In my Time of Dying von mangacrack (Teil III: Am Ufer des dunklen Wassers) ================================================================================ Prolog: Dark ------------ Ich falle. Ich falle durch etwas, das sich wie kalter dunkler Nebel anfühlt, denn es lastet schwer auf meiner Haut. Ich spüre den unerbittlichen Zog, der mich nach unten zieht. Scharf schneidet der Wind in meine Wangen, denn ich falle mit dem Kopf voran. Fallen. Da ist es wieder. Das Wort, das mir nicht aus dem Sinn geht. Es ist seit langer Zeit, das Einzige woran ich denken kann. Ich falle. Ich falle durch die Dunkelheit und kann nichts dagegen tun. Meine Arme sind schwer und lassen sich nicht bewegen. Hin und wieder werden sie an meinen Körper gepresst, wenn die Dunkelheit bedrückend wird. Ich bin machtlos gegen die Kräfte, die an mir zerren und nicht einmal meine Finger könnte ich zur Faust ballen. Doch Ärger könnte mich hier auch nicht retten. Eine verschwommene Erinnerung treibt an die Oberfläche meines benebelten Geistes und wie ein gebrochener Strahl der Sonne bringt sie ein bisschen kostbares Licht. Es ist mehr ein Bild, als wirkliches Wissen, denn ich sehe etwas vor meinem inneren Auge. Wie eine Spiegelung von etwas, dass sehr weit fort ist, es muss so sein, denn in der Dunkelheit, durch die ich falle, gibt es keine Formen. Daher überrascht mich die Gestalt, dich vor mir sehe. Ich kann weder die Person noch ihr Gesicht erkennen. Alles was ich in dem vor mir bewegenden Bildnis erkennen kann, sind Federn. Federn. Ich strenge mich an darüber nachzudenken. Während das Bildnis sich auflöst und in der Dunkelheit verschwindet, werden meine Gedanken ein wenig klarer. Es waren lange und reine weiße Federn. Schön und so zahlreich, das sie zu keinem Vogel gehören können. Auch hat kein Vogel so große Schwingen, wie ich sie sah. Schwingen ... Flügel. Es waren Flügel. Die Erkenntnis durchbricht mich wie die entscheidende Welle, die einen ganzen Staudamm zu Einsturz bringt. Massen an Informationen, Erkenntnisse und Erinnerungen stürzen auf mich ein, als ich meine Augen in Verwunderung und Entsetzen aufreiße und keine Zeit mehr habe darüber nachzudenken, dass mein Fall ein Ende hat. Vor mir sehe ich eine blaue weite glitzernde Oberfläche und das Licht, das sich auf ihr spiegelt blendet mich. Aber zu fasziniert bin ich von dem Bild, das sich vor mir ausbreitet und rasend schnell auf mich zukommt. Es ist ein Gesicht und es starrt mir entgegen, verwunderter fast noch als ich selbst mich fühle. Das Gesicht hat blaue Augen, ein wenig dunkel und trüb, aber ich kann sehen wie sie klarer und heller werden. So klar und hell sind sie inzwischen, dass ich weiß, dass ich mit der Person, der sie gehören zusammen stoßen werde. Immer schneller rast sie auf mich zu. Das wird wehtun. Der Gedanke an Schmerz weckt einen alten, vergessenen Reflex. Ich versuche ruckartig mich umzusehen und einen besseren Überblick darüber zu gewinnen, wo ich mich befinde und was mir gleich Schmerzen zufügen wird. Oder wer, da ich die Person vor mir nicht kenne. Allerdings überrascht mich das, was ich sehe. Es ist überall alles blau. Oben und unten, rechts und links, alles. Nur eine feine Linie trennt die Farben und das Licht. Weit erstreckt sich der Horizont vor mir und gerade als ich begreife, dass es mein eigenes Spiegelbild war, von dem ich erwartet habe, dass es mich verletzten wird, passiert alles gleichzeitig. Mein steifer nutzloser Körper bewegt sich von selbst, als ich aufschlage und die Wasseroberfläche wie ein Fensterglas durchbreche. Ich spüre den Widerstand, aber zu schwer ist mein Gewicht und zu langsam meine Reaktion. Das Wasser verschluckt mich und als ich hinunter auf den Grund des Meeres sinke, sehe ich noch wie sich auf den Luftblasen, die mein Fall verursacht hat, zusammen mit dem Licht hinter der Oberfläche eine Gestalt bildet. Diesmal ist keine zweidimensionale Erinnerung, sondern eine richtige Gestalt. Eine Person. Ein Lebewesen. Klar und durchsichtig, aber gefärbt von den Farben des Meeres um uns herum. Sie spricht zu mir, ruft nach mir und ich strecke meine Hand aus, als ich tiefer und tiefer sinke. Das Wasser ist kalt und wieder umfängt mich Dunkelheit, aber diesmal habe ich keine Furcht, denn letztendlich ist es mein eigenes Spiegelbild das versucht mich zu retten. Ehe ich dem Druck des Wassers gewahr werde und komplette Schwärze mich umfängt, höre ich einen Klang, den ich seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr vernommen habe. Meinen Namen. ..., ruft mir mein Spiegelbild aus Wasser und Luftblasen zu, dem ich gerade noch beim Fallen in die Augen gesehen habe, und trotz dessen, dass ich das Bewusstsein verliere, weil ich ertrinke, durchströmt mich Kraft. Eine alte, bekannte und sichere Kraft, die meine Seele durchströmt und mich mit Leben erfüllt. Denn … Gabriel. Dein Name ist Gabriel. Kapitel 1: Water ---------------- Der Regen prasselte schwer gegen die Fenster und sammelte sich teilweise auf dem kleinen Balkon davor, weil der Abfluss verstopft war. Grundsätzlich störte Sarah das weniger, aber es regnete schon den ganzen Tag und wenn der Regen nicht nachließ, musste sie herausgehen, um das Problem zu beheben. Da sie kaum die nötigen Mittel hatte, um die Regenrinne zu reparieren, hieße das, dass sie sich mit einem Eimer würde bewaffnen und einfache Handarbeit würde leisten müssen. Es war weniger der Gedanke sich einen alten Handschuh und einen Eimer zu greifen, der sie hoffen ließ, dass sie das nicht würde machen müssen. Auch nicht die Aussicht für die längste Zeit knöcheltief im Regenwasser stehen zu müssen und die Eimerladungen über den Rand auf die Straße zu kippen. Dies würde zwar eklig und nass werden, aber mehr störte sie die Befürchtung es tun zu müssen, während der kalte Regen noch erbarmungslos vom finsteren Himmel herunterfiel und schwarze Wolken den Horizont verdunkelten. Sarah schlang ihre Arme um den Oberkörper und rieb ihre Hände daran, um sich selbst das Gefühl von Wärme und Schutz zu geben. Sie wollte dort wirklich nicht raus, denn hinter der Glaswand der Fenster und den herunter rinnenden Regentropfen wartete eine trübe und feindselige Welt. Das Wetter hatte noch nicht einmal den Anstand das erlösende Gewitter zu bringen, auf das alle Bewohner der Stadt warteten. Das würde Abkühlung nach den heißen Tagen bedeuteten, aber kein Wind regte sich, das sah sie an der schlaffen Flagge, die gegenüber auf dem Dach eines Gebäudes saß. So würde die dicke Luft der engen Stadt nicht vertrieben werden, Dampf würde aus den Straßen aufsteigen und neuen Nebel bilden, wenn die Sonne zurückkehrte. Aber gerade jetzt, in dieser grauen Welt vor ihren Augen, schien das Licht der Sonne so fern wie nie zuvor. Es mochte auch an dem Gefühl der Befangenheit liegen, das sie nicht loswurde. Sarah wusste genau, dass sie theoretisch niemand daran hinderte vor die Tür zu treten und mit einen Regenschirm und einer Jacke könnte sie auch problemlos die Nässe abhalten, aber dennoch wollte sie um jeden Preis vermeiden nach draußen treten zu müssen. Selbst wenn das Wasser aus dem Balkon durch die Tür in ihre Wohnung lief, würde sie sich das zwei Mal überlegen. Ich mache mich verrückt, dachte Sarah und fuhr sich trotzdem leicht verzweifelt durch die langen braun blonden Haare. Ich bilde mir dieses schlechte Gefühl nur ein. Es hat nichts zu bedeuten. Zumindest hoffte sie das. Aber sie konnte sich trotz aller Beteuerungen nicht auf den Englischtext auf ihren Knien konzentrieren. Zwar saß sie auch nicht wie sonst an ihrem Schreibtisch, sondern auf der blanken Fensterbank im Wohnzimmer, aber dies war die einzige Stelle von wo aus sie eine gute Sicht nach draußen auf die Straße hatte. Ihre Füße waren bereits trotz der dicken Socken kalt, weil die Fenster schlecht abgedichtet waren und frieren würde sie auch bald. Allerdings war es Sarah dennoch lieber hier auszuharren bis Setsuna zurückkehrte und ihr sagen würde, dass alles bloß paranoide Gedanken in ihrem Kopf waren. Für einen Moment blickte sie auf ihr Handy, das auf dem Wohnzimmertisch auf ihren Schulheftern lag, und sie erwog ihn anzurufen, doch sie hatte versprochen es nicht zu tun, wenn kein dringender Notfall vorlag. Es gibt ja auch keinen Grund sich Gedanken zu machen. Wir haben nichts weiter als launenhaftes Wetter, einen von der Industrie verseuchten Regen und ich ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Ein ekelhaftes Gefühl war es dennoch, wo man glaubte, das einem unzählige kleine Tiere über die Haut liefen und die Gänsehaut nicht verschwinden wollte. Wie bei einem Weg durch einen Regenschauer, wenn man wusste, dass es noch ewig dauern würde, bis man sich der klebenden und nassen Kleidung entledigen konnte. Sarah presste ihre Hand flach gegen die eiskalte Fensterscheibe, nur um sicherzustellen, dass sie im Trockenen saß und der Regen nicht imstande war sie zu erreichen. Dessen beruhigt, betrachtete sie ihr unscharfes Spiegelbild in der Fensterscheibe und zufrieden stellte sie fest, dass die mädchenhaften Züge langsam verschwanden. Sie war keine sechzehn Jahre alt mehr und froh darüber, dass man ihr dies auch nicht länger ansah. Je weniger von Sarah Mudo übrig blieb, desto besser. - Setsuna blickte in den grauen Himmel, als er durch die Glastüren trat, die sich hinter ihm wieder zu schließen begannen, sobald er den Eingangsbereich des Supermarktes verlassen hatte. Mit einer einzigen Handbewegung zog er die Kapuze seines Anoraks über den Kopf und rückte sie zurecht, damit er so trocken wie möglich blieb. Es war ein nahezu nutzloses Unterfangen dieses Ziel zu verfolgen, schließlich schwammen die Gullys bereits über, weil sie dem ganzen Regen nicht gewachsen waren. Daher sammelte sich das Wasser in Kuhlen, bildete riesige Pfützen und ließ Keller volllaufen. Die Behörden kamen der Beseitigung der Wassermassen kaum nach und wie ein Sprecher in dem Fernseher eines Elektrogeschäftes ankündigte, war auch in der nächsten Zeit nicht mit einer Verbesserung der Wetterverhältnisse zu rechnen. Besorgt blickte Setsuna auf seine Einkaufstüte und griff sie fester, sodass nicht auch noch diese komplett durchweicht werden würde. Er hatte nicht das Geld, um gleich ein zweites Mal einkaufen zu gehen. Denn leider füllen Astralkräfte keine hungrigen Mägen, dachte Setsuna leicht bitter und stapfte durch das Meer von hetzenden Menschen in grauen Jacken und bunten Schirmen, die unbedingt aus dem Regen heraus kommen wollten. Außerdem ist es schwer Arbeit zu finden, wenn man immer noch wegen Mordes gesucht wird. Bei seiner Rückkehr auf die Erde hatte er gedacht, dass sein geschwächter Zustand sein einziges Problem wäre. Doch im Vergleich waren seine Kräfte noch allemal ausreichend, um sich jenen zu stellen, die dem einfachen menschlichen Auge entgingen. Was ihn erwarteten waren aber sehr viel banalere, aber auch schwerer zu lösende Aufgaben. Neben Sevothtarte waren die japanischen Behörden eine weitaus geringere Bedrohung, trotzdem erschien es Setsuna so, dass er als verdammter gesuchter Rebell im Himmel mehr Chancen gehabt hatte, als hier unten auf der Erde als einfacher Jugendlicher. Einen Jugendlichen, den man immer noch wegen Mordes suchte. Kaum zu glauben, dass mich gerade dies immer noch verfolgt. Von allen Toden für die ich verantwortlich bin, ist es ausgerechnet Katos, der wie ein dunkles Urteil über meinem Kopf hängt, überlegte Setsuna, als er die Hauptstraße mit den flackernden Werbetafeln verließ und in Richtung des Hafenviertels einbog. Bald merkte er wie der Wind kräftiger an seiner Kleidung zog und drohte ihm die Kapuze vom Kopf zu reißen. Mürrisch zog Setsuna die Schultern hoch, aber da er zu Fuß unterwegs war, nahm er lieber den Weg durch den Hafen. Er mochte zwar nass werden und die gemütlichste Gegend war es auch nicht, zog er dieser Tage ohnehin die Einsamkeit vor. Wenn er arbeiten ging, um das zusätzliche Geld zu verdienen, weil sie vom Staat nicht genug bekamen, reichten ihm dort die misstrauischen Blicke schon. Denn gleich wie viel Zeit seit seiner Rückkehr verging, an seinen Problemen mit anderen Menschen hatte sich nichts geändert. Nach wie vor fand er nur schwer Zugang zu Gleichaltrigen und rieb sich an älteren Personen, die den typischen unterwürfigen Respekt einforderten. Gerade verglichen mit anderen Gesellschaften und nach seinen Erlebnissen viel ihm das schwer. Ein Grund, warum ich die Schule nicht beendet habe, dachte Setsuna. Er selbst drängte Sarah dazu es besser zu machen als er, denn er wusste, dass auch sie mehr als einmal von ihren Lehrern für ihre Respektlosigkeit gerügt worden war, aber seine Schwester sollte sich später nicht wie er sich mit kleinen Jobs über Wasser halten müssen. Mit einem Abschluss oder einer Ausbildung würde es ihr leichter fallen, damit sie nicht ständig wie er selbst über sich selbst fluchen musste, wenn er mal wieder seine Klappe nicht hatte halten können. Gerade erst vor ein paar Stunden hatte er sich wieder mit seinem Chef in den Haaren gehabt und Setsuna konnte genau sagen, dass es nicht lange dauern würde bis er auch dort rausfliegen würde. Aber es gab nun mal keine Berufsberatung für gestrandete Engelswiedergeburten. Außerdem hatte er bisher keine treffende Formulierung gefunden, die ‚Gottesmord’ und ‚mögliche Rettung der Welt in nicht ganz himmlischer Mission’ so umschrieben, dass sie von der Polizei akzeptiert wurden und er dadurch vielleicht die offene Mordanklage wieder loswurde. Schließlich führte alles, sein Eigensinn hin oder her, wieder darauf zurück, dass ein Haftbefehl gegen Setsuna Mudo ausstand, weil er im Verdacht stand Yue Kato ermordet zu haben. Auf Grund der ungewöhnlichen Umstände, nämlich dass das Opfer mit einem Schwert ermordet worden war, hatte man den Fall noch nicht wieder zu den Akten gelegt und wurde jedes Mal wieder heraus gezerrt, kam ein weiterer Todesfall durch Schwerteinwirkung hinzu. In Folge dessen konnte er seinen Geburtsnamen nicht mehr benutzen und es war erstaunlich