenem Moment über mich kam. Der Gedanke, dass ich als Waisenkind aufwachsen musste und dabei unglücklich war oder der Wunsch, den Sohn dieses verhassten Kollegen bei mir zu haben, um meine Treue zur Gilde zu beweisen, indem ich ihn zu einem einmaligen Jäger ausbilde, aber wie auch immer. Ich schlug vor, dich in Cherrygrove aufzuziehen und damit dort niemand misstrauisch werden würde, beschloss Aydeen, sich als meine Frau und deine Mutter auszugeben. Ein verrückter Plan, oder? Bestimmt glaubst du davon kein Wort – aber hast du dich nie über die getrennten Betten im Schlafzimmer gewundert? Mit Sicherheit hast du das. Auch wenn sich alle über meine plötzliche Familie wunderten, ging alles gut. Bis ich vier Jahre später aufgrund eines Vorfalls schließlich meine Arbeit verlor. Mit Sicherheit erinnerst du dich an diese Zeit noch sehr gut, fingst du doch damals an, mich nicht mehr als Vater zu sehen. Zu meinem Erstaunen hielt Aydeen in all dieser Zeit zu mir, wie eine Frau es sonst tat, obwohl sie in keiner Weise mit mir verheiratet war. Dies war schließlich der Grund, warum ich mich in sie verliebte, statt sie nur noch als Freundin zu sehen. Ich bedaure, dass ich es ihr nie gesagt und mich stattdessen in meine Depressionen geflüchtet habe. Mein Verlangen, dich zu einem Jäger zu machen, kollidierte mit meinen Vatergefühlen, die für dich erwacht waren und die verhindern wollten, dass ich dir dasselbe antue, was mit mir geschehen war und das nahm mir jedes Ziel in meinem Leben und ließ mich gebrochen zurück. Als dann auch noch Aydeen starb, wurden meine Depressionen schlimmer, denn nun war ich auf mich allein gestellt und gleichzeitig musste ich mich weiterhin um dich kümmern, während du dich immer weiter von mir entferntest. Und dann, du warst gerade zehn Jahre alt geworden, kam es zu einem weiteren Zwischenfall, der mich schließlich den Weg einschlagen ließ, an den du dich erinnerst. Es mag dir wie eine Ausrede vorkommen, aber ich gehörte einer Gilde von Dämonenjägern an. Nur Mitglieder einer bestimmten Familie, egal wie entfernt ihr Zweig vom Stamm war, konnten ihnen angehören, aber um Dämonen zu bekämpfen, sie zu töten, müssen sie hassen. Ich konnte dich nicht hassen lassen, ich wollte, dass du ein schönes Leben, fernab dieser düsteren Kämpfe führst. Doch eines Tages wurde mir klar, dass nur du, der gutherzige Nolan, eine Änderung bewirken kannst, die dafür sorgt, dass kein Jäger mehr hassen muss: Nur du würdest dich mit Dämonen anfreunden können, um sie ihre Einsamkeit vergessen zu lassen. Aber dafür durftest du nicht Dämonen hassen, denn sonst wärst du in derselben Sackgasse gefangen wie wir anderen alle. Also bat ich jemanden, deine Erinnerungen zu beeinflussen, damit du all den Schmerz, den Dämonen dir als Mitglied der Familie antun würden, auf mich schieben würdest. Ich brachte dich dazu mich zu hassen, auch wenn es mir das Herz brach, nur damit du die Welt verbessern könntest. Ich schreibe dir diesen Brief nicht, weil ich deine Vergebung will, weil ich weiß, dass das, was ich getan habe, nicht zu vergeben ist. Nein, wie gesagt, es geht nur um eine Erklärung. Außerdem wollte ich dir sagen, dass deine Großeltern dir nicht ganz die Wahrheit erzählt haben: Deine Mutter lebt, sie ist eine Insassin der Irrenanstalt von Jenkan. Ich weiß nicht, wie empfehlenswert es wäre, sie besuchen zu gehen, aber wenn du es tun möchtest, besitzt du jedes Recht dazu. Zum Abschluss möchte ich nur noch sagen, dass ich hoffe, dass du zu einem guten, aufrechten Mann geworden bist, trotz – oder vielleicht gerade wegen – meiner Behandlung. Vielleicht hast du es ja sogar geschafft, ein Held zu werden. Wenn du diesen Brief liest, konnte ich das wohl nicht miterleben und der Gedanke betrübt mich tatsächlich in gewisser Weise. Trotz allem, was vorgefallen ist warst du immerhin mein Sohn, wenngleich vielleicht auch nur für einige Jahre und ich wünschte wirklich, wir hätten viel mehr schöne Zeiten erleben können. Du warst die einzige Familie, die ich je kennenlernen durfte. Ich danke dir für deine Zeit, deine Liebe, dein Verständnis und deine Geduld. Kieran Nolan ließ den Brief nur langsam wieder sinken. Seine Hand zitterte ein wenig, während die Buchstaben in seinem Kopf Kreise drehten. Du warst für mich wie ein Sohn, auch wenn du kein Teil von mir warst und Deine Mutter lebt jagten sich umher, als würde sie einander fressen wollen, damit endlich wieder Frieden in seinem Inneren einziehen könnte. Erzählte dieser Brief wirklich die Wahrheit? Hatten seine Eltern ihn all die Jahre belogen? Es würde sich jedenfalls mit diesen verschwommenen Erinnerungen decken und sie auch erklären. Aber das änderte nichts an seiner anhaltenden Verwirrung, die nicht wieder fortgehen wollte. Nel blickte ihn besorgt an und wollte ihn gerade fragen, was los sei, als ein lautes Klopfen an der Haustür ihr das Wort abschnitt und Nolan den Kopf heben ließ, dankbar darüber, dass er endlich von etwas abgelenkt wurde. Ohne auf Nel zu achten, hastete er die Treppe hinab und hoffte, dass es sich bei dem Besuch um Nadia handelte, denn er konnte sie dringend brauchen, um mit ihr über diese ganze Sache zu reden. Nel hatte er immerhin gerade erst kennengelernt, da wollte er sie nicht unbedingt mit solchen Dingen geradezu erschlagen. An der Tür angekommen, hielt er nicht einmal inne, um noch einmal zu Luft zu kommen, sondern öffnete sie sofort – um direkt danach eine Enttäuschung zu erleben. Kapitel 7: Wieder zurück in den Dienst -------------------------------------- Vor der Tür stand nicht Nadia, dafür ein gewöhnlicher Kavallerist, dessen weiße Schärpe, die er quer über seinen Oberkörper trug, verriet, dass er als Bote unterwegs war. Das Pferd, das nur wenige Schritte entfernt stand, war bereits von mehreren Leuten umringt, die es missbilligend anstarrten. Auch wenn es in Cherrygrove einen großen Stall gab, der für die Pferde der Kavalleristenschüler bestimmt war, sahen die Einwohner diese Tiere nicht sonderlich gern mitten in der Stadt. So gut wie jeder wusste das auch, aber manchmal wurde es auch gern ignoriert. Kaum sah der Kavallerist Nolan, salutierte er derart heftig, dass er sich fast selbst zu Boden warf. „Kommandant! Ich habe eine Nachricht von Sir Boivin für Euch!“ Nolan streckte wortlos die Hand danach aus, ebenso schweigend gab der Kavallerist ihm ein zusammengerolltes Stück Pergament, das Kentons Siegel trug. Es war also nicht nur eine einfache Nachricht eines Freundes, sondern eine hochoffizielle Angelegenheit, was Nolans Stimmung gleich noch tiefer sinken ließ. Warum musste er sich gerade in seinem Urlaub und nach einer solchen Nachricht mit solchen Dingen auseinandersetzen? Unwillig rollte er das Pergament aus und ließ seine Augen über Kentons unverkennbare Schrift gleiten, um herauszufinden, was er überhaupt wollte. Nachdem er den Brief einmal gelesen hatte, fing er noch einmal von vorne an, ein wenig langsamer, nur um sicherzugehen, dass er sich auch ganz sicher nicht verlesen hatte. Geehrter Kommandant Lane, ... was für eine furchtbare Anrede, meinst du nicht auch? Ich störe dich wirklich ungern während deines Urlaubs, aber ich habe überraschend kurzfristig eine Nachricht aus Monerki bekommen. Wir leben nun schon mehrere Jahrzehnte in einem Waffenstillstand mit unserem Nachbarreich – wie du hoffentlich noch weißt – und nun wünscht eine Abgeordnete der Armee eine Audienz bei Ihrer Majestät, die bereits bestätigt wurde. Die Nachricht ist auf dem Weg nach Monerki und ich fürchte, ich benötige dich, damit du die Abgeordnete an der Grenze empfängst und nach New Kinging begleitest. Es hat einen gewissen Grund, warum ich dich trotz deines Urlaubs darum bitte und nicht deine Vertretung, aber die möchte ich dir gerne unter vier Augen mitteilen, wenn du nichts dagegen hast. Also komm bitte schnellstens wieder zurück. Mit Grüßen, Kenton Es war eindeutig Kentons Schrift und bis auf den letzten Satz waren es auch seine Worte. Dieses eine Wort, dieses schnellstens, verriet Nolan, dass sein Freund nervös war und bei einem bevorstehenden Treffen mit Leuten aus Monerki konnte er es ihm auch nachfühlen. Der Krieg mit dem Nachbarreich war bereits vor ihrer Geburt beendet worden, weil beide Seiten nur Verluste erlitten hatten, ohne jemals die Oberhand zu gewinnen, aber viele der heutigen Cherrygrove-Einwohner waren in gewisser Weise Opfer des Krieges gewesen, deswegen kannten sie beide mehr als genug Geschichten über das andere Reich – und das sorgte nicht dafür, dass Nolans Stimmung sich weiter anhob. Aber wenn Kenton ihn derart bat, diese Sache selbst zu übernehmen, könnte er nicht einfach ablehnen, außerdem interessierte ihn auch, welchen Grund sein Freund dafür hatte, seiner Vertretung nicht zu vertrauen. Vielleicht, nur vielleicht, würde ihn das auch von Kierans Brief ablenken und ihm Zeit geben, das Gelesene erst einmal zu verarbeiten, ehe er entschied, wie es weitergehen würde. Der Kavallerist verlagerte das Gewicht auf ein anderes Bein und in diesem Moment fiel Nolan wieder ein, dass er auch noch anwesend war. „Oh, genau. Du kannst bereits zurückreiten und Ken, äh, ich meine Sir Boivin, mitteilen, dass ich auf dem Weg bin und heute im Lauf des Tages ankommen werde.“ Der Kavallerist salutierte noch einmal und kehrte dann zu seinem Pferd zurück. Nolan beobachtete nicht, ob er wegen dem mitten auf dem Weg abgestellten Tier noch Kritik ernten würde, sondern schloss direkt die Tür. Als er sich umdrehte, entdeckte er Nel, die auf dem oberen Treppenabsatz stand und besorgt auf ihn herabblickte. Für einen kurzen Augenblick befürchtete er, sie würde einen falschen Schritt tun und herunterfallen, aber zu seiner Erleichterung bewegte sie sich nicht einmal, sondern stand einfach da. „Was ist los?“ „Mein Urlaub ist vorbei.“ Er lächelte schief. „Jedenfalls kurzzeitig. Ich muss nach New Kinging zurück, um dort eine Mission zu erledigen. Du kannst hier warten, wenn du willst, aber ich weiß nicht, wann-“ „Sei nicht albern!“, rief sie dazwischen. „Ich werde dich begleiten! Du kannst mir unterwegs erzählen, was los ist – und auch, was in diesem Brief stand, den du bekommen hast.“ In diesem Moment fiel ihm auf, dass er nicht nur Kentons Nachricht, sondern auch Kierans Brief noch immer in Händen hielt. Er steckte beides in seine Tasche, ehe er sich noch einmal Nel zuwandte. „Gut, wie du willst. Ich hoffe, du hast nichts gegen einen Pferderitt einzuwenden. So kommen wir nämlich wesentlich schneller nach New Kinging.“ Nel fand keine Argumente, die dagegen sprachen und so befanden sie sich nur wenig später mitten auf dem Feld zwischen Cherrygrove und New Kinging. Obwohl er das Pferd nur traben ließ – Gallop wäre seiner Begleiterin sicherlich zu schnell gewesen und ihm selbst Schritt zu langsam, da er immerhin seine Neugier stillen wollte – spürte er, wie Nels gesamter Körper zitterte, während sie sich fester an ihn klammerte. „Vielleicht hättest du doch vorne sitzen sollen“, bemerkte er über seine Schulter hinweg. „N-nein!“, erwiderte sie sofort, wenngleich mit zitternder Stimme. „Es geht schon!“ Sie murmelte noch etwas, das sich verdächtig nach „Außerdem will ich nicht, dass du mich so siehst“ anhörte, aber er ging nicht mehr weiter darauf ein und wechselte stattdessen das Thema: „Der Berater der Königin möchte mich auf einen Staatsbesuch vorbereiten, deswegen soll ich früher aus dem Urlaub zurückkehren. Ich denke, danach kann ich ihn aber wieder aufnehmen, also keine Sorge.“ Sie murmelte wieder etwas, das er dieses Mal nicht verstehen konnte, aber er wusste auch so, dass es ihr eigentlich mehr darum ging, etwas über den Brief von Kieran zu erfahren. „Der Brief war von meinem verstorbenen Vater.“ Kaum hatte er das gesagt, versteifte sich ihr Körper plötzlich, ihm schien, dass sie etwas sagen wollte, aber er kam ihr zuvor: „Er hat mir darin ein paar Dinge erklärt, die ich vorher nicht gewusst habe. Aber er hat mich gleichzeitig auch ziemlich verwirrt. Ich verstehe ihn nicht so recht.“ Und er glaubte auch nicht, dass es jemand anderen gab, der ihm erklären könnte, was das alles zu bedeuten hatte. Niemand anderen außer seiner Mutter vielleicht... wenn sie wirklich noch lebte und es nicht nur ein grausamer letzter Scherz von Kieran gewesen war. „Glaubst du ihm?“, fragte Nel, als wüsste sie genau, was in seinem Inneren vor sich ging. