Night's End von Luca-Seraphin (Der Wiedergänger) ================================================================================ Kapitel 17: Das Herz des Magiers -------------------------------- Im Schankraum saßen zwei sehr übermüdet aussehende Männer über den Resten ihres Frühstücks und ihren schon längst erkalteten Teebechern. Sie sprachen nicht miteinander, saßen sich gegenüber, die Köpfe weit gesenkt und erschöpft von der letzten Nacht. Justin reagierte knapp vor Orpheu, als Ayco, gefolgt von Gerome, der notgedrungen in Lucas Hemd steckte und das Haarband als Gürtel nutzen musste, und einem leicht angespannten Luca, der sich desolat und schmutzig fühlte. Außer Hose und Stiefeln trug er nichts. Seine aufgelösten Haare wehten um seinen Körper und verschlangen sich in den Schnallen seiner hohen Stiefel. Sein Arm hatte zwar aufgehört zu bluten, aber er konnte sich nur notdürftig mit dem Wasser aus der Karaffe, die sich in jedem der Zimmer befand, reinigen. In den Tiefen seines Herzens hatte er gehofft Orpheu und Justin nicht zu begegnen. Allerdings entschädigte ihn das beleidigte Gesicht Leas, die brav und still neben dem Elfenvampir stand und so aussah, als habe er ihr nicht nur die Leviten gelesen, sondern sie auch über das Knie gelegt. Es war eben doch dumm als Geist Justin zu wecken und ihn, wenn er schlechte Laune hatte, auch noch Widerworte zu geben. Allerdings hielt sich die heimliche Schadenfreude des Magiers gerade so lange, bis Justin anzüglich grinste und auf die nackte Brust Lucas deutete. „Die Nacht war wild“, bemerkte er spitz. Hinter vorgehaltener Hand grinste Orpheu. „Guten Tag, Magus. Habt ihr wohl geruht?“, fragte er. An dem spöttischen Funkeln in seinen Augen war zu erkennen, dass er Luca auch liebend gerne aufziehen wollte. Der Magier atmete tief durch und schluckte alle Antworten herunter. Ayco allerdings wendete sich halb um. „Genau damit habe ich gerechnet.“ Mit dem Kopf deutete er zu Justin. „Du reizt ihn damit.“ Bevor Luca sich auch nur andeutungsweise eine Antwort überlegen konnte, erhob sich Orpheu bereits und trat zu ihnen. Dicht vor Gerome blieb er stehen und musterte den jetzt menschlichen Jungen. Sein Blick traf Luca. „Wohin wollt ihr?“, fragte er nun doch deutlich angespannter. Unwillkürlich versteckte sich der Kleine hinter Ayco und umklammerte fest die schlanke Taille des Elfs. Sanft griff Ayco nach hinten und strich dem Kleinen durch das lange, seidig schwarze Haar. Die großen Augen sahen ängstlich zu Orpheu, dessen muskulöse, hünenhafte Gestalt drohend über Gerome aufragte. Der schwarze Elf aus Kalesh hatte wenig für den kleinen Seraph übrig und misstraute ihm mit jeder Faser. Luca kannte den Blick Orpheus zu gut. „Und“, wendete sich Orpheu an seinen Magier. „Was hat der Kleine zu sagen gehabt?“ „Der Kleine“, zischte Ayco verärgert, „Hat einen Namen. Er heißt Gerome.“ Der Hauptmann sah Ayco in die Augen. Aus seiner Miene und dem Blick konnte Luca nichts ablesen. „Und warum hat er uns gestern belauscht?!“ „Das frag Luca“, sagte Ayco brüsk, nahm den Jungen vorsichtig nach vorne und schob ihn zu dem leeren Platz neben Justin. Luca konnte nur kurz beobachten, wie sich die Männer unterhielten, wurde dann aber von Orpheu zur Seite genommen. „Was ist das für ein Junge, Lysander?“, fragte er angespannt. „Er ist Diener von Gregorius, dem Lagerleiter in den Bergen.“ Der Magier hob beide Hände. „Bevor du fragst, Orpheu, ich traue ihm nicht. Ein Kind ist immer ein guter Diener in allen Dingen, die du verlangst. Sie haben Angst vor Strafen, sind leicht zu beeindrucken, wirken unschuldig und sind umso wirkungsvoller, wenn sie dir in den Rücken fallen.“ „Demnach traut ihr dem Balg auch nicht“, stellte Orpheu erleichtert fest. Luca deutete ein Nicken an. „Es ist einiges vorgefallen, mein Freund, und ich komme nicht dazu, Aycolén einzuweihen, weil der Kleine wie eine Klette an ihm hängt, und nebenbei ein ziemlich unfaires Spiel mit seinen Reizen treibt. Er weiß scheinbar ganz genau, dass wir zueinander gehören.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete er Gerome und seine beiden Freunde, aber auch Lea, die augenscheinlich desinteressierter denn je dabei stand und Löcher in die Luft starrte. Justin hielt den Kleinen genau im Blick, gleich wie freundlich und charmant der Vampir zu dem Kind war, er misstraute ihm und sorgte deutlich dafür, dass Ayco nicht in der direkten Nähe Geromes blieb. Innerlich atmete Luca auf. Justin beschützte Ayco. Ob er das für den Elf aus Freundschaft tat, oder aus seiner Liebe für Luca heraus, wusste der Magier nicht. Aber es beruhigte ihn. Er wusste zu gut, welche Macht sich hinter diesem so verträumten Mann verbarg. Selbst wenn Luca alle seine Kräfte sammeln wollte, um gegen Justin zu kämpfen, wäre seine Chance die eines Eiskristalls in einem Vulkan. „Was habt ihr nun vor?“, fragte Orpheu und lenkte die Aufmerksamkeit Lucas wieder auf sich. „Wir wollen hoch zu dem Herrenhaus“, entgegnete der Magier. Tambrens Schwanzspitze peitschte kurz und traf wie zufällig Lucas Wange. „Er ist in Gefahr, Hauptmann!