Night's End von Luca-Seraphin (Der Wiedergänger) ================================================================================ Kapitel 26: Ruinen ------------------ An diesem Tag brachte Orpheu es nicht über das Herz, über ihren neuen Auftrag zu sprechen. Er beurlaubte seine Männer und gab ihnen bis zum kommenden Morgen frei, um dann Justin ins Labyrinth zu folgen. Aycos Stimmung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. Er konnte die düstrere, erstickende Atmosphäre des Labyrinthes nicht ertragen und bat Luca noch ein wenig durch die Stadt zu gehen. Der Magier ließ ihn den Weg bestimmen. Er spürte, dass Ayco den Abstand zu allen anderen suchte und sich lieber auf die Wege seiner eigenen Vergangenheit begeben wollte. Im Gegensatz zu dem Magier hatte der junge Mann auch seine Erinnerungen vollständig zurück. Luca hingegen irrte weiter im Nichts herum und traf immer wieder auf vorübertreibende Fetzen dessen, was sein Leben war. Vielleicht würde Ayco ihm helfen, alle Fragmente wiederzufinden. Der junge Mann ging dennoch eng an Luca gedrängt in seinem Arm. Insgeheim war Luca dankbar darum, dass es in Valvermont viele gleichgeschlechtliche Paare gab und die Liebe unter Männern nicht verpönt war wie es in anderen Reichen der Fall zu sein schien. In Rouijin, wusste er, dass es ein Grund zur Aburteilung und Hinrichtung war, was allerdings auch dazu führte, dass es im Heimlichen reichlich Bordelle von Frauen für Frauen und von Männern für Männer gab. Sanft hielt er den Elf an sich gedrückt. Ayco führte Luca auf diesem Wege tiefer in das Künstlerviertel, in das enge Straßenlabyrinth, in dem Gesang und Musik von den Wänden wiederhallte, und in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen ein akustisches Chaos anrichtete. Die Männer und Frauen, die durch die Gassen strichen, schienen in ihrer ganz eigenen, fernen Welt zu sein. Auf dem Rand eines Brunnens, der dem Viertel Wasser gab, saß eine junge Frau, deren Schuhe auf den Stufen lagen. Sie hatte ihren Rock hochgerafft und unter ihrem Korsett festgeklemmt. Mit verbissenem Gesicht knetete sie ihren linken Fuß, nur um dann auf die steinerne Umfassung hinaufzusteigen und über gefährlichen Tiefen, ungesichert Drehungen und Sprünge zu üben. Ein älterer Mann beobachtete sie. Er hockte auf den Stufen eines mehrgeschossigen Hauses, dass den Platz säumte und notierte in Abständen immer wieder etwas auf einem Pergament. Luca war sich nicht sicher, ob er ein Dichter, ein Schriftsteller oder Komponist war, aber er zeichnete sie zumindest nicht. Seinen schmalen, langen Fingern nach zu urteilen, zog der Magier am ehesten einen Musiker in Betracht. Das Mädchen dort war seine Inspiration. Aus einem Fenster drang infernalischer Lärm. Jemand, der es nicht konnte, zog einen Bogen über die Seiten einer Fiedel. Einen Herzschlag später erklang ein fleischiges Geräusch, als würde jemand eine Ohrfeige bekommen. Dann schimpfte eine Mutter ihr Kind aus. Sofort wurde der Lärm von dem Geschrei des Kindes abgelöst. Luca fühlte sich auf unerklärliche Weise hier zu Hause. Das Sonnenlicht glühte hier in der Luft und ließ die Gassen in warmem Goldlicht flimmern. Die gelben Sandsteinwände atmeten Hitze und Freiheit. Auch wenn der Geruch hier ähnlich unangenehm war wie im Labyrinth, konnte der Magier hier durchatmen und fühlte sich erfüllt von dem Gedanken zu erschaffen, Träume zu weben. Sein bislang noch immer trauriges Herz öffnete sich den Gefühlen. All das, was ihn Justin lehrte, verlor den düsteren Hauch der Vergessenen und wurde zu leuchtender Sehnsucht. Allerdings begann Luca auch zu begreifen, was sein Freund aufgegeben hatte, um der Herr des Labyrinthes zu werden und die zu beschützen, die Mesalla aus der Gesellschaft ausstieß. Justin war verurteilt zu einem Dasein in der ewigen Dämmerung und Verwesung, stammte aber aus dem hellen Licht, dass dieses Viertel erleuchtete. Mitleid ergriff ihn. Plötzlich blieb Ayco stehen. Der Magier sah ihn fragend an. Einen Herzschlag lang nur verstand er nicht. Dann aber erkannte er das Haus, vor dem der Elf stehen geblieben war. Das zweistöckige Gebäude aus Bruchsteinen und Fachwerk gehörte Lucas Großvater. Es war die Goldschmiedewerkstatt, an die er sich dunkel erinnerte. Sein Vater hatte ihm irgendwann alle Besuche bei dem alten Mann untersagt. „Das ist mein Zuhause, Luca“, sagte der Elf leise. „Die Werkstatt deines Großvaters.“ Unwillkürlich blickte der Magier auf das Armband an seinem Handgelenk herab. Er hatte kurzzeitig verdrängt, dass Ayco eigentlich Goldschmiedemeister und der ehemalige Schüler seines Großvaters war. Versonnen lächelte er. „Du lebst im Herzen des Künstlerviertels“, sagte er leise. „Wenn du es willst, Luca, dann mit dir zusammen“, bat Ayco ihn. Seine Stimme bebte. „Vielleicht werden wir beide irgendwann zusammen hier leben können. Du bist doch nur Magier, weil dir nie die Wahl gelassen wurde. Wenn du könntest würdest du doch viel lieber musizieren, singen, tanzen, dichten oder zeichnen. Das war doch schon dein Wunsch, als du noch ein Kind warst... Weil du dann frei bist, wie wenn du deine Schwingen ausbreitest und fliegst...