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er wahrheitsgemäß. Er wünschte sich, ihm glauben zu können, aber gleichzeitig waren da seine Erinnerungen, die dagegensprachen und die nur zur Verwirrung beitrugen. Nichts in seinem Leben war mehr sicher oder einfach, das alles hatte in der Nacht geendet, in der Kieran gestorben war. Nel sagte nichts mehr und so brachten sie den Rest der Zeit schweigend hinter sich, jeder von ihnen mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ihre Haut brannte noch immer. Wann immer sie ihren Fuß berührte, der in der Nacht zuvor von dieser seltsamen Kette umschlungen worden war, fühlte es sich an als würde das gesamte Bein in Flammen stehen. Sie fluchte laut, wütend und hasserfüllt, wann immer sie die gerötete Haut betrachtete, in der Hoffnung, dass der Effekt inzwischen verflogen wäre. Noch dazu war ihr der gesuchte Gegenstand nicht in die Hände gefallen, was sicherlich noch zu Ärger mit dem Auftraggeber führen würde. Er mochte es nicht sonderlich, wenn seine Aufträge unerfüllt blieben und er war noch launischer als sie, wenn er mit Wesen wie ihr zu tun hatte. Ihr Blick ging aus dem Fenster ihrer Behausung hinaus. Grün-blaues Licht, das von den phosphoreszierenden Pflanzen und Moos abgegeben wurde, erhellte den Ort, an dem sie sich im Moment befand, gemeinsam mit mehreren Dutzend anderen, bleichen Gestalten, die schon immer hier gelebt hatten. Mehrere Ebenen tiefer, wenn man dem Höhlenpfad folgte, kam man auf die Ebene, auf der sie heimisch war. Dort herrschte rotes Licht und Hitze, beides ging von dem Lavabecken aus, um das sich ihre Spezies angesiedelt hatte. Sie waren Dämonen und vor allem waren sie stolz darauf. Aber nicht jeder verstand, ihre Lebensart, schon gar keine Naturgeister oder Lazari. Hier an diesem Ort waren sie eigentlich weit genug von beidem entfernt, aber dennoch wurden sie heimgesucht und manchmal in solche Vereinbarungen gezwungen, wie eben jene, in der sie sich in diesem Moment befand. Und nun gab es nichts, was sie tun konnte, um diesem Schicksal zu entgehen. Wenn sie diesem Lazarus das Schwert nicht beschaffen könnte, würde nicht nur sie, sondern auch ihr Volk leiden müssen und das durfte nicht geschehen, niemals. Aber wie sollte sie es in Besitz nehmen, wenn es nicht nur von diesem Mann bewacht wurde, sondern auch diese seltsame Kette daran befestigt war? Sie müsste sich dringend etwas einfallen lassen und das möglichst schnell, noch bevor ihr Auftraggeber ungeduldig werden würde. Nel war sichtlich erleichtert, als Nolan ihr am Truppenübungsplatz der Kavallerie in New Kinging wieder auf den Boden half. „Endlich“, seufzte sie. „Ich werde nie wieder reiten!“ Das Pferd wieherte dazu passend, als hätte es diesen Satz genau verstanden und würde sich davon angegriffen fühlen. Schmunzelnd übergab Nolan das Tier einem Stallburschen. „Oh, dabei war es ein so sanftes Pferd. Fredianos Pferd in der Ausbildung dagegen war ein richtiger Wildfang – es wundert mich heute noch, dass er ohne jede sichtbare Schramme davonkam.“ Das verdankte er hauptsächlich dem Umstand, dass er im Gegensatz zu Landis oder Nolan gelernt hatte, wie man sich bei einem Sturz vernünftig abfängt. Dafür musste er aber einige Male ein verstauchtes Handgelenk sein eigen genannt haben, ohne dass es ihm anzumerken gewesen war. Der Gedanke an Frediano deprimierte ihn genauso wie der an Landis, weswegen er sich lieber wieder auf Nel konzentrierte. „Wie auch immer, was willst du jetzt tun? Ich glaube kaum, dass du mit zu Kenton kannst.“ „Vielleicht sehe ich mir einfach die Stadt an“, schlug sie vor. „Ich war noch nie in New Kinging.“ Lächelnd klopfte er ihr auf die Schulter. „Gute Entscheidung. Wir treffen uns später bei meinem Haus, sobald du fertig bist, versteht sich.“ Er erklärte ihr in knappen Worten, wo er wohnte, sie nickte verstehend. „Gut, bis später.“ Sie winkte, während sie davonging und erst als sie aus meinem Blickfeld verschwunden war, betrat er das Gebäude. Es war ein seltsames Gefühl, sich ohne jede Uniform im Palast zu bewegen, aber er empfand es als unsinnig, erst einmal nach Hause zu gehen und sich umzuziehen, wenn Kenton ihn so dringend erwartete. An dessen Büro angekommen, klopfte er kurz an, wartete aber auf keine Aufforderung zum Eintreten, sondern öffnete direkt die Tür. Kenton saß an seinem Schreibtisch und blickte nicht einmal von den Papieren auf, die er gerade bearbeitete, aber sein Sarkasmus funktionierte auch ohne jeden Blickkontakt. „Hallo, geehrter Kommandant Lane.“ „Woher weißt du, dass ich es bin?“, fragte dieser amüsiert. Der Berater legte die Feder beiseite, ehe er aufstand und Nolan lächelnd ansah. „Nur du kommst ungebeten herein, nachdem du vorher geklopft hast. Was würdest du tun, wenn ich doch einmal Besuch habe?“ „Oh... beim letzten Mal habe ich geschmunzelt und dir und Aurora angeboten, später wiederzukommen.“ Kentons Gesicht verfinsterte sich für einen kurzen Moment bei der Erinnerung daran, dann lächelte er aber direkt wieder. „Nun, ich bin froh, dass du so schnell kommen konntest. Es tut mir wirklich Leid, dass ich dich so plötzlich wieder aus dem Urlaub reißen musste, nachdem ich dich erst dazu gedrängt habe.“ Er neigte den Oberkörper ein wenig, aber Nolan winkte sofort ab. „Oh, komm schon, lass das, das ist mir nur peinlich. Sag mir lieber, warum du mich persönlich sprechen wolltest.“ Kenton schwieg allerdings und betrachtete seinen Gegenüber mit ernstem Gesichtsausdruck, bis es Nolan zu viel wurde und er den Blick abwandte. „Was ist denn?“ „Du siehst jetzt noch angespannter aus als vorher“, antwortete der Berater. „Ist etwas passiert?“ Eigentlich wollte Nolan gar nicht darüber sprechen, vor allem nicht in diesem Moment, aber wenn sein Freund derart darauf bestand, konnte er kaum noch ablehnen. Er zog Kierans Brief aus der Tasche und reichte ihn Kenton. „Ich habe im Schlafzimmer einen Brief von meinem Vater gefunden – oder vielleicht sollte ich eher Ziehvater sagen.“ Während sein Freund diesen Brief las, wurde er immer blasser, aber schließlich gab er ihm diesen zurück. „Ich wusste nicht, dass er dir so etwas zurückgelassen hat. Hätte ich das gewusst...“ Er verstummte, als wäre ihm gerade bewusst geworden, dass er dabei war, etwas vollkommen Dummes zu sagen, das nicht zu ihm passen wollte. „Was dann?“, fragte Nolan. „Was hätte das für dich geändert?“ Sein letzter Satz klang vorwurfsvoller als beabsichtigt, aber er war noch immer angespannt und die Erkenntnis, dass selbst sein letzter, verbliebener Freund aus Kindheitstagen etwas vor ihm verbarg, senkte seine Stimmung derart tief, dass sie beinahe schon erfror. Kenton seufzte geschlagen. „Hätte ich gewusst, dass Kieran dir einen Brief mit einer rudimentären Erklärung zurückließ, wäre eine meiner ersten Amtshandlungen die Suche danach gewesen, damit du ihn früher hättest lesen können und ich dir die Begründung für den Namen Lane nicht schuldig geblieben wäre.“ Tatsächlich war dieser Name von Kenton ausgesucht worden, aber jegliche Frage nach der Bedeutung hatte er mit einem Schulterzucken und einem „Er passt eben zu dir“ abgetan. Nun sah es aber so aus, als gäbe es doch noch eine andere Erklärung und auch wenn Nolan diese noch nicht kannte, so hatte er doch bereits eine blasse Ahnung von dem, was er ihm erzählen wollte. Kenton atmete noch einmal tief durch und hob den Brief. „Die Familie, von der Kieran erzählt, heißt Lane – und mein Amtsvorgänger hat mir bestätigt, dass du über Umwege auch ein Teil eben dieser bist.“ Kapitel 8: Gerissener Geduldsfaden ---------------------------------- Die Worte hingen, für Nolans Geschmack viel zu lange in der Luft, aber er schaffte es einfach nicht, zu reagieren. Im Gegensatz zu der starren Stille, die im Büro herrschte, rasten seine Gedanken in seinem Inneren. Kieran war ein Lane gewesen, er war ein Lane, also war er trotz des Briefs mit ihm verwandt gewesen und zu allem Überfluss waren sie auch noch Dämonenjäger... oder so etwas in der Art, er verstand es immer noch nicht und die ziependen Narben auf seinem Rücken halfen ihm auch nicht, sich zu konzentrieren. „Soll das bedeuten, du wusstest davon?“ Nolans Stimme zitterte ein wenig, während er das fragte, aber zu seinem eigenen Erstaunen schaffte er es, nicht allzu verärgert zu klingen. „Du wusstest es die ganze Zeit?“ „Als ich diesen Posten übernommen habe, hat mein Amtsvorgänger Nathan Greenrow mir von den Dämonenjägern erzählt, die man Lazari nennt. Jeder einzelne Lazarus ist ein Mitglied der Familie Lane und zu dieser gehörst du ebenfalls. Aber Sir Greenrow sagte mir auch, dass Kieran nicht wollte, dass du ein Lazarus wirst. Die Gründe konnte er mir auch nicht sagen, aber dieser Brief erklärt es.“ Nolan begann unwillkürlich zu zittern. „Du hast es die ganze Zeit gewusst! Und du hast mir nichts davon gesagt?!“ „Es war ein Geheimnis“, verteidigte Kenton sich mit wesentlich ruhigerer Stimme. „Ich durfte es niemandem verraten, nicht einmal dir – schon allein, weil ich damit gegen Kierans Wünsche verstoßen hätte. Ob richtiger Vater oder nicht, er war immerhin dein Erziehungsberechtigter.“ Doch diese eigentlich so vernünftigen Worte stießen bei Nolan auf taube Ohren. „Du hast es gewusst! Und genau wie bei der Sache mit Landis hast du einfach nichts gesagt!“ Kenton zuckte zusammen, als sein Gegenüber dies erwähnte, aber dieser ließ sich davon nicht abhalten, mit dem Fluchen zu beginnen. „Verdammt nochmal! Warum, zur Hölle, bist du so?! Warum verschweigst du uns dauernd Dinge?! Nein, nein! Warum verschweigst du mir dauernd Dinge, besonders, wenn sie so wichtig sind wie das hier?!“ Seine laute Stimme nahm das ganze Büro ein und ließ Kenton unwillkürlich zurückweichen, doch er glich den Schritt sofort wieder aus und stellte sich aufrecht hin, um Nolans Wut über sich ergehen zu lassen. „Hast du etwas gegen mich?!“, fauchte Nolan weiter. „Wenn das so ist, kannst du es mir, verdammt nochmal, sagen! Das würde die Sache für uns beide wesentlich einfacher machen! Dann würde ich nämlich nicht dauernd glauben, dass du mein Freund bist!“ „Lass mich doch-“, begann Kenton, wurde aber sofort wieder unterbrochen: „Nein! Hör zu, ich verschwinde jetzt erst einmal. Mir egal, wie wichtig dieser Staatsbesuch ist, der wird ja garantiert sowieso nicht heute stattfinden, habe ich recht?“ Kenton nickte, sparte sich aber weitere Worte, die im Moment ohnehin vergebens gewesen wären, da Nolan sich bereits umgedreht hatte. „Fein! Wenn du das Bedürfnis verspürst, mich endlich mal in dein ach-so-heiliges-Geheimwissen einzuweihen, findest du mich heute Abend zu Hause. Bis dahin will ich von dir nichts sehen oder hören!“ „Aber Nolan, warum lässt du mich nicht einfach jetzt sofort erklären, weswegen ich nichts gesagt habe?“ Er wusste offenbar, dass er sich damit auf gefährliches Gebiet begab, denn er wich wieder einen Schritt zurück, als er Nolans wütenden Blick auf sich zog, so als fürchtete er, dass dieser ihm jeden Moment einen heftigen Schlag verpassen würde. Doch stattdessen schnaubte er wütend. „Du kannst mich mal, Kenton!“ Mit diesen Worten ging er auf die Tür zu, riss diese heftig auf und schlug sie wütend hinter sich zu, kaum dass er auf den Gang getreten war. Ein Benehmen, das Kenton nicht im Mindesten passte und deswegen durchaus angebracht war, wie er fand. Sollte sein Freund ruhig einmal merken, dass er auf ihn wütend war und es sich nicht nur um eine Spinnerei handelte. Sein Zorn, geboren aus dem Unverständnis über Kentons Handlungen und Geheimniskrämerei, der schon seit Landis' Tod in seinem Inneren geschwelt hatte, überragte seine Neugier auf das, was er an diesem Tag über Kieran und sich selbst in Erfahrung gebracht hatte. Notfalls würde er auch ohne Kenton dahinter kommen, er brauchte keinen Freund, der jeden Tag und jede Nacht mit solchem Wissen verbringen konnte, ohne dabei anscheinend auch nur den Hauch eines schlechten Gewissens zu entwickeln. Ja, er war sich sogar fast sicher, dass Kenton und seine Mutter beide mehr wussten, als sie zugeben wollten und es sich nur zur Aufgabe gemacht hatten, ihn mit ihrem Schweigen zu ärgern. Dass er selbst wichtige Dinge, wie den Mörder Kierans, verschwieg und das schon seit Jahren, ließ er dabei galant unter den Tisch fallen. Vorerst würde er erst einmal nach Hause gehen und wenn Kenton daran interessiert war, irgendetwas zu klären, könnte er zu ihm kommen. Sollte er nicht auftauchen, wüsste er immerhin woran er war und wieviel er von seinem Freund zu halten hatte. Das dachte er, während er wütend den Gang hinunterlief, nur um sich dann unwillkürlich zu fragen, ob Nel sich wohl in der Stadt zurechtfand. Das tat sie – allerdings nur mehr oder weniger. Sie wusste inzwischen ungefähr, wo Nolan wohnte und wo die reichen Bürger lebten und wo die Armen, denen es aber auch ohne jedes Geld erstaunlich gut zu gehen schien. Jedenfalls trug keiner von ihnen abgewetzte Kleidung, die Häuser sahen gepflegt aus und es roch nach köstlichem Essen, während vor den Gebäuden Menschen saßen und sich lachend unterhielten. Sie kam auch nur auf diese Annahme, dass es sich um das Armenviertel handelte, weil der Weg nicht asphaltiert war und die Häuser keinerlei ausgefallene Dinge trugen, wie bunte Blumenkästen oder besonders verzierte Gardinen. Trotz der vorherrschenden Fröhlichkeit ließ sie dieses Viertel schnell wieder hinter sich und kehrte in die Gegend zurück, in der Nolan wohnte, ehe sie sich vielleicht doch verlaufen würde. Während sie durch jenes Viertel schlenderte, wurde sie durch mehrere Stimmen plötzlich auf einen kleinen Pfad aufmerksam, der zu einem verborgenen Platz führte. Es roch nach Seife, was sich schnell dadurch erklärte, dass zwei Waschzuber neben einem Brunnen standen. Zwei Frauen knieten vor den Zubern und waren damit beschäftigt, Wäsche zu waschen. Nicht weit entfernt und mit ihnen plaudern, stand noch eine Frau – deren rosa Haar Nel sofort ins Auge stach, genau wie die Tatsache, dass sie schwanger war – und ein älterer Mann mit braunem Haar, das bereits durch graue Strähnen gezeichnet war und der ein Baby auf den Armen trug. „Eigentlich sollte ich heute gar nicht hier sein“, schnaubte eine der Frauen, die gerade mit Waschen beschäftigt war und schüttelte den Kopf heftig, damit einer ihrer braunen Zöpfe, der über ihre Schulter zu fallen drohte, wieder auf ihren Rücken zurückrutschte. „Ich war schon dabei, zu gehen, da kam Kenton zu mir und sagt, dass ich nicht zu gehen brauchen, weil er Nolan ohnehin gerade zurückholt. Aber was das alles sollte, wollte er mir nicht sagen.