wofür man den ständig brauchte. Sarahs Weigerung ihm von der Seite zu weichen, machte die Lage nicht besser, wurde auch sie jetzt von der Polizei gesucht. Jedoch passte sie mehr in das Profil des verschwundenen blonden Mädchens, das ihre Eltern erstellt hatten. Einige der wenigen Punkte von denen Setsuna wusste, dass in denen sie sich einig waren. Sie mochten sich streiten und ihren Sohn hassen so viel sie wollten, Sarah blieb ihr kleines unschuldiges Mädchen. Noch immer zuckte Setsuna zusammen, wenn er zufällig Sarahs Gesicht über den Bildschirm flackern sah, ähnlich wie all die anderen Jugendlichen, die jedes Jahr verschwanden. Nur hatten die wenigsten dieser Kinder einen Direktor zum Vater, der es sich leisten konnte, die teuren Sekunden zu bezahlen, sodass das Bild seine Tochter über die Mattscheibe flimmerte. Mein Gesicht taucht hingegen immer nur unter den gesuchten Verbrechern auf. Was für eine Welt..., grübelte Setsuna. Da war ihm der einfache Fischerhafen schon lieber. Es war der Abschnitt, wo täglich die kleinen Boote ausliefen, um sich durch ihren Fang ihr Überleben zu sichern. Viel war es nicht, schließlich hatte er gesehen, dass die Preise von den Händlern bestimmt wurden, denen die Fischer einst ihr Boot abgekauft hatten. Weil sie dieses jedoch oft noch abbezahlen mussten, waren sie genauso unfrei wie davor. Besorgt ließ Setsuna seinen Blick über die vielen leeren Anlegeplätze schweifen. Der Hafen sah bei jedem Wetter trostlos aus, da half es auch nicht, dass die Hafenaufsicht eigens Leute anstellte, welche im Gegenzug für einen geringen Lohn die Boote sauber zu halten hatten. Bekanntlich lag der Ort, wo die meisten Touristen hinkamen und die Kreuzfahrtschiffe anlegten, sehr viel weiter weg und dementsprechend bemühte man sich nicht Geld für Dinge wie frische Farbe an den Hangar aufzugeben oder das Hafenbecken sauber zu halten. Dafür war das Milieu zu heruntergekommen und es gab genug Banden, die sich hier herumtrieben und jeden Versuch die Gegend ein bisschen anständiger wirken zu lassen, zu Nichte machen würden. Viele Dealer luden hier ihre Drogen auf und ab, nutzen die armen Fischer aus, die das zusätzliche Geld brauchten und somit nicht verhindern konnten, dass ihre eignen Kindern in Kontakt mit Kriminellen gerieten. Welche trotz aller vorgetäuschten Ignoranz genug über die Seefahrt wissen, dass die Ausbeute in den Meeren immer geringer, der Erlös immer niedriger und die Einkaufpreise immer höher werden, folgerte Setsuna. Außerdem wissen sie durch die Lokalnachrichten, dass immer häufiger Fischerboote verschwinden. Besonders jene, die es sich nicht leisten können bei heftigerem Wetter im Hafen zu bleiben. Tatsächlich vermied auch er es zu oft auf das Meer zu starren, weil es eine magische, aber auch gefährliche Aura hatte. Wenn es so ruhig und glatt dalag, konnte Setsuna fast am besten spüren, dass sich darunter Vorgänge befanden, die über den menschlichen Verstand hinaus gingen. An einem Tag wie jetzt, bei einem solchem Wetter, sah er es praktisch sogar. Die Wellen türmten sich auf wie hungrige Jungtiere, die ihren Anteil haben wollten, wenn die Löwenmutter mit Fleisch im Maul zurückkehrte. Der prüfende Blick über die Bucht war genauso routiniert wie der Griff an sein Handgelenk, wo das verwandelte und getarnte Nanatsusaya ruhte, jedoch blieb es bei einer reinen Selbstversicherung. Auf Assiah gab es nur selten eine Aura, die man erfassen und als Warnung deuten konnte. Da war einfach zu vieles, was sich überschnitt und überlappte, wenn es denn überhaupt eine Aura gab. Die meisten Wesen, sei es Mensch, Tier oder Pflanze, hatten nicht mehr als ihr Leben in ihrem Körper und nicht genügend spirituellen Geist, der sie verraten und ihn warnen konnte. Oder aber es versteckte sich zwischen den Leben der Menschen, wenn es sich um Schatten, Erscheinungen oder Geister handelte, doch das war nur ein weiteres leidliches Überbleibsel mit dem Setsuna seit seiner Rückkehr zu kämpfen hatte. Im Himmel wie in der Hölle wo Geist und Körper einander viel näher waren, hier auf der Erde war die stoffliche Welt so vorherrschend, dass es nur ein Blinzeln brauchte, um Bilder, Personen und Verstorbene nur für eine Sinnestäuschung zu halten. Ähnlich wie dem Mann, der im Hafenbecken lag. Setsuna stutze als er den Mann nach zwei weiteren Schritten immer noch sah. Er blieb stehen und starrte die Rampe hinunter, von der aus in der Regel Boote ins Wasser gelassen wurden. Auf dem grauen Beton, halb von Algen verdeckt und noch bis zur Hälfte mit dem Seewasser verbunden, lag eine Figur mit nassen dunklen Haaren, die wüst den Kopf umrahmten. Viel sah man ohnehin nicht, da das Gesicht nach unten zeigte und in den glitschigen Meereswuchs gedrückt wurde, der sich mit der Zeit auf der Rampe festgesetzt hatte. Für einen Moment stand Setsuna dort im Regen am Rand des Hafenbeckens und wartete, dass die Erscheinung wieder verschwinden würde. Er sah solche Menschen häufiger, Echos aus der Vergangenheit, die hin und wieder die Welt an ihren Tod erinnerten und an bestimmten Tagen besonders deutlichen zu sehen waren, aber dennoch glichen sie mehr dem Eindruck den ein Film hinterließ, wenn man beim Fernsehen durch die Kanäle zappte und innerhalb einer Sekunde entschied, dass man sich doch besser eine andere Sendung suchte. Eine kleine Ewigkeit verging in Setsuna auf die regungslose Figur starrte, wo die einzige Bewegung von den einschlagenden Wellen ausgingen. Ob er tot ist, fragte sich Setsuna und dachte mit Bedauern an die Leichen, die man in dieser Gegend durchaus häufiger fand. Bandenkriege, ein Deal, der schief gegangen war ... oder arme Junkies, die von wahnsinnigen Engelsbrüdern besessen waren, erinnerte sich Setsuna mit Bedauern. Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck nahm er seine Einkäufe in die andere Hand und fischte sein Handy aus der Hosentasche. Ein anonymer Anruf bei der Polizei würde genügen, damit man den Toten bergen würde und vielleicht fanden die Beamten sogar etwas. Nicht immer hatten sie einen Engel zu erwischen. Zwei Nummern hatte Setsuna bereits eingetippt und als er die Dritte drückte, um den Notruf zu wählen, fiel ihm etwas ins Auge, dass ihn das Telefon wieder sinken ließ. Sprachlos beobachtete Setsuna wie bei der nächsten Böe, die seine Kapuze endgültig vom Kopf blies und die harten Regentropfen ins Gesicht, es nicht dunkle, aggressive Wellen waren, die sich immer und immer wieder auftürmten. Nicht sie versuchten nach dem Land zu greifen, um sich daran hochzuziehen. Es waren Flügel, die sich nach ihm und der Stadt hinter ihm ausstreckten. Flügel, die dem aufgewühlten Meer vor ihm glichen und dieselben Farbe hatten wie grauweiße Gischt einer Tsunami Welle. Ein Engel, dachte Setsuna, als ihm das Handy praktisch aus der Hand fiel. Ein Engel. Der Erste seit fast drei verdammten Jahren ... xxx Hände hoch, wer das jetzt nicht wirklich erwartet hat. Es ist mir bewusst, dass sich Sarah und Setsuna im Vergleich zu den anderen Charakteren weniger Beliebtheit erfreuen, aber sobald sie nicht mehr die Jugendlichen mit den perfekten Idealen sind, wird die Sache interessant. Besonders wenn man Gabriel mit ihnen in einen Topf wirft. mangacrack Kapitel 2: Wind --------------- Ein Engel, rauschte es durch Setsunas Kopf. Ein Engel... Die Erkenntnis brachte seinen Atem dazu sich rasant zu beschleunigen. Den Umstand, dass der Engel bis auf die Bewegungen sein Flügel leblos im Wasser lag, vergaß er sogar für den Moment, denn Setsuna war zu sehr von Panik ablenkt, die mit unerwarteter Gewalt durch seinen Körper strömte. Fest ballte er seine freie Hand zur Faust und bemerkte nur nebenbei, dass sie zitterte. Es ärgerte ihn, denn eigentlich sollte er keine Angst haben. Als Rebell hatte er schon andere Gegner bekämpft, darunter Rosiel und Luzifer. Also hatte er kein Recht mit Furcht zu reagieren, nur weil seit der letzten Begegnung mit einem überirdischen Wesen einige Zeit vergangen war. Setsuna zwang sich wieder zu Sinnen zu kommen. Tief atmete er die Meeresluft ein, deren Frische seine Lungen füllte und seine aufgewühlten Gefühle wieder beruhigte. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass es enden würde wie beim letzten Mal. Dieses Mal bestand auch nicht die Gefahr, dass aus Freunden zuerst heimliche Aufpasser und dann gefallene Engel werden würden. Schließlich hatte er im näheren Umkreis niemanden, den er seinen Freund nennen würde. Ich muss trotzdem etwas tun, dachte Setsuna als ein Windstoß ihm den Regen ins Gesicht blies. Er kann hier nicht liegen bleiben. Es war zwar schwer zu sagen wie lange der Engel schon dort auf der Rampe lag, aber früher oder später würde er dennoch von gewöhnlichen Sterblichen entdeckt werden. Das würde Ärger bedeuten, sodass es sicher besser war, wenn er sich sofort um den Gestrandeten kümmerte. Dazu werde ich ihn anfassen müssen, fuhr es Setsuna durch den Kopf und mit einem seltsamen Gefühl in seinem Magen, stellte er seine Einkaufstüte ab. Vorsichtig begann er die Rampe herunter zu steigen, welche sicher auch an sonnigen Tagen alles andere als trocken war, doch durch den konstanten Regen, waren das Moos und die Algen aufgeweicht und zu glitschig, als das man wirklich darauf Halt fand. Setsuna hoffte nur, dass er selbst nicht in das dreckige Hafenwasser fallen würde. Leise fluchend rutschte er mehr das Stück zu dem Engel hinunter, als er in die Hocke ging. Der regte und rührte sich nicht, nur die einschlagenden Wellen schoben ihn Stück für Stück ein bisschen hinauf. Setsuna achtete darauf, dass er den schattenhaften Flügeln nicht zu nahe kommen würde, sondern rüttelte stattdessen an der Schulter des eindeutig männlichen Engels. Von weiter oben hatte er das Geschlecht nicht genau bestimmen können, aber nun konnte er mehr vom Gesicht ausmachen und die Schulter, auf die er seine Hand gelegt hatte, war zu breit als das sie einer Frau gehören konnte. „Hey“, probierte es Setsuna und seine Finger bohrten sich ein wenig fester in den dunklen nassen Stoff. „Aufwachen.“ Nichts passierte, es folgte nur das Platschen einer Welle, die seine Schuhe durchnässte. Setsuna ahnte, dass er mit gewöhnlichem Rütteln und einfachen Worten nicht weiter kommen würde. Der Engel war nicht bloß bewusstlos, wie ein Mensch es in diesem Fall wäre, sondern geistig wahrscheinlich komplett untergetaucht. Ohne härtere Maßnahmen würde er keine Reaktion von dem Engel bekommen und dies war leider eine Notwendigkeit, wollte er ihn aus dem Wasser herauskriegen. Ein Blick den langen, großen Körper entlang zeigte nämlich, dass der Engel von der Hüfte abwärts noch mit dem Wasser verbunden war. Die Beine lagen nicht einfach nur noch im Hafenbecken, sie waren kaum auszumachen und schienen wie die Flügel bloß aus Flüssigkeit zu bestehen. Vermutlich war der Engel wortwörtlich mit dem Wasser verbunden und würde er diese Verbindung ohne weiteres Nachdenken durchtrennen, konnte er vielleicht mehr Schaden anrichten, als für den Engel neben ihm gesund war. Schließlich wusste er noch nicht einmal, was der hier zu suchen hatte. Eine größere Welle, die seine gesamte rechte Seite durchnässte, und der stärker werdende Regen, welcher nun schon seinen Nacken hinunter lief, brachte Setsuna dazu, die einzige Option zu wählen, die er letztendlich übrig hatte. Da es unwahrscheinlich war, dass der Engel so schnell aufwachen würde, beugte sich Setsuna dichter über ihn und strich die Haarsträhnen vor, die seine Ohren bedeckten. Während er über den Körper stieg und seine Hände unter die Achseln griffen, um ihn ein wenig anzuheben, bekam die erste wirkliche Reaktion. Ein undeutliches Stöhnen entwich dem Mann unter ihm und Setsuna erschauderte vor Kälte, als im gleichen Moment die Flügel durch ihn hindurch fuhren. Wissend, dass ihm keine bessere Möglichkeit geboten werden würde, öffnete Setsuna seine eigenen Schwingen. Groß und leicht wie sie waren, formten sie einen Schild gegen den eisernen Regen und streckten sich hinter ihm aus. Um nicht in Zögern zu verfallen oder übervorsichtig zu werden, atmete Setsuna noch einmal tief durch, ehe er sich bereit machte und dann seinen Mund öffnete, um in Enochian zu sagen: „Listen to me. I’ll take you away from here, but don’t resist me while we’re flying.