“ Stumm umschlang Luca Ayco und nickte. ‚Er hat nicht unrecht, Luca. Du bist kein Magier, weil du es willst. Und kein Krieger aus Bestimmung’, bestätigte Tambren still. ‚Wenn irgendwann alles vorüber ist, solltest du hier her zurückkehren und deinen Frieden finden.’ „Das will ich“, murmelte der Magier, völlig unbestimmt, ob er Aycolén oder Tambren beipflichtete. Beruhigt schmiegte Ayco seinen Kopf an Lucas Wange. „Irgendwann ist das unser Heim“, flüsterte er. „Dann steht auch dein Name wieder außen und nicht mehr nur der meine.“ Aus einem Reflex heraus betrachtete er die Buchstaben, die auf einem Schild aufgemalt waren. Ursprünglich stand dort Veraldis und Amaro, Goldschmiedemeister. Allerdings hatte man den ersten Namen übermalt. Paradoxerweise stand das und noch von Aycos Nachnamen. Luca empfand einen tiefen Stich in seinem Herzen. Er hatte den alten, gütigen Mann, den Vater seines Vaters, sehr geliebt. Die einstmalige Bewunderung für ihn, fand sich noch immer in Luca. Der Gedanke, dass sein Vater alles zerstörte, was der alte Mann über Jahrzehnte mit seinen Händen geschaffen hatte, weckte in Luca wieder die alte Wut. Als ihm damals von Ihad mitgeteilt wurde, dass er seinen Namen und das Recht als Adeliger zu leben, verloren hatte, berührte Luca nicht so sehr, wie das Wissen, dass es auch seinen Großvater mit in den Untergang riss. Auch die Nachricht über den Tot seines Vaters, erreichte sein Herz nicht mehr. Damals gefror er innerlich. „Lass uns hinein gehen“, bat Ayco sanft. Der Magier schluckte hart, nickte dann aber. Schwerfällig erklomm er hinter Ayco die Stufen der Außentreppe hinauf zu dem Eingang der Wohnung, über der Werkstatt. Die Tore unten waren offenbar von innen verriegelt. Im Moment konnte er sich kaum besinnen wie es innen aussah. So viele Bildfragmente lagen vor ihm, aber die wenigsten konnte er sinnvoll zusammensetzen. Ayco reckte sich unter die Balken der Überdachung an der Tür und fingerte nach etwas. Luca hörte ein leises klirren, als der Elf einen Schlüsselring unter Staub und Spinnweben hervor zog und die einzelnen Schlösser eines nach dem anderen öffneten und die Riegel zurück schob. Als die Tür aufschwang schlug ihnen unangenehm trockene und staubige Luft entgegen, die Beide zum Husten brachte. Es roch leicht vergammelt, nach nicht mehr ganz sauberem Bettzeug und schalem, saurem Wein. Eilig hielt Ayco sich einen Ärmel vor Mund und Nase und trat ein. Zögernd blieb Luca unter der Tür stehen. Er hörte den Elf in den Tiefen des Wohnraumes über die alten Dielen gehen, die unter seinem geringen Gewicht knarrten und an den Läden hantieren. Zwischendurch hustete der junge Mann, wenn ihm zu viel Staub in den Rachen geriet. Auch ihn reizten die kleinen Körnchen leicht in der Nase und er musste niesen. Tambren, der wie üblich in seinem Hemd gesessen hatte, zog den Stoff aus Lucas Hose und plumpste schwerfällig zu Boden. Im ersten Moment verschmolz der Drachling mit den Schatten, stand aber einen Herzschlag später in grellem Sonnenlicht, als Ayco endlich den scheinbar verklemmten Fensterladen aufgestoßen hatte. Der Raum war groß, mehr als die Hälfte der Hausfläche nahm er ein. Allerdings standen hier nur Tisch, Truhe, zwei Stühle, die Staffelei, ein Bett, indem ein alter Strohsack lag und eine Werkbank. Eine Stütze trug den Dachstuhl und überbrückte das Gewicht bis zu der Kaminwand. Dort fand sich auch eine Kochstelle, direkt neben einer Tür in den hinteren Raum. Der Stein war nun Ruß geschwärzt und das Holz grau und versteinert. Trotz der Tatsache, dass Aycos persönliche Gegenstände sich lediglich auf Decke, Kissen, Malwerkzeug, Schmiedewerkzeug und ein paar Kleider beschränkten, herrschte hier ein optisches Chaos. Es entsprach allerdings dem jungen Mann. Als Luca ein Kind war, hatte sein Großvater hier seinen Verkaufsraum und eine Theke. An den Wänden standen einst Regale und Vitrinen mit den prächtigsten Schmuckstücken, Auftragsarbeiten, die nie abgeholt wurden, sich aber sehr gut zur Präsentation eigneten. An den Wänden hingen Bilder, Gemälde des Prinzen und der Herrscherfamilie, die von Mesalla verbannt und auf ewig ins Exil geschickt wurde. Die Schlafstatt beider Männer war einst hinten. Dennoch hatte der Raum etwas, dass Luca Wärme gab. Luca trat nun ebenfalls ein. Er hatte das Gefühl, als würde seine Erinnerung wie eine Woge über ihm zusammenschlagen. Ayco mühte sich an einem anderen Fensterladen ab, scheinbar zerrte er so an den Hebeln und Riegeln, dass Goldy vorsichtshalber Reißaus nahm, bevor sie in hohem Bogen von seiner Schulter herabgeschleudert wurde. Nörgelnd verkroch sie sich auf dem Bett und ließ sich fallen. Scheinbar setzte sie sich so ungünstig, dass einige Strohhalme sie piekten. Eilig klopfte sie das Kissen mit ihrem Schwanz weicher, wirbelte aber so viel Staub auf, dass sie husten und niesen musste. „So lieb du bist“, keuchte sie, als sie wieder etwas mehr Luft in ihre Lungen bekam, „aber du hast einen Saustall!