“ Nel wagte nicht, näher zu gehen und blieb im Pfad stehen, als sie hörte, wie sie von Nolan sprachen. Offenbar waren das Freunde von ihm, denn sie alle gaben ein leises Seufzen von sich. „Dabei könnte er Urlaub gerade so gut gebrauchen“, bemerkte die Frau, die ebenfalls wusch. Im Gegensatz zu der Braunhaarigen konnte sie von ihrem schulterlangen, schwarzen Haar nicht gestört werden, dafür fuhr sie sich immer wieder mit der Hand über die nasse Stirn und hinterließ dabei Seifenreste. „In letzter Zeit wirkt er immer reichlich gereizt.“ „Das ist mir auch schon aufgefallen“, bestätigte der Mann. „Ich traute mich kaum noch, irgendwas zu ihm zu sagen, das nicht positiv gemeint war – und selbst da musste man aufpassen, wie es formuliert war, damit er sich nicht angegriffen oder an Lan erinnert fühlte.“ „Also ich habe das nicht bemerkt“, erwiderte die Braunhaarige, was bei der Schwangeren zu einem spontanen Lachanfall führte. „Ist ja auch kein Wunder, Nadia“, sagte sie dann. „Gegenüber Leuten, in die man verliebt ist, benimmt man sich ganz anders als gegenüber allen anderen. Besonders wenn man diese anderen Personen bereits seit seiner Kindheit kennt.“ Nadia hustete verlegen und senkte den Blick, statt noch etwas zu sagen. Was aber die schwarzhaarige Frau nicht davon abhielt, selbst noch einmal zu sprechen: „Wenn er sich – endlich mal – entschließt, dich zu heiraten, wärst du die nächste Kommandantenfrau und müsstest keine Wäsche mehr waschen.“ „Oh, na das wäre doch mal ein Grund, unbedingt heiraten zu wollen“, erwiderte Nadia sarkastisch. „Warum denkt ihr überhaupt dauernd, dass er das will?“ „Warum sollte er nicht wollen?“, fragte der Mann schulterzuckend. „Irgendwann sollte er schon daran denken, zu heiraten. Bei einem Posten wie seinen gibt es schon genug Frauen, die ihn nur wegen der Vorteile haben wollen, da wäre es wesentlich angebrachter, aus anderen Gründen zu heiraten.“ Nadia stöhnte genervt. „Toll, jetzt fühle ich mich, als müsste ich ihn auf Knien anflehen, mich zu ehelichen, damit er nicht von irgendeiner Trophäenjägerin in sein Unglück gestürzt wird.“ „Das wäre bestimmt ein interessanter Anblick“, bemerkte die Schwarzhaarige lachend. „Aber er würde sicher ablehnen, weil du ihn in seiner Männlichkeit gekränkt hast, immerhin muss er ja den Antrag machen.“ Nel konnte nicht verhindern, dass ihr ein leises Lachen entschlüpfte, als sie sich diese Szene vorzustellen versuchte und obwohl sie sich die Hand vor den Mund hielt, war es offenbar noch laut genug, dass alle Anwesenden auf sie aufmerksam wurden. Um nicht unhöflich zu sein, begab sie sich zu den Unbekannten. Der Blick, mit dem die Schwangere sie mit ihren goldenen Augen musterte, gefiel ihr allerdings gar nicht, weswegen sie versuchte, sich ein wenig von ihr fernzuhalten und sich lieber zu dem Mann stellte, von dem eine gewisse Sicherheit auszugehen schien. „Dich habe ich hier noch nie gesehen“, bemerkte die Schwarzhaarige. „Wohnst du in New Kinging?“ „Nein“, antwortete sie sofort, ein wenig verlegen. „Ich komme nicht von hier, ich bin heute erst in der Stadt angekommen. Mein Name ist Nel.“ Die Schwangere grinste. „Ah, Nel, so so. Ich bin Aurora.“ Sie wartete auf eine bestimmte Reaktion, die Nel ihr aber nicht liefern konnte, stattdessen nickte sie nur schüchtern und sah dann zu den anderen Frauen. Die Schwarzhaarige lächelte warm, was ihre blauen Augen glitzern ließ. „Mein Name ist Oriana, es freut mich, dich kennenzulernen.“ Die einstudierte Freundlichkeit wurde von ihrer aufrichtigen Freude begleitet, was Nel einigermaßen beruhigte, während sie zwischen all diesen Fremden stand. Da Nadia keine Anstalten machte, etwas zu sagen, übernahm Oriana das. Sie nickte mit dem Kopf zu ihr hinüber. „Das ist Nadia. Stör dich nicht an ihr, sie ist nur ein wenig schüchtern und redet nicht gern mit Fremden.“ Für diese Aussage erntete Oriana einen wütenden Blick, der sie allerdings nicht im Mindesten störte. Ja, Nel konnte sich durchaus vorstellen, dass sie gemeinsam mit Nolan aufgewachsen war. Zuguterletzt sah sie den Mann an, der noch nichts gesagt hatte, aber da niemand für ihn die Vorstellung übernahm, machte er das mit einem Seufzen selbst: „Richard. Und dieser Kleine hier ist Landis... Rias Sohn.“ Ihr entging das Zögern nicht, als wäre er eigentlich gewohnt, etwas anderes hinzuzufügen, aber sie war mehr an dem Kleinkind interessiert, das in Richards Armen schlief, wie sie bei genauerem Hinsehen erkannte. „Er ist wirklich süß~.“ „Aber natürlich“, sagte Oriana mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. „Ich bin immerhin seine Mutter.“ Doch nach diesen Worten lachte sie bereits wieder amüsiert. „Ich glaube eher, viele Kleinkinder sind sehr süß... jedenfalls habe ich noch kein unsüßes gesehen...“ Sie neigte den Kopf ein wenig, als würde sie nun tatsächlich darüber nachdenken. Auroras Blick weitete sich derweil zu einem Starren aus, was dazu führte, dass Nel noch einen Schritt näher an Richard heranrückte. „Was führt dich nach New Kinging?“, fragte Aurora neugierig. „Sehenswürdigkeiten?“ „Uhm, nein, also... nicht direkt. Ich wollte zwar wirklich durch das ganze Land reisen, aber dass ich nun hier bin, liegt mehr daran, dass...“ Sie war sich aufgrund Nadias Anwesenheit nicht sicher, ob sie wirklich zugeben sollte, dass sie gemeinsam mit Nolan angekommen war, aber das wurde ihr auch bereits abgenommen, als Schritte erklangen und sich eine weitere Person zu ihnen gesellte. Immer noch wütend auf Kenton, lief Nolan durch die Stadt, auf dem Weg zu seinem Zuhause, wo er Nel bereits vermutete. Aber auch wenn sie noch nicht da wäre, könnte ihm das nur recht sein, da er gerade dringend etwas Alkohol vertragen könnte – oder auch viel – und er nur hoffen konnte, noch etwas in seinem Schrank zu haben. Doch mit jedem Schritt wurde er wieder ein wenig ruhiger und bereute sogar fast, Kenton angeschrien und dann zurückgelassen zu haben. Aber nur fast, denn der Zorn wollte einfach nicht verschwinden. Auch wenn er sich noch an Charons Worte erinnerte, die besagten, dass Landis' und Fredianos Schicksal immer auf einen frühen Tod hinausgelaufen wäre, so kam er nicht umhin, Kentons Geheimniskrämerei die Schuld daran zu geben, egal ob Landis ihn vielleicht sogar darum gebeten hatte, kein Wort zu irgendwem zu sagen. Je mehr er darüber nachdachte, desto düsterer wurden seine Gedanken. Seine Wut verflog allerdings augenblicklich, als er eine süße Stimme hörte: „Onkel No!“ Er blieb stehen und wandte sich der Stimme zu, die zu einem kleinen Mädchen mit kurzem schwarzen Haar und braunen Augen – die sie eindeutig von ihrer Großmutter Bellinda hatte – gehörte. Lächelnd kniete er sich vor sie, was sie ebenfalls mit einem Lächeln quittierte. „Hallo, Milly, wie geht es dir?“ „Total gut“, antwortete sie, mit Worten, die sie eindeutig von ihm kannte. „Ich war gerade bei Freunden spielen und suche jetzt Opa Richard. Er ist nicht zu Hause.“ Traurig ließ sie ihre Mundwinkel sinken, ein Anblick, den Nolan nie ertragen konnte. „Hör zu, ich habe gerade nichts vor, ich helfe dir, ihn zu finden.“ „Wirklich?“, fragte sie strahlend. „Das wäre voll super!“ Mit einem Schmunzeln erinnerte Nolan sich, wie Frediano bei dieser Wortwahl seiner Tochter stets leise und verzweifelt mit den Zähnen geknirscht hatte. Aber nun war er nicht mehr dabei und Oriana war wesentlich liberaler in der Erziehung, weswegen sie quasi sagen konnte, was sie wollte. „Na dann, komm.“ Er richtete sich wieder auf und reichte ihr dann die Hand, die sie lächelnd ergriff, ehe sie gemeinsam mit ihm loslief. Dabei stellte er wieder einmal fest, wie viele Blicke sie beide ernten, wenn sie dieses Bild boten – es musste wohl wirklich interessant aussehen, da war er fast schon unglücklich, dass er das nicht selbst betrachten konnte. Allerdings verwarf er den Gedanken wieder, um sich darauf zu konzentrieren, wo sich Richard befinden könnte, aber das war nicht schwer. Es gab nicht viele Orte an denen der Mann sich aufhielt, die könnte man schnell absuchen und der erste war der Brunnenplatz, auf dem so ziemlich alle, die er kannte, ihre Wäsche wuschen oder Wasser holten, wenn es sein musste. Dabei fand er es erstaunlich, dass es in New Kinging noch Brunnen gab, während es in Cherrygrove schon seit langem Wasserpumpen gab – allerdings war dort immerhin einmal ein Kind in einen Brunnen gefallen, hier war das offenbar noch nie geschehen. Zu Nolans Überraschung fanden sie auf dem Brunnenplatz nicht nur den gesuchten Richard, so wie Oriana, Aurora und Nadia, sondern auch noch Nel, die ihn sofort erleichtert ansah, als sie ihn erkannte. Milly ließ seine Hand los und huschte zu Richard hinüber. „Opa Richard! Da bist du ja. Ich habe dich überall gesucht.“ Offenbar sah er das als gute Gelegenheit, um das Kleinkind loszuwerden, denn er drückte es sofort dem überrumpelten Nolan in den Arm, ehe er sich Milly zuwandte. Was er allerdings mit ihr besprach, konnte der Kommandant nicht verstehen, da er seine Aufmerksamkeit bereits wieder Nel zuwandte: „Hast du dich schon mit meinen Freunden vertraut gemacht, hm?“ „Ein wenig“, bestätigte sie verlegen. Nadia hielt augenblicklich in ihren Bewegungen inne, aber dafür reagierte Oriana direkt: „Wir wussten nicht, dass sie eine Freundin von dir ist. Woher kennt ihr euch?“ „Wir haben uns unterwegs getroffen und beschlossen, zusammen zu reisen. Als ich dann zurückgerufen wurde, hat sie entschieden, mich zu begleiten.“ Dafür erntete Nel einen stechenden Blick von Nadia, der sie zurückweichen ließ. „Du machst auch dauernd neue Freunde, oder?“, fragte Oriana amüsiert. „Lan mag dich ja auch sehr.“ Diese Worte versetzten ihm wie immer einen leichten Stich. Er blickte auf das schlafende Baby in seinen Armen hinab, das sich nicht im Mindesten daran störte, nach seinem Vater benannt worden zu sein, im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen. Was Oriana sich dabei gedacht hatte, würde Nolan niemals verstehen. Richard stellte sich wieder aufrecht hin und drehte sich um. „Ria, stört es dich, wenn ich Milly mitnehme? Sie sagt, sie hat Hunger.“ „Riesigen Hunger“, bestätigte das Mädchen und breitete die Arme aus, um ihr Argument zu unterstützen. Oriana lachte leise. „Natürlich nicht. Bring sie nur heute Abend wieder nach Hause.“ Er nickte bestätigend und nahm Milly dann bei der Hand, um mit ihr den Brunnenplatz zu verlassen. Doch bevor sie ging, zupfte sie noch einmal an Nolans Kleidung. Als er in die Knie ging, begann sie verschwörerisch zu flüstern: „Onkel No, du darfst doch nicht Tante Nadia traurig machen, das ist nicht in Ordnung. Papa hat immer gesagt, man darf Leute nicht traurig machen.“ Ja, Frediano hatte wirklich für eine gute Erziehung gesorgt, wie Nolan wieder einmal feststellte. „Keine Sorge, das war nicht meine Absicht. Ich will sie ja auch nicht traurig machen.“ Zufrieden mit dieser Antwort, zwinkerte sie ihm zu – wobei sie wie üblich beide Augen zusammenkniff, statt nur eines – und ging dann gemeinsam mit Richard weiter. Oriana schien derweil mit Waschen fertig zu sein, denn sie legte das letzte Kleidungsstück in einen Korb und stand dann auf. „Jetzt gib Lan mal lieber an Aurora weiter, damit sie und ich nach Hause gehen können. Ich nehme an, du hast jetzt was anderes zu tun.“ Freudestrahlend streckte Aurora die Arme aus. „Ja, gib her, gib her~.“ Ohne zu zögern, reichte er ihr den Jungen, der sich auch dadurch nicht wecken ließ. Zufrieden und ein leises Lied singend, ging Aurora mit ihm auf den Armen davon, gefolgt von Oriana, die den Wäschekorb trug und Nolan zuzwinkerte, als sie an ihm vorbeilief. „Kannst du vielleicht vorne auf der Straße warten, Nel?“ Sie zuckte erschrocken zusammen, dann nickte sie hastig und verschwand rasch aus seiner Sicht. Kaum waren er und Nadia allein, setzte er sich seufzend zu ihr. Jegliche Feindseligkeit fiel sofort von ihr ab und wurde durch Besorgnis ersetzt: „Was ist los? Du siehst so durcheinander aus.“ „Das bin ich auch“, bestätigte er. „Sag mal, wie hast du dich gefühlt, nachdem du herausgefunden hast, dass du eine Halbnymphe bist?“ „Ich fand es toll“, antwortete sie mit einem verlegenen Lächeln. „Aber Aidan war davon absolut nicht angetan. Er meinte, wir wären damit unnormal und Außenseiter. Er hat einfach nicht die Vorteile sehen können, die damit zusammenhängen und außerdem muss man das ja nicht jedem auf die Nase binden, den man trifft.“ Er nickte zustimmend, sagte aber nichts, weswegen sie nachhakte: „Warum fragst du? Hast du herausgefunden, dass du Naturgeister in deiner Ahnenreihe hast?“ „Ich wünschte, es wäre so“, seufzte er. „Nein, ich habe heute erfahren, dass mein Vater gar nicht mein Vater war – und dass ich ein Dämonenjäger oder so etwas bin.“ Vor Schreck ließ Nadia das Kleidungsstück fallen, dass sie gerade wusch. Es versank im trüben, seifigen Wasser, aber sie beachtete es erst einmal nicht weiter, sondern blickte ihn mit geweiteten Augen an. „Ein Dämonenjäger?“ „Ja... ein Lazarus oder so etwas in der Art. Und Kenton wusste das alles die ganze Zeit, seit er Berater der Königin geworden war – und wieder einmal hat er es mir nicht gesagt.“ „Hast du ihn angeschrien?“ Verwundert blickte er sie an. „Woher weißt du das?“ „Du wirkst so zerknirscht“, antwortete sie. „Das tust du auch immer, wenn du deine Kavalleristen anschreist. Also gehe ich davon aus, dass du Kenton zusammengestaucht hast.“ „Das ist richtig“, bestätigte er. „Ich bin auch ziemlich sauer auf ihn.