“ Als Antwort bekam er einen abwesenden, aber dennoch zustimmenden Laut und Setsuna wusste, dass er sich damit zufrieden geben musste. Da der Engel sich nun auf ihn und seine Präsenz konzentrierte, unbewusst zumindest, sollte er ihn aus dem Wasser heben können. Mit einem letzten Pressen kontrollierte Setsuna, ob sein Griff fest genug war, dann ließ er seine Instinkte den nächsten Schritt tun. Seine Flügel schlugen kräftig, während Setsuna sich mit seinen Füßen vom Boden abdrückte und widerstand dem menschlichen Teil in ihm, der nach wie vor sagte, dass dies unnatürlich war. Denn Menschen konnten nicht fliegen, doch durch seine Gedanken floss bloß die Erleichterung, dass der Start so funktioniert hatte, wie er geplant gewesen war. Zwar hing der fremde Engel in seinen Armen und dessen Knie schlugen unsanft auf dem Boden auf, als Setsuna oberhalb der Rampe wieder auf dem breiten Tier des Hafens landete, doch immerhin schien der Körper ganz und intakt zu sein. Die Füße waren klar und deutlich zu sehen. Sie mochten zwar nass und nackt sein, da der Engel in seinen Armen keine Schuhe trug, aber dies war besser als wenn bloß ein durchsichtiges Endstück zu sehen wäre. „Nun lass dich mal ansehen“, murmelte Setsuna, als er den Engel jetzt auf den Rücken drehte, damit er ihn besser tragen konnte. Die nassen Haare hingen ihm immer noch ins Gesicht, aber Setsuna sah genug, um feststellen zu können, dass dies niemand war, denn er kannte. Kurz erinnerten ihn die scharfen Gesichtszüge und das dunkle Haar an Kira, aber mehr Ähnlichkeit konnte er nicht finden. Es erleichterte ihn ungemein und tief in seinem Inneren fiel Setsuna ein Stein vom Herzen. Mit einem fremden auf der Erde gestrandeten Engel konnte er umgehen, aber Luzifer hatte er das letzte Mal gesehen, als dieser sich dagegen gewehrt hatte von Kabeln aus Gottes Körper verschlungen zu werden. Er hätte nicht gewusst, wie er hätte reagieren sollen, wäre dies der gefallene dunkle Fürst gewesen, der nun wie leblos vor ihm lag. „Nicht Luzifer“, wiederholte Setsuna für sich und streckte seine Hand nach der Einkaufstüte aus, die vergessen auf dem Betonboden lag. Die konnte er trotz seines Fundes nicht einfach hier lassen. Ich sollte wirklich froh sein, dass dies niemand ist, dessen Gesicht mir bekannt vorkommt, dachte Setsuna. Dennoch wird es meine erste Handlung sein, nachzusehen ob er das Zeichen eines Gefallenen trägt. Allein weil er doch schon ganz gerne wissen wollte, aus welchem politischen Lager der Typ hier stammte. Zwar wäre das hinsichtlich des Ärgers irrelevant, der gewiss noch folgen würde, aber er würde sich besser fühlen, wenn er sich darauf einstellen konnte, was für alte Bekannte der Engel sein Eigen nannte. Schließlich musste es irgendeinen Grund für dessen Hiersein geben und es war zu bezweifeln, dass der eine friedliche Ursache hatte. Letztendlich verschob Setsuna seine Überlegungen und beschloss den Engel zunächst einmal ins Trockene zu bringen. Die Blässe in dessen Gesicht sah ungesund aus, selbst für ein Wesen, das schon von vorneherein eine unnatürlich helle Farbe hatte. Allerdings wirkte die Haut schon gar nicht mehr rosig durch das viele Wasser, dem sie ausgesetzt gewesen war, sondern eher aschfahl. Wie lange er da wohl gelegen hat, fragte sich Setsuna. Er sollte hoffen, dass alles mit dem Fremden in Ordnung war, denn er wusste nicht viel über Anatomie von Engeln. Sein eigener Körper war menschlich, zum größten Teil zumindest und Verletzungen waren nicht dasselbe wie Krankheiten. Unter welchen er nie gelitten hatte, daher konnte er nicht sagen, inwiefern es den Mann in seinen Armen beeinflusst hatte, solange im Wasser gelegen zu haben. Auch, da das Hafenwasser nicht das Gesündeste war, dafür wurden zu viele Chemikalien einfach in das Meer geleitet, ganz gleich was Firmen, Fabriken und die Regierung behaupteten. Zumindest für ihn war es nicht zu übersehen, als er sich in die Luft erhob und der Hafen unter ihm in all seiner hergekommenen Pracht zu sehen war. Nicht einmal den Kopf wenden musste er, um an den Abfluss zu denken, wo dreckige Abwasser ins Becken des Hafens und damit in die Meeresbucht gepumpt wurden. Die Bevölkerung war sich der Lügen bewusst, aber jene gaben sich damit zufrieden, dass die Badestrände nach wie vor sauber waren, doch sie konnten ja auch nicht am Ufer entlang fliegen und deutlich beobachten, wie Dreck und Abfälle die Natur verschmutzen. Setsunas Flügel verspannten sich für einen Moment bei den Gedanken, sodass der Wind ihn höher trug und ihn beinahe mit einer Werbetafel kollidieren ließ, die auf dem Dach eines Hauses angebracht war. Seine Füße streiften die Pappe und rissen ein Stück des Papiers herunter. Irritiert schüttelte Setsuna den Kopf und warf der Werbetafel einen bösen Blick zu, als hätte sie sich absichtlich dort aufgestellt, nur um ihn zu ärgern. Dabei waren es wirklich meist die Errungenschaften der Moderne, die ihn in der Regel davon abhielten öfter den Luftweg zu benutzten. Angst davor, dass man ihn sah, hatte er weniger. Dank seiner Astralkraft würde man ihn lediglich als großem Vogel wahrnehmen. Die wenigsten Leute besaßen den Glauben, den Schatten als Engel zu interpretieren, den sie aus dem Augenwinkel sahen. Selbst bei hellen klaren Tagen brach sich das Licht an den Federn seiner Flügel immer so, dass es genau in das Auge des Menschen fiel, der sie gerade erblickte. Bei diesem grauen finsteren Wetter musste er sich also noch weniger Gedanken machen, aber mehr störten ihn herunterhängende Stromkabel, Brücken und die engen Straßen zwischen den Wolkenkratzern. Sie machten das Fliegen im besten Fall schwierig, wenn nicht gar unmöglich und jedes Mal, wenn er es doch tat, so selten dies inzwischen auch geschah, dann erinnerte es Setsuna daran, dass selbst in den unteren Schalen des Himmel sauberer und freizügiger gebaut wurde, um im Notfall genügend Start und Landeplätze zu haben. Aber das schwere Gewicht, dass seine Arme vor Anstrengung zittern und ihn immer wieder mit seinen Händen nachgreifen ließ, erinnerte ihn daran, dass ungünstigen Umstände weniger an jenen lag, die sich alle im Trockenen verkrochen hatten und nicht mehr gegen Wind und Regen ankämpften mussten, sondern an ihm. Er war der Engel und das unter ihm nur Menschen. Sie sahen keinen Grund, warum man Balkone breit und hoch bauen sollte, wenn kleine Lücken doch ausreichten, damit man daran erinnert wurde, dass man mitten in der Stadt wohnte. Um mal an die frische Luft zu treten und an einem freien Wochenende mal die Beine hochzulegen, reichten zwei Quadratmeter. Setsuna schlug kräftig mit seinen Flügeln, damit er nicht nach unten auf die Straße stürzte. So dicht vor der Hauswand gab ihm der restliche Wind nicht genügend Auftrieb, um ihn eigenständig zu tragen. Daher kämpfte er erst mal eine Weile bis seine Füße sicher auf der Balustrade des Balkons standen, eher er es wagte inne zu halten und versuchte sein Paket unbeschädigt abzulegen. Einfacher wäre es zwar gewesen in einer Seitengasse zu landen, doch im Treppenhaus hätte er zu leicht von einem seiner Nachbarn gesehen werden können und einen bewusstlosen, klitschnassen und fremden Mann in seinen Armen würde Aufmerksamkeit erregen, da konnten ihm weder seine Astralkraft noch seine Flügel helfen. Ächzend ließ Setsuna den Engel herunter und kümmerte sich erst einmal nicht darum, dass jener in der tiefen Pfütze landete, die sich auf dem Balkon durch den Regen gebildet hatte. Nass waren sie beide ohnehin schon, da kam es jetzt auf ein bisschen mehr auch nicht mehr an. Die Einkaufstüte warf Setsuna auf einen hervorstehenden Hacken des Geländers und kletterte dann ein wenig umständlich von dem Geländer des Balkons. Das erneute Durchnässen seiner Schuhe und seiner Socken bemerkte er kaum, weil das unglaubliche Gewicht, das er eben über die halbe Stadt getragen hatte, ihm erst vollkommen bewusst wurde, als Setsuna seine schweren und vor Erschöpfung zitternden Arme wieder sinken ließ. Mit einem prüfenden Blick betrachtete er seine klammen Hände, unter deren Fingernägel eine leichte Bläue zu sehen war. Seltsam, dass er die Kälte an seinem Körper gar nicht spürte. Dabei sahen wohl seine Lippen wohl nicht besser aus und in dem Fenster zur Küche ihm gegenüber zeigte ihm sein Spiegelbild, dass sein Gesicht ungefähr genauso bleich war, wie das von Sarah als sie im nächsten Augenblick die Balkontür aufriss. - „Setsuna?“, fragte Sarah geschockt, als sie ihren Bruder ansah. Sie hatte ihn nicht sofort gesehen, trotz dessen das sie auf dem Fensterbrett in der Wohnung gesessen und einen guten Einblick auf den Balkon gehabt hatte. Es hatte einige Sekunden gebraucht bis sie den Anblick der weißen Flügel vor dem Fenster als etwas Ungewöhnliches eingestuft hatte und aufgesprungen war. Für einen Moment fummelte sie an der Tür zum Balkon, die natürlich ausgerechnet jetzt klemmen musste und riss sie auf. Weil sie nur Socken trug, blieb sie auf der Schwelle stehen, aber es brachte sie trotzdem nahe genug heran, um erkennen zu können, dass ihr Bruder gerade so aussah, als hätte er das Gewicht der Welt über das gesamte Land getragen. Seine Haaren waren feucht, seine Kleidung klebte an seinem Körper und sie konnte nicht einmal sagen, ob er vor Kälte oder Erschöpfung zitterte. Sie sah in dem Blick nur, den er jetzt auf sie richtete, dass er über seine Erscheinung und seinen Zustand mindestens so erstaunt war, wie sie. „Ist etwas passiert?“, fragte Sarah vorsichtig und ihre Hände krallten sich im Rahmen der Tür fest. Fast rechnete sie damit, dass im jeden Augenblick ein weiterer Engel auf dem Balkon landen könnte und sie unterdrückte den Drang die Tür sofort wieder zu zuschlagen und wieder in die Wohnung zu laufen, ganz gleich ob ihr Bruder noch im Regen draußen stand. „Werden wir angegriffen?“, wollte Sarah wissen. Innerlich bereitete sie sich darauf vor, entweder hastig alle wichtigen Sachen zu greifen und sich anzuziehen oder auf Befehl in das Schlafzimmer zu laufen und sich unter dem Bett zu verstecken. Erleichtert registrierte sie Setsunas stummes Kopfschütteln. Was immer es auch gewesen war, sie würde es später herausfinden. Wichtiger erschien es ihr erst, dass sie die durchweichte Gestalt ins Trockene bekam. „Komm herein, Bruder“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Wie lange willst du noch dort stehen bleiben...?“ „Ich...“, sprach Setsuna und griff nach ihrer Hand. Seine Eigene war nass und so kalt, dass es einen Schauer über ihren Rücken jagte. Erneut setzte er an und zog ihre Hand zu sich, um sie auf die zweite Gestalt hinzuweisen, die sie bisher gar nicht gesehen hatte. „Da wäre noch...“, begann er den Satz, aber Sarah hörte den Rest schon nicht mehr. Gegenüber an der anderen Wand des Balkons lehnte eine fremde Gestalt. Dunkle nasse Haare fielen in sein blasses Gesicht, aber sie musste weder in die leicht geöffneten, tief blauen Augen sehen noch auf die Beine blicken welche von dem Wasser der Pfütze fast verschlungen wurden, als wollte es versuchen sie zu verstecken, um zu wissen, dass das ein Engel war. Ein Engel. Das Wort alleine rief in ihr unangenehme Erinnerungen hervor und Sarah trat einen Schritt zurück, in die erleuchtete und trockene Wohnung hinein. Weg von dem Mann auf den Setsuna fast entschuldigend deutete, als hätte er einen jungen Straßenhund mitgebracht und kein fremdes, uraltes Wesen in Menschengestalt, das ihr gerade mehr Angst machte als ihre nächtlichen Alpträume, in denen sie blind war und nur kalte, fremde Stimmen hörte. Eine Stimme wie jene, die versuchte ihre Seele zu erreichen und deren Kälte sich auf ihre Brust legte, sodass sie glaubte ersticken zu müssen. Verzweifelt rang sie nach Atem und hustete bis Tränen aus ihren Augenwinkeln die Wangen hinter flossen. „Sarah“, hörte sie entfernt Setsuna rufen, als sie zurück in die Wohnung rannte. „Sarah, wieso bist du so blass? Sarah...!“ Kapitel 3: Sweat ---------------- „Sarah!“ Setsuna rief seiner Schwester hinterher und streckte seine Hand aus, um sie aufzuhalten, doch sie verschwand zu schnell in der Wohnung. Besorgt kämpfte sich Setsuna bis zur Schwelle der Balkontür und beugte sich vor, um hinein zu blicken, da er ihr nicht nachlaufen konnte, so nass wie er war. Doch das Zimmer war leer und innen ertönte nur das Schlagen einer Tür, welche Setsuna nach dem klappernden Geräusch als die des Badezimmers identifizierte. Entfernt vernahm er das Klacken, als das Schloss herum gedreht wurde und seufzte bloß, als er erkannte, dass Sarah sich wohl eingeschlossen hatte. Resigniert zog Setsuna den Kopf wieder zurück. Seiner Erfahrung nach brachte es jetzt nichts mit ihr zu reden, denn Sarah weigerte sich strikt über ihre Erlebnisse im Himmel zu reden und nach ihrer Reaktion hatte der Anblick eines Engels sie wohl unangenehm überrascht. Als ihr großer Bruder müsste er ihr jetzt nacheilen, als ihr Freund aber ihr den Freiraum lassen, den sie brauchte und warten bis sie bereit war, darüber zu reden. Es würde nur wenig bringen Sarah nun auch noch zu verärgern, nachdem er sie mit unerwünschtem Besuch überwältigt hatte. Auch wenn Setsuna sich nicht vorstellen konnte, was an dem Engel so bedrohlich wirkte, dass Sarah die Flucht ergriff. Dies war nicht ihre Art, besonders nicht wenn man bedachte, dass sie sich selbst gegen Sevothtarte gestellt hatte. Ich werde mich nachher um sie kümmern, beschloss Setsuna. Jetzt muss ich mich erstmal um die Ursache der ganzen Aufregung kümmern. Schließlich kann ich ihn nicht einfach hier liegen lassen... Allerdings taten seine Arme schon weh, wenn er nur daran dachte, dass er den großen, hochgewachsenen und vor allem schweren Engel noch irgendwie nach drinnen bekommen musste. Trotz seiner Astralkräfte hatte er immer noch einen menschlichen Körper, der für die Strapazen der letzten Stunden nun seinen Tribut forderte. Die Kälte der hereinbrechenden Nacht, die Nässe um seine Füße und der anhaltende Regen, der durch den Wind ihn selbst jetzt noch durchweichte, würde das nächste Stück keineswegs einfacher werden lassen. Er überlegte, ob er nicht einfach die Füße packen und an ihnen den Körper ins Wohnzimmer zerren sollte. Allerdings würden die Schultern mit ihrer für einen Engel typischen Breite kaum durch die von winzigen Japanern erbaute, viel zu schmale Tür passen. „Vielleicht wenn ich ihn an den Achseln packe und rückwärts ziehe...?“, überlegte Setsuna vor sich hin und stopfte leicht frustriert seine Hände in die Hosentaschen. Zumindest soweit es ihm mit der nassen Jeans möglich war, die schon beinahe ekelhaft eng an seiner Haut klebte. „Du könntest mir auch ganz einfach aufhelfen“, durchbrach eine fremde Stimme Setsunas Gedanken, welcher vor Schreck einen ganzen Satz zurück machte. „Das würde die Sache ungemein vereinfachen.“ „Was...?“, entfuhr es Setsuna lahm und musste sich an der Wand zwischen der Balkontür und dem Geländer festhalten. Zwar hatte er gewusst, dass er nicht alleine auf dem Balkon war, doch es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass der Engel, den er aus dem Hafenbecken gefischt hatte, auch tatsächlich irgendwann aufwachen würde. Es war nur die logische Konsequenz, aber innerlich darauf vorbereitet hatte sich Setsuna nicht. Besonders nicht darauf, dass er von jemanden so eindringlich betrachtet werden würde, dessen Augen viel zu hell und klar dafür waren, dass deren Besitzer fast ertrunken war. Denn danach sah der Engel, dessen nackte Füße noch in dem Wasser der Pfütze des Balkons lagen, weniger aus. Geschweige denn danach, dass bestimmt noch mehr Wasser in der Lunge war, als für irgendein Wesen gesund sein sollte, selbst für einen Engel. „Ich bin ... ich wollte...