In my Time of Dying von mangacrack (Teil III: Am Ufer des dunklen Wassers) ================================================================================ Kapitel 6: Shadow ----------------- Das Schlafzimmer war abgedunkelt und durch den Umstand, dass das einzige Fenster im Raum in einen winzigen Lichthof zeigte, sodass Setsuna nicht einmal seine eigene Hand vor Augen sah. Aber anders als an gewissen Orten, die er schon gesehen hatte, herrschte keine absolute Finsternis. Unter dem Türspalt fiel ein matter Schimmer herein, der es ihm ermöglichte die groben Umrisse zu erkennen. Sarah brauchte das hingegen nicht. Sie kam sehr gut in der Dunkelheit zurecht, ihrer eigenen Aussage nach war dies eine Folge davon, dass Jibril solange blind gewesen war, als sie in ihrem Körper erwachte. Nicht, dass er viel darüber wusste, Sarah hatte ihm lediglich davon berichtet. Während sie das durchgemacht hatte, war er entweder tot oder in der Hölle gewesen und später war es ihm nicht in den Sinn gekommen Raphael oder Michael danach zu fragen. Vielleicht auch, weil er lieber gar nicht wissen wollte, wie viel Zeit genau Sarah mit ihnen verbracht hatte. Es breitete sich jedes Mal ein unangenehmes Gefühl in seinem Magen aus, wenn er sich vorstellte, dass es Raphael gewesen sein musste, der Sarah weitestgehend beschützt und versorgt hatte, weil Michael nicht der Typ war, der hilflose Mädchen beschützt. Ganz egal, ob sie in dem Körper eines Engels steckten oder nicht. Setsuna zog sich sein Hemd über den Kopf und lies es einfach zu Boden fallen. Die Hose folgte und er war froh, endlich aus der nassen Kleidung heraus zu kommen, um ins Bett gehen zu können, wo er die Umrisse von Sarahs Körper unter Decke ausmachen konnte. Während er sich eine trockene Boxershorts aus der Schublade neben seinem Bett suchte, brachte ihn der Anblick von Sarahs Körper in seinem Bett dazu sie in seinen Gedanken mit Jibril zu vergleichen. Seine Gedanken hafteten bereits bei Raphael und der Zeit, die Sarah bei ihm verbracht hatte. Seine Eifersucht brauchte nicht mehr als das, um wie ein wütendes Tier an seinem Käfig zu rütteln. Auslöser dessen war weniger ein mögliches Verhältnis zwischen Raphael und Sarah in der Vergangenheit, als dessen dass sie ihm nicht erzählen wollte, was passiert war. Er brauchte nicht auf Sarahs nackte Schultern und ihren Rücken zu blicken, um zu wissen, dass sie ihm auch heute wieder nicht sagen würde, was sie beschäftigte. Das seine Schwester sich von ihm weggedreht hatte, machte es für sie nur einfacher ihm auszuweichen, da sie sich sowohl von seinen vorsichtigen Fragen als auch von seinem abwartenden Schweigen belästigt fühlte. Mit einem Seufzen hob Setsuna die Bettdecke an und kroch darunter. Wohltuende Wärme umfing ihn, etwas das er nach dem heutigen Tag kaum noch dachte, je wieder fühlen zu können. Von dem fremden Engel auf der anderen Seite der Tür mal abgesehen, es war besonders der Regen gewesen, der ihm auf das Gemüt geschlagen hatte. Es ließ ihm stets das Gefühl, das etwas, dass er wollte und so dringend brauchte, dass seine Brust schmerzte, direkt vor ihm hatte und es dennoch nicht genug war, wenn er es zu fassen bekam. Nicht genug, dachte Setsuna als er sich auf dem Bett ausstreckte und die Arme hinter seinem Kopf verschränkte, um die Schatten zu beobachten, die von dem schwachen Mondlicht auf der Zimmerdecke gezeichnet wurden und durch die Vorhänge vor dem Fenster merkwürdige Formen annahmen. Es ist einfach nicht genug. - „Abbildung, Abendrot, Abendstern, Aberglaube, Absolution, Abwind...“, murmelte Gabriel die Wörter vor sich hin, die der Duden ihm offenbarte, den er neben dem Sofa gefunden hatte. Sicherlich gab es noch andere Lektüre, aber Gabriel hatte nach seiner Entdeckung über seine Gedächtnislücken das Bedürfnis bei den Grundkenntnissen anzufangen. Das Einzige, was er diesbezüglich sagen konnte, war das etwas fehlte, auch wenn ihm auf dem ersten Blick nicht auffiel was. Wenn er seinen Geist durchwühlte, erschien ihm alles normal, außer dass er hin und wieder auf Ungereimtheiten stieß, die er sich nicht erklären konnte. Wenn er zum Beispiel das Wort ‚Altar’ las, wusste er was damit gemeint war. In seinem Geist tauchte dann ein Bild von einer erhöhten Opferstätte auf. Meist von block- oder tischartiger Form, die für eine Gottheit bestimmt war. Das war logisch, auch wenn er den Eindruck nicht loswurde, dass ihm solche Altäre nicht fremd zu sein schienen. Er konnte sich selbst davor stehen sehen, eine Schale und ein scharfes Messer in seinen Händen. Dies fiel womöglich unter Angewohnheit, deswegen konnte er sich darunter etwas vorstellen. Komplett blieben ihm aber die Erinnerungen aus, wenn das Wörterbuch ihm Begriffe wie ‚Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg’ lieferte. Rebellion von Kolonien gegen das Heimatland, das war eine klare Sache, wenn Gabriel auch nicht wusste, warum er solch eine Irritation darüber fühlte, aber mehr Probleme bereiteten ihm die Jahreszahlen. 