Visible or Invisible von Hopey ================================================================================ Prolog: a year ago... --------------------- Der Frühling kündigte sich an. Krokusse erblühten und Tiere erwachten aus der Winterruhe oder gar dem Winterschlaf. Die Sonne lachte auf, als der Morgentau an den Grashalmen zu erblicken war. Anfangs war es kühl, doch die Sonne wärmte einen im Laufe des Tages auf. Am Vormittag war es endlich soweit, das Vortanzen, auf das sie so lange gewartet, hingefiebert und wofür sie so viel trainiert hatte. Es war ihre Chance, dem goldenen Käfig der Familie zu entkommen. Freilich hatte ihr Vater die Erwartung gehabt, dass sie auf die Konoha Universität ginge, wo sie derselben Fakultät beitreten sollte wie er einst. Jedoch wollte sie das nicht. Sie hatte ihren Traum bereits, seit sie ein kleines Mädchen war. So viele Stunden hatte sie jede Woche trainiert – und es hatte ihr Spaß gemacht. Im Unterricht hatte sie sich frei gefühlt, frei wie ein Vogel. Auf der Mittel- und Oberschule wollte ihr Vater, dass sie sich vermehrt auf das Studium vorbereitete, um seine Nachfolge antreten zu können. Sie hatte viele Bankette und Dinner erdulden und in den Ferien hatte es sogar Tage gegeben, wo sie ihren Vater zur Arbeit begleiten hatte, ihm zuschauen und lernen sollte. Andere Tage verbrachte sie mit Unterricht. Es wurden gutes Benehmen, traditionelle Teezeremonien, Ikebana und vieles andere, was als wichtig für junge Frauen aus reichem und hoch angesehenen Haus galt, gelehrt. Die junge Frau dachte nicht länger an ihre Familie und schüttelte den Kopf, um sich von all den Gedanken zu befreien und tief durchzuatmen. Nervös durfte sie auf keinen Fall werden. Abermals ging sie alle Schritte in ihrem Kopf durch, das gesamte Repertoire, das sie nutzen würde. Sie tat alles, um ihren Vater glücklich zu machen, damit er sie akzeptierte und anerkannte, doch war es ihm nie genug gewesen. Ballett durfte sie auch nur tanzen, solange sie ihre anderen Pflichten nicht vernachlässigte. Erneut atmete sie tief ein und aus, nur um anschließend nach vorne zu schauen, wo Misaki gerade von der Bühne ging, nur um kurz darauf ihren Namen zu hören, der aufgerufen wurde. Nervös ging sie nach vorne. Sie hasste diese Aufmerksamkeit – im Mittelpunkt zu stehen – aber es war ihr Traum, denn sie hier verfolgte. Es war ihre Chance, sich endlich zu befreien. Unsicher fing sie an ihren Tutu zu kneten, während die fünfköpfige Jury, die über sie urteilen würde, dasaß, sich etwas notierte und schließlich aufblickte. Sie warteten darauf, dass die Junge Frau sich vorstellen würde. „Ich... Ich bin Hyuuga... Hyuuga Hinata“, fing Hinata an und senkte leicht den Blick. Dabei wollte sie doch einen guten Eindruck hinterlassen und nicht gleich wieder anfangen zu stottern, was ihr mehr als nur unangenehm wurde. Sie wollte es schaffen auf der Maryland School of Arts aufgenommen zu werden, auch wenn diese in den Vereinigten Staaten lag, und heute waren drei Talentsucher der besagten Schule als Jury-Mitglieder anwesend. Die anderen beiden gehörten zu der Abteilung für Tanz der Konoha Universität. Die beiden Schulen pflegten eine Partnerschaft. Es gab viele Bewerber und einige wurden heute sogar zum Vortanzen eingeladen – so wie auch Hinata. Das war sie also, ihre Chance. „Fangen Sie bitte an, Hyuuga-san“, kam es von der Professorin für Ballett von der Konoha Universität in einem kühlen, strengen Tonfall. „J-Ja“, schoss es aus Hinata heraus, als sie sich verbeugte und sich anschließend in Pose brachte. Nach dem Vortanzen ging sie zurück hinter die Bühne und auf dem schnellsten Weg aus dem Gebäude. Sie wollte alleine sein und ihre Ruhe haben, um ihre Gedanken zu sortieren und das zu verarbeiten, was man ihr soeben gesagt hatte. Das herannahende Gewitter bekam Hinata wie durch Watte mit. Ein Platzregen durchnässte ihre Kleidung. Erst als diese unangenehm zu kleben begann, bemerkte sie die seltsame Wärme auf ihren Wangen. Feine, salzige Tränenflüssigkeit benetzte Hinatas Haut und vermischte sich mit dem stätig prasselnden Regentropfen. Auf einer Brücke blieb Hinata stehen und legte eine Hand auf ihren Mund, um das aufkommende Schluchzen zu unterdrücken. Ihr Körper zitterte. Hinata spürte kaum die Kälte, die sie umfing, und die durchweichte Kleidung, die sich unangenehm an ihre Haut schmiegte. All das realisierte sie erst komplett, als kein Regen mehr auf sie herabfiel. „Willst du dich erkälten?