“, stammelte Setsuna und versuchte sich zu rechtfertigen, dass er hier niemanden entführt hatte und eigentlich alles andere als kämpfen wollte. Doch es war schwer zu sagen, wie der Fremde nun reagieren würde. „... mir hoch helfen?“, schlug der Engel schon fast gelassen vor und Setsuna fragte sich, ob nicht gerade der Falsche von ihnen beiden eine Panikattacke hatte. Dennoch trat er mit wackligem Schritt vor und ergriff die Hand, die der Engel mit den blauen Augen nach ihm ausgestreckt hatte. Wenn sie ein wenig zu kalt war und ihm der Druck zu stark vorkam, so schob das Setsuna darauf, dass seine eigene Hand schweißnass vor Aufregung war. Eine Antwort darauf, warum dies so war, fand er allerdings erst, nachdem er den namenslosen Engel auf die Füße gezogen hatte. Für einen Moment stand der so dicht vor ihm, dass Setsuna den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen sehen zu können und die breite, hochgewachsene Statur, die sich wegen der nassen Kleidung prächtig erahnen ließ, milderte den ersten instinktiven Eindruck nicht, den Setsuna sich gemacht hatte. Jetzt, wo er direkt vor ihm stand und ihm der feine Geruch von frischen, kalten Ozon in die Nase wehte, war Setsuna sich absolut sicher, dass dies nicht nur ein einfacher Engel, sondern ein Hoher Engel war. Er konnte die Astralkraft nicht sehen, die dem Fremden sicherlich unter der Haut brannte, aber er wusste, dass sie vorhanden war. Eine mächtige dichte Masse an Kraft, kaum verborgen durch die dünne Wand der Realität, die ihm glauben machen wollte, das vor ihm ein menschliches Wesen stand. Aber alleine die unnatürliche Ruhe und die tiefen blauen Augen waren genug, um Setsuna daran zu erinnern, dass dem keineswegs so war. Vielleicht lag Sarah mit ihrer Reaktion gar nicht mal so falsch, dachte Setsuna und trat einen großen Schritt zurück, kaschiert mit dem Vorhaben, dass er sich endlich ins Innere der Wohnung begeben wollte und dem fremden Engel deutete, ihm zu folgen. Doch darunter verbarg sich lediglich die Eingebung, dass er absolut unvorbereitet für diese Begegnung war. Ich weiß überhaupt nichts über diesen Mann, geschweige denn das ich seinen Namen kenne oder ihm trauen könnte. Wobei Vertrauen im Zusammenhang mit Engeln sowieso ein zweischneidiges Schwert war. Man konnte sich selten sicher sein, ob sie die Wahrheit sagten, es mit ihr ernst meinten oder nicht trotz allem am Ende doch wieder ihre Meinung änderten. Erstaunlich wie willkürlich sie doch mit ihren Vorhaben und wie sprunghaft ihre Launen sein konnten, wenn man ihre Langlebigkeit in Betracht zog. Setsuna bezweifelte ernsthaft, dass jetzt bei dem Engel hinter ihm anders sein würde. Er kannte die Natur der Engel zu gut, um dem seiner Meinung nach viel zu freundlichen Lächeln und ruhigen Blick Vertrauen zu schenken. - Nahezu mühselig tat er den Atemzug unter dem sich seine Lungen weiteten und ihm das Gefühl gab, er würde damit seinen Brustkorb sprengen. Als läge ein Gewicht aus Blei auf seiner Brust, dass sich stets dann bemerkbar machte, wenn er Luft holen wollte. Durch seine Nase trat sie ein, füllte seinen Kopf mit dem frischen Duft des Meeres, tauchte seine Seele mit Vertrautheit und niemals würde er genug davon bekommen, gleich wie fest eine Macht dagegen drückte. Dagegen stemmte er sich als er über die kühle Holzschwelle trat, welche schon lange die Feuchtigkeit der Umgebung aufgezogen hatte. Es war schwer, aber nicht unmöglich die Barriere zu durchbrechen, die er wahrnahm. Ihre genaue Linie war nicht zu bestimmen, nur der Kontrast des Lichts von hell zu dämmrig. Mit einem leisen Husten versuchte er den Druck zu nehmen, der auf seiner Lunge lag, denn das abgedunkelte Zimmer nahm ihn nur den Reiz seiner geblendeten Augen, nicht aber die Befangenheit, die es auslöste. Das Eintreten hätte vielleicht eine stärkere Reaktion von ihm verlangt, doch ein anderer Eindruck lenkte ihn ab. Ein Empfinden der Reibung an seinen nackten Fußsohlen und ein Blick nach unten zeigte ihm einen Teppich mit kurzen Stoppeln, der seine Füße trocknete, je weiter er dem blonden Jungen in das Zimmer folgte. Verwirrt blieb er Stehen, um sich an die Sensation zu gewöhnen. Versuchsweise bohrte er seine Zehen tiefer in den Teppich, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie es war nicht nass zu sein. „Odd“, entfuhr es ihm instinktiv in Enochian. „But not unpleasant.“   Da war das Wissen, dass die Trockenheit keine Gefahr darstellte. Es war noch genug Wasser in seinem Umfeld. Die Wege, die es sich bahnte, konnte er als seichte Vibrationen in seinem Hinterkopf wahrnehmen. Wie Wellen, deren Zentrum er selbst war, sprachen sie zu ihm und teilten ihm mit, dass draußen der Regen gegen die Glasscheiben schlug, in den Wänden Wasser durch Metallrohre gepumpt wurde und kleine Wassermoleküle in der Luft durch den Raum schwebten. „Please, would you like a towel?“, wurde er nun angesprochen. Die Stimme des Jungen, die ihn in seiner eigenen Sprache anredete, klang natürlich und floss einfacher durch seinen Geist, als er vermutet hatte. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass der junge Mann eine Lautart beherrschte, die für einen Menschen eigentlich unmöglich auszusprechen war. Es war der Zusammenfluss aller möglichen Sprachen, unterlegt mit Astralkraft und für Sterbliche unzugänglich seit der Zeit von Babylon. Allerdings habe ich das Gefühl, dass seitdem sich das Rad der Zeit häufig gedreht hat, kam ihm der Gedanke. Möglich, dass der Richtspruch über die Menschheit aufgehoben wurde, der sie in Nationen teilt? Betrachtete er jedoch den Zustand der Menschen um ihn herum, so war dies nicht der Fall. Das Wasser trug ihm Neuigkeiten zu, unterrichtete ihn über Bewegungen und der Fülle des Lebens in der Umgebung. Schockierend war fast wie viel Leben die Luft und die Erde erfüllte. Rastlos, hungrig und mit dem Verlangen nach Durst. Alles Lebewesen, die sein Wasser wollten. Wasser. Sein Wasser, schoss ihm durch den Kopf. Sie wollten ... sein Wasser. Etwas stimmte an dem Gedanken noch nicht und er kratzte sich am Kopf. Es war als wollte er nach einem Gegenstand am Boden eines Beckens greifen, ihn aber nicht zu fassen bekam. Immer wieder flutschte ihm der Gedanke, die Erkenntnis, welche er wusste, dass sie wichtig war. Frustrierend, beschrieb er sein Gemüt, ich ... Kaum das er weiter durch das seichte Meer der Verwirrung gewatet war, stieß er auf ein weiteres Hindernis. Ich ... ich ... ich ... Das Wort hallte in seinem Kopf wieder. Den Jungen mit dem Handtuch in seinen Händen war aus seinen Gedanken komplett entschwunden, als er sich dem vorrangigsten Problem widmete. ... Wer war ‚Ich’? xxx Übersetzung: *Gabriel "Seltsam." - "Aber nicht unangenehm!" *Setsuna "Bitte, möchten Sie ein Handtuch?" Kapitel 4: Speak ---------------- Ich ... ich ... ich ... Das Wort hallte in seinem Kopf wieder. Den Jungen mit dem Handtuch in seinen Händen war aus seinen Gedanken komplett entschwunden, als er sich dem vorrangigsten Problem widmete. ... Wer war ‚Ich’? - Ein Gefühl des Fallens ... der Schwerelosigkeit. Der unaufhörliche Weg nach unten. Weiter ... weiter ... immer weiter ... in die Tiefe. Blaue Farbe. Es ist die See. Das Meer. Das Meer das immer näher kommt. Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann ... meine Flügel nicht ausbreiten. Ich werde aufschlagen. Die See wird mich verschlingen. Salz brennt auf meiner Haut. Doch ... da ist noch etwas ... Ga...! Ich höre eine Stimme. ... da ist noch etwas ... etwas, dass ich nicht vergessen darf ... ich weiß, dass es wichtig ist ... aber ich weiß nicht, was es ist. Ga... rie...! Ich höre die Stimme immer noch. Die Stimme, die mir eindringlich etwas zu sagen versucht. Na ... me ... ... dein Name ... Name? Mein Name? ... ist ... Wie lautet mein Name? Dein Name ist ... - Mit einem Blinzeln befand er sich wieder in dem abgedunkelten Raum in der menschlichen Behausung. Der Junge stand weiterhin vor ihm, aber starrte ihn merkwürdig an. Er starrte zurück und für einen Moment war sein Kopf wie leer gefegt, ehe er wusste, was er sagen musste. „Gabriel...“, würgte er den Namen heraus, als würde er daran ersticken, wenn er ihn nicht bald aussprach. Ein weiteres Mal blinzelte er und hielt sich an der Sofalehne neben ihm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Aussprechen des vertrauten und zugleich fremden Klangs, weil er ihn so lange nicht von sich gegeben hatte, brachte eine Erkenntnis zurück und glättete die Wogen in seiner aufgewühlten Seele. „Mein Name ist Gabriel!“ - Mit einem Klacken schloss Sarah die Badezimmertür und drehte das Schloss herum. Es war nur eine minimale Verteidigung, aber eine Barriere zwischen sich und dem Wesen in ihrem Wohnzimmer zu haben beruhigte sie zumindest ein wenig. Dennoch zitterten ihre Beine so sehr, dass Sarah nicht anders konnte, als sich auf die kalten Fliesen sinken zu lassen und sich mit dem Rücken gegen die Tür zu lehnen. Sie schloss ihre Augen und verharrte so, in der Hoffnung, dass die Panik verebben würde, die durch ihre Adern gepumpt wurde. Denn ihr Herz schlug so heftig, dass sie ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen hören konnte. Den Grund kannte sie nicht, aber alles in ihr weigerte sich, wieder hinaus zu gehen und dem Mann gegenüber zu treten, den Setsuna mitgebracht hatte. Tief bohrten sich ihre Fingernägel in den Stoff ihres Rockes, als sie an die blauen, viel zu blauen Augen dachte, die sich nur wegen ihr geöffnet hatten. Wäre sie nicht hinausgegangen, wären sie vielleicht für immer geschlossen geblieben. Damit hätte ich leben können, dachte Sarah. Ich hatte nie vor ihm zu begegnen. Sie wusste, dass dieser Gedanke nicht ganz logisch war, denn sie hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen, aber sie kannte ... sie erkannte diese Präsenz. Es war fast unmöglich dem tiefen Rhythmus zu entgehen, der wie Wellen an der Küste gegen ihren Geist schlug. Jedes Mal lief ein neues Zittern durch sie hindurch, wenn ein kalter nasser Luftzug sie streifte. Sarah kam sich entsetzlich nackt und entblößt vor, also griff sie sich eines der Badehandtücher, das neben ihr an einem Hacken hing, wickelte es um ihre Schultern und rollte sich so dicht zusammen, wie es ihr möglich war. Ich ... ich will nicht, klagte sie in ihrem Geist. Ich will dort nicht hinausgehen müssen... ... und sich dem anmutsvollen Engel stellen, den sie vor ihrem inneren Auge vor sich sah, gleich ob sie die Lider schloss oder nicht, und der umgeben von der Glorie des Himmels und auf sie herabstarrte. Urteilend. Genauso wie die Engel vor denen sie sich durch den Religionsunterricht immer gefürchtete hatte. So wie die Engel, die sie in dem Gericht des Himmels angesehen hatten und wussten, dass sie eine Sünderin war. Sünderin und Hure hatte man ihr nachgeschrieben, als man sie in den Gerichtssaal auf die Anklagebank gebracht hatte und trotz aller Ereignisse war diese Anklage nie aufgehoben worden. Dies zählte, ähnlich wie Setsuna der Fahnung nach ihm wegen Katos Tod nicht entkam. Denn ein Verbrechen war ein Verbrechen ... „...und eine unterbrochene Gerichtsverhandlung kein Freispruch“, wisperte eine helle Kinderstimme in ihr Ohr. „Nein!“, presste Sarah heraus und hielt sich die Ohren zu, während sie zeitgleich die Augen so fest zusammen kniff wie es ihr möglich war. „Nicht du, nicht heute. Nein.“ „Aber ich bin doch gekommen, um zu sehen, ob dir auch nichts wehtut, Sarah!“, sprach die Kinderstimme weiter. Sarah wollte nicht hinsehen. Wenn sie die Augen öffnete, so wusste sie, würde sie das Kind sehen. Das Kind, welches Setsuna so ähnlich sah, wenn sie sich nicht darauf konzentrierte auf die Unterschiede zu achten. Nicht einmal hinsehen musste sie, um zu wissen, dass das Kind jetzt ihr gegenüber auf dem Klodeckel saß und geduldig lächelte. Möglich, weil es nichts Besseres zu tun hatte, als sie zu belästigen. „Ach komm schon, Sarah“, bettelte das Kind in seiner besten weinerlichen Stimme, die fast so echt klang, dass sie bereit war es zu glauben. „Mach doch deine Augen auf. Du kannst dich nicht ewig hier im Badezimmer verstecken und wie willst du deinem schlimmsten Feind gegenübertreten, wenn du nicht einmal mir in die Augen sehen kannst?“ „Du bist nur eine Halluzination“, meinte Sarah bissig und öffnete widerwillig die Augen, weil sie erkannte, dass das Kind Recht hatte. Wie sie vermutet hatte, saß es mit angezogenen Beinen auf dem Klodeckel, hatte seine Arme auf den Knie angelegt und sah viel zu amüsiert aus, als das sie dies beruhigen würde. Doch immerhin sah das Kind heute zu jung aus, als sie es mit Setsuna verwechseln könnte, so wie sie es schon einmal getan hatte. „Ich mag vielleicht wirklich nur eine Halluzination sein“, sprach Sandalphon. „Aber ich bemerke, dass du den Punkt mit dem schlimmsten Feind nicht abstreitest. Eventuell weißt du ja doch mehr, als ich dachte?“ „Was willst du damit sagen?“, fragte Sarah scharf und fixierte den Kindesengel mit ihrem Blick, der sie ab und an belästigte, weil sie sich weigerte von ihm zu träumen. „Was weißt du über den Engel, den Setsuna mitgebracht hat?“ „Nicht viel, doch immerhin mehr als du. Auch wenn es nur das ist, was du von ihm geträumt hast.“ Irritiert blinzelte Sarah und setzte sich aufrecht hin, sodass das Badehandtuch von ihren Schultern rutschte. Das Kind sprach, wie auch sonst immer, in Rätseln. „Ich habe nicht von ihm geträumt“, stritt sie ab. Ihre bösen Vorahnungen in den letzten Tagen und ihr Unbehagen, jedes Mal wenn sie in den Regen hinaus musste, hatte sie zur Wachsamkeit gezwungen und sie abends todmüde ins Bett sinken lassen. Da war keine Zeit für erholsamen Schlaf gewesen, geschweige denn für Träume tagsüber. Sandalphon zuckte mit den Schultern, als könnte er Sarahs Unverständnis nicht nachvollziehen und antwortete: „Nicht du direkt. Nur dein anderes Ich. Sie hat von ihm geträumt und das sogar recht regelmäßig, auch wenn ich zugeben muss, dass sie sich dessen vielleicht nicht bewusst war.