Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 47: Das bemalte Holzschwert ----------------------------------- Oscar erwachte aus ihrem Schlaf und musste feststellen, dass Andre schon fort war. Obwohl es noch dunkel in ihrem Zimmer war, spürte sie trotzdem die Veränderung. Es war normal, dass Andre sie nach ihrer Zweisamkeit verließ und dennoch lag ein leises Bedauern auf ihrer Seele. Sie lag zusammen eingerollt auf der Seite und streckte ihren Arm in die Länge, als wolle sie sich von der Leere des Bettes überzeugen. Es war leer, aber die Laken waren noch etwas warm. Also war er erst vor kurzem gegangen. Oscar drehte sich auf die andere Seite und stieß überrascht mit ihren Kniescheiben auf einen Widerstand. Jemand saß auf ihrer Bettkante und betrachtete sie still. Nein, nicht jemand, sondern ihr Mann. Sie erkannte ihn schon alleine vom Umriss seiner stämmigen Statur. Und er war schon angekleidet. Oscar saß auf, hielt einen Zipfel der Decke an ihre Oberweite und lächelte. „Du bist also noch da.“ Das war eher eine erleichterte Feststellung. „Wie spät haben wir es eigentlich?“ „Um vier Uhr morgens.“ Andre erwiderte ihr das Lächeln und strich ihr das Haar hinters Ohr. „Wie fühlst du dich?“ „Ganz gut. Und du?“ „Mir geht es genauso.“ Oscar wickelte ihre Beine unter sich und saß noch mehr auf, um ihm noch näher zu sein. „Wie lange sitzt du schon hier?“ „Ich bin gerade eben aufgestanden und wollte noch etwas über deinen Schlaf wachen.“ „Das ist sehr nett von dir. Aber es wird bald hell und deine Großmutter wird mit Frühstück hereinkommen.“ „Scheuchst du mich etwa schon weg?“, neckte sie Andre etwas und Oscar schüttelte verneinend den Kopf: „Nein, ich will nur vorsichtig sein. Es ist noch zu früh, unser Geheimnis zu offenbaren. Und zudem, werde ich gleich auch aufstehen und nach Versailles aufbrechen.“ „Dann sehen wir uns nach dem Frühstück.“ Andre schenkte seiner Frau noch einen Kuss und verließ ihre Gemächer, noch bevor die ersten Bediensteten, vor allem seine Großmutter, auf die Beine kamen und mit ihrer Arbeit begannen. - - - Nachdem Oscar die schriftliche Zustimmung über ihre Versetzung bekommen und ihrem Untergebenen Graf de Girodel das Kommando über die königliche Garde übergeben hatte, ritt sie mit Andre gemeinsam in die Kaserne. Der Himmel war bewölkt, zeigte aber keine Vorboten auf Regen. Ein Geruch nach der Frische des angebrochenen Frühlings lag in der Luft und auch in den Herzen der beiden herrschte Frühling. Oscar trug noch ein letztes Mal ihre rote Uniform. Der zugeteilte Leutnant Dagous überflog die gereichten Dokumente auf seinem Offizierszimmer und salutierte dann stramm vor Oscar. „Herzlich Willkommen in der Söldnertruppe von Paris, Kommandant! Aber erlaubt mir die Frage, was Euch hierher führt? Euer Dienst beginnt doch erst in einer Woche.“ „Ich will, dass meine Soldaten schon frühzeitig wissen, mit wem sie es zu tun haben werden“, sagte Oscar kühl und rollte die Dokumente wieder zusammen. „Versammelt alle auf dem Exerzierplatz und sagt mir dann Bescheid.“ „Zu Befehl!“ Leutnant Dagous salutierte nochmals und eilte davon. Oscar und Andre hörten gedämpft seine lauten Befehle und beobachteten amüsiert aus dem Fenster, wie die rauen Gesellen der Söldnertruppe sich in Reihen aufstellten. „Dort drüben ist Alain!