“, ertönte eine tiefe, ihr vertraute Stimme. „Nii-san“, wisperte Hinata mit zitternder Stimme. Er schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmte, weswegen Neji Hinata wortlos in seine Arme zog und ihr beruhigend über den Rücken strich. Er zwang sie nicht dazu, zu reden, blieb einfach bei ihr und hielt Hinata fest, während sie sich an ihn klammerte wie an einen Rettungsring. „Ich... ich... wurde abgelehnt“, brachte Hinata mit brüchiger Stimme heraus. Neji verstand sofort und zögerte nicht, als er den Regenschirm losließ und sie noch fester an sich zog, um ihr Trost zu spenden. Beide wussten, dass Ballett Hinatas einzige Chance gewesen war, dem zu entkommen, was ihre Familie von ihr verlangte. In einem Jahr würde Hinata ihr erstes Semester antreten. Aber sie würde nicht das studieren können, was sie wollte, sondern müsste das tun, was ihr Vater für sie auserwählt hatte. Ihre einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, würde damit verjähren, dass sie dieses Vortanzen nicht geschafft hatte. Tagtägliches, stundenlanges Tanzen, teilweise bis tief in die Nacht, hatte nichts gebracht. „Hinata“, fing Neji an und schob Hinata etwas von sich. Ihr Cousin sah sie eindringlich an. „Was ist passiert?“, fragte er schließlich. „Ich war gut...“, sagte Hinata, ohne zu zögern oder stottern. In der Familie hatte sie damit nie Probleme gehabt – auch wenn sie ihrem Vater nie widersprechen könnte. Stutzig und verwirrt hob er eine Augenbraue und sie konnte nachvollziehen, dass er beim besten Willen nicht verstehen konnte, warum Hinata nicht angenommen wurde, wenn sie doch gut war. Bevor er ihr eine Frage dazu stellen konnte, sprach sie auch schon weiter, nachdem sie sich kurz gesammelte hatte: „Sie sagten, ich sei zwar sehr gut, aber man sehe trotzdem keine Chance, um mich aufzunehmen und zu einer Profiballerina auszubilden, da die ideale Ballerina den Körper eines zähen Strohhalmes und das Gesicht einer Elfe hat.“ Während sie ihm das leise erzählte, senkte Hinata betrübt ihren Kopf. Wie von selbst fragte sie sich, ob sie so hässlich war. War das der Grund, warum sie bisher mit Männern keine Erfahrungen – weder allgemein, noch auf sexueller Ebene – sammeln könnte? „Hör doch nicht auf diese dumme Schnepfen und Böcke, du siehst wunderschön aus, Hinata-san“, sagte Neji eindringlich und schüttelte Hinata leicht, als wollte er sie davon abhalten, weiter darüber nachzudenken. „Mag sein, aber ich habe keinen androgynen Körperbau, denn professionelle Ballerinen haben sollten... Ich soll vom Figurentyp eher einem X ähneln... Also so etwas wie eine Sanduhr und das liegt wohl auch an meiner üppigen Brust... vielleicht auch meiner viel zu weiblichen Figur... Ach keine Ahnung,“, murmelte Hinata. „Ich soll nicht das richtige Erscheinungsbild haben für eine Ballerina. Ich entspreche nicht dem Ideal.“ Zum Satzende hin wurde Hinata immer leiser und ihre Stimme immer schwacher und kraftloser. Sie spürte, wie etwas in ihr in Tausende kleine Stücke zerbrach und sich ein Scherbenhaufen zu ihren Füßen bildete, der Hinata gefangen hielt. War sie etwa so naiv gewesen? Hatte sie wirklich geglaubt, sie könnte was verändern? Sie könnte raus aus der Welt ihres Vaters und ihn trotzdem Stolz machen, damit er sie endlich anerkannte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)