“ Nadia griff ins Wasser und tastete nach dem Kleidungsstück, das sie fallengelassen hatte. „Du solltest vielleicht noch einmal in Ruhe mit ihm reden. Sicher hat er seine Gründe für das Schweigen und es ist ihm auch ganz bestimmt nicht leichtgefallen.“ Während er ins Nichts starrte, grübelte er ein wenig. Nadia hatte sicherlich recht, er musste mit Kenton darüber sprechen, ohne ihn wegen allem, was vorgefallen war, anzuschreien. Also konnte er nur hoffen, dass er am Abend wirklich auftauchen würde, denn er wollte das alles nicht im Büro des Beraters besprechen. Aber so wie er seinen Freund kannte, würde er mit Sicherheit kommen, um alles näher zu erläutern und zu besprechen. „Ja, du hast recht. Danke, Nadia.“ Er lächelte ihr zu, was sie genauso erwiderte, ehe sie weitersprach: „Aber vielleicht solltest du dich jetzt erst einmal um deine Freundin kümmern.“ „Beton das doch nicht derart. Nel ist eine Freundin, so wie Oriana. Was ist daran auszusetzen?“ „Nichts“, erwiderte sie spitz, so dass er wusste, dass sie schlechte Laune hatte. Aber er wusste auch, dass er nicht dagegen argumentieren konnte, so stur wie sie immer war – auch wenn das eine Eigenschaft war, die ihm durchaus an ihr gefiel. „Ich sollte jetzt aber wirklich gehen“, stimmte er zu und stand wieder auf. Doch schon nach wenigen Schritten hielt er wieder inne. „Sag mal... stört es dich nicht?“ „Was?“, fragte sie ratlos. „Diese ganze Dämonenjäger-Sache... mich stört das sehr.“ Er wagte es nicht, sie anzusehen, aber das musste er auch nicht, denn er merkte auch so, dass sie lächelte, als sie antwortete, da es in jedem ihrer Worte hörbar war: „Du bist und bleibst Nolan, egal, ob du auch noch ein Dämonenjäger bist oder nicht. Das ändert nichts an dir.“ Er lächelte ebenfalls, als er das hörte. „Danke, Nadia.“ Mit diesen Worten ging er weiter und blieb nicht noch einmal stehen, so dass er Nadias Flüstern nicht mehr hören konnte: „Keine Ursache...“ Kapitel 9: Lazarus ------------------ Am Abend klopfte es, zu Nolans Erleichterung, an der Tür seines Hauses. Für eine ganze Weile hatte er befürchtet, dass Kenton sich derart vor einem weiteren Wutausbruch fürchten würde, so dass er nicht kommen würde. Doch gerade als er sich überlegt hatte, stattdessen selbst den Berater aufzusuchen, da Nel sich bereits zum Schlafen hingelegt hatte, klopfte es an der Tür. Mit einem erleichterten, und doch ein wenig verlegenem, Lächeln, ließ Nolan ihn herein. „Guten Abend, Kenton.“ „Du scheinst dich wieder beruhigt zu haben“, stellte Kenton fest, während er eintrat und dem Gang in die Küche folgte, wo er sich ungebeten an den Tisch setzte. Nolan störte sich nicht weiter an diesem Verhalten, das gar nicht zum Berater der Königin passen wollte und setzte sich ihm gegenüber. „Ja, ich nehme an, ein wenig Zeit war ganz gut für mich.“ „Nun, es muss ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein.“ „Vergiss den Verrat nicht.“ Nolan konnte sich diese Anmerkung einfach nicht verkneifen, immerhin setzte ihm diese Geheimniskrämerei immer noch zu – aber er sah langsam auch ein, dass es vielleicht das Beste gewesen war. Er wusste selbst, dass er manchmal zu unüberlegten Handlungen neigte, wenn man ihm etwas erzählte und er wollte gar nicht wissen, was er getan hätte, wenn er bereits vor Landis' Rückkehr von dessen Verwicklungen erfahren hätte. Vermutlich wäre er direkt zu ihm geeilt, in einem Versuch, ihn von Sicarius Vita loszueisen und wer weiß, wie das Ende dieser Geschichte gewesen wäre? „Jetzt bin ich ja aber hier, um dir davon zu erzählen“, erwiderte Kenton im versöhnlichem Tonfall. „Auch wenn ich zugeben muss, dass ich nicht jedes Detail weiß. Ich hatte noch nie Kontakt mit der Gilde selbst, lediglich mit Nathan Greenrow, der mir davon erzählt hat.“ „Das würde mir vorerst reichen“, versicherte Nolan ihm. „Ich weiß bislang nur, dass es sich um Dämonenjäger handelt und mein Vater und Kieran beide Mitglieder gewesen waren.“ Kenton atmete tief durch und überlegte wohl, wie er anfangen sollte, als Nolan wieder einfiel, was für ein furchtbarer Gastgeber er gerade war und er dem Berater erst noch einen Tee anbot, den dieser dankend annahm. An der Tasse nippend, nickte er schließlich, als ihm offenbar tatsächlich eine Idee für einen Ansatz gekommen war. Dennoch nahm er sich erst die Zeit, die Tasse wieder abzusetzen und die Hände auf dem Tisch zu verschränken. „Die Lazarus-Gilde gibt es schon seit etwa dreihundert Jahren. Sie wurde damals von dem Dämonenjäger Ambrose Lane und dessen Gefährtin Cerise gegründet. Es heißt, dass er von dem Custos Vitae Fileon von den Toten zurückgeholt wurde und er diese Eigenschaft – das einmalige Auferstehen als Lazarus – an all seine Nachfahren, egal wie weit entfernt sie sind, weitervererbt.“ Nolan zog die Brauen zusammen, während er sich wieder daran erinnerte, dass Oriana ihm einmal von diesem Fileon und auch Ambrose erzählt hatte. Die beiden waren der Mittelpunkt ihrer liebsten Geschichte gewesen, aber von Dämonenjägern war niemals die Sprache gewesen – spontan musste er sich fragen, ob man auch über ihn einmal Geschichten erzählen und wieviel man dann weglassen würde, sein Wutanfall gehörte hoffentlich dazu. „Da Ambrose viele Kinder und Enkel hatte, gelang es dem Lazarus-Gen, sich in ganz Király und auch Monerki auszubreiten. Es ist gut möglich, dass wesentlich mehr Leute auf zig Umwegen mit dir verwandt sind, als du selbst denkst.“ Die Vorstellung gefiel Nolan äußerst gut, immerhin hieß das, dass er nicht wirklich... allein war. Er war nicht der Meinung, dass Blutsverwandtschaft allein Familie ausmachte, aber es gab einem eine erste Verbindung, noch bevor man sich überhaupt kennengelernt hatte und das war in seinen Augen etwas Schönes. „Früher operierten die Lazari wesentlich offener, man lernte sogar im Unterricht über sie. Aber dann begannen die Herrscher Monerkis die Mystischen jeder Art zu fürchten. Vielleicht erinnerst du dich noch an deinen Geschichtsunterricht...“ Nolan nickte sofort. „In Fabia 27, also 27 Jahre nach Beginn der offiziellen Zeitrechnung entstand auf dem Nordkontinent das Königreich Pelegrina und gleichzeitig begannen beide Reiche, mit dem Krieg gegen die mystischen Wesen. Auch wenn niemand weiß, warum.“ Jedenfalls war davon nie etwas im Unterricht gesagt worden, selbst wenn er oder Landis nachgehakt hatte. Es war immer mit den Schultern gezuckt und geantwortet worden, dass es wohl in den Aufzeichnungen verloren gegangen wäre. „Nicht weiter verwunderlich“, meinte Kenton. „Die Herrscher beider Reiche misstrauten den Lazari, weil sie sterben und dann mit übermenschlichen Fähigkeiten wiederauferstehen. Trotz Cerises Versuchen, die ganze Situation unter Kontrolle zu bringen, weitete sich das bald zu einem Krieg gegen alle mystischen Kreaturen aus, der sechs Jahre später darin gipfelte, dass die Beschwörer eine Katastrophe unter ihresgleichen anrichteten und dabei auch Ambrose töteten. Danach zogen die mystischen Wesen sich auf eine eigene Insel zurück, während die Lazari schworen, nur noch im Geheimen tätig zu sein und die Menschen weiter vor Dämonen zu schützen.“ Nolan unterdrückte das bewundernde Seufzen, das seiner Kehle entringen wollte. Kämpfer im Geheimen, die in der Dunkelheit Menschen retteten, die nicht einmal wussten, dass es sie gab. Sie bekamen keinen Lob, kein Geld, keinerlei Ruhm, nicht einmal im Mindesten Anerkennung für ihre Taten – etwas Heldenhafteres konnte er sich gar nicht vorstellen. Und Kieran war einer von ihnen... Noch fiel es ihm ein wenig schwer, den griesgrämigen, verschlossenen Mann in einer solchen Rolle zu sehen, aber vielleicht war auch das nur eine falsche Erinnerung gewesen, wie Kieran es in seinem Brief geschrieben hatte. Er wusste nicht mehr, was in seinem Gedächtnis noch Wahrheit oder Lüge war, aber von einer Sache war er überzeugt: Seine Gefühle logen nicht. Er hatte Kieran irgendwann auch einmal als Helden gesehen, ihn bewundert und ihn wie einen Vater geliebt, das konnte einfach nicht gefälscht sein. „In Fabia 275 war die Gilde trotz der geheimen Operationen gerade auf ihrem Höhepunkt“, fuhr Kenton fort. „Die Stimmung war gut und man bejubelte den neuen Helden Cathan sogar außerhalb der Gilde, weil er sich dort als Retter mancher Stadt einen Ruf erarbeitet. Er war der Archetyp des Lazarus: Ein selbstloser, furchtloser Kämpfer, der sich selbst in den aussichtslosesten Situationen nicht unterbringen ließ und das Vertrauen aller erhielt, mit denen er in Kontakt kam – und dennoch war er ein bescheidener Mann, für den es eine Selbstverständlichkeit war, das alles zu tun.“ Nolans Herz flatterte regelrecht, als er das hörte. Alles, was er über Cathan erzählte, erinnerte ihn daran, wie er selbst gern als Held sein wollte und er bedauerte regelrecht, ihn nie kennengelernt zu haben. Mit Sicherheit wären sie gut miteinander ausgekommen. „Alles schien perfekt, als er drei Jahre später einen Sohn bekam, bei dem man davon ausging, dass er eines Tages den Heldenstatus seines Vaters weitertragen würde. Dieser Junge bekam den Namen Kieran.“ Nolan glaubte, sich verhört zu haben, obwohl der Name in seinem Inneren widerhallte. Kieran war der Sohn eines Helden gewesen, ein Mann, der sein eigenes Leben dem Kampf im Dunkeln gewidmet hatte – so verwunderte es ihn nicht weiter, dass es auch ihm leichtgefallen war, diesen Pfad zu beschreiten und sich selbst vollkommen aufzugeben. „Aber als Kieran gerade sechs Jahre alt gewesen war, geriet alles außer Kontrolle. Ein Dämon tötete seine Mutter, ehe er von Cathan gestoppt werden konnte – und diese Erkenntnis ließ Cathans Weltbild und auch seinen Heldenstatus zerbrechen, als wäre beides aus hauchdünnem Glas gefertigt. Er verließ die Gilde und reiste mehrere Jahre mit Kieran durch das Land. Zwar bekämpfte Cathan weiterhin Dämonen, doch versuchte er gleichzeitig zu verhindern, dass Kieran etwas von der Lazarus-Gilde erfuhr. Niemand weiß so recht warum, aber er wollte nicht, dass sein Sohn zur Gilde zurückkehrt, deren Ruf langsam aber sicher Risse bekam und auch die Moral der anderen Mitglieder sank tief in den Keller.“ Nolan konnte sich durchaus vorstellen, warum Cathan das gewollt hatte. Es war vermutlich derselbe Grund, weswegen Kieran bei ihm gezögert hatte: Die Jagd war gefährlich und kein Vater wollte seinen Sohn derart in Gefahr wissen und vielleicht war auch Kieran damals einfach zu gutherzig gewesen, um ernsthaft gegen Dämonen in den Kampf geschickt zu werden. „Als Kieran neun Jahre alt war, wurde er von einer Dämonin angegriffen, die es schaffte, Cathan zu töten. Fortan war er auf sich allein gestellt und landete so während seiner Wanderschaft schließlich in Cherrygrove.“ So ist er also dort hingekommen... Diese Geschichte hatte Nolan lange interessiert, aber ihm war lediglich erzählt worden, dass Kieran sich nicht daran erinnerte, was vor seiner Zeit in Cherrygrove geschehen war und sein Gedächtnis erst wirklich dann einsetzte, als er das erste Mal im Waisenhaus aufgewacht war. „Dort erwachte er als Lazarus, um Richard zu retten.“ Wieder fühlte Nolan sich überrascht. Ihm war bewusst gewesen, dass Kieran und Richard sich nahegestanden hatten und immer beste Freunde gewesen waren, aber dass er sogar für diesen einmal gestorben war, fand er reichlich rührend und es erfüllte ihn mit einer Woge von Zuneigung, denn es zeigte ihm etwas, das er mit Kieran teilte: Seine Bindung zu seinen Freunden und den unerschütterlichen Glauben an diese. „Nachdem das geschehen war, wurde Kieran von der Gilde einberufen und er musste feststellen, dass sie ihren einstigen Glanz verloren hatte. Die meisten Mitglieder waren der Verzweiflung nahe oder flüchteten sich in Zynismus und Kaltherzigkeit, während sie einen offenen Krieg gegen Dämonen und jene Menschen führte, die von ihnen wussten. Kieran versuchte, der Held zu sein, der sein Vater gewesen war, um die Gilde wieder zur Zusammenarbeit zu bewegen, aber nichts, was er tat, funktionierte – und dann erkannte er dein Potential.“ Nolan deutete ein Nicken an. „Der Rest ist mir bekannt, Kieran hat es in seinem Brief geschrieben.“ Fast schon bedauerte er allerdings, ihn nur noch mit seinem Vornamen anzusprechen, auch in seinen Gedanken, denn nachdem, was er nun gehört hatte, war Kieran ein Held gewesen. Kein sonderlich erfolgreicher vielleicht, aber er hatte alles gegeben, was er besaß, um das zu erreichen und das nicht für seinen eigenen Ruhm, sondern nur um anderen etwas Gutes zu tun. Er wünschte sich, das alles bereits wesentlich früher gewusst zu haben. „Heute sieht es bei den Lazari noch schlimmer aus“, bemerkte Kenton mit gerunzelter Stirn. „Der Gilde mangelt es an Mitgliedern, weil viele es vorziehen, lieber doch nicht zu kämpfen oder sie einfach inkompatibel mit anderen und deswegen nicht tragbar sind. Wenn das so weitergeht, wird die Gilde bald komplett zerbrechen und jeder einzelne Lazarus wird auf sich allein gestellt sein.“ Er neigte den Kopf und wirkte nun doch eher verwirrt. „Auch wenn ich nicht weiß, wo bei dieser Sache das Problem liegt. Es gibt da sicherlich etwas, das Nathan mir verschwiegen hat oder selbst nicht weiß.“ Nolan kümmerte sich allerdings nicht weiter darum, er war davon überzeugt, dass er das schon selbst feststellen würde. „Mein richtiger Vater war einer von ihnen. Dann bin ich ebenfalls ein Lazarus... aber ich bin noch nicht gestorben.“ „Dann werden deine Kräfte auch noch nicht erwacht sein“, vermutete Kenton. „Du musst also keine Dämonen jagen gehen und kannst weiter unser Kommandant bleiben.