“ Sarah atmete tief ein und aus und beschloss aufzustehen, um sich ein wenig Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie zog sich am Waschbecken hoch und drehte den Hahn auf, den neugierigen Blick des Kindes ignorierend. Besser sie würde alles ignorieren, was ihr derzeit zuviel wurde, denn dieser Tag schien zu einer der Schlimmsten in ihrem bisherigen Leben zu sein und es beruhigte sie keineswegs, dass er noch nicht zu Ende war. „Jibril“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem nicht ganz realen Gesprächspartner, aber Sandalphon fasste das anders auf. „Weißt du Sarah, sie sind sich nie begegnet.“ „Wer?“, fragte Sarah abwesend, als sie den Wasserhahn wieder zu drehte und feststellte, dass er tropfte. „Na, sie und er natürlich“, erklärte Sandalphon und deutete zuerst auf Sarahs Brust, dann auf die Tür des Badezimmers. „Es kann schließlich immer nur einen Wächter des Wassers geben.“ Das Handtuch mit dem sie sich die Hände abtrocknete spannte sich in der Mitte, als Sarah fester zu packte als nötig war. Nahezu bewusst langsam hängte sie es wieder an den Hacken, um eine Tätigkeit zu haben, die sie von dem Kind ablenkte, aber als sie beim nächsten Mal aufsah, war der Platz auf dem Klodeckel bereits leer. Kapitel 5: Thirst ----------------- „Mein Name ist Gabriel!“ Setsuna stockte kurz der Atem als sich eine dicke Kälte auf seinen Brustkorb legte, um dann wie ein schwerer Anker in seinem Geist zu versinken. An sich war es unvorsichtig seinen Geist so offen und einladend zu lassen, anstatt engstirnig auf die eigene Meinung zu beharren, obgleich konnte Setsuna nicht zurückweichen, so wie es unter Umständen klüger gewesen wäre. So sank der Anker weiter durch das tiefe Wasser, an Orte wo kein Mensch je zu gehen gewagt hatte. Zu tief, nicht genug Luft und zu viel Druck, um wirklich richtig dort unten zu recht kommen zu können. Nur ausgewählte Lebewesen konnten am Grund des Meeres überleben, zu wenig Licht als das man sich wahrlich wohlfühlen konnte. Aber trotz dessen wehrte sich Setsuna nicht, weil der Name je tiefer er in seinen Geist sank immer stärker eine Empfindung auslöste, die er nicht kannte. Eine angenehme Empfindung. Der einzige Vergleich, den er ziehen konnte, ohne dass es ihm wie eine Lüge vorkam, brachte ihn zurück zu seinem ersten Treffen mit Adam Kadamon. Müde, ausgelaugt und verwirrt hatte er verletzt auf dem Boden der Fabrik gelegen und im nächsten Moment war er von Licht und Wärme umgeben gewesen. Dieses Gefühl harmonisierte so sehr mit Gabriel, dass es schmerzte, besonders da Setsuna im nächsten Moment sich in Erinnerung rufen musste, dass Adam Kadamon fort war. Aber es ist nicht dasselbe, wisperte eine leise Stimme in ihm enttäuscht. Das ist nicht Seraphita. „Wollen Sie sich vielleicht setzen?“, fragte Setsuna und seine Hände krallten sich in das Handtuch, von dem er sich nicht mal sagen konnte, wann er es geholt hatte. Dennoch kam ihm dieses ausgeblichene Stück Stoff nun als seine einzige Verteidigung vor. Wohl aber mehr als Möglichkeit eine Barriere zu schaffen und weniger als Waffe gegen einen möglichen tätlichen Angriff. „Sie sehen blass aus“, krächzte Setsuna leicht und räusperte sich, um seine Stimme wieder zu finden. Es wäre richtig und höflich gewesen, seinem Gast zu helfen, als dieser zu dem Sofa wankte und sich erschöpft darauf niederließ, aber da Setsuna nicht wusste, wie er dem Engel gegenübertreten sollte, der bloß einen Namen gebraucht hatte, um ihn aus der Fassung zu bringen, würde er solange hier stehen bleiben, wie es möglich war. Jedoch empfand er weniger Angst als Nervosität, stellte Setsuna fest als er sich seine schweißnassen Hände an der Jeans rieb. Da diese nach wie vor feucht war, brachte es nicht viel, außer die Erkenntnis, dass er sich das letzte Mal so gefühlt hatte, als er seinem Großvater hatte gegenübertreten müssen. Die Gegenüberstellung von seinem in der Erinnerung verblassten Großvater und dem sehr realen Gabriel mochte abnorm erscheinen, aber die Mischung aus Erwartung, Hoffnung und möglicher Enttäuschung war exakt dieselbe. Einschließlich der Gefahr mit einem scharfen Blick geprüft und als unzulässig erachtet zu werden. „Möchten Sie etwas?, fragte Setsuna daher, wenn auch ein wenig steif. „Kann ich Ihnen etwas bringen?“ „Wasser“, erklärte der erschöpfte Engel auf der Couch. „Wasser wäre wunderbar.“ „Sofort“, schoss es aus Setsunas Mund und er verschwand, froh darüber dass er etwas zu tun hatte. - Gabriel sah zu, wie der Junge eilig aus dem Zimmer verschwand. Dem Geräusch nach lief er nur in die anliegende Küche, aber es war ihm derzeit erst einmal Abstand genug. Es gab einen Moment um durchzuatmen und sich zu sammeln. Nicht genug, um die eigenen wirren Gedanken zu ordnen, aber für ein paar tiefe Atemzüge würde ausreichen. Luft füllte seine Lungen und kaum, dass er sie durch seine Nase eingezogen hatte, dankte er den Mächten, dass er sich in einem Haus befand. Das Atmen fiel ihm nicht schwer, aber die kalte beißende Luft von draußen, hätte er jetzt nicht ertragen. Stattdessen begrüßte Gabriel die Wärme, die langsam in seine Glieder kroch. Mit ihr wich ebenfalls eine Spannung aus seinem Körper, deren Verschwinden zur Folge hatte, dass er sich mit einem Seufzen in die weiche Lehne des Sofas fallen ließ. Das Möbelstück mochte nicht mehr das Neueste sein, aber das eingedellte warme Leder suggerierte wenigstens, dass bereits häufig verwendet worden war. Vorsichtig streckte Gabriel seine Beine aus und während er darauf achtete, dass er die Bücher nicht umschmiss, die sich unter dem Wohnzimmertisch stapelten, erinnerte sich wohl ein Teil seines Körpers daran, dass steif und gerade sitzen keine überlebenswichtige Verpflichtung war. Genüsslich lehnte Gabriel den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Es war angenehm, so daliegen zu können und nichts zu tun und wäre nicht der unablässige Durst in seiner Kehle, würde er hier glatt einfach so liegen blieben. Immerhin schien er nicht lange warten zu müssen, denn kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, vernahm er das Quietschen des Wasserhahns, als jener zugedreht wurde. Ja, schrie seine brennende Kehle erleichtert, endlich! Seine Augen fixierten die Tür, durch die jetzt der junge Mann schritt, dessen Namen Gabriel – so viel im diesem Moment auf – noch nicht einmal kannte. Trotzdem interessierte er sich gerade mehr für die Gegenstände in dessen Händen, der Tasse und großen Wasserkrug aus Glas, als für Namen des Kindes, das ihn aus dem Wasser gefischt hatte. Wie ein Raubtier verfolgte Gabriel die Bewegungen der beiden Hände, welche langsam die Gegenstände auf dem Tisch vor ihm abstellten. Noch immer hing Gabriel in dem Sofa, als besäße er keinen einzigen Knochen in seinem Körper, aber es lag eine Erwartungshaltung darin. Mehr wirkte er wie ein Haifisch auf der Lauer, bereit vorzuschnellen und nach seiner Beute zu greifen, als ein römischer Senator von vor einigen Augenblicken, der sich auf seinem Diwan ausgestreckt hatte. „Bitte sehr“, sprach der Junge mit dem blonden Haar und ließ sich Gabriel gegenüber auf einem Sessel nieder. „Ich hoffe es stört Sie nicht, dass wir nur Leitungswasser haben.“ „Nein, keineswegs“, antwortete Gabriel mit einem Lächeln. Man hätte es für freundlich halten können, hätte er sich in diesem Augenblick lässig aufgerichtet, um nach der Kanne mit dem Wasser darin zu greifen, die Setsuna wohlweislich bereits losgelassen hatte, kaum da sie richtig auf der Holzplatte des Tisches stand. Jetzt lagen die Hände in seinem Schoß, ineinander gefaltet, als hätte er Angst sie zu verlieren, würde er sie nicht dicht bei sich behalten. Vielleicht hatte er sogar Recht, denn als Gabriel mit seinem Arm nach der Wasserkanne griff, erschien es Setsuna als wäre er doppelt so groß wie vorher. Sicher war auf jeden Fall, dass ihm der muskulöse Körperbau ins Auge fiel, der sich unter dem feuchten Stoff abzeichnete. Verglich er diesen in seinen Erinnerungen mit anderen Engeln, die er getroffen hatte, so hielt es Setsuna für klüger seinen Gast trinken zu lassen. Soviel er wollte und solange er wollte, schließlich war dies keiner der schmächtigen Engel, die ihre fehlende Kraft durch ihren Verstand und ihr Geschick wieder wettmachten. Das größte Gegenbeispiel, das Setsuna derzeit in den Sinn kam, war Raziel. Nicht, dass Raziel nicht schlau, durchtrieben und so gerissen sein konnte, dass er Mad Hatter die Stirn bieten konnte, aber dieser Engel hier wirkte eher wie eine unangenehme Mischung aus dem spitzzüngigen Raphael und einem gewaltbereiten Uriel. Es könnte schlimmer sein, dachte Setsuna. Er könnte mich an Rosiel erinnern. Zwar war das Lächeln warnend, wie das des stärksten Tiers im Rudel, das auf die besten Stücke einer gerissenen Beute bestand, aber nicht gewissenlos. Langsam beruhigte sich Setsunas klopfendes Herz und er entspannte sich in seinem Sessel. Damit würde er Leben können. Unter Tieren war es die Dominanz, unter Menschen der Einfluss, bei Dämonen die Kontrolle und bei Engeln die Macht, aber Setsuna war es wichtiger die Bedingungen zu kennen, als das es ihn sorgte, ob er an der Spitze der Rangordnung stand. Mit diesem Wissen lösten sich seine Sorgen und Bedenken bezüglich des fremden Engels. Stattdessen betrachtete er ihn lieber, denn ohne die Bürde sich um Sarahs und seine eigene Sicherheit Gedanken machen zu müssen, konnte er Gabriels Anwesenheit durchaus genießen und interessant finden. - Das Wasser seine Kehle herunter fließen zu spüren, war eine Erlösung. Es tankte ihn mit Kraft, weckte seine Lebensgeister und die Erschöpfung, die ihn erst auf dieses Sofa befördert hatte. Zwei Gläser hatte er bereits in sich hinein geschüttet und selbst bei dem Dritten hatte er noch nicht genug, aber immerhin stellte sich so langsam etwas wie Befriedigung ein. Sein Durst, seine trockene Kehle und sein Wassermangel im Körper legten sich bis er endlich mit einem dankbaren Gesichtsausdruck die Keramiktasse zurückstellen konnte. „Ich bin Euch zu Dank verpflichtet“, sprach Gabriel und richtete zum ersten Mal wirkliche Worte an seinen Gastgeber, der stumm und geduldig gewartet hatte. „Oh, keine Ursache“, nuschelte der Junge und winkte ab. Für einen Moment schien er zu überlegen, was er sagen sollte, dann streckte er ihm über den Tisch die Hand hin. „Ich bin Mudo Setsuna.“ „Gabriel“, stellte er sich selbst noch einmal vor und ergriff die Hand seines Gastgebers. Der Griff war fester als er vermutet hatte, aber mehr verwirrte ihn die Astralkraft, die er darunter verspürte. Der Kontakt ihrer Hände währte nicht lange genug, um für Gabriel näheres zu bestimmen, aber die Masse und die Kontrolle darüber waren beträchtlicher, als er es erwartet hatte. Ein Jucken in seinem Hinterkopf ließ ihn sich fragen, ob er den Jungen kennen sollte, aber da war nichts, was eine sofortige Reaktion auslösen würde. Nicht einmal eine Instinktive und eine Lüge hätte er vernommen. „Freut mich“, fügte er noch ehrlich hinzu. Denn solange der Junge selbst glaubte, dass er Mudo Setsuna hieß, wäre es taktlos und unnötig ihm nach seinem Engelsnamen zu fragen. Gegeben dessen, das die Einrichtung menschlich wirkte und er in seiner Umgebung lediglich Menschen wahrnehmen konnte, sollte er besser nicht fragen, was Mudo Setsuna auf die Erde verschlagen hatte. Nicht, dass ich diese Frage beantworten könnte, dachte Gabriel. Verschwommen erinnerte er sich, dass er aus dem Himmel kam, aber das Wie, das Wieso und das Warum entzog sich ihm. Solange er dies nicht beantworten konnte (und wollte), würde er diesen Fragen auch besser ausweichen. Auch wenn dies nicht einfach werden würde, so neugierig wie Setsuna ihn ansah. Das Interesse war ehrlich, aber Gabriel im Moment sehr unangenehm. Zumindest bis er eine passende Antwort darauf gefunden hatte, wieso er so ziellos im Meer getrieben hatte. ... Wasser Kraft Luftblasen Oberfläche Druck Dunkelheit ... Innerhalb weniger Sekunden rasten die Eindrücke an Gabriels innerem Auge vorbei. Endlose undeutliche Bilder blitzen auf und verschwanden wieder, doch ein Klacken riss Gabriel aus seinen Gedanken. Es war eine Tür im Flur, die aufgerissen und wieder zugeschlagen wurde. Schritte ließen den Fußboden vibrieren und ein erneutes Schlagen einer Tür, dieses Mal wohl die des Schlafzimmers, ließ den jungen Setsuna zuerst zusammenfahren, dann schuldig aussehen. „Tut mir Leid, dass ist meine...“, sprach er hastig und berichtigte sich dann, als ihm wohl drohte etwas zu entweichen, was er nicht mit Gabriel teilen wollte. „Ich habe Sarah ziemlich überrumpelt und sie hat keine sonderlich guten Erfahrungen mit Engeln gemacht, darf ich kurz...?“ „Bitte“, meinte Gabriel und deutete mit seiner offenen Handfläche auf die Tür. „Ich möchte niemanden belästigen. Doch wenn ich womöglich die Nacht auf dem Sofa verbringen dürfte?“ Setsuna, der schon aufgesprungen war um nach Sarah zu sehen, blieb in der Tür stehen. Für einen Moment besann er sich wieder auf Gabriel, anstatt auf seine Schwester von der er komplett vergessen hatte, dass sie noch in der Wohnung war. „Natürlich“, versprach er mit einem Nicken. „Im Schrank dort hinten dürften noch Kissen und eine Decke sein. Wenn sie Hunger haben, die Küche steht ihnen zu Verfügung.