“ Ayco wendete sich zu ihr um. „Kunststück, ich war mehr als vier Mondzyklen lang nicht hier!“ Behutsam schob Luca ihn zur Seite und versuchte den verquollenen Laden zu öffnen, murmelte aber schließlich einen Zauber, weil die Chance, das alte Holz zu zerstören weitaus zu hoch war. Licht und Musik fluteten den Raum, allerdings auch der Duft nach Aphrodisiaka und Wein, aus dem nahen Bordell. Kommentarlos trat der Magier zu der Bettstatt Aycos, fischte Goldy von ihrem Sitzplatz und ließ sie sanft zu Boden. Die Kleine ersparte sich jeden Protest. Während der Magier das Bettzeug gründlich ausschüttelte und zum Lüften über die eilig abgestaubten Fensterbretter legte, ging Tambren dem Geruch nach dem vergammelten Essen nach. „Hast du einen Besen?“, fragte Luca. Verwirrt deutete Ayco nach unten. „Im Lager...“, entgegnete er fahrig. „Was machst Du da eigentlich, Luca?!“ „Sauber“, entgegnete der Magier knapp. „Ja, das sehe ich“, murmelte Ayco leicht verärgert. Bevor Luca allerdings über die schmalen Leiterstiegen hinab in das Lager steigen konnte, huschte der Elf nach unten. Leise hörte der Magier seinen Freund unten fluchen, wenn er gegen etwas stieß oder er über etwas stolperte. Sein Blick strich zu Goldy, an deren Mimik er zu deutlich ihr Mitgefühl ablesen konnte. Immer, wenn Ayco sich stieß, verzog sie ihr Gesichtchen, als habe sie sich etwas getan. „Dieb, wie?“, fragte Tambren spöttisch aus dem Nebenraum. Luca zuckte hilflos mit den Schultern. „Vielleicht hat er nie versucht sich selbst zu beklauen?“, erklärte er. „Hab ihn!“, kam von unten und für Lucas Geschmack ziemlich erstickt. Nach wenigen Augenblicken kroch Ayco zerzaust und staubig die Treppen wieder hoch, einen alten Reisigbesen in der Hand, der angeknabbert aussah. Jetzt, im Licht, betrachtete sich der Elf die Reste genauer. Er stellte ihn neben sich ab und klopfte den Staub aus en Kleidern, die ihm Luca überlassen hatte. „Scheinbar habe ich ein Rattenproblem hier“, sagte er nachdenklich, mit einem Blick zu dem Besen, den Luca sich bereits griff, um den Raum auszufegen. „Eins stimmt nicht, Ayco!“, drang Tambrens Stimme aus dem Nebenraum. „Ich würde es mit einer Kolonie umschreiben!“ Die Ratten reagierten allerdings nicht ganz wie erwartet. Sie wuselten nicht in alle Winkel und versteckten sich. Ganz gegen alle tierischen Instinkte traten sie gesammelt Ayco und Luca gegenüber. Der Elf klammerte sich hilflos an die Stütze im Wohnraum, während Luca die kleinen Kerle der Reihe nach betrachtete. Einige von ihnen schienen einfache, recht dumme Tiere zu sein, andere allerdings kannte er aus der Kristallstadt. „Das sind welche von Nicodemus’ Ratten, nur eben in klein“, erklärte der Magier und ging vor ihnen in die Knie. Er streckte seine Hand flach auf dem Boden aus, legte den Besen neben sich auf dem Boden ab und wartete, bis ein kleiner, weißer Kerl mit schwarzen Flecken und bebenden Schnurrhaaren sich aus der Menge löste und zögernd zu Luca krabbelte. Mehrfach blieb er stehen, richtete sich auf seine Hinterläufe auf und schnupperte in die Luft. Die Ratte testete Lucas Geduld aus. Er brauchte ewig, bis er seinen Fingern auch nur so nah kam, um ihm behutsam, zögernd in die Fingernägel zu beißen. Luca hob eine Braue. „Feigling!“, schimpfte er sanft. „Du weißt selbst gut genug, dass ich oft bei deinem Herren in der Kristallstadt bin!“ Leise klapperte die kleine Ratte mit ihren Zähnchen, protestierte wohl gegen den Feigling. Dann setzte er sich in Lucas Handfläche und schnupperte an ihm. Seine kleinen, feinen Schnurrhaare kitzelten leicht. Dann knabberte er vorsichtig an Lucas Haut, ohne ihn jedoch zu verletzen. Er erhob sich wieder auf seine Hinterläufe und begann sich zu putzen. „Hat euch Nicodemus geschickt?“, fragte Luca leise. Aber der Kleine ließ sich bei seiner Fellpflege erst mal nicht stören. Tam konnte ihm leider auch nur verwaschene Gefühle des Tieres übermitteln. Das Bewusstsein des kleinen Kerlchens war weitaus weniger klar als das einiger anderer Lebewesen. Der Drachling kletterte an Lucas Zopf bis zu seiner Schulter und ließ sich an seinem Stammplatz nieder. Ayco beobachtete die Szenerie sehr misstrauisch. „Wenn er sie geschickt hat, würde es mich interessieren, ob sie nur dazu da waren, meine Vorräte zu dezimieren, oder ob sie auch einen praktischen Zweck hatten.