1775-1783 stand in den Buch. Gabriel konnte mit den Zahlen nichts anfangen. Langsam ließ er das Buch auf seinen Schoß sinken und starrte auf die Seite herunter. Diese Zählung tauchte immer wieder auf, auch wenn es für ihn keinerlei Sinn ergab. Tausend-siebenhundert. Fünfzehnhundert-zwölf. Achthundert-siebenundvierzig. Was waren das? Jahre? Verwirrt schüttelte Gabriel den Kopf und überlegte. Dies waren alles bloß Menschen und er war auf der Erde, wie rechneten sie also? Sie hatten doch offensichtlich einen Weg gefunden den Fortschritt der Zeit festzuhalten, er musste nur das Maß dafür finden. Göttliche Zeitrechnung konnte das nämlich nicht sein, mutmaßte Gabriel im Stillen. Derart kleine Schritte machten sie im Himmel nicht und wären sie wirklich im tatsächlichen Jahr Zweitausend und irgendwas, würde die Welt um sie herum anders aussehen. Viel anders. Denn am zweiten Tag erschuf Gott das Himmelsgewölbe und trennte das Wasser auf der Erde von dem Wasser über der Erde, rezitierte Gabriel die vereinfachte Version der Schöpfungsgeschichte. Nun, sehr vereinfacht. Das hat kaum einen Tag gedauert, es hat ein ganzes Himmlisches Zeitalter gebraucht bis ... Gabriel rieb sich die Stirn. Sein Kopf schmerzte, als wäre er gerade gegen eine Wand gelaufen. Bei dem Versuch sich zu erinnern, an das von dem er wusste, dass es wirklich geschehen war, verschwamm alles. Dabei war es wichtig. Mehr noch, es war essentiell. Für ihn und seine Existenz, für seine ... ... Seele. Es fehlt etwas, erkannte Gabriel. Meine Seele ist ... nicht vollständig. Ein absolut unangenehmer Gedanke, besonders da er sich nicht einmal anders fühlte. Sollte es sich nicht bemerkbar machen, wenn Teile seiner Seele fehlten? Fehlende Erinnerungen waren eigentlich kein typisches Symptom für Seelenlosigkeit. Kaltherziges, ein schon fast vorprogrammiertes Verhalten, offene Gleichgültigkeit und rationales Denken schon eher. Ist das bei mir der Fall, fragte sich Gabriel. Aber schließt die Sorge um meine Seele nicht genau dieses wieder aus? Nein, Sorge um sich selbst war ein Erhaltungstrieb. Eine Seele zu haben bedeutet Mitgefühl empfinden zu können. Nachdenklich fuhr sich Gabriel mit der Zunge über seine Lippen und zog seine Beine an sich heran, sodass sie sich komplett auf dem Sofa befanden, das derzeit so etwas wie eine Insel in der Meer seiner Verwirrung geworden war. Seine rechte Hand ballte er zur Faust und drückte sie frustriert in das zermürbte Leder, während er mit seiner linken Hand durch seine Haare fuhr. Aber als er sie durchkämmte, stellte er fest, dass sie weitaus kürzer waren, als es ihm lieb war. Gabriel nahm eine Haarsträhne zwischen seine Finger und betrachtete sie genauer. Kurz..., schoss es ihm durch den Kopf. Die sind ja verdammt kurz. Das waren sie nicht mehr seit ... Wieder zuckte ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf. Mit einem gequälten Ächzen ließ Gabriel seinen Kopf in die Hände fallen, um sich die Schläfen zu massieren, denn es war ihm als hätte ihm jemand einen Eispickel in das Hirn getrieben, um ihn daran zu hindern sich zu erinnern. Das ist bereits das zweite Mal. Etwas fehlt. Jedes Mal, wenn ich versuche zurück zu greifen und ein Bild heraus zu fischen, das mich weiterbringen würde, schlage ich auf und treffe nichts weiter als harten Fels. Zumindest fühlt sich mein Kopf so an. Schlimmer als der eigentliche Schmerz waren nur die Schuldgefühle darüber, dass er sich nicht erinnerte. Keine Bitterkeit, nur das persönliche Gefühl jämmerlich versagt zu haben und jeder weitere Moment, in dem er nicht wusste, was er vergessen hatte, war ein weitere Tropfen in dem Fass, das irgendwann überlaufen würde. Noch nicht bald, ein wenig Zeit hatte er, aber