“, wendete sich der Drachling direkt an Orpheu. Der Junge ist die Quelle großer Macht. Ich kann seine Gedanken und Gefühle immer nur wie eine Reflektion auf dem Wasser wahrnehmen, nie alles erfassen. Er verbirgt etwas. Und heute früh hat er ganz deutlich versucht Luca etwas anzutun!“ Der Elf riss die Augen alarmiert auf. „Ist das wahr, Lysander?“ Der Magier sah ihm in die Augen und deutete ein Nicken an. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es ist naheliegend“, gestand er. „Ihr macht mir keinen Schritt ohne meine Begleitung. Und den Rotschopf da drüben nehme ich mit. Justin ist ein guter und mutiger Kämpfer.“ Anhand der Lautstärke, mit der Orpheu sprach, fürchtete Luca fast, dass Gerome sie hören konnte. Es war schon auffällig genug, dass sie hier so lange standen und tuschelten wie Waschweiber. „Habt ihr denn etwas, was euch und den Elf schützt?“, fragte Orpheu besorgt. Luca nickte leicht. „Diese Magie setze ich nur im Feld nicht ein, weil sie unnötiger Kraft- und Konzentrationsaufwand für mich ist.“ Der Hauptmann zog die Brauen zusammen und einen Herzschlag später sog er die Luft ein, als ein zierlicher, halbtransparenter, schwarzer Schmetterling in Lucas Hand entstand und an Stofflichkeit gewann, als er aufstieg und sich auf der Schulter des Magiers, dann auf der Schwanzspitze Tams nieder lies. „Hübsch, aber was soll der Trick?“, fragte Orpheu nun skeptisch. Luca lächelte. „Das ist ein Gestalt gewordener Zauber, der sich im passenden Moment entlädt. Ich muss ihn nur auslösen, oder binde ihn an eine Situation, in der er sich selbst auslöst“, erklärte er. Fassungslos betrachtete der Elf Luca und den Schmetterling. „Das habe ich noch nie gesehen“, flüsterte er. Die Mundwinkel des Magiers zuckten kurz. „Diese Gestalt- und Formgebung stammt von mir. Ich habe sie entwickelt, um Magie zu verzögern und Zauber zu bündeln.“ Luca konnte den leisen Stolz in der Stimme dieses Mal nicht verbergen. Anerkennend nickte Orpheu. „Schöne Idee. Und es passt zu euch. Ihr seid der romantische Spinner, dem solche Zauber gut zu Gesicht stehen.“ Allerdings musterte er Luca nun auch von Kopf bis Fuß. „Ihr seid ja auch ein hübsches Kerlchen, mit einem schönen Köper und unzähligen schönen Körperzeichnungen, aber wollt ihr nicht vielleicht etwas, was eure nackte Brust bedeckt? Hemd und Wams habe ich noch.“ Er deutete mit dem Kopf die Treppen hinauf. „Ich will es nur anmerken, denn euer Mentor und euer Großmeister sind auf dem Weg nach unten, und zumindest Ihad traue ich nichts Gutes zu, wenn er entdeckt, dass ihr euch so herumtreibt.“ An sich hatte Luca gehofft, lediglich Orpheu und vielleicht noch Justin bei sich zu haben. Allerdings fand Cyprian auch Gefallen an dem Gedanken durch das – wahrscheinlich – verlassene Heim eines alten Magiers zu streifen. In den Augen des Eisdämonen flammte ein fast kindliche Freude auf und wenig später hatte er damit seinen feurigen Bruder ebenfalls angesteckt. ‚Das ist das Kind im Manne!’, kommentierte Tambren, den allerdings auch die Abenteuer-Freude infiziert hatte. Der einzige, dem es ähnlich wie Luca erging war Orpheu. Nüchtern betrachtet, bot das Haus eine Menge Gelegenheiten für Fallen und Probleme. Auf der Strecke zwischen dem Dorf und dem Herrenhaus, der sich als beschwerlicher heraus stellte, als Luca angenommen hätte, fand er auch keine Gelegenheit, in der er allein mit Ayco reden konnte, zumal der Elf die kleine Gruppe anführte und sie mehrfach auf unbegehbare Passagen des einstmaligen Pfades trafen. Dornenbüsche, verfilztes Geäst, wuchernde Brennnesselfelder zwischen den Bäumen und zu dichtes Unterholz zwangen sie mehrfach einen anderen Weg zu suchen. Gerome hing entweder an seiner Hand oder der Aycos, ließ sich auch teilweise tragen, da er nichts außer dem Hemd trug und seine empfindlichen, an Schuhe gewöhnten Fußsohlen schon nach kurzer Zeit schmerzten. Was Luca allerdings am Meisten in Sorge versetzte war Aycos Unwissenheit. Im Gegensatz zu Luca, war der Elf nicht gewarnt. Luca war sich nicht sicher, ob sein Freund nicht selbst bereits leises Misstrauen gegen Gerome in sich trug. Wenn es sich so verhielt, konnte Ayco es bestens verbergen. Schließlich bat er Tambren um Hilfe. Der Drachling konnte Ayco anderweitig Lucas Gedanken unterbreiten. Dennoch tat es Luca leid, seinen kleinen Freund dazu zu missbrauchen. Cyprian, der Lucas angespanntes Verhalten bemerkt hatte, ließ sich weiter zurück fallen und blieb an der Seite seines Schülers. Still ging er neben ihm her. Scheinbar erwartete der Eisdämon, dass Luca den Anfang machte. Allerdings konnte der Magier nicht sprechen. Oft kam Gerome ihnen sehr nahe und das eine oder andere Mal verlangte der Kleine auch, dass Luca ihn auf die Schultern nahm. Die Augen Cyprians folgte Lucas Bewegungen, besonders als er das Kind wirklich auf die Arme nahm und ihn behutsam an sich drückte. Luca spürte ganz genau, dass die Berührung Geromes das Misstrauen in seinem Herzen betäubte. Als der Kleine sich dann besonders eng an ihn schmiegte und sich an seine Schulter lehnte, dabei leise eine alte Ballade summte und Versonnen mit Lucas Haarsträhnen spielte, verwischten sich seine Sorgen kurzzeitig vollkommen und in dem Magier erwachte ein tiefes Gefühl von Glück und einer unerklärlichen Sehnsucht das Kind nie wieder loszulassen. Da war wieder der Gedankengang, ihn seinen kleinen Bruder zu nennen und ihn mit aller Zärtlichkeit und beschützen. Gerome zog sich an Luca hoch, sah ihm in die Augen und lächelte ihm liebevoll zu. Bevor der Magier es noch recht wahrnahm, verschlossen die Lippen des Jungen seine eigenen. Dann brach der Bann ganz plötzlich. Luca fühlte mit einigem Unwillen, wie ihm Jemand das Kind aus den Armen nahm und den Jungen auf den Boden setzte. Orpheus schwarze Augen sahen drohend auf den Jungen herab. „Lauf selbst, du verwöhntes Balg!