“ Luca sah zu ihm auf. „Du erinnerst dich also auch wieder daran, dass wir als Kinder manchmal bei Nico waren, oder?“ Der Elf nickte. „Und dass ich dich nie aus seinen Hallen mit den Büchern weg bekam.“ Nachdenklich senkte er den Blick. „Dass ich ihn vergessen konnte. Nicodemus und Justin waren die Freunde und Helfer unserer Kindheit, Luca.“ Der Magier schmunzelte. „Wohl eher unsere Kindermädchen.“ „Lasst das meinen Vater nicht hören, Elf“, drang die lispelnde Stimme Sisikazevs von der Tür her. Wenig überrascht wendete sich Ayco zu ihr. Auch Luca wendete vorsichtig den Kopf. Die Rattendame drängte sich durch den niedrigen Eingang in den Raum. Ihre Masse verdrängte die Sonne. „Die Kleinen sind eure Wächter und Beschützer gegen Mesalla und jeden, der zu neugierig nach euren Schätzen wird, Aycolén.“ Der Elf legte den Kopf schräg. „Ihr seid Mesallas Gardehauptmann, wie kann ich euch glauben?“, fragte er scharf. Die kleine Ratte auf Lucas Hand sprang herab und eilte zu Sisikazev. „Ich bin nur da, um Schaden von seiner Seite zu minimieren“, sagte sie leise. „Mesalla steuert schon seit langem euer Schicksal und das Lucas. Alles lief bisher nach seinen Wünschen. Ihr ward immer ein Trumpf gegen den ersten Ritter des Kaiserreiches. Kyle Trehearn in der Hand zu haben, wenn es darauf ankommt, und das mit seinem Sohn, ist wertvoll. Genauso lenkte er immer das Schicksal von den Veraldis. Nachdem er wusste, wen Lucas Vater ehelichte, war es klar, dass er im Wettstreit mit Ihad um ihn lag. Als er erfuhr, wie nah ihr Luca wart und welche außergewöhnlichen Fähigkeiten in euch wuchsen, von den künstlerischen mal ganz abgesehen, wurdet ihr zu einem genauso wichtigen und wertvollen Baustein im Gefüge der Stadt, dass er euch nicht mehr entbehren konnte. Nun, im Moment, kommt ihr ihm mit eurer Wahl bei Luca zu bleiben nur entgegen.“ Bevor Ayco etwas sagen konnte, erhob sich Luca. Er sah zu deutlich, dass Ayco kurz davor stand, in den Palast zu gehen und Mesalla einfach nur niederzuringen. Sisikazev musterte das Paar neugierig. „Wenn das Gefüge eines Tages auseinander bricht, das, was mein Vater prophezeit hatte, wird Valvermont vernichtet werden. Und diese Zeit ist nicht mehr fern, Aycolén Amaro. Allerdings bin ich der Auffassung, dass es besser ist, wenn Mesalla herrscht und uns nutzt, den Frieden zu wahren, als wenn das Land brennt und das Leben versiegt.“ „Was kann ich schon für ihn bedeuten?!“, zischte Ayco wütend. Luca umfing ihn sanft. „Ihr seid ein Dieb, ein Fälscher, ein Magier und ein Spion“, entgegnete Sisikazev. „Das was euch an schauspielerischen Fähigkeiten fehlt, macht ihr an Mut wett. Das was euch antreibt ist ein unsägliches, inneres Feuer. Dort, wo die Situationen es erfordern, findet ihr Kräfte in euch, die alles übersteigen, was ihr selbst für möglich haltet.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Sicher hat er bessere Diebe als euch, oder bessere Kundschafter, bessere Fälscher und bessere Magier. Aber ihr bietet ihm die gesamte Palette dieses Könnens in einer Person. Außerdem macht es den Eindruck als würden die guten Götter euch besonders lieben, denn bislang seid ihr aus jeder Situation lebend hervor gegangen.“ Ayco sah Luca aus dem Augenwinkel an. „Die Götter?“, wiederholte er leise. „Die wohl nur bedingt.“ Luca drückte ihn sanft. „Wenn ihr so hinter eurem Herren steht“, begehrte Ayco auf, „warum sollen mich dann diese kleinen Kerle vor ihm schützen?“ Sie machte eine Bewegung zum Bett. Ayco schauderte merklich in Lucas Armen und schmiegte sich enger an seinen Geliebten. „Zwei Gründe“, erklärte sie. „Das, was ihr unter eurem Bett habt, das ganze Geld, was ihr gespart habt um einen Priester oder Magier zu bezahlen, damit er euch eure Erinnerungen wieder geben kann, die versiegelt waren.“ Luca hob erstaunt eine Braue. Dennoch war ihm zu gut verständlich, warum Ayco das getan hatte. „Der andere Grund?“, fragte Ayco wiederwillig. „Mesalla ist wie wahnsinnig nach euch. Er will euch für sich haben, weil ihr in euch dieselbe ungezügelte Wildheit habt, die er in seinen Katzen so liebt. Meine Freunde hier sollten seinen Ausspähungen nach euch vereiteln. Dafür sind auch viele von ihnen gestorben.“ Ayco sah zu dem kleinen Tieren, die zu Sisikazevs Füßen saßen. Die Rattendame verneigte sich nun tief. „Beantwortet das eure Fragen, Elf?“ Verzagt nickte Ayco. „Das heißt, ohne eure Hilfe wäre ich immer in Gefahr Mesalla zum Spaß zu gereichen?