“ Er lächelte und zeigte damit, dass er versuchte, lustig zu sein, was Nolan ihm damit anerkannte, dass er ebenfalls die Mundwinkel hob. „Aber ich muss auch-“ „Herausfinden, wer dein Vater ist, ich weiß“, unterbrach Kenton ihn. „Ich verstehe das und ich verspreche dir, dass du tun darfst, was du willst, sobald du diesen Staatsbesuch abgewickelt hast.“ „Oh ja...“ Diesen hatte Nolan schon fast wieder verdrängt. „Wann ist er denn?“ „Übermorgen. Du wirst an die Grenze von Monerki reisen und...“ Dieses Mal unterbrach er sich selbst und schüttelte dabei den Kopf. „Darüber können wir morgen reden, wenn du in mein Büro kommst. Heute hast du genug Dinge erfahren, über die du nachdenken kannst.“ „Das stimmt allerdings“, sagte Nolan und lachte humorlos. „Dabei ist denken echt ätzend.“ Er versuchte, Kenton wieder zu beruhigen, indem er einfach Sätze sagte, die er bereits in seiner Kindheit verwendet hatte, auch wenn diese ihn schmerzhaft an Landis erinnerten – und auch an Kieran und Aydeen und an all die Dinge, die er bislang nicht gewusst hatte. Die beiden Personen, die ihn aufgezogen hatten, waren nicht seine wirklichen Eltern gewesen, was nichts daran änderte, dass er sie nach wie vor als solche betrachtete, immerhin war er bei ihnen aufgewachsen. Kieran war der Sohn eines Helden gewesen und hatte alles getan, um ebenfalls einer zu werden. Er war sogar so weit gegangen, sich selbst aufzugeben, um ihn – Nolan – zu einem Lazarus zu machen, der neue Wege beschreiten würde, um Dämonen und Lazari zu ändern. Denn er gehörte genau wie sein Vater und auch Kieran zu einer Gilde von Dämonenjägern, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hatte, von Menschen nicht angesehen war und deren Mitglieder zuerst sterben mussten, bevor sie vollwertig waren. Zuguterletzt lebte seine richtige Mutter noch, fristete ihre Tage aber in der Anstalt von Jenkan, so nah an seinen Großeltern, die ihm nie etwas davon gesagt hatten. Es war viel, das er an diesem Tag erfahren hatte, so viel, dass er sich wünschte, Landis wäre hier, einfach damit dieser ihm mit ernstem Blick lauschen würde, während er ziellos alles aussprach, was ihm durch den Kopf ging, egal wie unzusammenhängend das alles war. Landis würde ihn kein einziges Mal unterbrechen, ihm aufmerksam zuhören und ihm am Ende etwas raten, das für sie beide das beste wäre. Aber er war nicht hier und so würde Nolan die halbe Nacht wachliegen und sich selbst damit beschäftigen müssen, um seine Gedanken zu sortieren, bis er schließlich vor Erschöpfung einschlief, so wie er es jedes Mal tat. Kapitel 10: Der Staatsbesuch ---------------------------- Es gab einige Dinge, die Nolan nie an Frediano verstanden hatte und diese Sache kam nun noch mit auf die Liste: Wie war es ihm nur möglich gewesen, die Galauniform zu tragen? Er störte sich nicht an der blauen Farbe, nicht an dem eleganten Schnitt, dem hohen Kragen oder gar all den edel aussehenden Verzierungen – nein, ihm missfiel es einfach, dass der Stoff unangenehm auf seiner Haut lag und einen nervigen Juckreiz auslöste, dem er zu widerstehen versuchte. Der Blick in den Spiegel verriet ihm noch dazu, dass er nicht für diesen Posten geschaffen war. Bereits in seiner normalen Kavalleristenuniform war er sich fremd vorgekommen, in der Kommandantenuniform hatte er sich kaum erkannt, aber nun entdeckte er nichts mehr von sich selbst in diesem Abbild. Gut, da war vielleicht noch sein schwarzes Haar – das schon wieder zu lang geworden war – oder seine grünen Augen – die viel zu leblos wirkten – aber sonst gab es absolut gar keine Ähnlichkeiten mit sich selbst, wie er fand. Oder zumindest mit seiner Erinnerung. Er war versucht, die Hand zu heben, sich selbst – oder eben seinem Spiegelbild – zuzuwinken, aber allein der Gedanke kam ihm derart lächerlich vor, dass er doch darauf verzichtete. Lieber gab er sich mit einem vollkommen Fremden im Glas zufrieden, als sich dieser Lächerlichkeit preiszugeben. Sein Schmunzeln darüber wurde von seinem Gegenüber erwidert. Schließlich riss er sich von diesem Anblick los und verließ den Raum – nicht ohne noch einen letzten Blick zum Spiegel zu werfen. Sein anderes Ich war verschwunden, aber diese Tatsache erleichterte ihn nicht, sondern bestärkte ihn lediglich darin, dass jemand ihn nur ärgern wollte. Ein Gedanke, den er allerdings rasch wieder beiseite schob. Nel saß bereits im Wohnzimmer, vertieft in ein Buch, das er ihr gegeben hatte, wobei es das Ergebnis eines wahllosen Griffs in ein Regal gewesen war. Ihre braunen Augen wanderten über die Wörter, wechselten die Zeile und liefen weiter, bis sie am Seitenende angekommen war und blättern musste. Erst als sie erneut an diesem Punkt angelangt war, hob sie den Blick – und kaum sah sie ihn, hielt sie überrascht inne. „Nolan?“ Ihre Stimme klang genau so ungläubig wie er sich fühlte. „Sehe ich so schlimm aus?“, fragte er mit gezwungenem Lächeln. Sofort stieg ihr vor Panik die Röte ins Gesicht. Sie hob die Hände, um hastig abzuwinken, wobei sie das Buch fallenließ. Es schlug derart laut auf dem Boden auf, dass sie erschrocken zusammenzuckte, sich murmelnd entschuldigte und sich bückte, um es wieder aufzuheben. Es fiel Nolan schwer, das Lachen zurückzuhalten, aber mit viel Selbstbeherrschung gelang es ihm, lediglich zu schmunzeln und sie nicht unbeabsichtigt zu verletzen, obwohl er dieses Verhalten einfach süß fand. „Schon gut, beruhige dich“, sagte er. „Ich weiß ja selbst, wie ich aussehe.“ Sie richtete sich wieder auf, das Buch fest an die Brust gedrückt. „Aber du siehst nicht schlecht aus! Nur ungewohnt, anders.“ Ihr immer noch gerötetes Gesicht machte es ihm schwer, sie einzuschätzen, weswegen er es sofort wieder aufgab. „Tja, zum Glück kennt mich diese Person, die ich treffen soll, nicht, dann wirke ich nicht wie jemand ganz Neues oder anderes auf sie.“ Obwohl er das sagte, machte es ihn ein wenig unruhig. Diese Person war ein Offizier der Armee von Monerki, sie gehörte zu den Feinden Királys und war möglicherweise nur hier, um einen neuen Krieg zu erklären. Er durfte das alles nicht so locker nehmen – dazu hatte auch Kenton ihn am Vortag noch einmal aufgefordert. Sie ging auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Schulter. „Du schaffst das schon. Daran glaube ich fest.“ Er bedankte sich lächelnd. „Du kommst hier allein zurecht?“ „Jawohl“, verkündete sie. „Mach dir um mich keine Sorgen, ich kriege das hin.“ „Gut. Denk daran, wenn irgendwas ist-“ „Werde ich Richard oder Oriana fragen, ich weiß, ich weiß.“ Nel lächelte immer noch zuversichtlich, was ihn zumindest ein wenig beruhigte. „Du kannst ruhig gehen, ich komme hier zurecht.“ Nolan verabschiedete sich lächelnd und wesentlich erleichterter von ihr und verließ dann das Haus, um sich zum Kavalleristenhof zu begeben. Dort wurde er nicht nur bereits von der Kompanie erwartet, die ihn begleiten sollte und aus gut einem Dutzend Kavalleristen bestand, sondern auch von einer blau lackierten Kutsche mit dazugehörigem Führer. Normalerweise stand das Gefährt in einem Verschlag des Hofes und wurde nur für derartige Gelegenheiten herausgeholt. Wenn er sich recht entsann, war es das erste Mal, dass er sie bei Tageslicht sah. Ihm blieb aber keine Gelegenheit, es allzu lange zu bewundern, da kam Kenton bereits aus dem Hauptgebäude auf ihn zugeeilt. „Da bist du ja endlich!“ Wenige Schritte vor Nolan blieb er wieder stehen und musterte ihn von oben bis unten. „Du siehst...“ Er rang sichtlich nach Worten, seine Brauen waren nachdenklich zusammengezogen. Nolan beschloss schließlich, ihm hilfreich unter die Arme zu greifen: „Anders aus, ich weiß. Ich hätte mich fast selbst nicht mehr erkannt.“ „Wirklich erstaunlich, das muss ich schon sagen.“ Seine Worte kamen plötzlich wesentlich leichter über seine Lippen, nachdem er nicht mehr derart nach ihnen suchen musste. „Aber ich bin auch froh, wenn du dir später wieder etwas anderes anziehen kannst.“ Nicht einmal Kenton wirkte von dieser Veränderung angetan, das war für Nolan ein deutliches Zeichen, dass es sich hierbei um nichts Gutes handeln konnte. Aber eigentlich wollte er nicht mehr darüber nachdenken. „Gibt es noch etwas, an das ich denken muss?“ „Du erinnerst dich an das Prozedere?“, erwiderte Kenton mit einer Gegenfrage. Nolan bestätigte das mit einem entschiedenen Nicken und fragte sich dabei, was man an diesen einfachen Dingen nur vergessen sollte. Ja, man musste ein wenig über seine Wortwahl nachdenken, aber das sollte für jemanden, dessen Großeltern stets darauf bestanden hatten, dass er jede Woche ein neues Wort lernte, zu schaffen sein. Kenton lächelte erleichtert. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Vertritt uns ehrenvoll.“ Er salutierte vor dem Berater, ehe dieser zurücktrat und er sich dann den versammelten Kavalleristen zuwenden konnte. Jeder einzelne von ihnen trug die übliche, schmucklose blaue Uniform der Kavalleristen um die er sie in diesem Moment mehr als nur beneidete. Er wäre, liebend gern, auch nur ein einfaches Mitglied dieser Truppe gewesen. Doch damit durfte er sich im Moment nicht weiter befassen. Stattdessen holte er tief Luft und begann dann, seine Untergebenen, auf den kommenden Besuch vorzubereiten. Der Schmerz war inzwischen verflogen, aber das änderte nichts daran, dass sie noch immer wütend war. Da sie nun wusste, dass sich das Schwert immer wieder bewegte, weil es im Besitz dieses Mannes war, hatte sich die Schwierigkeit ihrer Aufgabe um ein Vielfaches angehoben. Aber ihr Auftraggeber zeigte sich davon sichtlich unbeeindruckt. Mit unbewegtem Gesicht, weiterhin ein freudloses Lächeln zur Schau tragend, blickte er sie an, so dass sie sich weiterhin zu einer Rechtfertigung berufen fühlte. „Ich finde, du solltest das wirklich selbst tun“, keifte sie auch sofort. „Bist du etwa überfordert, Niasa?“ Seine Stimme klang stets derart spöttisch, dass es ihr schwerfiel, ihn ernstzunehmen, wäre da nicht diese machtvolle Aura, die ihn stets umgab und seine leblosen grauen Augen, die ihn emotionslos erscheinen ließen. „Ich habe dir gesagt, was das letzte Mal geschehen ist, als ich diesem Kerl begegnet bin.“ Kaum erwähnte sie diesen, runzelte er die Stirn. „Du denkst, es sei Kierans Sohn, ja?“ Sie nickte sofort. „So wurde er zumindest von den anderen Bewohnern des Ortes bezeichnet.“ Das schien ihm etwas zu sagen, etwas Wichtiges sogar, ausgehend von seinem plötzlich ernsten Gesichtsausdruck. „Kieran hat aber gar keinen Sohn.“ „Was kann ich dafür?“, schnappte sie. „So wurde mir das gesagt und er war immerhin im Haus.“ Er lächelte wieder dieses absolut falsche Lächeln, das – davon war sie überzeugt – sicherlich jeder hassen musste. „Oh, keine Sorge, ich mache dir keine Vorwürfe. Jeder denkt wohl, es sei sein Sohn, deswegen erzählt man dir das natürlich auch.“ Niasa fragte sich, worauf er mit dieser ganzen Sache überhaupt hinauswollte, fragte aber auch nicht, in der Hoffnung, dass er endlich verschwinden würde. Mit einem leisen Seufzen fuhr er sich durch das schwarze Haar, das zu einem hochstehenden Pferdeschwanz gebunden war. „Ich überlasse dir dann erst einmal alles Weitere“, sagte er schließlich. „Ich habe zu viel zu tun, um es selbst zu übernehmen. Du kriegst das schon hin, ich kenne deine Methoden gut.“ Sein Grinsen bei diesen Worten löste einen schier unbändigen Zorn in ihr aus, aber sie bekämpfte den Drang, ihn einfach in der Luft zu zerfetzen. „Fein“, knirschte sie. „Ich kümmere mich darum.“ Als Reaktion tätschelte er ihren Kopf, gab noch ein „Brav“ von sich und ging dann wieder davon, was sie wieder hoffen ließ, dass er nicht wiederkommen würde. Aber sie wusste es besser und deswegen blieb ihr nichts anderes übrig, als sich um diese Aufgabe zu kümmern, wenn sie nicht wollte, dass ihr Volk Schaden davontrug. Sie musste sich nur noch überlegen, wie sie der Kette an diesem Schwert entgehen konnte. Es war das erste Mal, dass Nolan sich an der Grenze zu Monerki aufhielt. Ein Bergkamm bildete die natürliche Barriere zwischen beiden Ländern, aber auf einem Pfad, der einst als freie Verbindung genutzt worden war, befand sich inzwischen ein Gebäude aus dunklem Holz. Dieses musste erst durchquert werden und im Inneren gab es eine Passkontrolle, soweit er wusste. Aber er war nicht daran interessiert, herauszufinden, ob das stimmte. Er stand auf dieser Seite der Grenze, immer noch in Király, um auf den Besuch zu warten, gemeinsam mit den anderen Kavalleristen, die sich leise unterhielten und dabei Mutmaßungen über die Person anstellten, die sie erwarteten. Nolan wusste, dass es sich dabei um eine Frau handelte, deren Name Loreley lautete, die rasch in den Rängen der Monerki-Armee aufgestiegen war und nun den Waffenstillstand zu einem richtigen Frieden ausweiten wollte – so die offizielle Begründung ihres Besuchs. Aber Kenton war misstrauisch genug, das nicht zu glauben und damit hatte er Nolan angesteckt. Noch dazu wurde ihm die Uniform immer unangenehmer, je länger er sie trug. Immer wieder zerrte er an seinem Kragen, der ihn zu ersticken drohte, zupfte an den Manschetten, die ihm die Blutzufuhr abzuschneiden versuchten, aber es stellte sich keinerlei Besserung ein, es war hoffnungslos. Die Tür öffnete sich, er hielt unwillkürlich die Luft an, aber zu seiner Erleichterung traten nur zwei Personen heraus, die sicher nicht zur Armee gehörten. Der Mann hatte langes grünes Haar und trug eine Brille, auf seiner Schulter saß ein weißes Frettchen; die wesentlich kleinere und zierliche Frau hatte silberweißes Haar, das zu einem einseitigen Pferdeschwanz gebunden war. Keiner der beiden trug eine Uniform. Sie liefen einige Schritte, dann öffnete sich die Tür erneut. Nolan sog erschrocken die Luft ein und stellte sich in Position. Die anderen beiden traten zur Seite und wandten sich jenen zu, die herauskamen. Aus dem Gebäude marschierten zwanzig, in braune Uniformen gekleidete Soldaten in Zweierreihen, die von einer Frau geführt wurden, die Nolan um einiges zu jung für einen derartigen Posten erschien. Ihr langes, blaues Haar war zu einem praktischen Zopf geflochten, ihre goldenen Augen blickten nicht sonderlich interessiert durch die Gegend und erinnerten Nolan ein wenig an Kureha. Nur deren Augen erschienen ihm inzwischen wesentlich interessanter, diese hier waren einfach nur... unheimlich. Sie führte eine Waffe mit sich, die wie eine Mischung aus Zauberstab und Speer aussah. Dieser Anblick ließ Nolan eine Hand auf den Griff seines Schwertes legen, nur um sicherzugehen, dass er im Fall eines Angriffs dennoch vorbereitet wäre. Während er sich der Anwesenheit seiner Waffe versicherte, hielt sie vor den drei Fremden inne, um mit diesen zu sprechen. Was genau in diesem Gespräch ausgetauscht wurde, konnte er auf diese Entfernung nicht hören, aber es schien auch nicht weiter wichtig zu sein, da sie sich schließlich wieder in Bewegung setzte und erst wieder vor Nolan stehenblieb. Wie es die Höflichkeit verlangte, verneigte er sich vor ihr. „Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Lady Loreley. Mein Name ist Nolan Lane, ich bin Kommandant der Kavallerie von Király.