“, zischte er wütend. „Lysander ist nicht dein persönlicher Sklave!“ Unsanft nahm er den Jungen an der Hand und zerrte ihn mit sich. Gerome sah traurig über die Schulter zu Luca. Doch der bettelnde, flehende Blick des Jungen hatte seine Kraft verloren. Fast schien es, als würde Luca wieder freier atmen können und seine Umwelt klar begreifen. Er spürte den leichten Wind, der die Baumwipfel bewegte, den Duft des Bodens und des Holzes, hörte die Waldtiere, die Vögel und die Insekten, deren Summen und Gezwitscher die Luft erfüllte und nahm die Wärme der Luft wahr, die zu dem weiten, weißen Hemd Orpheus und der dicken Lederweste, die Luca eng um seinen Brustkorb geschnallt hatte, seinen Oberkörper schützte. Tambren hatte seine Chancen genutzt und saß momentan auf Aycos Schulter. Ob sie miteinander redeten, konnte Luca nur vermuten, denn beide verhielten sich völlig normal. Zeitweise stieß der Elf einen leisen Fluch aus und versetzte einem Baum einen Tritt, wenn er zurückgehen musste, aber ihm war weder Misstrauen noch Verärgerung anzumerken. Ayco war ein guter Schauspieler, dachte Luca mit deutlichem Stolz im Herzen. Für einen kurzen Moment drängte der Gedankengang hoch, wie geschickt der Elf war und wie lautlos. Luca konnte sich nicht ganz des Gedankens erwehren, einen gewandten, routinierten Dieb vor sich zu haben, verschob aber die Frage vorerst auf einen anderen, späteren Zeitpunkt. Dazu wollte er allein mit dem Elf sein. Eine solche Frage konnte für einen von ihnen nur peinlich enden. Die Sonne hatte bereits ihren höchsten Stand überschritten, als sie aus den Wipfeln kleine Türmchen und eine Wetterfahne aufragen sahen. Auf den letzten hundert Metern beschleunigte Aycolén seinen Schritt etwas, und eilte durch den Wald, die unebenen Wege über Wurzelwerk und Büsche hinauf. Orpheu, Justin und Luca fiel es nicht schwer mit ihm Schritt zu halten, allerdings brachte es Cyprian an den Rand seiner Leistungsfähigkeit und Ihad nutzte seine magischen Fähigkeiten für eine unbeschwertere Form des Reisens. Der zauberte sich von Ort zu Ort. Lucas Meinung nach war es lächerlich und unangemessen, sich so zu schönen. Dennoch musste er zugeben, dass sein Meister mit ziemlicher Sicherheit am entspanntesten vorankam. Dennoch entschädigte der Anblick dieses schönen, verwilderten Schlösschens alle für den nicht gerade einfachen Weg. Efeu und Wein hatten die niedrige, mit Eisenspitzen bewehrte Bruchsteinmauer, hinter der sich das Anwesen befand, in Besitz genommen. Vögel saßen in dem grünroten Laub und Schmetterlinge stoben auf, als die kleine Gruppe heran trat. In dem verwilderten Garten wucherte das Gras mehr als Mannshoch und alte, verwachsene Bäume wanden sich unter Schlingpflanzen dem Licht entgegen. Von der unteren Etage des Herrenhauses konnte man nichts mehr sehen. Allerdings mutete dieses Bauwerk auch eher an, als habe eine Familie über viele Jahrhunderte dieses Haus Stück um Stück erweitert. Ein Teil des Haupthauses, wohl den ältesten Kern davon, bildete ein gedrungenes Gebäude aus gelbem Sandstein grauem Granit-Bruchstein. Die Fenster in diesem Teil des Hauses waren noch glaslos und im Moment gähnende, schwarze Löcher, wie kleine, von Maßwerk verzierte, halbrunde Mäuler. Auf Höhe der zweiten Etage allerdings bauchte sich ein kleiner Turm mit Butzenglasfenstern heraus, der in einer runden, schiefergedeckten Spitze endete. Von dort aus konnte man sicher problemfrei auf eine umzäunte Fläche des Daches schauen, die freigelassen und als Aussichtsplattform genutzt wurde. Dahinter erhob sich ein anderer, mit Treppentürmen versehner Teil des Hauses, dessen Fenster kleiner waren, bereits mit Läden versehen und Bleiverglasung. Eine Art großer Balkon schwang sich in leichtem Bogen höher hinauf und zu einem massiven, aber schlanken Bauwerk, was sich in den unteren Etagen sicher auch an das Haupthaus anschloss, allerdings breite und flache Rundbögen hatte, die von innen mit Vorhängen verschlossen werden mussten. Eine Vielzahl feiner, kleiner Türmchen und eine in sich sehr verschachtelte Dachlandschaft bot sich dem Betrachter. Wie schon zuvor spürte Luca diesen leisen Schauer, die Angst vor etwas an diesem verwunschenen, eigentlich wunderschönen Ort. Als er sich aus einem Reflex heraus umsah, bemerkte er Lea, die schräg hinter ihm stand und traurig zu den Zinnen und Türmen hinauf sah. ‚Dort haben wir einst gespielt’, flüsterte sie. Luca war sich sicher, dass nur er und Tambren ihre Worte vernahmen. ‚Der Tag vor unserem Tot, Luca. An diesem Tag standen wir auch hier, du und ich. Wir haben auf Ayco gewartet. Damals habe ich mich immer gefragt, warum du dich noch mit uns abgibst. Wir waren nur Kinder, du aber fast erwachsen.’ Luca schloss die Augen und senkte den Kopf. Sie hatte recht. Dessen war er sich sicher. Er spürte den kühlen, leicht klammen Stein unter seinen fingerspitzen, das rostige, geschwärzte Eisen, roch das Metall. Er fühlte sich wieder hilflos, wie ein Kind. Ein Käfer krabbelte auf seinen flinken Chitinbeinchen über Lucas Handrücken und verschwand im Efeu. Der Magier konnte nicht sagen, ob es Wirklichkeit oder Erinnerung war. Er fühlte Lea, die neben ihn trat und spürte, dass ihre Finger sich um eine Haarsträhne schlossen, so wie einst. Sie hielt sich immer an seinem Haar fest. Die Vögel sangen, aber in ihrem Gesang lag etwas Bedrohliches, unheimlich, wie ein finsterer Keller voller Schatten und Monster, die lauerten und nach seiner Seele gierten. Als der Magier die Lider hob, stand Ayco dicht neben ihm. Der Elf betrachtete ihn besorgt, schwieg aber. Sein Blick wies warnend zu Gerome. Luca verstand. Er dürfte sich keine Blößen geben. „Sieht unbewohnt aus“, rief Orpheu, der das eiserne Tor gefunden hatte und es nun auch forsch aufschob. Ein ohrenbetäubendes Kreischen zeriss den Frieden dieses Ortes. Rostiges Metall platzte ab und die Scharniere gaben nach. Ob es an seiner Kraft oder schlicht an dem Alter der Angeln lag, konnte Luca auf die Entfernung nicht sagen, aber Orpheu riss das Tor buchstäblich nach innen. Hilflos blieb er stehen und sah, wie es grotesk langsam in dem hohen Gras versank. Überflüssiger Weise sagte er leise: „Entschuldigung.“ Luca seufzte. Aus welchem Grund er das Gefühl hatte, sich für Orpheu zu rechtfertigen, wusste er nicht, aber ganz unbewusst tat er es. „Etwas mehr Feingefühl, Hauptmann. Das Haus ist vielleicht zur Zeit unbewohnt, aber es gehört auch nicht dir!“ Der Blick der schwarzen Elfenaugen, der Luca traf, war gelinde gesagt, unfreundlich. Normal hätte es Luca mit purer Mordlust umschrieben. Für den Moment ignorierte der Magier es lieber. Gerome mogelte sich gerade hinter dem schwarzen Elf on den Garten und verschwand sofort in dem hohen Gras. Weit kam er nicht, denn Orpheu fischte einen Herzschlag lang in dem grünen Meer und hatte den Kleinen auch sofort wieder am Hemdskragen. „So nicht, du abgebrochener Riese!“, tadelte er den Jungen, der ihm einen zornigen Blick zuwarf. Diese Reaktion prallte an Orpheu vollkommen ab. Der Elf nahm den Kleinen in seinen schraubzwingenartigen Griff und zwang ihn an seine Seite. Er wartete bis Ayco, Justin, Ihad, Cyprian und Luca zu ihnen aufgeschlossen hatten und ließ sie auch erst alle durch, bevor er mit dem Jungen zusammen den Garten betrat. Ihad strich mit einer Hand durch das weiche Gras und die hochgewucherten Blumen. „Ein dunkler und verwunschener Ort“, fasste er seine Empfindungen zusammen. Cyprian, der immer noch in Lucas Nähe ging, schauderte leicht, rieb sich die Arme und sah sich sichernd um. Luca hegte keinen Zweifel daran, dass der sensible Magier dasselbe fühlte, was auch er wahrnahm. Die Bedrohung war greifbar nah und erdrückend. Aus diesem wilden Idyll lauerten Tausende neugieriger Augen, die jeden Schritt genau verfolgten, lautlos weiter gaben und es zu dem weiter trugen, dessen Präsenz hier, in den Mauern hing wie fauliger Atem. Luca wusste, dass I’Eneel sie belauerte. Aber er war kein lebendes Wesen mehr. Hier lag der Geruch der Grabeserde in der Luft. Er tauschte mit Cyprian einen kurzen Blick. Sein Mentor nickte unmerklich, als habe er den Magier, dessen Ruhe sie hier störten, bereits ausgemacht. Beiläufig bemerkte Luca das leichte Glühen der blauen Eisaugen. Justin hatte sich auch zurückfallen lassen und wartete nun auf Cyprian und Luca. „Der Herr des Hauses ist zwischen Leben und Tot gefangen“, sagte er warnend und machte eine Kopfbewegung zu dem ältesten Gebäudekomplex. „Er belauert uns. Und seit wir das Grundstück betreten haben, ist er in Aufregung.“ Cyprian nickte Justin wissend zu. „Das ist, was auch ich gefühlt habe.“ „Er fürchtet entweder Ayco oder mich“, flüsterte Luca tonlos. „Wir sollten seinen Frieden nicht stören“, sagte Cyprian leise. „Wir sind die Eindringlinge.“ „Er wartet auf einen von uns“, murmelte Luca. Seine Stimme bebte leicht. Er hatte das Gefühl, als wolle I’Eneel ihm genau das mitteilen. Die Präsenz des Magiers war hier so deutlich, dass er den Eindruck gewann, der alte Mann würde neben ihm stehen. In seinem Nacken fühlte Luca plötzlich wieder den kalten Metallgriff der Peitsche, seiner eigenen Waffe damals. Die Schatten vor ihm im Gras zogen sich zusammen. Er blieb abrupt stehen. Etwas erhob sich daraus und trennte sie von ihren Freunden, die vor ihnen gingen, sich durch das Gras zu dem Hauptportal kämpften. Lucas Herz machte vor Angst einen Sprung. Dieses Wesen erinnerte vage an einen gewaltigen, mannshohen Hund aus Nebel und Rauch. Das Stofflichste an diesem Wesen waren seine Lava-Augen, die mit Gier auf die drei Männer herab sahen. „Justin“, rief Luca. „Mit ihm werden Cyprian und ich allein fertig.