trödeln durfte er nicht. Das konnte er sich nicht erlauben. Morgen würde er mit der Suche beginnen. Suchend ließ Gabriel seinen Blick durch den Raum schweifen. Sicherlich hatten Menschen doch eine Möglichkeit zu bestimmen, wann der nächste Tag anbrechen würde? Nicht, dass das sonderlich korrekt sein würde, wirklich genau ging dies nur mit der Beobachtung des Nachthimmels, aber der Blick zum Fenster hinaus, zeigte ihm nur fremde Kulissen. Hohe Gebäude, deren Schatten und Lichter, die Sterne bedeckten. Auch der Mond war hinter den dunklen Wolken verschwunden. Ich werde die Nacht hier alleine auf dem Sofa verbringen müssen, erkannte Gabriel. Wenn mir weder der Mond noch die Sterne Gesellschaft leisten. Seltsam, das er sich dadurch verraten fühlte, aber Ablenkung gab es genug. Es lagen genug Zeitschriften und Bücher herum, die er durchwühlen konnte. Denn die Frage nach dem Jahr hatte er immer noch nicht geklärt. Irgendeinen Hinweis wird es hier schon geben, sagte Gabriel zu sich selbst und blickte sich um. Ich muss ihn nur finden. Der Engel nebenan wird schon nichts dagegen haben. Besonders nicht, wenn er die Antworten selbst fand und dadurch keine persönlichen Fragen stellen musste. Zum Beispiel, warum sie sich als Mann ausgibt. Das muss schmerzhaft gewesen sein, sinnierte Gabriel und ließ seine nackten Füße wieder vom Sofa gleiten, damit er besser die Dokumente und Ordner unter dem kleinen Tisch durchwühlen konnte. Wenn ihr Geschlecht nur weiblich ist und dennoch in einem männlichen Körper wohnen muss ... ist das überhaupt gesund? Gerade als Mensch ist sie dadurch doch verletzlich. Besser er würde nicht fragen, nicht sofort. Setsuna war ein verwirrter Junge, der offensichtlich gerade anderes im Kopf hatte und auch wenn er ihn gerettet hatte so waren Gespräche über Geschlechtsorgane sicher nicht die beste Art eine Freundschaft zu beginnen. Wovor hat er mich eigentlich gerettet, forschte Gabriel in seinem Verstand nach. Diesmal erwartete ihn kein Schmerz, aber Antworten fand er dennoch keine. Womöglich war der Schock nach dem Aufprall auf dem Wasser einfach zu groß gewesen, als das er würde klar bestimmen können. Außerdem wäre das als würde man versuchen sich an seine eigene Geburt zu erinnern, dachte Gabriel und zog endlich ein Stück Papier hervor, das vielversprechend aussah. Bisher war er nur auf halbherzige und fehlerhafte Notizen getroffen oder Finanzunterlagen, die ihm auch nichts sagten, aber dieses leicht ausgeblichene Papier sah doch schon besser aus. „31. Juli 2002“, las Gabriel rechts oben in der Ecke. „Offensichtlich ein Datum, auch wenn ich damit nicht viel anfangen kann.“ Zumindest nicht mit der Jahreszahl. Die anderen beiden Teile schon eher, denn Menschen – so erinnerte sich Gabriel – rechneten in Monaten. Nach dem Verlauf des Mondes am Himmel, auch wenn ihm Schleierhaft war wie dann diese Kalenderangabe auf 31 Tage kommen konnte. Eine Mondphase dauerte nur 29 volle Tage, rechnete man von Neumond zu Neumond. Nahm man die Zeit, die er Mond brauchte um seinen Siderastern zu umkreisen, waren es sogar nur 27. Gabriel schüttelte den Kopf und murmelte: „Das bringen nur Menschen fertig. Wie kann man sich denn so irren?“ Menschen ... Gabriel ließ die Zeitung ließen. Was wusste er eigentlich über sie? Eine kleine leise Stimme sagte ihm, dass sie zwar keine schlechte Rasse waren, aber noch relativ jung. Sie waren schon jung gewesen als sie den Turm von Babylon gebaut hatten und wenn er ihre fehlerhafte Kalenderrechnung betrachtete, konnten sie auch jetzt nicht viel älter sein. Ihre kurze Lebensspanne ist dabei keine Entschuldigung, grummelte Gabriel und schlug die Zeitung wieder auf. Mal sehen, ob ihm diese Broschüre etwas Nützliches sagen konnte. Irgendwie mussten sie in dieser Welt überlebt haben. Sein derzeitiger Aufenthaltsort zeigte schon mehr Ähnlichkeiten mit der Himmelwelt als die kleinen Hütten der halbnackten Affen, an welche er sich zumindest erinnern konnte, ohne sofort wieder Kopfschmerzen zu bekommen. Ob sie endlich einen Weg gefunden haben, sich endlich mit Assiah zu arrangieren, fragte sich Gabriel, als er sich zurücklehnte und erneut die Füße hochlegte. Denn gleich wie viel Zeit vergangen war, er bezweifelte, dass Assiah je damit aufhören würde, zu versuchen ihre Kinder umzubringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)