“ Damit drehte sich Setsuna dann weg, um Gabriel allein im Wohnzimmer zurück zu lassen. Als er vorsichtig antestete, ob Sarah die Tür zum Schlafzimmer verschlossen hatte, kam es ihm kurzweilig in den Sinn, dass die Tüte mit dem Einkäufen ja noch am Geländer des Balkons hing, doch es brauchte nicht mehr als das Nachgeben des Schlosses, um es sofort wieder zu vergessen. Ohne die Tür weit zu öffnen, presste sich Setsuna durch den Spalt und betrat das dunkle Schlafzimmer. Besorgt suchten seine Augen nach Sarah, als er die Tür wieder hinter sich schloss. - Das war jetzt unerwartet, dachte Gabriel, als er leeren Türrahmen betrachtete. Jetzt, wo er sich darauf konzentrierte, nahm er in der Tat noch einen weiteren Herzschlag hinter der Wand wahr, doch sofort aufgefallen war es ihm nicht. Es mochte daran liegen, dass er selbst noch nicht ganz wieder auf der Höhe war, aber andererseits schirmte eindeutig Astralkraft die Seelen im Nebenraum ab. Offenbar hatte das Mädchen wohl wirklich keine guten Erfahrungen mit Engel gehabt, wenn der Junge sie praktisch unter seinen Flügeln versteckte. Allerdings ... was haben Engel auf Assiah zu suchen, fragte sich Gabriel, als er nachdenklich nach dem Krug griff, um sich noch einmal Wasser in die Tasse zu gießen. Die Besuche auf dieser Astralebene waren weitaus seltener geworden, seit sich der Mensch von einem haarlosen Affen zu einem halbwegs intelligenten Lebewesen entwickelt hatte. Er musste zugeben, dass diese Entwicklung erneut vorangeschritten war, als er einen Blick auf die Einrichtung warf. Doch selbst das erklärt nicht, warum ich hier bin ... dachte Gabriel angestrengt nach. Oder auf welchem Wege ich herkam. Denn seine Erinnerung begann mit dem Moment, wo er auf die Wasseroberfläche des Meeres aufschlug. Kapitel 6: Shadow ----------------- Das Schlafzimmer war abgedunkelt und durch den Umstand, dass das einzige Fenster im Raum in einen winzigen Lichthof zeigte, sodass Setsuna nicht einmal seine eigene Hand vor Augen sah. Aber anders als an gewissen Orten, die er schon gesehen hatte, herrschte keine absolute Finsternis. Unter dem Türspalt fiel ein matter Schimmer herein, der es ihm ermöglichte die groben Umrisse zu erkennen. Sarah brauchte das hingegen nicht. Sie kam sehr gut in der Dunkelheit zurecht, ihrer eigenen Aussage nach war dies eine Folge davon, dass Jibril solange blind gewesen war, als sie in ihrem Körper erwachte. Nicht, dass er viel darüber wusste, Sarah hatte ihm lediglich davon berichtet. Während sie das durchgemacht hatte, war er entweder tot oder in der Hölle gewesen und später war es ihm nicht in den Sinn gekommen Raphael oder Michael danach zu fragen. Vielleicht auch, weil er lieber gar nicht wissen wollte, wie viel Zeit genau Sarah mit ihnen verbracht hatte. Es breitete sich jedes Mal ein unangenehmes Gefühl in seinem Magen aus, wenn er sich vorstellte, dass es Raphael gewesen sein musste, der Sarah weitestgehend beschützt und versorgt hatte, weil Michael nicht der Typ war, der hilflose Mädchen beschützt. Ganz egal, ob sie in dem Körper eines Engels steckten oder nicht. Setsuna zog sich sein Hemd über den Kopf und lies es einfach zu Boden fallen. Die Hose folgte und er war froh, endlich aus der nassen Kleidung heraus zu kommen, um ins Bett gehen zu können, wo er die Umrisse von Sarahs Körper unter Decke ausmachen konnte. Während er sich eine trockene Boxershorts aus der Schublade neben seinem Bett suchte, brachte ihn der Anblick von Sarahs Körper in seinem Bett dazu sie in seinen Gedanken mit Jibril zu vergleichen. Seine Gedanken hafteten bereits bei Raphael und der Zeit, die Sarah bei ihm verbracht hatte. Seine Eifersucht brauchte nicht mehr als das, um wie ein wütendes Tier an seinem Käfig zu rütteln. Auslöser dessen war weniger ein mögliches Verhältnis zwischen Raphael und Sarah in der Vergangenheit, als dessen dass sie ihm nicht erzählen wollte, was passiert war. Er brauchte nicht auf Sarahs nackte Schultern und ihren Rücken zu blicken, um zu wissen, dass sie ihm auch heute wieder nicht sagen würde, was sie beschäftigte. Das seine Schwester sich von ihm weggedreht hatte, machte es für sie nur einfacher ihm auszuweichen, da sie sich sowohl von seinen vorsichtigen Fragen als auch von seinem abwartenden Schweigen belästigt fühlte. Mit einem Seufzen hob Setsuna die Bettdecke an und kroch darunter. Wohltuende Wärme umfing ihn, etwas das er nach dem heutigen Tag kaum noch dachte, je wieder fühlen zu können. Von dem fremden Engel auf der anderen Seite der Tür mal abgesehen, es war besonders der Regen gewesen, der ihm auf das Gemüt geschlagen hatte. Es ließ ihm stets das Gefühl, das etwas, dass er wollte und so dringend brauchte, dass seine Brust schmerzte, direkt vor ihm hatte und es dennoch nicht genug war, wenn er es zu fassen bekam. Nicht genug, dachte Setsuna als er sich auf dem Bett ausstreckte und die Arme hinter seinem Kopf verschränkte, um die Schatten zu beobachten, die von dem schwachen Mondlicht auf der Zimmerdecke gezeichnet wurden und durch die Vorhänge vor dem Fenster merkwürdige Formen annahmen. Es ist einfach nicht genug. - „Abbildung, Abendrot, Abendstern, Aberglaube, Absolution, Abwind...“, murmelte Gabriel die Wörter vor sich hin, die der Duden ihm offenbarte, den er neben dem Sofa gefunden hatte. Sicherlich gab es noch andere Lektüre, aber Gabriel hatte nach seiner Entdeckung über seine Gedächtnislücken das Bedürfnis bei den Grundkenntnissen anzufangen. Das Einzige, was er diesbezüglich sagen konnte, war das etwas fehlte, auch wenn ihm auf dem ersten Blick nicht auffiel was. Wenn er seinen Geist durchwühlte, erschien ihm alles normal, außer dass er hin und wieder auf Ungereimtheiten stieß, die er sich nicht erklären konnte. Wenn er zum Beispiel das Wort ‚Altar’ las, wusste er was damit gemeint war. In seinem Geist tauchte dann ein Bild von einer erhöhten Opferstätte auf. Meist von block- oder tischartiger Form, die für eine Gottheit bestimmt war. Das war logisch, auch wenn er den Eindruck nicht loswurde, dass ihm solche Altäre nicht fremd zu sein schienen. Er konnte sich selbst davor stehen sehen, eine Schale und ein scharfes Messer in seinen Händen. Dies fiel womöglich unter Angewohnheit, deswegen konnte er sich darunter etwas vorstellen. Komplett blieben ihm aber die Erinnerungen aus, wenn das Wörterbuch ihm Begriffe wie ‚Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg’ lieferte. Rebellion von Kolonien gegen das Heimatland, das war eine klare Sache, wenn Gabriel auch nicht wusste, warum er solch eine Irritation darüber fühlte, aber mehr Probleme bereiteten ihm die Jahreszahlen. 1775-1783 stand in den Buch. Gabriel konnte mit den Zahlen nichts anfangen. Langsam ließ er das Buch auf seinen Schoß sinken und starrte auf die Seite herunter. Diese Zählung tauchte immer wieder auf, auch wenn es für ihn keinerlei Sinn ergab. Tausend-siebenhundert. Fünfzehnhundert-zwölf. Achthundert-siebenundvierzig. Was waren das? Jahre? Verwirrt schüttelte Gabriel den Kopf und überlegte. Dies waren alles bloß Menschen und er war auf der Erde, wie rechneten sie also? Sie hatten doch offensichtlich einen Weg gefunden den Fortschritt der Zeit festzuhalten, er musste nur das Maß dafür finden. Göttliche Zeitrechnung konnte das nämlich nicht sein, mutmaßte Gabriel im Stillen. Derart kleine Schritte machten sie im Himmel nicht und wären sie wirklich im tatsächlichen Jahr Zweitausend und irgendwas, würde die Welt um sie herum anders aussehen. Viel anders. Denn am zweiten Tag erschuf Gott das Himmelsgewölbe und trennte das Wasser auf der Erde von dem Wasser über der Erde, rezitierte Gabriel die vereinfachte Version der Schöpfungsgeschichte. Nun, sehr vereinfacht. Das hat kaum einen Tag gedauert, es hat ein ganzes Himmlisches Zeitalter gebraucht bis ... Gabriel rieb sich die Stirn. Sein Kopf schmerzte, als wäre er gerade gegen eine Wand gelaufen. Bei dem Versuch sich zu erinnern, an das von dem er wusste, dass es wirklich geschehen war, verschwamm alles. Dabei war es wichtig. Mehr noch, es war essentiell. Für ihn und seine Existenz, für seine ... ... Seele. Es fehlt etwas, erkannte Gabriel. Meine Seele ist ... nicht vollständig. Ein absolut unangenehmer Gedanke, besonders da er sich nicht einmal anders fühlte. Sollte es sich nicht bemerkbar machen, wenn Teile seiner Seele fehlten? Fehlende Erinnerungen waren eigentlich kein typisches Symptom für Seelenlosigkeit. Kaltherziges, ein schon fast vorprogrammiertes Verhalten, offene Gleichgültigkeit und rationales Denken schon eher. Ist das bei mir der Fall, fragte sich Gabriel. Aber schließt die Sorge um meine Seele nicht genau dieses wieder aus? Nein, Sorge um sich selbst war ein Erhaltungstrieb. Eine Seele zu haben bedeutet Mitgefühl empfinden zu können. Nachdenklich fuhr sich Gabriel mit der Zunge über seine Lippen und zog seine Beine an sich heran, sodass sie sich komplett auf dem Sofa befanden, das derzeit so etwas wie eine Insel in der Meer seiner Verwirrung geworden war. Seine rechte Hand ballte er zur Faust und drückte sie frustriert in das zermürbte Leder, während er mit seiner linken Hand durch seine Haare fuhr. Aber als er sie durchkämmte, stellte er fest, dass sie weitaus kürzer waren, als es ihm lieb war. Gabriel nahm eine Haarsträhne zwischen seine Finger und betrachtete sie genauer. Kurz..., schoss es ihm durch den Kopf. Die sind ja verdammt kurz. Das waren sie nicht mehr seit ... Wieder zuckte ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf. Mit einem gequälten Ächzen ließ Gabriel seinen Kopf in die Hände fallen, um sich die Schläfen zu massieren, denn es war ihm als hätte ihm jemand einen Eispickel in das Hirn getrieben, um ihn daran zu hindern sich zu erinnern. Das ist bereits das zweite Mal. Etwas fehlt. Jedes Mal, wenn ich versuche zurück zu greifen und ein Bild heraus zu fischen, das mich weiterbringen würde, schlage ich auf und treffe nichts weiter als harten Fels. Zumindest fühlt sich mein Kopf so an. Schlimmer als der eigentliche Schmerz waren nur die Schuldgefühle darüber, dass er sich nicht erinnerte. Keine Bitterkeit, nur das persönliche Gefühl jämmerlich versagt zu haben und jeder weitere Moment, in dem er nicht wusste, was er vergessen hatte, war ein weitere Tropfen in dem Fass, das irgendwann überlaufen würde. Noch nicht bald, ein wenig Zeit hatte er, aber trödeln durfte er nicht. Das konnte er sich nicht erlauben. Morgen würde er mit der Suche beginnen. Suchend ließ Gabriel seinen Blick durch den Raum schweifen. Sicherlich hatten Menschen doch eine Möglichkeit zu bestimmen, wann der nächste Tag anbrechen würde? Nicht, dass das sonderlich korrekt sein würde, wirklich genau ging dies nur mit der Beobachtung des Nachthimmels, aber der Blick zum Fenster hinaus, zeigte ihm nur fremde Kulissen. Hohe Gebäude, deren Schatten und Lichter, die Sterne bedeckten. Auch der Mond war hinter den dunklen Wolken verschwunden. Ich werde die Nacht hier alleine auf dem Sofa verbringen müssen, erkannte Gabriel. Wenn mir weder der Mond noch die Sterne Gesellschaft leisten. Seltsam, das er sich dadurch verraten fühlte, aber Ablenkung gab es genug. Es lagen genug Zeitschriften und Bücher herum, die er durchwühlen konnte. Denn die Frage nach dem Jahr hatte er immer noch nicht geklärt. Irgendeinen Hinweis wird es hier schon geben, sagte Gabriel zu sich selbst und blickte sich um. Ich muss ihn nur finden. Der Engel nebenan wird schon nichts dagegen haben. Besonders nicht, wenn er die Antworten selbst fand und dadurch keine persönlichen Fragen stellen musste. Zum Beispiel, warum sie sich als Mann ausgibt. Das muss schmerzhaft gewesen sein, sinnierte Gabriel und ließ seine nackten Füße wieder vom Sofa gleiten, damit er besser die Dokumente und Ordner unter dem kleinen Tisch durchwühlen konnte. Wenn ihr Geschlecht nur weiblich ist und dennoch in einem männlichen Körper wohnen muss ... ist das überhaupt gesund? Gerade als Mensch ist sie dadurch doch verletzlich. Besser er würde nicht fragen, nicht sofort. Setsuna war ein verwirrter Junge, der offensichtlich gerade anderes im Kopf hatte und auch wenn er ihn gerettet hatte so waren Gespräche über Geschlechtsorgane sicher nicht die beste Art eine Freundschaft zu beginnen. Wovor hat er mich eigentlich gerettet, forschte Gabriel in seinem Verstand nach. Diesmal erwartete ihn kein Schmerz, aber Antworten fand er dennoch keine. Womöglich war der Schock nach dem Aufprall auf dem Wasser einfach zu groß gewesen, als das er würde klar bestimmen können. Außerdem wäre das als würde man versuchen sich an seine eigene Geburt zu erinnern, dachte Gabriel und zog endlich ein Stück Papier hervor, das vielversprechend aussah. Bisher war er nur auf halbherzige und fehlerhafte Notizen getroffen oder Finanzunterlagen, die ihm auch nichts sagten, aber dieses leicht ausgeblichene Papier sah doch schon besser aus. „31. Juli 2002“, las Gabriel rechts oben in der Ecke. „Offensichtlich ein Datum, auch wenn ich damit nicht viel anfangen kann.“ Zumindest nicht mit der Jahreszahl. Die anderen beiden Teile schon eher, denn Menschen – so erinnerte sich Gabriel – rechneten in Monaten. Nach dem Verlauf des Mondes am Himmel, auch wenn ihm Schleierhaft war wie dann diese Kalenderangabe auf 31 Tage kommen konnte. Eine Mondphase dauerte nur 29 volle Tage, rechnete man von Neumond zu Neumond. Nahm man die Zeit, die er Mond brauchte um seinen Siderastern zu umkreisen, waren es sogar nur 27. Gabriel schüttelte den Kopf und murmelte: „Das bringen nur Menschen fertig. Wie kann man sich denn so irren?