“, deutete Andre auf einen von ihnen und schweifte schon mit seinem Blick über die anderen. „Sein rotes Halstuch verrät ihn überall! Und wenn ich mich nicht täusche, sind da drüben Lassalle und Jean, die wir damals in dem Gasthof zusammen mit Alain kennengelernt haben! Aber Claude scheint nicht dabei zu sein.“ Er hatte sich die Namen schon damals gemerkt und es war bemerkenswert, dass er weder die Namen noch die dazugehörigen Gesichter vergessen konnte. „Das stimmt“, gab Oscar schmunzelnd zu und wurde wieder ernst. Leutnant Dagous kam wieder herein und meldete gehorsam, dass alle Soldaten auf dem Exerzierplatz versammelt waren. Oscar nickte dankend und marschierte den beiden Männern voraus. Sie nahmen die Pferde und ritten bis zur Mitte der aufgestellten Reihen. Oscar verbat sich, sich nach Alain umzuschauen. Für einen Kommandanten gehörte sich das nicht. Andre dagegen erlaubte sich einen Blick durch die Reihen und Alains baffe Miene entdeckte er sofort. Er sah förmlich, wie sein Freund sich die Augen vor Unglauben rieb. Lassalle und Jean konnten sich anscheinend nicht so recht an ihn erinnern. Zumindest machten sie den Eindruck. „Stillgestanden!“, rief Leutnant Dagous zur Ordnung und wandte sich gleich an Oscar, in einem viel höflicheren Tonfall: „Verzeiht Kommandant. Die Söldner sind ungehobelte Männer und man muss sie oft zurechtweisen. Dafür sind sie tüchtig und gut trainiert.“ Oscar nickte wieder stumm und in alle ihrer kühlen Beherrschtheit. Andre musste unwillkürlich daran denken, wie feurig und leidenschaftlich sie aber in seinen Armen war. Sofort schob er diese Gedanken beiseite. Sie gehörten nicht hierher. In der Normandie würde er sie jede Nacht zum Schmelzen bringen, darauf konnte sie sich verlassen. Oscar, flankiert von beiden Reitern, erreichte die Mitte der Söldnerreihen und wendete ihr Pferd zu ihnen. Hoch aus dem Sattel heraus und mit einer klaren, hellen Stimme, stellte sie sich vor: „Mein Name ist Oscar Francois de Jarjayes! In einer Woche bin ich euer neuer Kommandant! Und das...“ Sie sah flüchtig zu ihrem Mann hinüber: „...und das ist Andre Grandier, mein treuer Gefährte und euer neuer Kamerad!“ Jemand in der zweiten Reihe hüstelte heftig und ließ in seiner tiefen Stimme hallend verlauten: „Kehrt lieber nach Versailles zurück, Oberst! Eine Frau und noch dazu ein Kommandant des königlichen Garderegiments, hat hier nichts zu suchen!“ Ein Rauschen und Raunen entstand urplötzlich zwischen den Söldnern: „Unser neuer Oberst ist eine Frau?“ „Sie ist aus Versailles? Dann muss sie eine Adlige sein!“ „Was hat sie hier verloren?! Wir sind einfache Bürgerliche und haben nichts mit Ihresgleichen zu tun!“ „Ich lasse mich nicht von einer Frau kommandieren!“ „Und ich lasse mich nicht vor einer Aristokratin beugen!“ Aus dem Rauen wurde ein Zischen und Knurren. Die Gesichter verfinsterten sich schlagartig und sprachen all ihre Abneigung aus. „Gebt Ruhe!“, befahl Leutnant Dagous lauthals und nachdem die Söldner nacheinander verstummten, fuhr er barsch den vorlauten Sprecher an: „Alain de Soisson! Du sollst deine Zunge hüten, wenn du hier nicht rausgeworfen werden willst!