“ Sie legte eine Hand auf ihr Herz und deutete einen Knicks an. „Sehr erfreut, Kommandant Lane.“ In Gedanken überschlug er noch einmal die Worte und Sätze, die Kenton mit ihm besprochen hatte und die er auf alle Fälle sagen müsste: „Ich bin gekommen, Euch nach New Kinging zu begleiten.“ „Das ist sehr höflich“, erwiderte sie distanziert. „Ich begleite Euch gern, sofern Ihr mir die Ehre erweist, gemeinsam mit mir in der Kutsche zu fahren.“ „Selbstverständlich.“ Er bat sie, einzusteigen, gab seinen Kavalleristen die Anweisung, dass sie sich wieder in Bewegung setzen würden, bestieg dann ebenfalls die Kutsche und ließ sich in das schwarze Polster sinken. Nach all der Zeit im Schuppen hatte er befürchtet, dass es im Inneren modrig oder verstaubt riechen würde, aber offenbar hatte man sich große Mühe gegeben, sie zu reinigen. Kaum dass er diese Feststellung gemacht hatte, fuhr die Kutsche mit einem heftigen Ruck bereits an und obwohl er kaum wenige Sekunden hier saß, hoffte er bereits, dass die Fahrt bald vorbei wäre. Loreleys Augen bohrten sich regelrecht in ihn hinein und er besaß, zu seinem Schrecken, an diesem Ort keinerlei Rückzugsmöglichkeit. „Nolan Lane“, sagte sie nach einer Periode des Schweigens plötzlich gedehnt. Die Art, wie sie seinen Namen aussprach, so tonlos als würde sie ihn nicht einmal damit ansprechen wollen, sondern ihn nur vor sich hersagen, erzeugte eine Gänsehaut auf seinen Armen. Dennoch blickte er sie aufmerksam an und wartete darauf, dass sie fortfuhr, was sie auch sofort tat: „Ihr seid noch nicht lange Kommandant, oder?“ „Seit etwas mehr als einem Jahr“, antwortete er darauf und dachte sogleich wieder an Frediano und dessen Tod, was ihn auch sofort wieder zu Landis führte und seine Stimmung unnötig drückte. Also verwarf er diese Gedanken wieder und konzentrierte sich erneut auf Loreley, die unbekümmert weitersprach: „Verzeiht mir meine direkten Worte, aber ich spüre etwas an Euch, das mich darauf schließen lasst, dass Ihr kein gewöhnlicher Mensch seid.“ Unwillig presste er die Lippen aufeinander und ließ den Blick zum Fenster hinausschweifen, aber seine Heimat war noch fern und konnte ihn deswegen nicht retten. „Und wenn es so wäre?“ Ihm stand sicher nicht der Sinn danach, ihr haarklein zu erzählen, was er erst kurz zuvor erfahren hatte, deswegen blieb ihm, außer Schweigen, nur diese eine Möglichkeit. Zu seinem Glück wollte sie auch nicht näher darüber sprechen, was sie damit meinte und fuhr stattdessen mit etwas anderem fort: „Da Ihr kein Mensch seid, kann ich mich Euch sicher anvertrauen, ohne dass Ihr an meiner Glaubwürdigkeit zweifelt.“ „Worum geht es?“ Er war sich nicht so sicher, ob er das wirklich erfahren wollte, aber ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er nicht respektlos sein wollte. Endlich nahm Loreley den Blick von ihm und richtete ihn stattdessen aus dem Fenster in den Himmel hinaus. „Ich bin ebenfalls kein Mensch. Vielleicht ahnt Ihr es bereits, aber ich bin das, was die Menschen als Undine kennen.“ Und in diesem Moment traf es Nolan und er fragte sich, warum er nicht vorher daran gedacht hatte. Der Name Loreley mochte, laut Kenton, sehr beliebt gewesen sein in Monerki in den letzten Jahren, aber nun fühlte er sich dennoch geradezu idiotisch, dass er es zuvor gar nicht in Erwägung gezogen hatte. Nun wusste er es aber. Diese Undine, die hier vor ihm saß, Loreley, musste Nadias und Aidans Mutter sein. Es gab keine andere Erklärung, kein sonstiger Naturgeist mit diesem Namen, aber er hätte niemals damit gerechnet, sie irgendwann und noch viel weniger hier zu treffen, als Mitglied der Armee von Monerki. „Und was soll mir das sagen?“ Vorerst wollte er nichts davon sagen, dass er ihre Kinder kannte, er wusste ja nicht einmal, ob sie sich noch an diese erinnerte. Und abgesehen von dieser Tatsache musste er natürlich nicht erstaunt sein, war er doch immerhin bei einem Lazarus aufgewachsen, mit einer leibhaftigen Nymphe als Tante, dem Sohn eben dieser als besten Freund, den Kindern einer Undine als Freunde und einem weiteren Naturgeist als Ehefrau eines Freundes... nein, wenn er so darüber nachdachte, gab es wirklich absolut keinen Grund, davon erstaunt zu sein. Sie bemerkte das aber scheinbar gar nicht. „Etwas ist in der Welt geschehen, das die natürliche Balance stört.“ Nolan schickte ein Stoßgebet, dass dies nichts mit Landis oder sonstigen Ereignissen, die mit ihm im Zusammenhang standen, zu tun hatte. Zu Lebzeiten hatte er bereits genug angerichtet, da musste er nicht noch aus dem Grab heraus irgendwelche Schwierigkeiten machen. Da riss sie sich wieder vom Fenster los und blickte ihn direkt an, ein beunruhigendes Feuer in ihren goldenen Augen, das ihn unwillkürlich tiefer in seinen Platz sinken ließ. „Findet Ihr nicht auch, dass man alles in seiner Macht stehende tun sollte, um die Balance wiederherzustellen?“ Auf diese Frage wusste er nicht so wirklich zu antworten. Er war versucht, einfach „Ja“ zu sagen, aber durch das Ereignis mit Landis im letzten Jahr, wusste er, dass eine derart unüberlegte Antwort ein schlimmes Ergebnis nach sich ziehen könnte. „Ich denke, man sollte eher darauf achten, dass man tut, was man kann, ohne dabei andere lebende Wesen in Mitleidenschaft zu ziehen. Selbst wenn diese dafür verantwortlich sind, dass die Balance überhaupt erst gestört wurde.“ „Welch diplomatische Antwort“, sagte sie lächelnd. „Also kann ich mich wohl nicht auf Euch verlassen. Wie schade.“ „Ich weiß nicht, was Ihr vorhabt, aber ich würde Euch raten, es sein zu lassen.“ Sein ernster Blick in diesem Moment wäre selbst für Kenton wieder furchteinflößend gewesen, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich nehme Kenntnis von Eurem Ratschlag, Kommandant Lane.“ Aber er wusste bereits, dass sie sich nicht daran halten würde. Was auch immer sie vorhatte, er müsste ein Auge auf sie werfen. Damit bestätigte sich seine Befürchtung, dass dieser Staatsbesuch nichts mit einem Friedensangebot zu tun hatte. Ihm blieb nur noch zu hoffen, dass sie nichts wirklich Schlimmes plante. Aber er ahnte bereits, dass diese Hoffnung vergeblich sein würde. Den Rest der Fahrt verbrachten sie angespannt schweigend, sie starrte aus dem Fenster hinaus, während Nolan auf seine Hände hinabsah, ohne diese wirklich wahrzunehmen. Seine Gedanken drehten sich dabei unablässig um die Frage, was Loreley wohl planen könnte und wie er sie davon abhalten sollte, so ganz ohne außergewöhnliche Kräfte. Er war froh, als sie endlich den Hof in New Kinging erreichten und er geradewegs aus der Kutsche flüchten konnte. Kenton wartete bereits geduldig und blickte ihn erwartungsvoll an, die Augenbrauen leicht angehoben. Schließlich stieg auch Loreley aus der Kutsche und blickte sich dabei mit geringer Neugier in alle Richtungen um, obwohl es lediglich die heimgekehrten Kavalleristen zu sehen gab, die gerade ihre Pferde absattelten. Die zurückgebliebenen Einheiten gingen längst ihren üblichen Aufgaben nach. Die Soldaten, die unter Loreleys Befehl standen, waren noch nicht anwesend, was Nolan erst im zweiten Augenblick verwunderte, da die Pferde langsam genug gelaufen waren, dass eine trainierte Truppe Soldaten problemlos mit ihnen mithalten könnte. Erst als sie offenbar genug gesehen hatte, fixierte sie Kenton, der sich sofort anspannte, um ein wenig eindrucksvoller auszusehen. „Ihr seid Sir Boivin.“ Es klang vielmehr nach einer Feststellung als nach einer Frage, weswegen Kenton die Stirn runzelte. „So ist es“, bestätigte er. „Lady Loreley, es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen. Wenn Ihr-“ „Ich würde gern hier auf meine Einheiten warten, falls das ginge.“ Kentons Stirn glättete sich wieder, aber Nolan wusste, aus Erfahrung, ganz genau, dass sein Freund gerade am Liebsten nervös mit dem Auge gezuckt hätte. Allerdings schaffte er es, genau das zu verhindern und Loreley damit nicht zu zeigen, wie wenig er es schätzte, derart rüde unterbrochen zu werden. „Aber selbstverständlich“, antwortete er nichtsdestotrotz. „Zögert nicht, nach mir zu schicken, sobald Ihr etwas benötigt.“ Sie neigte verstehend den Kopf und entfernte sich dann von ihnen. Kaum war sie aus ihrer Hörweite, wandte Kenton sich Nolan zu, das Gesicht nun wirklich vor Ärger verzerrt, was den Kommandanten ein wenig schmunzeln ließ. „War sie unterwegs auch so?“ „Fortwährend. Sie hat mir außerdem ein wenig Sorgen gemacht.“ Nolan erzählte von seinem Gespräch mit Loreley und seinem Verdacht, dass es sich bei ihr auch um die Mutter von Nadia und Aidan handeln würde. Kenton deutete ein Nicken an, als Zeichen, dass er verstand. „Ich werde ein Auge auf sie werfen, während du weg bist, mach dir keine Gedanken.“ „Weg?“, fragte Nolan irritiert. „Wohin gehe ich denn?“ Diese unschuldig ausgesprochene Frage ließ Kenton wieder sanft lächeln. „Ich dachte, du wolltest vielleicht unbedingt deine Mutter treffen.“ Nolan erinnerte sich nur daran, dass er seinem Freund davon erzählt hatte, dass er seinen Vater kennenlernen wollte. Im Moment war er sich nicht einmal sicher, ob er dem anderen jemals erzählt hatte, dass seine Mutter noch lebte. Aber es war ihm zu müßig, ihn danach zu fragen, vor allem weil er die Antwort darauf eigentlich bereits kannte: Kenton wusste es einfach. Dennoch gab es da noch etwas, das er nicht einfach vernachlässigen durfte. Er deutete ein wenig in die Richtung, in die Loreley verschwunden war. „Was ist mit ihr? Sollte ich nicht auch auf sie aufpassen? Und Nadia und Aidan sollten-“ „Nimm Nadia mit.“ Im Gegensatz zu Kenton störte Nolan sich nicht daran, unterbrochen zu werden, er neigte lediglich wegen dem Inhalt den Kopf. „Wieso?“ „Weil du sie kennst. Sie wird sicher etwas Unüberlegtes tun, wenn sie herausfindet, wer diese Botschafterin ist und irgendwann wird sie es herausfinden, wenn sie bleibt.“ Es erstaunte Nolan schon gar nicht mehr, dass Kenton derart gut darin war, Menschen zu durchschauen, indem er nur ein paarmal – viel öfter konnte es nicht gewesen sein – mit ihnen sprach. „Fein, von mir aus, ich nehme sie mit.“ Nolan zuckte mit den Schultern. „Sofern sie will. Und nein, ich werde ihr nichts von Loreley erzählen.“ Kenton lächelte überaus zufrieden. „Danke. Nun, ich hoffe, du wirst erfolgreich bei der Kontaktaufnahme sein, Nolan. Und ich hoffe, dass du nicht enttäuscht sein wirst.“ Kapitel 11: Mutter und Sohn --------------------------- Loreleys Einheit erreichte New Kinging einige Stunden nach der Ankunft der Botschafterin, was Nolan weiterhin Sorge bereitete, auch als er am nächsten Morgen mit Nel und Nadia in einer Kutsche saß, die sie nach Jenkan bringen sollte. Nadia hatte er eingeladen, weil Kenton darauf bestand und Nel war neugierig gewesen, wie seine Geburtsstadt wohl aussah, weswegen er beschlossen hatte, sie auch einfach mitzunehmen, sehr zum Verdruss von Nadia, wie er feststellen musste. Sie zeigte es nicht öffentlich, machte keine scharfen Bemerkungen gegenüber Nel oder starrte sie immerzu wütend an, aber sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt, die Unterlippe leicht vorgeschoben, was Nolan verriet, dass sie innerlich schmollte. Nel schien das allerdings nicht zu bemerken oder nur nicht beachten zu wollen, sie war damit beschäftigt, aus dem Fenster zu sehen und die Umgebung, die an ihnen vorbeizog, zu begutachten. Sie hatte zwar gesagt, dass sie Király schon länger bereiste, aber so interessiert wie sie alles betrachtete, konnte er sich das nicht vorstellen. Alles in allem war sie ihm wirklich ein Rätsel. „Also deine Mutter, ja?“ Nadias Stimme riss Nolan aus seinen Überlegungen. Inzwischen schien sie nicht mehr zu schmollen, dafür sah sie ihn besorgt an. „Meinst du, sie lebt wirklich noch? Der Brief muss schon sehr alt sein.“ Nolan hob die Schultern. „Ich hoffe es zumindest. Ich nehme an, dass nur sie mir sagen kann, wer mein Vater ist. So wie ich meine Großeltern kenne, würden sie sich lieber die Zungen abbeißen, sie braten und dann essen, als über so etwas zu reden.