“ Der Elf zögerte nicht. Er machte einen Schritt in die Schatten und verschwand. Das Nebelgeschöpf manifestierte mit jedem Lidschlag mehr in der Wirklichkeit. Schuppen und eitrig schwärende Wunden verunzierten seinen hageren Leib. Handlange Fangzähne verunzierten sein schlankes Hundegesicht. Grünlich gelber Speichel troff von seinen Lefzen. Luca fand sogar fast Gefallen an dem Wesen. Es war nicht hässlich, nur von Grund auf böse und untot. Sein Blick glitt zu Cyprian, der bereits einen Zauber wob. Luca lauschte der Melodie der Worte, der Formel und dem Klang. Die Worte des Eisdämons beschworen die Geister der Totenwelt, diese Wesen zu sich zu nehmen und es nie wieder hinaus zu lassen. In die Worte, den Singsang seiner Formel band Luca seine Magie mit ein. Er wob ein Siegel, dass die Seele des Wesens vor einer erneuten Beschwörung aus seiner Welt schützte. Noch bevor die Bestie sich völlig aus den Nebeln herausschälen konnte, griffen bereits die Zauber der beiden Magier. Ein Strudel aus Energie und Lebenskraft entstand und riss die Halbmaterie des Wesens mit sich. Luca konnte den Vorgang mehr fühlen als sehen. Mit einer sanften Mittagsbriese verging die Kraft der Bestie. Allerdings teilte sich plötzlich das Gras und spie wesentlich kleinere und stofflichere Geschöpfe aus, ähnlich des untoten Nebelhundes, aber wesentlich mehr davon. Cyprian, dessen Zauber noch aktiv war, erweiterte ihn rigoros mit Hilfe seiner inneren Kräfte. Luca blieb in dem Fall nichts als seinem Meister die Ungeheuer, die dem Dämon zu nah kamen, mit seinem Schwert auf Abstand zu halten. Mit einigem Schrecken stellte der junge Magier fest, dass es mehr als ein duzend untoter Kreaturen war. Sie kamen ihm so vertraut vor. Mit Schwert und Dolch drang er auf sie ein. Blitzartig flammten Schmerzen in seinem Körper auf, solch gewaltige Schmerzen, dass er mehrfach seine Angreifer verfehlte. Es schien ihm, als würden diese Geschöpfe ihre Zähne in sein Fleisch schlagen und ihn bei lebendigem Leib zerfetzen. Immer wieder bissen diese Wesen zu, allerdings ohne ihn wirklich zu berühren. Luca fiel es immer schwerer zwischen Realität und Erinnerung zu unterscheiden. Wie immer es ihm gelang, diese Geschöpfe auf Abstand zu halten, oder sie sogar zu treffen, konnte er nicht sagen. Aber von einem Moment zum anderen klärte sich alles um ihn herum und er schlug nur noch sinnlos auf Gras ein. Luca brauchte einige Herzschläge, um zu verstehen, dass die Schmerzen verschwunden waren und er wieder klar denken konnte. An seinem Schwert troff schwarzes Blut herab und Brocken schimmligen Fleisches hatten sich in dem hohen Gras verteilt. Eine der Bestien lag in ihrem Blut, wenige Schritte entfernt und die Überreste einer zweiten zu seinen Füßen. Luca starrte auf sie herab, würgte plötzlich und sank auf die Knie. Nun begann er auch viele kleine Wunden zu spüren, kleine Bisse, schnitte durch die Halme und leichte Prellungen. Ihm war übel. Der Schmerz tobte nicht mehr in seinem Körper, aber er wusste, dass diese Wesen ihn damals zerrissen hatten. Die Vorstellung machte ihm Angst. Cyprians kühle Hände schlossen sich um Lucas Schultern. „Beruhige Dich, Luca“, flüsterte er und drückte den Magier mit dem Rücken an seine Brust. Die Kühle von Cyprians Körper tat Luca gut. Er fühlte sich wieder geborgen und beschützt, wie in den Tagen, als er ein Kind war. „Danke für deinen Schutz, mein Freund“, flüsterte Cyprian. „Ohne dich hätte ich diese Geschöpfe aus den Höllenreichen nicht bezwungen.“ Luca atmete tief durch und nickte leicht. „Ist es nicht meine Aufgabe dich zu beschützen, wie du mich immer beschützt hast, Cyprian?“, fragte er leise. Der Dämon wollte etwas entgegnen, schwieg aber. Sein Blick versank in Lucas. Sanft, aber mit Nachdruck, befreite sich der junge Mann aus den Armen seines Mentors. Was er eben tat war eine offene Einladung für Cyprian mehr zu tun, als ihn in zu halten. „Lass uns nach Ayco und deinem Bruder suchen, Cyprian“, bat Luca. Das Portal hing morsch in den Angeln, nur einen winzigen Spalt weit geöffnet, gerade weit genug, damit sich auch Orpheu und Ihad, die sicher die muskulösesten Mitglieder der Gruppe waren, hindurch drängen konnten. Da Tam bei Ayco war, wusste Luca, dass sein geliebter Freund gesund und sicher war, zwar in Begleitung Geromes, aber auch beschützt von Justin, der ihnen offenbar unbemerkt folgte. Ihad und Orpheu hatten sich offenbar an einem anderen Punkt von den Gefährten getrennt. Der Großmeister war in der Etage über Cyprian und Luca am Werk. Die Geräusche, die von den oberen Räumen herabdrang, war so unverkennbar für die wenig zartfühlende Art des Feuerdämons, dass Luca und Cyprian sich sogar lächelnd ansahen. „Wenn du dich weit im Vorfeld ankündigen willst, nimm Ihad mit“, erklärte Cyprian und deutete zu den knarrenden Dielen über ihren Köpfen. „Du siehst ihn nicht, aber hören kannst du ihn weithin.