“, fragte er noch einmal nach. Sisikazev zwängte ihren massigen Leib gerade wieder aus dem Raum hinaus auf die Treppe. „Ja“, hörte er sie noch sagen, bevor sie mit einem Satz die Stufen herabsprang und verschwand. Luca beobachtete Ayco, der seit Sisikazevs Besuch sehr still geworden war und stumm vor sich hin räumte. Dem Magier blieb nichts, als stille Hilfe zu leisten und da zu sein, wenn Ayco reden wollte. Tambren wollte er nicht auf Aycos Gefühle ansetzen, auch wenn er wusste, dass der Drachling sie wahrnahm. Dem Magier war klar, wie sich sein Geliebter nun fühlen musste. Auch er war nichts als ein unfreies Rädchen in Mesallas System. Luca reinigte still Tisch und Stühle, fegte den Kamin aus und wollte sich gerade mit einem Eimer auf den Weg zum Brunnen machen, als Ayco sich zum ersten Mal regte. „Bitte lass mich hier nicht allein“, bat er leise. Allein konnte der Elf nicht sein, dachte Luca, nicht mit rund dreihundert Ratten, die das Haus bewachten. Leise stellte er den Holzeimer nieder und trat zu Ayco. Der Elf sprang ihm wortlos in die Arme und klammerte sich an dem Magier fest. Sein Schmerz fand keine Ausdrucksform, die gereicht hätte. Hilflos krallte er sich in Haut und Haar Lucas und presste sein Gesicht an dessen Schulter. Sanft hielt der Magier ihn, wiegte ihn, versuchte durch seine Nähe und Anwesenheit Halt für Ayco zu sein. „Sind wir denn nichts als Gegenstände für Mesalla?“, wisperte Ayco erschöpft. Liebend gerne hätte Luca dem widersprochen, aber er wusste es besser. Bis heute hatte er nie eine andere Erfahrung gemacht, als die des Leibeigenen. Er schmiegte sein Gesicht in Aycos Haar. „Wenn wir das mit uns dauerhaft machen lassen, werden wir nie frei sein“, sagte er leise. „Allerdings gerät dann wirklich das System ins Wanken.“ „Sind wir denn so wichtig?“, fragte Ayco leise. Das war eine Frage, die sich Luca auch schon oft gestellt hatte. Immer kam er zu dem gleichen Ergebnis. Er, als einzelne Person war unwichtig, aber da er Einfluss auf duzende Anderer hatte, die ebenfalls Teil des Gesamtbildes waren, er sie teils steuerte, leitete und führte, geriet er wieder in die Position wichtig zu sein. Nicht der einzelne als Individuum zählte, sondern die Gesamtheit, in der die Person unersetzlich werden würde. Aber das konnte er Ayco so einfach nicht erklären, weil der junge Mann ganz anders dachte als Luca. Ungezügelt und chaotisch war der junge Elf, wenig gefasst und geordnet, gegensätzlich zu Luca. Dennoch sah Luca zu deutlich, dass Ayco vor weitaus gewaltigeren Ruinen seines Lebens stand, als er selbst, denn Ayco würde sich niemals mit der Situation einfach so abfinden, er schon. „Lass uns die Nacht hier verbringen, Luca“, bat der Elf, nachdem er sich beruhigt und gezwungenermaßen den Putzlappen geschwungen hatte. Der Magier konnte in der Ordnung nicht weniger streng sein als in der Disziplin bei seinen Studien. Darin Ayco allerdings zuzustimmen, fiel Luca nicht schwer. Er tauschte gerne das prächtige Zimmer in Justins Villa gegen die nun saubere Handwerkshütte von Ayco und seinem Großvater. „Allerdings sollten wir ein wenig einkaufen, um deine dreihundert Mitbewohner und unsere hungrigen Drachen zu füttern“, sagte er lächelnd. „Der Blick in deine Vorratskammer hatte mir deutlich gezeigt, warum die kleinen Ratten so wohl genährt aussahen.“ „Sie war leer?“, fragte Ayco überflüssigerweise. „Leergeputzt bis auf das schimmlige Brot und den übersäuerten Wein“, erklärte Luca, der sich vorhin die Kammer vorgenommen hatte. Ayco seufzte. Dann rückte er das Bett ab und schraubte mit einem Fleischmesser vorsichtig eine Diele aus dem Boden. „Dein Schatz?“, vermutete Luca, der sich auf einem der Holzstühle niedergelassen hatte. Das Klirren und der volle Ton der Münzen, verrieten dem Magier, dass Ayco wirklich einen kleinen Schatz dort unten hütete. Mit dem kindlichsten und vergnügtesten Grinsen überhaupt, schöpfte er eine Hand voll Silberlingen aus Valvermont heraus. „Das sollte für einen Großeinkauf langen, oder?“ fragte er überflüssigerweise. Luca hob beide Brauen und pfiff durch die Zähne. „Das ist nah an meinem Sold“, murmelte er. „Wie viel hast du gespart?“ Er konnte nicht ganz die Bewunderung aus seiner Stimme verbannen, schon weil das, was der Elf gerade in Händen hielt, reichte, um das Haus bis unter das Dach mit Nahrungsmitteln zu füllen. „Ungefähr einhundertfünfzigtausend Goldmünzen sarinischer Währung, du verstehst?“, fragte Ayco. „Ich meine die große, die mehr wert sind als die aus Valvermont.“ Dieses Mal musste Luca husten. „So viel?“, flüsterte er heiser. „Damit hättest du Ihad selbst beauftragen können!“ „Ja“, antwortete Ayco. Seine Stimme klang verächtlich. „Wäre er nicht der Grund gewesen, wegen dem ich diese Dienste gebraucht habe!“ Darin musste Luca ihm leider zustimmen. „Was hält dich ab, das alles hier wieder aufzubauen und den Namen Amaro wieder rein zu waschen?“ Ayco schüttelte nur den Kopf. „Wegen dir“, sagte er lächelnd, legte das Geld neben Luca auf dem Tisch ab und setzte sich auf den Schoß des Magiers. „Weil ich dich nie wieder verlassen werde. Wohin du gehst, gehe ich, verstanden?