“ Bei diesen Worten wandte Nel sich wieder vom Fenster ab und sah ihn mit großen Augen an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ „Du kennst meine Großeltern nicht“, erwiderte er darauf nur. Sicher würden sie nicht derart weit gehen, aber erzählen würden sie ihm dennoch nichts, dafür kannte er sie bereits zu gut. „Dann willst du deine Mutter nur kennenlernen, weil sie dir von deinem Vater erzählen kann?“, fragte Nadia. „Also verübeln könnte ich es dir nicht. Ich würde meine nur kennenlernen wollen, damit ich ihr sagen kann, was ich davon halte, dass sie uns allein gelassen hat.“ Einen kurzen Augenblick befürchtete Nolan, dass sie von Loreleys Ankunft in New Kinging wusste, aber dann sagte er sich wieder, dass sie immer derart wütend auf die Erwähnung ihrer Mutter reagierte, selbst nach all diesen Jahren. Er dagegen war sich nicht sicher, was er empfinden sollte. Die Aussicht darauf, seine leibliche Mutter, an die er sich nicht im Mindesten erinnern konnte, wiederzusehen, erfüllte ihn mit einer seltsamen Vorfreude, die durch die Nervosität gedämpft wurde, die er bei dem Gedanken empfand, dass sie versucht hatte, ihn umzubringen. Dazu kam noch der Faktor, dass sie Aydeens Zwilling war, was bedeutete, dass er quasi jener Person gegenübertreten würde, die aussah wie jene, die er sein ganzes Leben lang für seine Mutter gehalten hatte und die viel zu früh von ihm gegangen war. Er war sich nicht sicher, wie er dabei empfinden sollte. „Es gibt viele Gründe, sie sehen zu wollen“, erklärte er schließlich. „Aber herauszufinden, wer mein Vater ist, bildet einen der Hauptgründe.“ Dieser Mann, den Kieran gehasst hatte, interessierte Nolan mehr als die Frau, über die Kieran kaum ein Wort verloren hatte und die niemals von Aydeen, die immer seine Mutter bleiben würde, erwähnt worden war. Es musste eine außergewöhnliche Person gewesen sein, die es schaffte, sogar von dem sonst eher uninteressierten Kieran gehasst zu werden und sie war vermutlich immer noch dort draußen, arbeitete als Lazarus und war damit Nolans verlässlichste Verbindung zu dieser Gilde. All diese Gedanken ließen seinen Kopf schmerzen, weswegen er sich mit der rechten Hand an die gespannten Schläfe griff und abwesend daran zu reiben begann. Die beiden Frauen, die ihn begleiteten, blickten ihn besorgt an, sagten aber nichts, so dass sich Schweigen über das Innere des Gefährts senkte. Erst als sie in Jenkan wieder ausstiegen, entfuhr Nel ein Seufzen. „Hier bist du also geboren?“ Dem konnte Nolan leider nicht widersprechen. Besonders als er feststellte, dass sich nichts verändert zu haben schien. Jedes einzelne Gebäude sah genauso aus wie das vorige, die Mauern vollkommen weiß, die Dachziegel deprimierend dunkelbraun, ohne jeden Farbtupfer, selbst die Webstuben, in denen die Stoffe gefertigt wurden, die im ganzen Land beliebt waren, wirkten... spießig. So hatte Landis diesen Ort stets bezeichnet, zumindest als er dieses Wort endlich gelernt hatte, davor war die Stadt lediglich idiotisch gewesen. Doch ungeachtet des Wortes war Nolan immer seiner Meinung gewesen. Wenn man noch dazu die kühle Art der Bewohner, sowohl Fremden gegenüber als auch untereinander, in Betracht zog, war Nolan immer wieder froh, nicht hier aufgewachsen zu sein. Er wollte gar nicht wissen, wie er sich dann benehmen würde. „Ja, ich bin das Beste, was diese Stadt je hervorgebracht hat“, sagte er schmunzelnd. Als die Kutsche fortfuhr, überlegte Nolan, was sie nun tun sollten. Er hatte die Wahl, direkt die Einrichtung aufzusuchen, in der sich seine Mutter befinden sollte oder erst zu seinen Großeltern zu gehen. Letzteres empfand er allerdings als schlechte Wahl, da sie ihn sicherlich nicht so einfach würden davonkommen lassen, besonders wenn er ihnen erst einmal sagte, weswegen er eigentlich in die Stadt gekommen war. Nein, es war besser, er besuchte sie erst später und stellte sie dann vor vollendete Tatsachen. Also setzte er sich in Bewegung und versuchte, den kürzesten Weg zu diesem Ort zu finden, was ihn direkt über den Hauptplatz führte, den er sonst lieber mied. Der Grund dafür war das Gebilde, das in der Mitte davon stand. Es bestand zu großen Teilen aus Holz, das angekohlt war, das teilweise aber auch aus frischem Material bestand. Der Scheiterhaufen wurde dazu gebraucht, um Patienten aus der Anstalt zu verbrennen, sobald man der Überzeugung erlag, dass sie an unheilbaren und dafür ansteckenden Krankheiten litten. Nolan war bei keiner dieser Hinrichtungen anwesend gewesen, aber er erinnerte sich gut daran, wie wütend Kieran und wie traurig Aydeen bei der geringsten Erwähnung dieses Brauchs geworden war. Nadias Blick verfinsterte sich, als sie den Scheiterhaufen sah. „Haben die das Teil immer noch hier herumstehen? Ich dachte, nachdem Sicarius Vita hier jemanden getötet haben soll, würden sie das endlich abschaffen.“ Nel zuckte kaum merklich zusammen. „Hier wurde jemand getötet?“ „Der Direktor dieser Anstalt, zu der wir gehen“, bestätigte Nadia. „Vita hat ihn einfach verbrannt und uns danach die Schuld in die Schuhe geschoben.“ Nolan musste wieder an Landis denken und dessen Erzählung bezüglich der Ereignisse während der Zeit von Sicarius Vita. Aber er hatte auch von niemandem gehört, dass man auch nur überlegte, diesen Brauch abzuschaffen, so unmenschlich und grausam er auch sein mochte. Offenbar interessierte es nicht einmal die Königin, also blieb Nolan nur die Möglichkeit, auf Prinz Svarog zu hoffen, der immerhin die Nachfolge antreten würde. Vorerst blieb er aber erst einmal vor dem Gebäude stehen, das sich lediglich durch ein Schild von allen anderen darum herum unterschied. In das hölzerne Schild waren die Worte Asyl, Zufluchtsort, eingeritzt. Nolan fand es überaus... seltsam, wenn er so darüber nachdachte. Das Gebäude verströmte eine finstere Aura von Verzweiflung und Trauer und plötzlich erschien es ihm wie eine furchtbar schlechte Idee, hierhergekommen zu sein. Es gab unzählige Möglichkeiten, wie diese ganze Situation enden würde, seine Mutter könnte bereits tot sein, sie könnte vollkommen wahnsinnig sein, man könnte ihn erst gar nicht zu ihr lassen oder aber vielleicht war sie schon vor langer Zeit entlassen worden und war zu einem unbekannten Ort gegangen, wo niemand sie je finden würde. Keine dieser Möglichkeiten erschien ihm sonderlich prickelnd, aber es gab nur eine Möglichkeit, wirklich herauszufinden, was davon zutraf. Er wandte sich den beiden Frauen zu. „Es wäre mir lieber, wenn ihr hier warten würdet.“ „Bist du sicher?“, fragte Nadia. „Also, ich kann mir denken, dass das eine Sache ist, die du allein ausfechten musst, aber schaffst du das?“ Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte, dass sie ihm beistehen wollte oder ob er sich angegriffen fühlen sollte, dass sie ihm die dafür nötige Stärke nicht zutraute, aber stattdessen hob er die Schultern. „Ich denke schon. Ich habe schon ganz andere Dinge geschafft.“ Aus einem ihm unerfindlichen Grund musste er dabei zu Nel sehen, die seinen Blick lächelnd erwiderte. Dann deutete er allerdings ein Kopfschütteln an und wandte sich wieder der Tür zu. „Bis später.“ Es war das erste Mal, dass er das Gebäude betrat und er hoffte, dass es das letzte Mal bleiben würde. Die Aura von Verzweiflung war hier noch stärker greifbar und sie wurde nicht besser dadurch, dass sie sich im Halbdunkel befanden, da die Jalousien halb heruntergelassen waren. Die wenigen Sonnenstrahlen, die hereinfielen, wirkten zwar umso heller, tauchten alles andere dafür aber in tiefe Schatten. Staubkörner tanzten im Licht und unterstützten lediglich die deprimierende Atmosphäre, da es so aussah als wäre seit Jahren niemand mehr hier gewesen. Die Wände waren mit grauen Aktenschränken belegt, in denen sich vermutlich Informationen zu den Insassen befanden, die einzige Tür, die er sehen konnte, war geschlossen. Erst nachdem er dies alles in sich aufgenommen hatte, sah er zur Rezeption, einer einfachen Theke, hinter der ein Mann saß, der ihn bislang erfolgreich ignorierte und sich dafür auf seine Zeitung konzentrierte. Fast erinnerte er Nolan an Richard, zumindest wenn dieser mehr Gewicht und weniger Haare hätte. Der Besucher räusperte sich, aber der Rezeptionist hob den Kopf nicht, stattdessen brummte er nur, worauf Nolan nun doch noch ein „Entschuldigen Sie“ hinterherschob. Erst auf diese Worte hin, hob er nun doch den Kopf und musterte den vor sich Stehenden. „Was gibt es?“, fragte der Mann. „Mein Name ist Nolan Lane.“ Im ersten Moment überlegte er, ob er seinen Rang ebenfalls erwähnen sollte, aber allein sein Name brachte bereits eine Wirkung hervor. Die Augen des Rezeptionisten weiteten sich und Nolan glaubte bereits, das läge daran, dass er einen Nachnamen trug, aber der Mann belehrte ihm gleich eines Besseren: „Der Nolan? Etaíns Sohn?“ „Ja, genau der – und ich möchte gerne meine Mutter sehen.“ Die einzige Reaktion des Mannes darauf war, ihn fassungslos anzustarren. Das ging so lange, dass Nolan die Situation bereits ein wenig verlegen machte und er zurückweichen wollte, aber da sprach er bereits wieder: „Und ich dachte immer, sie spinnt nur. Scheint als hätte ich eine Wette verloren.“ Ihm blieb nur, mit den Schultern zu zucken. „Ich... habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“ „Oh, schon gut, schon gut. Ich bringe Euch zu ihr.“ Er kam hinter der Rezeption hervor und zog bereits einen Schlüssel aus der Tasche, mit dem er die Tür aufschloss, die tiefer ins Gebäude hineinführte. Jenseits der Tür befand sich ein Gang, der lediglich durch die angebrachten Gaslampen erhellt wurde. Zu beiden Seiten befanden sich Türen, die in verschiedene Räume führten, Schilder verrieten, dass es sich dabei um Behandlungsräume oder Büros von Ärzten handelte. Nach vier Türen weitete sich der Gang ein wenig, ein vergittertes Fenster ließ Tageslicht herein und spendete dem scheinbaren Aufenthaltsraum genug Licht, dass zwei unscheinbare Männer miteinander Schach spielen und eine Frau, auf einem Sessel in der Ecke, ein Buch lesen konnte. Ansonsten war niemand zu sehen, Nolan fragte sich, ob es sich dabei um Insassen handelte, was ihm sofort von dem Rezeptionisten bestätigt wurde: „Abgesehen von den dreien ist nur noch Etaín hier. Glücklicherweise macht keiner von ihnen Ärger.“ So normal wie sie wirkten, während sie sich selbst beschäftigten, kam Nolan nicht umhin, sich zu fragen, ob sie überhaupt an diesen Ort gehörten. Aber das war etwas, was er nicht fragen wollte, er glaubte nicht, dass es ihn etwas anging. Ihn erstaunte allerdings, dass die Verzweiflung hier durch eine seltsame Form von Friedlichkeit ersetzt worden war. Fast so als ob diese Menschen sich damit abgefunden hatten, hier zu sein und nun das beste daraus zu machen versuchten. Der Gang verengte sich wieder, kehrte erneut zur Gasbeleuchtung zurück und den Türen auf beiden Seiten. Diesmal waren es aber widerstandsfähige Stahltüren, was dafür sprach, dass es sich dabei um die Zimmer der Insassen handelte. Die Tafeln neben den Türen verrieten die Namen der jeweiligen Bewohner und vor jener mit der Aufschrift Etaín hielt der Rezeptionist wieder inne. Nolans Inneres schien plötzlich mit Eiswasser gefüllt zu sein. Nur noch diese eine Tür trennte ihn von seiner echten Mutter, von einer Person, die vermutlich aussah wie Aydeen und ihn schmerzhaft wieder an diese erinnern würde. Aber es gab kein Zurück mehr. Der Mann schloss die Tür auf und rief dann „Du hast tatsächlich Besuch, Etaín“ in den Raum hinein, ehe er Nolan bedeutete, einzutreten. Dieser atmete noch einmal tief durch, trommelte seinen Mut zusammen und ging dann hinein. Hinter ihm wurde die Tür wieder geschlossen, so dass er sich erneut im Halbdunkeln wiederfand. Durch das vergitterte Fenster fiel gerade ausreichend Licht herein, um das Zimmer zu erhellen. Da er so lange wie möglich versuchen wollte, dem Anblick seiner Mutter auszuweichen, sah er sich erst einmal an dem Ort um, den sie die letzten Jahre bewohnt hatte, um sich ein besseres Bild von ihr zu machen – und zu seiner Überraschung fand er sogar mehrere Bilder. Eine Schnur war quer durch den Raum gespannt und an dieser war mehrere Bögen Papier befestigt, die allesamt Kohlezeichnungen aufwiesen. Nolans Blick glitt flüchtig über die ersten, die direkt neben ihm zu sehen waren und hielt erst inne, als er eines der Motive eindeutig erkannte. Es zeigte sowohl ihn als auch Landis, wie sie gemeinsam unter einem Kirschbaum saßen und dabei friedlich zu schlafen schienen. Irgendwann war dies tatsächlich einmal geschehen, sogar ziemlich oft, wenn er sich richtig zurückerinnerte. Derart aufmerksam geworden, blickte er nun doch noch die anderen Bilder an. Sie zeigten ihn als Kleinkind auf Kierans Arm; als Junge mit einem Ball; als Kind an einem mysteriösen Grabmal, an das er sich nicht erinnerte; als Jugendlicher, der zur Marionette einer düsteren Frau geworden war und als Erwachsener, der gemeinsam mit Charon auf einem Blumenfeld stand. All diese Bilder zeigten Dinge in seinem Leben, teilweise sogar Ereignisse, die niemand außer ihm wissen dürfte. Warum hingen sie hier? Schlussendlich sah er nun doch auf Etaín, die am Tisch vor dem Fenster saß, sich über ein Blatt Papier beugte und darauf etwas mit Kohle zeichnete. Sie wandte ihm den Rücken zu und war vollkommen in ihre Zeichnung vertieft. Ihr langes Haar, das genau wie das von Aydeen glatt bis an ihre Hüften fiel, war schneeweiß, als wäre sie vorzeitig gealtert und eröffnete ihm die Möglichkeit, zu erfahren, wie es wohl ausgesehen hätte, wäre sie nicht vorzeitig gestorben. Als sie seinen Blick bemerkte, hielt sie plötzlich im Zeichnen inne und wandte den Kopf, so dass sie ihn über ihre Schulter hinweg ansehen konnte. Im selben Moment schien Nolan die Luft wegzubleiben. Ihre grünen Augen waren fast dieselben wie die von Aydeen, lediglich der warmherzige Schimmer fehlte darin, aber ansonsten war es, als würde sie ihn gerade anblicken. Nachdem sie ihn einige Sekunden lang gemustert hatte, erhob sie sich, wobei die Stuhlbeine unangenehm über den Boden kratzten. Dann drehte sie sich um und sah ihn direkt an, ohne jedes Lächeln auf den Lippen, ohne jede Freude in einem Gesicht, das in der Zeit eingefroren zu sein schien. Dabei machte sie keinerlei Anstalten, ihn umarmen zu wollen. Sein Herz wollte aussetzen, er fühlte sich von Aydeen verstoßen, obwohl seine Logik wusste, dass es sich hierbei um eine ganz andere Person handelte. „Du bist Nolan.