“ Menschen ... Gabriel ließ die Zeitung ließen. Was wusste er eigentlich über sie? Eine kleine leise Stimme sagte ihm, dass sie zwar keine schlechte Rasse waren, aber noch relativ jung. Sie waren schon jung gewesen als sie den Turm von Babylon gebaut hatten und wenn er ihre fehlerhafte Kalenderrechnung betrachtete, konnten sie auch jetzt nicht viel älter sein. Ihre kurze Lebensspanne ist dabei keine Entschuldigung, grummelte Gabriel und schlug die Zeitung wieder auf. Mal sehen, ob ihm diese Broschüre etwas Nützliches sagen konnte. Irgendwie mussten sie in dieser Welt überlebt haben. Sein derzeitiger Aufenthaltsort zeigte schon mehr Ähnlichkeiten mit der Himmelwelt als die kleinen Hütten der halbnackten Affen, an welche er sich zumindest erinnern konnte, ohne sofort wieder Kopfschmerzen zu bekommen. Ob sie endlich einen Weg gefunden haben, sich endlich mit Assiah zu arrangieren, fragte sich Gabriel, als er sich zurücklehnte und erneut die Füße hochlegte. Denn gleich wie viel Zeit vergangen war, er bezweifelte, dass Assiah je damit aufhören würde, zu versuchen ihre Kinder umzubringen. Kapitel 7: Taste ---------------- Der Morgen kroch nur langsam heran, doch Gabriel fühlte jede Minute bis zum Sonnenaufgang in seinen Knochen. Von seinem Platz auf dem Sofa aus konnte er durch die Fenster den Nachthimmel beobachten und je weiter die Zeit fortschritt desto mehr klärte sich der Himmel. Die Sterne leuchteten, leider nur schwach, weil das elektrische Licht der Stadt das Meiste von ihrem Glanz verschluckte. Es trieb Gabriel dazu einen unterschwelligen Zorn zu empfinden, der sich in seiner Brust festsetzte. Es war so wenig, was er von hieraus sehen konnte und noch weniger konnte er die Stille ertragen, die ihn umgab. Nicht einmal die Ruhe der Nacht konnte er hier vernehmen lediglich Geräuschlosigkeit, welche hin und wieder von einem Motorengeräusch unterbrochen wurde, wenn draußen ein Auto vorbei fuhr. Gabriel war sich im Klaren darüber, dass er keine weitere Nacht hier verbringen konnte. Es war einengend, lieblos und glich mehr einem Grab als einer Wohnung. Nicht mal als Behausung wagte er dies zu bezeichnen, es war so weit von dem entfernt, was er als angenehm empfand, dass dieses Zimmer noch einmal diesen Titel verdiente. Aus demselben Grund wagte Gabriel es nicht aufzustehen und sich einen anderen Platz als das Sofa zu suchen. Würde er sich erheben, um sich die Füße zu vertreten, brächte es ihn womöglich auf den Gedanken die Tür zu benutzen und nie wieder in diese Wohnung zurück zu kehren. Während Setsunas Anwesenheit hatte er es nicht bemerkt, doch nun war die fehlende Präsenz von Lebenskraft so deutlich wie der verdrehte Sinn von Ergebenheit, der in der Luft hing und Gabriel mehrmals zum Würgen brachte. Sollte ich jetzt vor die Tür oder auf den Balkon treten, würde Setsuna mich nie wieder sehen, erkannte Gabriel. Die absolute Gewissheit, dass dies geschehen würde, sollte er jetzt weichen, hielt Gabriel davon ab vor dieser verschmutzen Atmosphäre zu fliehen, die auch drohte, ihn zu umfassen und ins Verderben zu reißen. Ich muss standhaft bleiben, sagte sich Gabriel. Dieser niedere kranke Geist, der hier in der Luft liegt, kann mir nichts anhaben und sollte ich jetzt gehen, würde ich Setsuna seinem grausamen Schicksal überlassen. Jener bemerkte es sicher nicht, dass hier Kräfte sich zusammen getan und sich gegen ihn verschworen hatten. Dicht hatte sich das unsichtbare Netz aus Schicksalsfäden, um ihn gezogen, sodass Gabriel vermutete, dass sich der Junge dessen noch nicht einmal bewusst war. Das Schlafzimmer hinter dieser Wand links neben ihm wirkte auf Gabriel eher wie der Kokon einer hungrigen Meereskrabbe als dem Nest von zwei Liebenden. Wenn er sich konzentrierte, konnte er die pulsierende abweisende Präsenz spüren, die ihn mit körperlosen Augen anstarrte und ihn zerreißen würde, wenn sie es könnte. Aber nicht mit ihm. Solange dieses Wesen nicht älter war als er selbst, würde es ihn, nichts anhaben können. Überhaupt es gab nur sehr wenige Wesen, die seines Alters waren und noch weniger würden ihn verletzten wollen. Es gibt eigentlich sowieso nur einen, der dies im Sinn hat. Dies war eine Gewissheit, die nicht weichen wollte. Gabriel war sich dessen so sicher, wie dem Vertrauen, dass hinter der trüben Nacht und dem elektrischen Licht ein Meer von Sternen wartete. Schließlich war es eben genau dieser Einblick in seine eigene zerrüttete Gefühlswelt, die ihn soweit beruhigte, dass er sich zurücklehnen und für eine Weile die Augen schließen konnte. Der Gedanke an Schmerz erschreckte Gabriel nicht, wenn auch jenes Wesen, das ihn verletzen wollte und an dessen Namen er sich nicht entsann, ihm mehr Leid zufügen zu gedachte, als er zu ertragen in der Lage war. Dessen ungeachtet blieben die Furcht vor Wesen ohne Namen und der halb erwartete Fluchtinstinkt aus. Das größere Übel blieb für Gabriel das Gefühl nicht atmen und klar denken zu können, solange er hier in dieser Wohnung gastierte. Weit schlimmer als jeder Schmerz, der ihn draußen in der Welt erwarten konnte, war der Geschmack von Fäulnis der auf seiner Zunge zerrann und ein Zerrbild von Entsetzen in sein Gedächtnis brannte. Gabriel bekam den Eindruck, als sich am Horizont der Himmel rot zu verfärben begann, dass selbst der brennende Boden aus Magma von Sheol ein angenehmerer Ort wäre als dieses Wohnzimmer. - Der durchdringende Ton des Weckers zerrte unerbittlich Setsuna aus dem Schlaf. Sein Kopf war schwer und seine Augen ließen sich kaum öffnen, aber ein Rascheln am Fenster und das Geräusch von Vorhängen, deutete ihm, dass Sarah bereits aufgestanden war. Durch einen winzigen Spalt seiner Augenlider sah Setsuna wie sie ihren Tag mit dem ihm wohlbekannten resoluten unnachgiebigen Verhalten begann. Sie würde ihn aus dem Bett prügeln, wenn sie es für richtig hielt, nur das ihre Mimik heute darauf schließen ließ, dass sie in keiner guten Stimmung war. Die verspannten Mundwinkel brachten Setsuna dazu sich widerwillig aufzurichten und die Bettdecke beiseite zu schlagen. „Morgen“, murmelte er noch im Halbschlaf zu seiner Schwester. Sarah nickte knapp, keiner von ihnen war Frühaufsteher und die Morgenstunden verbrachten sie häufig mit gemeinsamem Schweigen. Weder Sarah noch er selbst schienen viel Energie aufbringen zu können, während der Morgennebel die Sonne bedeckte oder es so kalt war, das man lediglich ihr Licht sehen, aber nicht ihre Wärme auf der Haut spüren konnte. „Ich gehe jetzt duschen“, kündigte Setsuna seiner Schwester an und zog sich das Tshirt über den Kopf, das er des Nachts zum Schlafen getragen hatte. Das strömende Wasser auf seiner Haut würde ihn aufwecken und den ganzen Dreck fortspülen, der wie eine nicht sichtbare Schicht aus Staub an ihm zu kleben schien. „Tu das“, antwortete Sarah. „Ich werde Frühstück machen. Oder es zumindest versuchen, nachdem du die Einkäufe auf dem Balkon hast liegen lassen.“ Mit einem Nicken stimmte Setsuna seiner Schwester zu. Sie hatte sich der Aufgabe angenommen sich um den Haushalt zu kümmern, wenn gleich auch es ihm vorkam, dass es ihr mehr um die Ordnung und die Kontrolle ging, die sie dadurch gewann, als dem wirklichen Pflichtgefühl dafür verantwortlich zu sein. Den Seitenhieb, den sie ihm eben verpasst hatte, akzeptierte er mit der gleichen Fassung. Auch wenn er den Tonfall für überflüssig empfand, so war es Setsuna wichtiger, dass Sarah ihre angespannte Haltung verlor. Jene sie anscheinend nicht in der Lage war aufzugeben, die sich als feine Linien in ihren Schultermuskeln präsentieren und nicht weichen wollten, seit Sarah sich jener einen schicksalhaften Stunde dazu entschieden hatte ihre Freiheit für ein kleines Engelsmädchen aufzugeben. Während Setsuna die Schlafzimmertür öffnete, hatte er den schäbigen Gedanken, dass das Mädchen Sarahs Opfer wohl kaum zu schätzen wusste. Nichts davon konnte sie zurückgeben und seiner Schwester die Angst in ihren Augen nehmen auch nicht. Seine Schwester hatte etwas gesehen, dass sie nicht vergessen konnte, etwas erfahren, dass sie nicht zur Ruhe kommen ließ und das sie davon abhielt ihn um Hilfe zu bitten. Sie vertraut mir nicht. Eine Einsicht, die er noch nie so formuliert hatte, aber die ihm auch keineswegs fremd war. Obgleich er sich an den Zustand, den dieser Fakt hervorgebracht hatte, gewöhnt hatte, behelligte das seine eigentliche Beziehung mit Sarah weniger. Ähnlich wie bei ihrer unterschiedlichen Liebe zueinander vor dem Beginn der Ereignisse, würde dies ihn auch nicht daran hindern für seine kleine Schwester verantwortlich zu sein. Weniger die Erkenntnis als die Klarheit seines Gedanken war es, die ihn wie eine Meereswelle überrollte. Das von zu viel Licht durchflutete Badezimmer ließ ihn kurzzeitig wanken und an die Holztür lehnen, weil seine zittrigen Beine ihn kaum tragen wollten. Sein nächster Atemzug war so rein und befreit, dass er drohte ihm Tränen der Erleichterung in die Augen zu treiben. Sein Kopf schwamm auf Grund der herrlichen Kälte, die über ihn hinweg strömte, als er in die Dusche stolperte und blind den Wasserhahn aufdrehte. Setsuna begrüßte das eiskalte Wasser, das über sein Haupt und seine Haut rann, denn trotz dessen das er fror und schauderte, schrie etwas in ihm vor Wonne. Seine Haut drohte weiß und blau zu werden vor Kälte, die ihm mehr an einen klaren Gebirgsbach erinnerte als seine heruntergekommene Dusche in einem winzigen Badezimmer einer Plattenbauwohnung, doch Setsuna wollte nicht weiter nach dem Ursprung dieser Reinheit fragen, die sich über ihn ergoss. Etwas Altes streckte verzweifelt seine Arme nach dem Gefühl aus, von dem selbst Setsuna nicht wollte, dass es endete. Voller Wonne legte er den Kopf in den Nacken und ließ sich weiter von dem dünnen Duschstrahl berieseln, der in seinen Gedanken aber ein gewaltiger Wasserfall war und all Sorgen und Bedenken fortspülte. In seiner Seligkeit bemerkte Setsuna nicht wie der Duschstrahl einen kaum sichtbaren Schatten von ihm abwusch. Schriftzeichen aus Enoch, deren Anordnung an eine fesselnde Kette erinnerte, wurden den Abfluss hinunter gespült, um nie wieder gesehen zu werden. Frei, schrie Setsuna seinen Gedanken. Ich habe mich noch nie so frei gefühlt. Niemals würde er zugeben, dass in dem Wasser sich wirklich Tränen der Erleichterung fanden. Aber er hätte auch nicht bestimmen können, was das Gefühl der Befreiung ausgelöst hatte. Nur unbewusst, tief in dem Inneren von Setsunas Seele entwich dem Organischen Engel Alexiel ein Stoßseufzer, als eine Last von ihr genommen wurde, das Teil ihres Jahrtausend altes Gefängnisses gewesen war und ihr nun erlaubte selbständig zu atmen. Sie ebenfalls konnte nur den einen Gedanken fassen, als reines klares Wasser auf sie herab strömte. Frei, schrie sie mit ihren Gedanken, weil man ihr ihre Stimme geraubt hatte, die prophetischen Worte, Ich werde wieder frei sein. - Sarah sah Setsuna abwartend hinterher, als er sich noch durch Schlaf und Träume verwirrt zur Badezimmertür kämpfte. Er schwankte ein wenig, als gälte sein Blick nicht der Realität, aber derzeit kümmerte sie das wenig. Sie strich ihre Schuluniform glatt und wartete bis zu dem Moment, wo sich die Holztür mit einem Klacken schloss und bald darauf das Wasser zu rauschen begann. Mit einem festen Schritt stürmte Sarah nahezu aus dem Schlafzimmer, das Herz in ihrer Brust zu einer Faust geballt, ihre Haare streng zurückgenommen und mit einem eiskalten Blick, der ihre Entschlossenheit widerspiegelte. Die komplette Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden und sich unter der Decke gewälzt, weil Alpträume sie plagten und Bilder sie verfolgten. Sie brauchte nicht einmal Sandalphons Anwesenheit, um zu wissen, dass dies zum Teil sein Werk war. Er zerrte die Grenzen herunter, deren Abwesenheit man sonst nur in wilden Träumen fand und hinterließ lediglich die nackte Wand zwischen ihr und ... dem Engel. Je weiter die Nacht voranschritt, desto klarer wurde ihr, dass sie diesen Zustand nicht lange würde ertragen können. So früh wie möglich würde sie dem Eindringling sagen, dass er unerwünscht war. Sie hatte einen Anspruch auf Sicherheit und sie konnte Sandalphon nicht erlauben die Anwesenheit des Fremden dazu zu Nutzen, um mit diesem Anspruch herumzuspielen. Das duldete sie einfach nicht. Resolut und gefasst trat Sarah über die Schwelle zum Wohnzimmer, als würde sie vor einer gesamten Nation eine Kriegserklärung verkünden wollen und nicht einmal der Anblick des Fremden, der sie gestern noch aus der Fassung gebracht und in die Flucht getrieben hatte, konnte sie jetzt in Zweifel geraten lassen. Auf ihrer Haut füllte sie wie Wellen wütend aufeinander einschlugen, das Treffen von zwei Gewalten, die beide wussten, dass einer den anderen verschlingen würde. Sie blickte dem Fremden, der zwar erwartungsvoll aufgestanden war, aber weder Angst noch Anspannung zeigte, direkt ins Gesicht und verkündete: „Ich will das du gehst.“ Es platzte aus ihr heraus wie der barsche Befehl eines Oberkommandanten einer Armee, aber die Autorität prallte an dem fremden Engel mit dem unnatürlich ruhigen Blick ab, wie eine schäumende Welle an einem Eisberg. Etwas brach in sich zusammen und ihr Plan, den Fremden einfach zur Tür hinaus zu befehligen, die erste Berührung mit dem Feind nicht zu überleben drohte. Dafür stand der Herausforderer noch zu sicher und zu unberührt da. Rage stieg in Sarah hoch. Setsuna gehört mir, donnerte sie dem Fremden entgegen, der in ihr Leben geplatzt war, als würde ihn jegliches Recht und jeglicher Anspruch auf bestehende Verhältnisse nicht im Geringsten kümmern. Die Arroganz, die dahinter lag und zu der nur noch ein von oben herab geworfenes, verächtliches Lächeln fehlte, trieb sie fast in den Wahnsinn. Dieser Mann würde ihr Setsuna nicht wegnehmen, denn daraus würde es hinauslaufen, würde sie den Fremden nur einen Moment länger dulden. Daher würde sie einen Weg finden ihn loszuwerden, ganz gleich was Sandalphon halten würde. Nicht damit rechnete sie jedoch, dass der Fremde bereitwillig einwilligen würde. „Einverstanden“, sprach er und seine Stimme hallte mit einem Klang in dem engen Wohnzimmer wider, der Sarah daran erinnerte wie der Minister ihre Anklage vor Gericht begonnen hatte. Sie räusperte sich, um sicher zu gehen, dass es diesmal nichts gab, was sie am Sprechen hinderte. „Du wirst gehen und nie wieder kommen“, bestimmte Sarah und wagte es nicht dies als Frage zu stellen. Sie durfte weder wanken noch Unsicherheit zeigen, trotz dessen das sie am liebsten auf die Knie gesunken wäre. „Ich werde gehen und nie wieder kommen“, wiederholte der Fremde – Gabriel – ihre Worte. Es überraschte sie, dass er eine Hand auf sein Herz legte und sich leicht verneigte, aber wenn dies sein Versprechen gültig machte, dann sollte sie diese Geste der Unterwerfung akzeptieren. „Geh“, sprach Sarah so fest es ihr möglich war, ohne das leichte Zittern, dass sie erfasst hatte, sich anmerken zu lassen. „Sofort!