“ Luca umschlang ihn sanft und küsste ihn wortlos. Die laue Nachtluft umstrich sie, milderte die Geschehnisse des Tages und erfüllte Luca mit der Sicherheit, dass es eine der schönsten Nächte überhaupt werden konnte. Sie hatten gemeinsam mit den Drachen und den Ratten gegessen – ein zugeben ungewohntes Gefühl – was aber nichts Falsches an sich hatte und sich die Bilder angesehen, die Ayco gemalt hatte. Einige von ihnen trugen kleine Nage- und Bissspuren. Nun schlenderten sie durch die Stadt, Arm in Arm, verträumt, in der Illusion von Freiheit. Unterschwellig aber spürte Luca einen stillen Ruf, eine unerfüllte Sehnsucht, der er folgte. Als sie die Grenzen des Patrizierviertels erreichten, wusste Luca, was ihn hier her zwang. Es war die Ruine, die Villa und der Park, die einst seiner Familie, seinem Vater, gehört hatte. Etwas in ihm wollte damit abschließen. Dieser Ort war eine Last auf seiner Seele, die er nicht bemerkte, nur wenn er einsam war und daran dachte, dass er schon damals nichts als ein Gegenstand für seinen Vater war. Bevor sie das Anwesen erreichten, hielt ihn Ayco zurück. „Willst du dir das wirklich antun, Luca?“ Der Magier sah ihm still in die Augen und nickte. „Dann sollten wir es wagen“, sagte Ayco leise. Von der hohen Mauer und dem breiten Tor war nichts mehr zu sehen. Efeu hatte den Stein bezwungen. Ein Baum, dessen Wurzeln sich durch die Ziegel nach außen gezwängt hatten, brachen das Gefüge auf. Der Magier sah sich um. Um dieses Anwesen standen Villen, die sich in ihrer Pracht weit von den Ruinen abhoben. Warum Mesalla das alte Veraldis-Haus nie hatte niederreißen lassen, konnte Luca nicht sagen. Vielleicht sollte es als Mahnmal hier stehen bleiben, die Leute erinnern, was ihnen geschah, wenn sie sich dem Prinzen nicht beugten. Behutsam berührte er den Efeu und tastete tiefer, bis er den feuchten, schimmligen Stein fühlte. Etwas krabbelte über seinen Handrücken, aber Luca zuckte nicht zurück. Der Mörtel bröckelte unter seinen Fingern weg und hinterließ feuchten Sand auf seiner Haut. Luca sog den Geruch des Alters ein, der Feuchtigkeit und des grünen, frischen Laubes. „Mein Heim“, flüsterte er. „Fühlst du dich hier zu Hause?“, fragte Ayco leise und legte Luca seine Hand auf die Schulter. Der Magier sah zu ihm. „Immer wenn du da warst und in den Nächten bei mir eingebrochen bist, war es das, ja. Deine Nähe hat mir mein Zimmer zu einem Zuhause gemacht, Ayco.“ Die Jadeaugen füllten sich mit Trauer. „Du warst unglücklich dort, nachdem ich dich nicht mehr besuchen durfte, Luca. Dein Vater hat dich eingesperrt und vor den Augen der Öffentlichkeit fern gehalten. Du warst lange noch ein Seraph, konntest dich nicht in einen Menschen verwandeln. Das war der Grund, warum er dich hier einsperrte, und weil er...“ Ayco ballte die Faust. „Weil er deine Mutter verraten hatte. Er hat zugesehen, wie der Mob sie umbrachte, weil sie ein Seraphin war.“ Lucas Herz krampfte sich zusammen. Er hatte verdrängt, dass er seine Mutter als kleines Kind verloren hatte. Wäre Ayco nicht gewesen, der ihn damals vor dem wütenden Mob verbarg, so wäre auch er verbrannt worden. Sein Vater hatte wirklich nichts unternommen, um seine Frau zu retten, die er doch so sehr geliebt und verehrt hatte – dieser Lügner und Heuchler! Ein feiner Schmerz zog sich von seinen Fingerspitzen hinauf in seine Hand. Es dauerte seine Zeit, bis Luca realisierte, dass er die Nägel tief in das alte Gestein gegraben und sie sich abgebrochen hatte. Tambren setzte vorsichtig eine Pfote auf seinen ausgestreckten Arm, erhob sich langsam und legte den Kopf schräg. „Wenn du deinem Vater nicht vergibst, wirst du nie deinen Frieden finden.“ Der Magier sah ihn an. Er wusste, dass sein kleiner Freund recht hatte, konnte aber rein gar nichts gegen diese hilflose Wut in sich tun. Er erinnerte sich sehr gut daran, dass er als Junge Glück empfunden hatte, von seiner Mutter und seinem Vater geliebt wurde und Ayco ständig bei ihm sein konnte. Klar waren die Bilderfetzen nicht, aber wenigstens von ihrem Gefühl her sehr schön. Sie vermittelten ihm eine Wärme, nach der er sich immer gesehnt hatte. Ayco umarmte ihn sanft von hinten, drückte sich an ihn und umschlang Lucas Taille. Der Magier spürte den warmen Atem seines Freundes, der über seinen Nacken strich und einen Herzschlag später seine Wange, die er gegen Lucas Kopf lehnte. Plötzlich fuhr Ayco zusammen, löste sich rasch von Luca und sprang mit der Grazie einer Katze, auf den Mauerkamm hinauf. Einen winzigen Augenblick stand der Magier still und verwirrt da, bis Tambren ihn warnte, sich zumindest unsichtbar zu machen. Beinah zu spät erkannte Luca die patrouillierenden Wachen, die um eine Ecke bogen. Dieses Mal hatte ihn seine Wachsamkeit im Stich gelassen. Lautlos verschwand er. Seine Gestalt hatte nur ihre Sichtbarkeit verloren. Körperlich stand er immer noch an der gleichen Stelle, löste sich nun aber vorsichtig, um weiter zurück zu gleiten, sich umzudrehen und mit dem Rücken gegen die Wand zu lehnen. Als er das Efeu hinter sich berührte, raschelten die Blätter leise. Zu allem Unheil war beide Stadtwachen verhältnismäßig aufmerksam. Der ältere der beiden, ein kleiner dünner Mann mit schütterem Haar und einer nicht ungefährlich aussehenden Hellebarde, spähte nun angestrengt in Lucas Richtung. Der Magier gewann fast den Eindruck, dass ihn der Soldat sehen konnte. „Hast du nicht auch was gehört?