“ Luca winkte ab und strich sich Staub von der Stirn, der aus den Deckenbalken über ihren Köpfen herabrieselte. „Lass das deinen Bruder besser nicht hören, Cyprian. Er hat eine leicht reizbare Art.“ Nachdenklich nickte der Eisdämon. „Ja, so war er aber schon, als wir Kinder waren. Er ähnelt in seinem Wesen Aycolén und ich dir.“ Luca hob eine Braue, sah ihn aus den Augenwinkeln an, zog aber vor darauf nichts zu entgegnen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die steinerne Treppe hinauf in die erste Etage. Hier unten konnte er nur dank seiner Seraphaugen sehen. Es war viel zu dunkel, die Räume in Schatten und gefahrenvolle Finsternis getaucht und er hatte das Gefühl, als würde etwas ihn rufen, ihn leiten und lenken. Aus unzähligen Schlupfwinkeln beobachteten sie unheimliche Augen winziger Boten. Allerdings hatten die beiden Magier sich dieses Mal ein wenig besser geschützt. Während sich Cyprian nach magischen Problemen, Fallen, umsah, suchte Luca ihren Weg nach Untoten ab. Er war sich klar darüber, dass sie die Einbrecher in das Sanctum eines anderen Magiers waren, aber nichtsdestotrotz fühlte er auch den wispernden Ruf I’Eneels, den Zwang in seiner Seele. Sein Gefühl sagte ihm, dass Ayco ebenso in Gefahr war. Allerdings zwang er sich zur Ruhe. In Justins Obhut war seine Liebe sicher, und er konnte den sensiblen Cyprian nicht einfach hier alleine lassen. Cyprian besaß extrem starke mediale Fähigkeiten. Wenn er seinen Mentor zurück ließ, würde diese Finsternis wie eine Bestie über ihn herfallen und die flüsternden Stimmen ihn um den Verstand bringen. Luca konnte ihn wenigstens ablenken und ihn zeitweise zum Lachen bringen, seine Anspannung mit seinen Gesten und Worten lockern. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, bebte er innerlich vor Anspannung. Die Marionette an I’Eneels Fäden zu sein, gefiel Luca nicht. Er ergriff die schlanke Hand Cyprians und zog ihn zu der steinernen Treppe hinüber. Erst als sie den Zwischenpodest erklommen hatten, blickte Luca zurück in die Halle. Der Raum war gewaltig, finster, und wenn man zu viel Phantasie besaß wie Luca und leider auch Cyprian, wurden aus den Fresken in den Wänden Ungeheuer anderer Ebenen, die das ganze Gebäude von innen heraus in sich einsaugen wollten. Luca sah aus den Augenwinkeln, wie sich ein verschimmelter, modriger Wandteppich im Wind bewegte. Allerdings ging kein Lüftchen. Ein langer Schatten fiel in die Halle. Für einen winzigen Herzschlag sah Luca I’Eneel dort unten stehen. Der hagere Halbelf hielt sich in dem dämmrigen Bereich zwischen den Fresken und Türflügeln. Einen Herzschlag lang glaubte er wieder Kind zu sein, neben Ayco auf den Stufen, entdeckt von dem Magier, dessen eisige Augen Luca fixierten und bannten. Er schrumpfte unter dem kalten Blick. Sagte man nicht, Dämonen seien die Geschöpfe des Bösen? Der Gedankengang bemächtigte sich erneut Lucas. Nein, beantwortete er sich die Frage selbst. Das Wissen fehlte ihm damals noch. Aber Dämonen waren genauso frei sich in ihrem Schicksal zu entscheiden, wie jedes andere Wesen. Sie konnten leben wie sie es wollten. I’Eneel hatte sich als Halbelf, als Geschöpf des Lichtes für die Dunkelheit entschieden. Cyprian und Ihad für das Licht. Dieses Wissen und die Sicherheit über sich selbst, gab Luca die Ruhe stehen zu bleiben und I’Eneels Blicke zu erwidern. Der Eisdämon verhielt neben seinem Schüler und drückte sanft, freundschaftlich Lucas Hand. „Meister Cyprian“, sagte Luca, ohne den Blick von I’Eneel zu lösen. „Bitte, geh zu Ihad, meinem Herren und bereichte ihm, was du siehst, wenn das Duell zwischen ihm und mir vorüber ist.“ Der Eisdämon lächelte. „Das wirst du ihm selbst sagen können, Lysander. Daran hege ich keinen Zweifel.“ Die Finger des jungen Mannes lösten sich aus denen seines Mentors. Luca verließ den Schutz und die Wärme seines Freundes. Im Gegensatz zu Cyprian schätzte er I’Eneel nicht als schwach ein. Außerdem ahnte er, dass der Halbelf bereit war alles Wissen aus der Vergangenheit einzusetzen um Lucas Sicht der Dinge zu schwächen. Aber er ging nicht völlig unvorbereitet in das Duell, auch wenn er nicht wirklich wusste, ob Ayco der Einsatz war oder etwas anderes. Reglos stand Luca in der Halle, wenige Meter von I’Eneel entfernt. Der Halbelf hielt sich in den Schatten, aber die vorangeschrittene Zerstörung seines Äußeren ließ sich nicht mehr verbergen. Luca konnte ihn nicht klar sehen. Aber die Zeit hatte ihn überholt und vergessen. Die einstmals prachtvollen blausilbernen Roben und schwarzen Untergewänder waren verrottet und hingen in zerschlissenen vom Schmutz unkenntlichen Fetzen von seinem Leib herab. Das so schöne, stolze und edle Gesicht war nichts als eine Grimasse modrigen Fleisches und schimmelnder, oder vertrockneter Haut. Einige, wenige Haare, die aus seinem Kiefer herab hingen erinnerten an einen Bart. Die Lippen hatten sich über faulenden Zähnen zurückgezogen und ein feiner Schleimfaden rann über sein Kinn in seine Kleider. Einzig die Augen schienen hellwach zu sein. „Die Zeit hat euch verraten, Meister I’Eneel“, bemerkte Luca traurig. Der Anblick verletzte etwas in seiner Erinnerung. Sympathie hatte er dem Halbelf nie entgegen gebracht, aber Respekt. Dieses Wesen war ein Mahnmahl der Vergessenheit. „Sagt mir, warum habt ihr mich gerufen?