“ Der Engel Gabriel verneigte sich noch einmal, ehe er an ihr vorbei und zur Wohnungstür hinaus schritt. Keines Blickes würdigte er sie, als sie einander passierten und er ohne Umschweife ging und nicht einmal um ein paar Schuhe für seine nackten Füße bat. Aber etwas schwoll in Sarah zu einer bedrohlichen Größe heran, als nur wenige Zentimeter sie für einen Moment trennten und sie bebte am gesamten Körper bis die Wohnungstür mit einem Klacken wieder ins Schloss fiel. Für eine friedvolle Sekunde wusste Sarah, dass es endlich vorbei war und sie verdammt noch mal gewonnen hatte. Doch bevor sie sich über die neuen und wiederhergestellten alten Umstände freuen konnte, hörte sie wie Setsuna im Badezimmer das Wasser abdrehte. Mit dem fehlenden Hintergrundgeräusch brach tatsächlich etwas in Sarah zusammen und sie sank erblasst auf den Boden des Wohnzimmerteppichs. Weder sah noch hörte sie ihn, aber Sarah vernahm deutlich Sandalphons Stimme in ihrem Geist, dies vielleicht die einzige Schlacht bleiben würde, die sie in diesem Krieg je gewann. Kapitel 8: Sight ---------------- Dieses Kapitel ist noch nicht Beta gelesen. Er bewegte sich wie eine Kreatur aus der Urzeit, als das Leben auf der Erde sich gerade erst zu höheren Lebensformen entwickelte, über den Grund des Meeres. Auf der Suche nach Nahrung und nach ein wenig Ungestörtheit behelligte er niemanden und nur wenige Lebewesen, die sich hier unten befanden, hatten je etwas anderes als die allumfassende Dunkelheit gesehen. Er schon, aber es befand sich kaum etwas an der Oberfläche für das es sich lohnte die angenehme Formlosigkeit aufzugeben und in einer körperlichen Gestalt herum zu schreiten. Leider jedoch waren die Tage hier unten ebenfalls nicht schön, sondern einsam und leer. Vor langer, langer Zeit hatte es eine Weggefährtin gegeben, die seine Nachkommen zur Welt brachte und welche sich in dem einzigen Meer ausbreiteten, dass es zu dieser Zeit gab. Gram, frisch wie am ersten Tag, überflutete ihn, das sich am Grund des Meeres entlang zog. Der Wunsch nach Rache war nun fort, verloren in Verrat, Schamgefühl und Schrecklichkeit, denn deren Erfüllung hatte es weiterhin einsam bleiben lassen. Wäre es möglich, würde er sich tief im Grund des Meeres eingraben und vergessen, dass die neue Freiheit, die der Fürst verkündet hatte, weder die Einsamkeit noch das Leid oder die Reue schmälerte. Erst eine jähe Druckwelle, die sich durch alle sieben Weltmeere durchzog und die Lebewesen darin aufschreckte, riss die alte Seeschlange aus ihrer Depression. Wachsam und aufmerksam hörte sie und vernahm mit gemischten Gefühlen, was Wale in der Tiefe des Meeres auf der anderen Seite der Welt vor Freude sangen. Gabriel... sangen sie mit einer Euphorie, die für einen kurzen Moment den Glanz einer alten verlorenen Zeit zurück brachte. Das Wort hallte es in den Weltmeeren wieder und gleich darauf erbebte die Erde auf dem Grund des Meeres noch einmal, als sich die Seeschlange erhob und die Verfolgung aufnahm und zum ersten Mal seit Jahrhunderten hatte die Menschheit wieder einen Grund das Meer zu fürchten. Es würden zwei Erzfeinde aufeinander treffen. - Ein alter Fischer saß am Kai und blickte misstrauisch auf das Meer hinaus, während sein Sohn am Boot die Taue überprüfte. Der Alte paffte an seiner Pfeife und studierte den Horizont mit seinen halb blinden Augen. Als sein Sohn die Planke hinunter lief, um ein weiteres Bündel Seil aus dem Schuppen zu holen, packte der alte Fischer seinen Sohn am Hosenbein und hielt ihn eisern fest. „Du wirst heute nicht hinaus fahren“, sagte der Alte bestimmt zu seinem Sohn. Jener sah seinen Vater an, dessen Hand leicht zitterte, wohl aber nicht wegen der Gicht, die ihn plagte. Stattdessen folgte der Sohn dem Blick seines Vaters, der sich weigerte das Meer aus den Augen zu lassen. Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben und der Sohn konnte sich an nur eine handvoll Male erinnern, an denen sein Vater derartig entsetzt ausgesehen hatte. „Vater?“, fragte der Sohn und studierte das Meer ebenfalls, „Warum nicht? Ich gebe zu, dass es ein wenig trügerisch aussieht, aber es gibt keine Anzeichen dafür sich ernsthaft Sorgen zu machen.“ „Mein Junge“, sagte der Vater und hustete leicht, „Ich habe erst einmal in meinem Leben ein derartiges Gefühl gehabt und ich bin mein ganzes Leben lang zur See gefahren, also tu mir bitte den Gefallen und bleibe heute mit dem Boot im Hafen.“ Der Sohn zögerte kurz, setzte sich dann aber zu seinem Vater auf die Holzbank vor dem Schuppen. Alles was er über die Seefahrt wusste, hatte er von ihm gelernt und nie hatte gesehen, dass der Instinkt seinen Vater im Stich gelassen hätte. „Wann Vater?“, fragte der Sohn und griff vorsichtig nach der noch immer zitternden Hand, „Wann war das Wetter das letzte Mal so trügerisch?“ „Im Krieg“, wisperte der Alte. „An dem Nachmittag auf See bevor die Amerikaner unser Schiff abschossen und wir nachts beim schlimmsten Sturm aller Zeiten im eisigen Wasser überleben mussten. Damals war genau so ein Wetter und ich wünsche niemandem jetzt dort draußen zu sein.“ Der Sohn wog die Worte seines Vaters ab und entschied sich, dass ein Tag an Land seinem Geschäft nicht schaden würde. Andere hätten seinen Vater für verrückt erklärt, aber wer zur See fuhr, wusste dass das Wasser trügerisch war. Das Meer konnte sehr zornig werden und man sollte es nicht herausfordern. Bisher hatte es noch jeden Kampf gewonnen, den alle Seefahrer mit ihm austragen mussten. ‚Das Meer ist dunkel und tief’, erinnerte sich der Sohn wie sein Vater es einst ihm und vor kurzem dann seinem Enkel beigebracht hatte. ‚Ganz gleich wie sehr es in der Sonne glänzen mag, das Meer ist dunkel und tief.’ Also blieb das Boot angetaut im Hafen und als am Nachmittag Sturmwolken aufzogen, war der Sohn froh, dass er auf die Instinkte seines Vaters gehört hatte. - Es war einfach der Spur zu folgen, trotz dessen dass er sich auf der anderen Seite des Erdballs befand. Die Bewohner des Meeres waren immer noch in Aufruhr, wenn auch gleich die wenigsten wussten wieso. Einfache Tiere schwammen verwirrt in Kreis, weil die Präsenz ihre Sinne verwirrten, Meerespflanzen versuchten ihre Blätter nach etwas auszustrecken, dass sie nie würden ergreifen könnten und andere Kreaturen, welche sonst furchtlos und bösartig galten, weil sie das Meer unsicher machten, verkrochen sich in den Wracks gesunkener Schiffe. Während die Seeschlange auf den Strömungen des Meeres ritt, um zu dem Ursprung zu gelangen, bemerkte er das offenkundige Bangen, das die meisten Bewohner des Meeres nun erlebten. Furcht, Angst und Verzweiflung, weil die Präsenz in jedem noch so kleinen Winkel allgegenwärtig war. Nur wenige Kreaturen konnten sie benennen, aber keine von ihnen rührte sich von ihrem Wohnort weg. Unter dem ewigen Eis der Pole lebten ein paar Geschöpfe, die Gabriel erkannten hatten und ihm leise antworteten, ganz gleich dass der Geist bisher noch kein Wort gesagt hatte. Der Wasserdrache nahm nicht an, dass er der Grund dafür war. Das Wort war nicht an ihm gerichtet, an niemanden in den Meeren, aber das Zugegensein eines jemanden, der schon seit langer Zeit als verlorengegangen galt, verstörte. Er selbst war als Archon das mächtigste Wesen im Wasser, wenn gleich auch vielleicht nicht das Älteste, aber es war nicht seine Pflicht als momentaner Herrscher des Meeres, die ihn dazu trieb nachzusehen, was genau die Ordnung durcheinander gebracht hatte. Nein, es war die alte Fehde, die er mit Gabriel gehabt hatte, welche ihn schneller schwimmen ließ, weil er mit sich mit seinen eigenen Sinnen davon überzeugen musste, ob es bloß eine Erscheinung war, die jetzt seine Gedanken plagte. Oder ob er wirklich den feinen, aber deutlichen und nicht zu verwechselnden Geschmack von Fruchtwasser auf der Zunge hatte. Schließlich tauchte Licht in der Ferne auf, eigentümlich so tief unten im Meer und zu rein, als das es natürlichen Ursprungs sein konnte. Die Seeschlange stoppte und begann langsam Kreise um die Kugel aus Licht zu ziehen. Er kannte die Präsenz, der Name Gabriel hämmerte nun unaufhörlich durch seinen Kopf und er wurde trotz seiner finsteren Gefühle diesbezüglich davon anzogen. Es war schließlich seine eigene Vergangenheit, seine größte Sünde und der Grund, warum er als einer der Sieben Satane im großen Buch des Höllenfürsten eingetragen war. Unter ihm bebten die Vulkane, die Asche und Mineralien in das von ihnen erhitzte Wasser stießen, um neues Land zu formen, gewaltiger als je zuvor. Ein Seebeben ging von dem Punkt aus, wo die Gestalt aus Licht in der Blase aus reinstem Wasser lag und der Wasserdrache wurde gezwungen auf der Stelle zu verharren, als dicke mächtige Wellen ihn wegzudrücken versuchten und er nur durch äußerte Anstrengung verhindern konnte, nicht fortgespült zu werden. Denn trotz dessen, dass er ein Satan war, hier unten wo zwei Elemente aufeinander trafen und ihrem ewigen Kampf das dritte erschufen, konnte er nichts entgegensetzten. Sein gesamter Körper wurde von der Erkenntnis erschüttert, als die zwei Gewalten ihn zu packen und zu zerreißen drohten, weil kein Wille dahinter lag, der diese Mächte lenkte. Das schimmernde Wesen in der Luftblase vor ihm schien zu schlafen und das Feuer unter ihren Füßen schien lediglich zu reagieren. „Gabriel“, entfuhr es dem Wasserdrachen, welcher unter den seinigen weitläufig als Leviathan bekannt war. „Lord Gabriel!“ - Gabriel ... Der Ruf seines Namens. Jemand rief seinen Namen. Lord Gabriel! Es war wie ein Funke, der seinen schlafenden Willen endlich erwachen ließ. Diese Phrase, dieser Titel, der so tief in seinem Bewusstsein verankert war, weil es die Anrufung einer höheren Macht in Not beinhaltete und jedes lebendige Wesen nicht ohne ihn existieren konnte, beendete seine Apathie und öffnete ihm die Augen. Ruf ... rufen ... jemand ruft mich, registrierte er. Da waren noch andere Stimmen in seinem Kopf, aber vorrangig und zuerst erklang die Stimme eines Wesens in seinem Ohr, dass er kannte und dass ihm sehr nah war. Der Engel des Wassers stieg aus der Vergessenheit empor und richtete seinen Blick auf die Seeschlange vor ihm. Nein, war sein erster Gedanke, als zwei Augenpaare sich begegneten, Es ist nicht die Seeschlange, sondern der Drache. Der Drache aus der Hölle, der ihn verraten hatte. Unter ihnen explodierte der Vulkan mit neuer Kraft, stieß Asche und brennendes Wasser ins Meer, das so heiß war, dass es jegliches irdisches Leben im Umkreis von ein paar Meilen auslöschte. Die zwei alten Wesen, der Engel und der Drache jedoch begannen ihre Hetzjagd. - Der Hahn quietschte, als Setsuna das Wasser wieder abdrehte. Erleichtert von dem Dreck, den er auf seiner Haut gespürt hatte, seit er gestern Abend durch den Regen geflogen war. Nun konnte er wieder freier Atmen und seine Lebensgeister waren so erfrischt, dass ihn selbst der Gedanke an die stickige Arbeit in der dampfenden Küche des Imbisses nicht störte. Gestern hatte seinen Boss noch mit dem inneren Schwur verlassen ihn zu verfluchen, doch eigentlich konnte der Sushi Chef nichts dafür, dass sein Küchenjunge so lernunwillig war. Setsuna war sich bewusst, dass er nicht ewig dort arbeiten würde, aber das Geld hatten seine Schwester und er nun einmal bitter nötig. Während er sich abtrocknete und ins Schlafzimmer lief, um sich anzuziehen, hörte er wie Sarah in der Küche mit dem Geschirr klapperte. Das Frühstück war hin und wieder ihre einzige ruhige Zeit zusammen, da Setsuna länger arbeiten musste als es ihm eigentlich lieb war. Sarahs Unterricht in der Schule reichte nur bis in den Nachmittag hinein und er fühlte sich unwohl dabei sie zulange alleine zu lassen. Noch immer verfolgten ihn Alpträume in denen er Sarah sterben sah, hilflos etwas dagegen zu tun und jedes Mal wachte er auf, wenn ihr Blut durch seine Hände in dem schwarzen Boden der Erde versickerte. Das Gefühl des Verlustes erwürgte ihn jedes Mal fast und selten brachte Setsuna ein Wort heraus, wenn er aus dem Schlaf aufschreckte. Er ließ seinen Blick durch die Küche schweifen und wollte Sarah beim Decken des Küchentischs helfen, als er die zwei Teller darauf sah. „Wo ist Gabriel?“, fragte Setsuna und die Frage brachte die Geschehnisse des gestrigen Tages zurück, die ihm bis eben entglitten waren. Irgendwie bezweifelte Setsuna sogar, dass er ihn an dem Bild der alltäglichen Normalität etwas aufgefallen wäre, hätte ihn nicht das Fehlen des dritten Tellers gestört. Sicherlich würde Gabriel mit ihnen essen, es erschien Setsuna falsch wäre dem nicht so. Obwohl sie sich erst am vergangenen Tag begegnet waren, Setsuna wünschte sich Gabriels Anwesenheit. Nahezu panisch durchsuchte er die Küche nach ihm und blickte nach draußen durch das Fenstern auf den Balkon. Als er auch das Wohnzimmer leer fand, wiederholte Setsuna seine Frage. „Wo ist Gabriel?“ Es lag so viel Dringlichkeit und Sorge in seinen Gedanken, dass er Sarahs Lippenschürzen nicht bemerkte. „Fort“, antwortete sie als sie die Butter auf den Tisch stellte. „Komm und iss endlich.“ „Fort...“, echote Setsuna leise. „Aber warum? Wir haben doch gestern erst ... hat er einen Grund genannt? Wo ist er hin?“ Sarah durchbohrte ihn mit ihrem Blick, aber Setsuna wurde von denselben intensiven Gefühlen verfolgt, die ihn jedes Mal geplagt hatten, wenn er auf jemanden getroffen war, der Alexiels Vergangenheit angehört hatte. Allerdings stiegen dieses Mal keine Bilder ins seinem Geist auf, nur Alexiels ebenso bange Sehnsucht dem Engel, den sie beide gestern zum ersten Mal begegnet waren, sofort zu verfolgen. „Er ist zur Tür hinaus“, meinte Sarah bissig, aber Setsuna bemerkte ihre Laune kaum. Seine Gedanken wurden von dem Verlangen geplagt, dass er wissen musste, wo Gabriel war. Nicht nur er, sondern auch Alexiel, die ihn dazu drängte sich zu beeilen. Hastig und gedanklich abwesend schlüpfte Setsuna in seine Schuhe, ehe er aus der Wohnung hinaus ins Treppenhaus stürzte. Die Frage, warum Sarah Gabriel nicht aufgehalten hatte, kam ihm nicht, als er mehrere Stufen auf einmal nahm und einem Nachbarn auswich. Auch die Vorstellung, dass Gabriel ihn vielleicht absichtlich zurückgelassen haben könnte, wurde ihm nicht bewusst. Alles, was Setsuna einzig und allein wichtig war, als er mit nassen Haaren auf dem Bürgersteig in der frühen Morgensonne stand, war der treibende und fast unerträgliche Wille Gabriel zu finden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)