“, fragte er seinen jüngeren, weitaus größeren und breiteren Gefährten. Der brachte seine Hellebarde in Position. „Nicht nur gehört, auch gesehen“, bestätigte er. „Da ist etwas an der Mauer. Auch wenn sich Luca sehr sicher war, dass weder der eine, noch der andere ihn wirklich sehen konnten, machte ihn die Situation nervös. Er hatte nicht vor sich hier erwischen zu lassen, davon abgesehen würde es auch ziemlichen Ärger mit Mesalla geben, würde der Prinz selbst ihn aus dem Gefängnis der Stadtgarde holen müssen. Außerdem wusste er zu gut, dass er nur unsichtbar, aber nicht unverwundbar war. Die Hellebarde des jungen Soldaten bewegte sich in seine Richtung und stach immer wieder gefährlich nah und zumeist nur eine Hand breit neben ihm in das Efeu an der Mauer. Vorsichtig, so leise er mit seinen hohen, schweren Stiefeln konnte, wich er immer weiter seitlich aus und entglitt den Stichen. Nach einer Weile gaben die beiden Soldaten auf. „Vielleicht ein Tier?“, schlug der jüngere Mann vor. „Wenn dem so ist, haben wir beiden uns ganz schön zum Idioten gemacht.“ Sein Kollege wiegte den Kopf. „Wenn uns jemand von einem der Häuser aus gesehen hat, ist mir die Erklärung, dass die Villa bespukt wird und wir einem Geist gefolgt sind, lieber“, lächelte er. Während er sich umsah, hinter vorgehaltener Hand gähnte und sich dann streckte, nahm auch endlich sein Gefährte die Waffe herunter und betrachtete die Mauer und das die Zinnen des Hauses, das tief in dem verwunschenen Park lag. Er deutete auf den Bogen, der das Tor einst einfasste. „Du hast doch sicher noch miterlebt, wie das hier passiert ist“, fragte er seinen älteren Freund. „Und was da über dem Tor stand.“ Nachdenklich wiegte er den Kopf und strich sich den Bart glatt. „Das ist eine seltsame Geschichte“, murmelte er. „Der Besitzer der Villa war ein von Mesalla geadelter Mann, reich, einer der Händler, denen es immer gut ging. Er hatte eine schöne Frau gefunden und sie lebten einige Jahre glücklich. Dann aber wurde bekannt, dass sie keine Menschenfrau sondern eine Dämonin war. Sie hat ihn wohl mit ihren Reizen bezaubert und für ihre Zwecke genutzt. Damals wechselte oft das Personal hier in der Villa. Männer und Frauen verschwanden und tauchten nie mehr auf...“ „Komm, du übertreibst!“, wehrte der junge Mann lachend ab. Luca allerdings sah die Unsicherheit in den Augen des Soldaten. „Nein, das tue ich nicht“, beharrte der ältere Wächter. „Damals verschwanden mehrere Zofen der Herrin und der Hausdiener kam auf seltsame Weise zu Tode.“ Dem jüngeren Mann lief offenbar ein Schauer über den Rücken. Er sah wieder zu den Zinnen hinauf und dem fahlen knochenbleichen Licht des großen Mondes, der das Haus in seiner verfallenen Pracht zu neuem, unheimlichem Leben füllte. „Wie ist das passiert, und woher weißt du davon?“ fragte er. Angst schwang in seiner Stimme mit. „Eines der verschwundenen Mädchen war meine Tochter“, entgegnete die Wache angespannt. Sein junger Gefährte erbleichte. Luca senkte nachdenklich den Blick. Er erinnerte sich daran, dass sie wenig Personal hatten, als er klein war. Nur die Lieblingszofe seiner Mutter, die sich das Bett seines Vaters erschlich und die er auch später zum Weib nahm, stand noch klar vor seinem inneren Auge. Damals war sie auch fröhlich und sehr lieb zu Luca gewesen, hatte oft mit ihm gespielt und ihn oft scherzhaft „Hühnchen“ oder „Geflügel“ gerufen. Aber das änderte sich, als sie seinen Vater umgarnte. Ihm war auch entfallen, dass sie mehrere Mägde und eine alte, dicke Köchin hatten, die gutmütig und sehr beredt war. Oft war sie konspiratives Mitglied in der Verschwörung gegen Lucas Vater und half Ayco mehrfach in das Haus, oder versorgte die Jungen mit Essen, wenn sie ausrissen. Sie hatte den Status einer geliebten Großmutter für den damals noch recht jungen Luca. Auch der strenge Hausdiener, der runde Kutscher, der Gärtner mit seinem Gehilfen und der dürre Hauslehrer waren Personen, die ihm entfallen waren. Bis auf den Hauslehrer mochte Luca auch alle sehr. Sie waren seine Freunde. Wirklich einsam war er nie dort. Dennoch fühlte er sich so, wenn Ayco nicht bei ihm war. Der Elf bedeutete damals schon das Zentrum seiner Welt. Aber ihm war nie bewusst gewesen, dass die Menschen, die für seinen Vater arbeiteten, verschwanden. Vielleicht war das noch vor seiner Geburt gewesen. „Man sagte, sie habe ihre Seelen gefressen“, erklärte gerade der alte Wachmann. Stumm verdrehte Luca die Augen. ‚Seelen fressen, was sind wir, Succubi und Inccubi?!’, fragte er Tambren. ‚Ein wenig Lebensenergie brauchen wir, aber nur selten und auch nur, wenn wir kurz vor dem Tot stehen.’ ‚Mach das den einfachen Bürgern klar, Luca. Für sie seid ihr Seraphin dämonische Unglücksboten. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob du ein normaler Seraph-Menschen-Mischling bist’, äußerte der Drachling seinen Verdacht. ‚Unsinn. Meine Mutter war ein Seraph, mein Vater ein Mensch’, widersprach er. ‚Du hattest in den Höhlen weiße Schwingen und weiße Haut. Das bedeutet, dass in dir nicht nur das Blut der schwarzen Engel ist, sondern auch das eines Celestial.’ Luca schob den Gedankengang von sich. Er war sich sicher, dass einzig die Magie ihn so verändert hatte. Außerdem interessierte ihn das Gespräch der Wachen zu sehr. „Als bekannt wurde, dass er eine Dämonin geehelicht hatte, zwang unser Prinz ihn dazu, sich von ihr zu trennen. Das tat er aber nicht. Da sammelten sich die bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt, große Ordensführer, Priester, Gildenoberhäupter und Ratsherren, um über sie zu Gericht zu sitzen. Diese Verhandlung war nicht von unserem Prinz erbeten, aber sicher in seinem Sinn.“ „Was passierte dann?“, fragte der junge Mann atemlos. „Mesalla zwang das Gericht, eine Woche zu warten. Er schwor, dass, würde sich der alte Verald...“, er unterbrach sich. „Der Hausherr, nicht zu den guten Göttern bekehren lassen und sein Weib verstoßen, er ihm Namen und Titel nehmen, sein Geschäft, sein Geld und ihn in die tiefsten Verließe verstoßen würde. Daraufhin passierte einen Zehntag nichts. Dann ging das Gerücht, die Hausherrin habe einen Zauber über ihn gewoben um ihn zu zwingen, ihr allein zu huldigen. Die Stadt, der Rath, alle, erhoben sich, stürmten das Anwesen und befreiten den armen Mann.“ „Und wie?“, fragte der junge Soldat etwas dümmlich. „Indem sie das Weib erschlugen, sie zerrissen und verbrannten, junger Narr!“, zischte er. Luca spürte in sich kochende Wut aufsteigen. Er erinnerte sich dumpf an den Tag, an das Abschlachten. Jeder der sich dem Mob in den Weg stellte, wurde niedergetrampelt oder erschlagen. Ihnen war es damals völlig gleich, wen sie umbrachten. Das ganze Haus stand für sie im Bann des Bösen. Sein Herz brannte. „Aber wie konnte er dann, geläutert, wieder in Ungnade fallen?!“, fragte der junge Mann nun weiter. „Jahre lang verbarg er ein Kind von ihr unter seinem Dach. Dieses Unglücksbalg hat dafür gesorgt, dass sein Geschäft schlechter wurde. Seine Schiffe wurden von Piraten beraubt und zerstört. Was dieses Pack nicht schaffte, gelang dem Wetter. In einigen Häfen zerdrückte das schnell heraufziehende Eis die Rümpfe, oder das Meer verschlang sie. Ihm blieb nichts. Mesalla stellte ihn wieder vor die Entscheidung. Was dann allerdings geschah, weiß keiner, denn das unheimliche Dämonenkind wurde nie gefunden. Vielleicht hat er es selbst in diesen Mauern getötet, und sein Geist geht hier um!“ ‚Nein, er hat mich an den Orden verkauft, um seinen Leumund rein zu halten und seine desolaten Kassen und Truhen zu füllen’, dachte Luca wütend. „In jedem Fall starben er und sein zweites Weib arm in den Kerkern Mesallas. Seine einzige Tochter, sein armes Kind, wurde verkauft in die Sklaverei. Das alles hat er diesem Dämonenpack zu verdanken!“ „Lass uns endlich hier verschwinden!“, drängte der junge Mann. „Du machst mir Angst!“ „Nun weißt du, warum ich sage, dass wir Geister hier jagen“, erklärte der alte Soldat und deutete zu der Villa. „Das ist ein verfluchter Schandfleck in dieser schönen Stadt.“ Für einen winzigen Moment spielte Luca mit dem Gedanken, direkt vor ihnen zu erscheinen, als Seraph, düster und zornig, aber er wusste nur zu gut, dass diese kindische Rache kaum das Unrecht an seiner Mutter gut machen konnte. So wartete er still, bis die beiden Wachen weiterzogen und die Schatten sie verschlangen. Er ließ seinen Zauber fallen. Ayco landete lautlos neben ihm und richtete sich geschmeidig auf. „So sehen die Anderen uns also“, stellte er tonlos fest. Luca nickte schwach. Sein Blick streifte Ayco. „Den Namen Veraldis kann zumindest ich nie wieder rein waschen“, sagte er leise. „Dank Mesalla.“ Ayco lehnte sich an Lucas Schulter. „Warum hat Mesalla das getan?“ „Wenn er einen Seraph in seinen Diensten hat, hat er sicher Vorteile.“ Der Elf hob kurz den Kopf, verzog die Lippen und ließ sich wieder an Lucas Seite sinken. „Na, welch ein Zufall, dass wir Seraphin sind und er uns in seinen Klauen hält!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)