“, fragte Luca leise. „Um dich zu töten“, antwortete der Untote. Seine Artikulation war kaum noch vorhanden. Die Laute kamen schwer, als könne er seine Zunge nicht kontrollieren. „Dann seid ihr mir Antworten schuldig!“, sagte Luca fest. I’Eneel schüttelte nur langsam, schwerfällig den Kopf. „Wenn ich sterben soll, will ich wissen warum, und warum es mich schon einmal gegeben hat, genau als der, der ich auch jetzt bin!“ beharrte Luca. Er brauchte die Zeit, musste sie irgendwie schinden, um Zauber vorzubereiten und zu halten. I’Eneel ging nicht darauf ein. Er machte nur eine einzige Handbewegung, als würde er einer Kehle die Luft abschnüren. Nekromantie war etwas, dass Luca glücklicherweise wenig schaden konnte. Bevor I’Eneel den Zauber auch nur beendet hatte, konnte Luca ihn bereits zerstören. Die Wut in den Augen des Halbelfen brannte sich in Lucas Seele, aber der junge Magier ließ sich nicht irritieren. Graue Nebelfäden schoben sich aus dem Staub herauf, umschlangen Arme und Beine des Halbelfen und leuchteten in matten, blaugrauen Siegeln auf seiner hageren Gestalt. Der Bann mochte stark sein, gesteuert von Lucas Willenskraft, aber der junge Mann wusste, dass das ein sinnloses Spiel werden würde. Er wollte Zeit um seine Fragen beantwortet zu bekommen. „Warum bin ich vor hundert Jahren hier schon einmal gestorben!“, beharrte Luca stur. Er faltete die Hände dabei über seiner Brust. Seine Seele gebar einen der schwarzen Schmetterlinge. Still band er an den kleinen Seelensplitter einen Teil seiner Lebenskraft und entließ ihn aus seinen Fingern. Er stieg vor seinem Gesicht auf und setzte sich in sein Haar. Auf seiner Schulter ließ sich der Schmetterling nieder, den er schon im Gasthof erschaffen hatte. I’Eneel beobachtete sein Werk befremdet, schüttelte dann aber nur den Kopf und hob seine beiden Hände. Luca bemerkte das Krabbeln und Wimmeln in allen Ecken. Er fixierte I’Eneel, hob beide Hände und wob einen Schutzwall gegen die Insekten und Käfer. Einerseits fühlte er einen leichten Hauch von Ekel, als sich diese Wesen durch ihre reine Masse schon an seinem graublau glühenden Schutzkreis hochschoben und musste auch den Würgereiz krampfhaft unterdrücken, aber andererseits sank sein Respekt vor I’Eneel auch. Plötzlich riss der Boden unter Luca auf. Für einen winzigen Moment schwappte die Woge der Angst über ihm zusammen, aber so schnell wie er sich mit einem Wort aus dieser Situation des Stürzens wieder abfing, gewann er auch wieder Gewalt über seine Gefühle. Von einem Moment zum anderen erkannte Luca den Schwachpunkt I’Eneels. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass der Halbelf damals Illusionist war. Das, was Luca zu sehen glaubte, gab es gar nicht! Eilig sendete Luca die beiden Seelenschmetterlinge hinauf zu Cyprian, damit er sie nicht mit seinem Zauber gegen die Illusion des Halbelfen, zerstörte. Eilig flüsterte Luca den Zauber, stieß beide Hände von sich und erstarrte. Er stand plötzlich in Night’s End, vor dem Findling. Ihn umringten unzählige Männer in Vollplattenrüstungen. Aus den Ritzen und den Versatzstücken drang feiner grauer Rauch und der Gestank verbrannten Fleisches legte sich Übelkeit erregend über Luca. Die Sehschlitze gaben den Blick auf dunkle, verbrannte Haut und in den Höhlen eingeschlossene, unheimliche Bleikugeln, die ihre Augen ersetzten, frei. Es schien fast, als seien sie Ausgeburten der Hölle. Ihre Waffen waren gezackt und geistverwirrend fremd. Luca konnte den Sinn der Klingen, Wiederhaken und Spikes nicht nachvollziehen. Blut troff von ihnen herab. Der ganze Platz war übersäht mit den Leichen von Frauen, Kindern und Alten. Ihre Körper waren nichts als blutige Fetzen. An den Gürteln einiger Gegner hingen Trophäen. Halb vom Fleisch abgeschälte Schädel, Haare, Gesichtshaut, Augäpfel in Glasbehältern und Zähne fanden sich darunter. Luca fühlte, wie ihn die Angst übermannen wollte, ihn erstickte und ihm den klaren Verstand raubte. Er spürte genau, dass er seine Aufgabe nicht erfüllen konnte, dazu war er zu schwach, zu jung. In seinem Kopf gab es keinen einzigen Zauber mehr, sein Herz war versteinert vor Schrecken und er wusste, dass er alles verlieren würde, sogar sein Leben, aber zumindest eines konnte er beschützen. Er spannte seine Peitsche zwischen seinen Händen und stellte sich erneut den Männern entgegen. Night’s End brannte, war verloren. Er sah, wie die Krieger, das Höllenheer, gerade einem Toten den Schädel eintraten und einem anderen das Herz heraus rissen. Nichts konnte ihn noch schrecken. Das, was Angst war, hatte er vergessen, als Lyeth niedergerungen wurde und Lea aus dem Tempel gezerrt wurde. Sein Kampf war verloren. Vielleicht gelang es der Hohepriesterin noch einige von ihnen mit sich in den Untergang zu reißen, aber Luca bezweifelte es. Der Herr über diese Männer, ein schwarz gekleideter