“ Ihre tonlose Stimme erzeugte einen Kloß in seiner Kehle. „Ich habe auf dich gewartet.“ Stumm wartete sie auf seine Erwiderung, die Schultern dabei nach rechts gesenkt, aber er wusste nicht, wie er sie ansprechen sollte. Sollte er sie Mutter nennen? Oder Etaín? Ihm war nur klar, dass er sie nicht Mama nennen konnte, das war viel zu intim für diese quasi Unbekannte. Etaín war für ihn allerdings seine Anima, der er letztes Jahr in Charons und Orphnes Reich begegnet war. Also blieb ihm wirklich nur eine Alternative. „Mutter...“ Über diese Anrede erstaunt, hob sie die Augenbrauen ein wenig, sagte aber nichts, so dass er fortfahren konnte: „Ich weiß gar nicht so recht, was ich sagen soll.“ Es war nicht gelogen. Kaum hatte er den Mut gefunden, sie anzusprechen, war es als ob ein Damm in seinem Inneren brechen würde und er wollte viel zu viele Dinge gleichzeitig von ihr wissen. Warum war sein Vater verschwunden? Warum hatte sie versucht, ihn umzubringen? Was sollten all diese Bilder bedeuten? Woher wusste sie, dass er kommen würde? Doch schließlich siegte tatsächlich die für ihn wichtigste Frage in diesem Moment: „Warum hast du mir das damals angetan?“ Müde hob sie die rechte Hand und strich sich durch das Haar. „Du musst dich klarer ausdrücken. Meinst du, warum ich dich zur Welt gebracht habe? Oder warum ich dich die Treppe hinabwarf?“ Ersteres war für ihn keine schlechte Sache, er lebte immerhin ganz gern, letzteres interessierte ihn da schon eher, weswegen er ihr dies bestätigte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und legte dann die rechte Hand an ihr Kinn. „Ich wollte immer nur dein Bestes – und wenn das deinen Tod bedeutete, sollte mir das recht sein.“ Seine Verwirrung wuchs mit jeder Sekunde nur weiter an. „Was... meinst du damit?“ „Nach all diesen Jahren ist in dir sicher der Eindruck erwacht, dass ich dich nicht liebe.“ Dem konnte er nicht widersprechen, aber einen richtigen Vorwurf konnte er ihr dennoch nicht machen, immerhin war ihm bis vor wenigen Tagen nicht einmal bewusst gewesen, dass es sie überhaupt gab. Und all diese Bilder von ihm sprachen doch immerhin eine recht eindeutige Sprache. „Aber das Gegenteil ist der Fall“, fuhr sie auch sofort fort, „ich habe dich so sehr geliebt, dass ich das Wissen, dass du leiden würdest, nicht ertragen konnte.“ Auf diese Worte hin zeigte sie das erste Mal Emotionen. Ihr Gesicht verzerrte sich als litt sie wirklich unter körperlichen Schmerzen, sie schwankte für einen kurzen Moment unter der Wucht der Gefühle. Doch für Nolan war das nur noch weiter verwirrend. Er zog sich einen zweiten Stuhl heran, der neben dem Bett gestanden hatte und bedeutete ihr, sich ebenfalls wieder zu setzen, damit sie nicht plötzlich stürzen würde. „Es wäre vielleicht besser, du erzählst mir das von Anfang an, ich verstehe das noch nicht so wirklich.“ „Haben Kieran und Aydeen dir nichts erzählt?“ Nolan schüttelte mit dem Kopf, was sie traurig seufzen ließ, weswegen er rasch hinzufügte: „Ma-, Aydeen ist gestorben, als ich klein war und Kieran ein paar Jahre später. Ich weiß von dir nur, weil ich einen Brief von ihm gefunden habe.“ Das erhellte ihre Stimmung allerdings nicht, stattdessen griff sie sich, plötzlich wieder müde aussehend, an die Stirn. „Ich wusste es. Ich wusste, dass dich dein ganzes Leben lang nur Trauer und Leid begleiten würde.“ „Woher wusstest du es?“ Er glaubte nicht, dass sie über hellseherische Fähigkeiten verfügte, das war mehr etwas, das zu Asterea gehörte und niemand in seiner Familie war ein Naturgeist. In einer verschwörerischen Geste beugte sie sich vor und flüsterte: „Sie hat es mir gesagt. Sie kam zu mir und Farran, als ich gerade erst erfahren hatte, dass ich schwanger war und sie sagte, dass mein Sohn ein Leben voller Qualen erleiden würde.“ Mit einer fahrigen Handbewegung deutete sie zu den Bildern. „Das sind alles Zeichen davon.“ Wieder ließ er den Blick über die Zeichnungen schweifen, dann zeigte er auf jenes, auf dem er und Landis unter einem Baum schliefen. „Das war aber keine Qual.“ „Der Junge neben dir ist tot“, wies sie ihn tonlos hin. „Ihm fehlt sein Herz.“ Nolan fühlte sich an, als würde seines gerade herausgerissen werden. Er blickte noch einmal genauer auf das Bild und stellte dann tatsächlich einen dunklen Fleck auf Landis' Brust fest, der eine Wunde darstellen könnte. „Das ist aber nie passiert“, widersprach er rasch. „Er wurde um einiges älter als das und-“ „Ich kenne die Details nicht“, unterbrach sie ihn rasch. „Ich zeichne nur, was sie mir erzählt.“ Er wusste immer noch nicht, um wen es sich bei dieser Person handelte, aber etwas anderes war im Moment noch wichtiger und das ahnte sie offenbar auch, denn sie setzte sich wieder aufrecht hin und sprach dann normal weiter: „Ich nehme an, du kennst Farran nicht, wenn du erst jetzt zu mir kommst.“ „Weiß er denn, dass du noch lebst?“ Nach Kierans Brief hatte es eigentlich geklungen, als ob sein Vater spurlos verschwunden war, kaum war bekannt geworden, dass Etaín schwanger war. Sie fuhr herum, griff zielsicher nach einem Briefkuvert, das auf dem Tisch lag und reichte es Nolan dann zur Antwort. Ehe er sich versichern konnte, dass er ihn wirklich lesen dürfte, gab sie ihm bereits zu verstehen, dass er fortfahren sollte, worauf er den Papierbogen aus dem Umschlag hervorholte und den Brief zu überfliegen begann. Kierans Schrift war klein und eher rundlich gewesen, die von Farran war groß und kantig, sie erinnerte ihn an seine eigene, weswegen sein Magen sich wieder zusammenzog. Der Brief an sich berichtete davon, dass der Verfasser unglücklich darüber war, nicht bei der Empfängerin, die er öfter als Etaín bezeichnete, sein zu können und dass er sie tatsächlich liebte und bedauerte, dass sie keine Familie hatten sein können. Unterschrieben war der Brief mit Farran und als er ihn endlich derart bestätigt vor sich sah, glaubte er, diesen Namen zu kennen, ihn schon einmal gehört zu haben, ihm wollte nur nicht einfallen, woher. „Er ist der einzige, der mir schreibt“, sagte Etaín. „Für alle anderen scheine ich nicht mehr zu existieren. Aber es ist besser, wenn er mir fernbleibt.“ „Warum? Ich verstehe das einfach nicht.“ Mit einem hilflosen Lächeln hob sie die Schultern. „Ich nehme an, dass ich einfach nur Unglück bringe. Aber das interessiert dich doch im Moment nicht, oder?“ „Es gibt so viele Dinge, die mich gerade interessieren“, gab er zurück. „Wer ist diese Frau, die dir das alles gesagt hat? Wo ist dieser Farran?“ Das waren so ziemlich die Dinge, die ihn gerade im Bezug auf sie interessierten, aber in seinem Inneren stellte er sich noch wesentlich mehr Fragen, auf die sie allerdings wohl keine Antwort kennen würde und mit denen er sich im Moment auch nicht weiter beschäftigen wollte, um nicht noch in Depressionen zu versinken. „Farran ist vermutlich in Abteracht, der Heimat der Lazari“, antwortete sie. „Aber diese Frau kenne ich nicht. Farran sagte jedoch, dass sie eine hohe Position in der Gilde hätte.“ „Dann weißt du also von den Lazari?“ Sie nickte und blickte ihn dabei an, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sie es wüsste, was ihm seine eigene Unwissenheit umso stärker vor Augen führte. Aber immerhin war ihm nun klar, welchen Ansatz er brauchte und was er von Kenton nicht erfahren hatte. „War das alles, was du von mir wissen wolltest?“ Auch wenn sie sich offenbar Mühe gab, ihre Stimme tonlos klingen zu lassen, war Nolan überzeugt, etwas wie Schmerz darin zu hören. Und er konnte es gut nachvollziehen, wenn er daran dachte, dass sie gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Ihn würde es immerhin auch verletzen, wenn jemand, den er liebte, auftauchte und ihm sagte, dass er gar nichts von dieser Person wissen wollte und ihn nur benötigte, um an weitere Informationen zu kommen. Also versuchte er rasch, diesen Eindruck wieder zu relativieren: „Uhm, ich werde ein andermal wiederkommen, um mehr mit dir zu reden, ich habe nur Leute draußen stehen, die auf mich warten und die ich da nicht stehenlassen kann.“ Sie erwiderte nichts darauf, nicht einmal, ob sie bemerkte, dass er sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, ob er überhaupt weiter mit ihr zu tun haben wollte. Stattdessen neigte sie den Kopf ein wenig. „Könntest du mir zuvor eine Frage beantworten? Hast du viel in deinem Leben gelitten?“ Er stand nun vor der Entscheidung, das zu bejahen und ihre Entscheidung damit zu rechtfertigen, oder es zu verneinen und sie damit mit Reue zu füllen – oder aber ihr einfach die Wahrheit zu erzählen, wofür er sich schließlich auch entschied. „Na ja, ich denke, ich habe nicht mehr oder weniger gelitten als andere. Natürlich war es nicht immer leicht.“ Er musste da nur an den Tod seiner Pflegeeltern oder gar den von Landis und Frediano denken. „Aber all die großartigen Momente, die ich erlebte, wiegen das eindeutig wieder auf. Und solange ich am Leben bin, habe ich auch die Möglichkeit, alles weiterhin in die Bahnen zu lenken, die ich haben will.“ Zumindest glaubte er, dies aus seinem kleinen Abenteuer in Charons Welt gelernt zu haben. Und obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, lächelte Etaín tatsächlich ein wenig. „Wenn diese Weissagung nicht der Wahrheit entsprach, gibt es vielleicht Hoffnung, dass dies nicht unser letztes Treffen war.“ Als er nachhakte, was sie damit meinte, griff sie hinter sich und zog das Bild hervor, mit dem sie bei seiner Ankunft beschäftigt gewesen war. Demonstrativ hielt sie es vor sich, so dass er es sehen konnte und dabei langsam immer blasser wurde. Die Zeichnung zeigte ihn von hinten, wie er in das Zimmer hineinblickte und in diesem war Etaín zu sehen, die Schnur um den Hals gewickelt, die Füße nicht mehr auf dem Boden. Sie war tot, erhängt. Seine Augen weiteten sich schockiert, er nahm den Blick von dem Bild und richtete ihn wieder auf Etaín: „Hast du etwa vor...?!“ Er konnte es nicht einmal aussprechen, es ließ ihn geradezu schaudern, so etwas auch nur anzunehmen. Deswegen atmete er auch erleichtert auf, als sie den Kopf schüttelte. „Nein, habe ich nicht. Aber sie hat gesagt, dass es so passieren wird.“ „Wer denn?“, fragte er und schwankte dabei zwischen Verwirrung und den letzten Nerven, die er für dieses Thema aufbringen konnte. Sie hatte die Antwort schon zuvor nicht gekannt, weswegen diese erneute Frage vermutlich eher aus Verzweiflung geboren war, einem tiefen Unverständnis, das eine Erklärung erforderte, auch wenn sie ihm diese nicht geben konnte. Aber dafür schien es, als würde jemand anderes ihm diese geben wollen, wenn auch nicht mit Worten. Ein großer Riss erschien plötzlich auf dem Fenster hinter Etaín, er breitete sich rasch immer weiter aus, verästelte sich und nahm schließlich die ganze Scheibe ein. Nolan betrachtete dies mit ungläubigem Erstaunen, ohne sich in der Lage zu sehen, etwas tun zu können. Noch sah er aber auch keine Bedrohung darin, immerhin sollten die Gitterstäbe vor den Fenstern eigentlich alles abhalten, was versuchen würde, hereinzukommen. Aber noch im selben Moment, in dem er das dachte, breiteten sich die Risse, begleitet von einem verdächtig knackenden Geräusch, auf der Wand aus und vergrößerte sich dabei immer schneller. Er handelte, ehe er weiter darüber nachdenken konnte, ergriff er die weltvergessene Etaín an den Schultern und warf sich gemeinsam mit ihr zu Boden, dabei hielt er seinen Körper schützend über sie. Im nächsten Moment kam es ihm vor als würde die Welt explodieren. Die Mauer zerbarst mit einem Knall, der Nolans Ohren derart kraftvoll klingeln ließ, dass sein ganzer Körper im Einklang zu schwingen schien, sein Kopf zu platzen drohte und er der festen Überzeugung war, hiernach für immer taub bleiben zu müssen. Als die Welt zumindest nicht mehr bebte, stellte er fest, dass er glücklicherweise nicht verletzt war und lediglich seine Ohren nicht mehr ganz zu funktionieren schienen, noch immer war lediglich ein durchdringendes Klingeln zu hören. Als er auf Etaín hinuntersah, um festzustellen, ob sie verletzt war, bemerkte er ihren überraschten Blick, der an seiner Schulter vorbei zur fehlenden Wand ging. Sie sagte etwas, aber sein Gehör versagte ihm immer noch den Dienst. Deswegen wandte er einfach den Kopf, um herauszufinden, was sie ihm mitteilen wollte – und erstarrte augenblicklich. In dem entstandenen Loch, die Sonne im Rücken, tat sich vor ihm eindeutig die Gestalt einer Harpyie auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)