Mensch, ein Mann, dessen Gesicht Luca schon einmal gesehen hatte, mit den Augen des Himmels, hatte die beiden Frauen mit sich in eines der Häuser gezerrt. Keine Schreie, kein verräterischer Laut von Vernichtung. Er konnte nur das keuchen der Männer, die ihm gefolgt waren noch unter dem Kampflärm hören. Luca hatte versagt. Er war noch zu schwach, um seiner Aufgabe nachzukommen! Ein Leben aber war sicher. Ayco lebte. Wenigstens war er sicher! Ohne noch zu wissen, was er tat, warf er sich auf den nächst stehenden Krieger und wurde von einem beiläufigen Fausthieb meterweit zurückgeschleudert. Der Aufprall raubte ihm fast die Sinne. Ihm war, als würde sein Schädel aufplatzen. Vielleicht war es auch so, denn als er sich wieder hochstemmte, lief Blut in seine Augen und vernebelte ihm die Sicht. Unter roten Schleiern sah er den Mann mit den Himmelsaugen aus dem Haus kommen, in dass er Lyeth und ihre Tochter verschleppt hatte. Seine Brust war nackt, sein Körper blutig wie seine Lippen. Luca wusste, was er den beiden Frauen angetan hatte. Lea war seine Freundin und Lyeth seine Ziehmutter, das Wesen, was ihn wie ein Kind liebte. Tiefe Wut brannte sich durch seine Eingeweide und gab ihm die Kraft sich wieder zu erheben. Wie von Sinnen stürzte er los, die lächerlich wertlose Peitsche noch immer in seinen Händen. Neben dem schwarzhaarigen Mann, dem Anführer, trat I’Eneel aus dem Haus, hob eine Hand und machte eine leichte, wedelnde Bewegung. Unter Luca wurde das Erdreich so glatt, als wäre es von Eis überzogen. Mit einem überraschten Ausruf stützte er auf den Rücken. Ein beißender Schmerz fuhr durch seinen Rücken. Er spürte, dass etwas in seiner Wirbelsäule zerstört worden war. Vielleicht brach auch nur einer seiner Flügel. Luca war sich nicht sicher. Bis eben hatte er nicht einmal bemerkt, ein Seraphin zu sein. Es war ohnehin egal, denn die Krieger hatten ihn umringt. Mit schweren Eisenstiefeln traten sie auf ihn ein und Ketten zerschmetterten seine Knochen. Er spürte wie die Schmerzen ihn an den Rand der Ohnmacht trieben, sehnte sie sich herbei, aber dieser Wunsch wurde ihm nicht gewährt. Sie Ließen von ihm ab, gaben ihm eine Pause, in der er sich bewusst werden konnte, dass es nichts in seinem Körper gab, was noch an einem Stück war. Der Schmerz explodierte und nahm ihm die Relation zu dem Ketten und Haken, die sich in seinen Leib bohrten, ließen ihn vergessen, dass er über die Erde gezerrt wurde und jemand sich paradoxer Weise noch die Mühe machte, ihn an den Findling zu ketten. Er erinnerte sich an seinen Traum, diesen bizarren Traum von dem Felsenkind, Ayco, Lea und den beiden Seraphin-Kindern. Er hatte seinen Tot an dem Felsen von Night’s End gesehen. Dieser Gedanke war so klar, logisch und nüchtern, dass es ihn angesichts der Situation fast erschreckte. Die Panik war nicht mehr da, der Schmerz allgegenwärtig und nicht mehr realisierbar, aber sein Kopf funktionierte wieder. Er sah alles, was geschah wie ein Beobachter. Mit leisem Schrecken bemerkte er, dass sie alles dazu vorbereiteten, seinen Körper in Stücke zu reißen. Die Hunde, genau dieselben, die er und Cyprian besiegt hatten, lauerten schon auf sein Fleisch. Lucas Blick traft I’Eneel, der das Schauspiel mit undurchsichtiger Miene beobachtete und den Mann mit den hellen Himmelsaugen. Plötzlich wusste Luca wieder, woher er dieses Gesicht kannte. Er hatte ihn damals in Begleitung von Aycos Vater gesehen, als seinen direkten Untergeben, aber genauso auch in den Höhlen, in dem Lager. Es war Gregorius. Mit dieser Erkenntnis, zeriss sein Leben. „Du wolltest sehen, was war, wer du bist, und warum. Das habe ich dir gewährt.“ Die Stimme drang wie durch Watte in Lucas Geist. Die Schmerzen in seinem Körper ebbten nur langsam ab. Phantome eines anderen Lebens als derselbe Mann, wie er nun wusste. Er stand an derselben Stelle, in der Halle, I’Eneel gegenüber. Der Halbelf hatte einen Teil seiner Fragen beantwortet. Luca wollte zwar nicht diesen Weg gehen, Worte hätten ihm durchaus genügt, aber zum ersten Mal seit zwei Tagen erhielt er Antworten. Er empfand dem alten Magier gegenüber tiefe Dankbarkeit dafür, auch wenn ihm im Moment speiübel war und er nicht wusste, ob er auch nur einen Schritt weit gehen konnte, ohne wie ein Reissack umzukippen. „Danke“, murmelte er undeutlich, wobei er den Brechreiz wieder unterdrücken musste. I’Eneel deutete eine Nicken an, hob aber den Blick und sah zu einem Punkt über Luca, auf den Stufen. „Aycolén“, sagte er nur leise. Der Elf schrie wütend auf. „War Lucas Herz dein Preis?!“ brüllte er durch die Halle. I’Eneel suchte Lucas Blick. Zwei kleine, schwarze Schmetterlinge setzten sich auf seine Schultern und lösten sich auf. Lebensenergie floss in den halb verwesten Leib und zwang ihn an die Schwelle zwischen Leben und Tod. Der Halbelf sank zu Boden, den Blick starr, die Hände auf seine Brust gepresst. Sein Herz schlug kurz, ein, zwei Mal, bevor es versagte. In dem Moment verließen auch Luca alle Kräfte. Die lang ersehnte Ohnmacht fing ihn endlich auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)