“ An Oscar gewandt, senkte er seine Stimme: „Verzeiht, Kommandant. Alain ist eigentlich der Anständigste von ihnen und ist der beste Kämpfer, aber offenbar sieht er seine Stellung als Truppenführer gefährdet.“ „Ich verstehe.“ Oscar schnitt eine hämische Grimasse und fixierte Alain mit einem durchbohrenden Blick. „Wenn er der beste Kämpfer ist, dann soll er vortreten und mir zeigen, was in ihm steckt!“ „Was?! Diese Frau ist verrückt!“, dachte Alain verblüfft bei sich. Er schätzte sie sehr. Besonders Andre mochte er als Freund und deren beider Sohn war ihm auch schon ans Herz gewachsen. Aber, dass Oscar in der Tat der Kaserne beitrat und zu allem Überdruss auch noch mit ihm kämpfen wollte, hätte er ihr nie zugetraut. Er schielte zu Andre. Dieser versuchte sich ein Grinsen zu verkneifen. Einer seiner Kameraden, stieß ihn ins Kreuz: „Na los, Alain! Zeig ihr, wie ein richtiger Kerl kämpft!“ Alain warf ihm einen finsteren Blick über die Schulter zu und sah gleich wieder den Kommandanten an. „Ich kämpfe generell nicht gegen Frauen!“ Oscar hatte seine Wortwahl schon vorausgeahnt. Alain wollte sie nur zu ihrem eigenen Schutz von hier fortjagen, aber da biss er auf Granit. Nach so vielen Jahren der Freundschaft, müsste er das eigentlich wissen! Aber gut! Sie würde ohnehin nicht lange hier bleiben. Oscar atmete tief ein und aus. Wieder hob sie ihre hohe und energische Stimme: „Ich kann euer Misstrauen verstehen und werde euch nichts vorwerfen. Ich möchte nur, dass ihr euren neuen Kameraden Andre in eure Kreisen schließt!“ „Wieso sollten wir?!“, knurrte jemand aus einer der Reihen. „Er ist bestimmt ein Spion!“, warf ein anderer missfällig ein. „Genau so ist es!“, mutmaßte auch ein dritter abwegig: „Er wird ganz sicher Berichte über uns an die Adlige weitergeben!“ „Das wird er keineswegs!“, versicherte Oscar über alle Köpfe hinweg: „Und er ist definitiv kein Spion! Andre ist durch und durch wie ihr! Er ist von Euresgleichen und wird seine Kameraden niemals verraten! Ich lege für ihn meine Hand ins Feuer, um euch das zu beweisen! Und wenn euch das nicht ausreicht, verwette ich meinen Kopf!“ Die Söldner starrten sie entgeistert an. Viele von ihnen hatten noch keinen Adligen gesehen, der sich mit solcher Intensität für einen einfachen Gefolgsmann einsetzte. Auch Leutnant Dagous bestaunte sie von der Seite beeindruckt an. Andre dagegen wollte nicht, dass sie ihren hübschen Kopf für ihn verwettete oder ihre zarte Hand ins Feuer legte. Doch er kannte sie schon zur Genüge und mischte sich daher nicht ein. Er sah immer wieder Alain an. Sein Freund schüttelte nur fassungslos den Kopf. Er würde Andre noch einiges ins Gewissen reden, sobald dieser der Kaserne beitritt. Vorerst gab er aber auf. Oscar war schon immer eigensinnig. Die Söldnertruppe sah sie bestimmt als Herausforderung an und vergnügte sich auch noch damit. Sie würde sich bis zum letzten Moment durchsetzen und ihr Ziel nie aufgeben, da konnte jeder reden was er wollte. Jedoch war Alain eines gewiss: Oscar ließ sich bestimmt nicht aus freien Laune versetzen! Es musste etwas Wichtiges und Bedeutendes für sie sein, weswegen sie das machte! Etwas, was sich hier in Paris befand! Alain fiel ihr Kind ein und dabei ging ihm ein Licht auf. Nicht umsonst hatte sie auch noch Andre hierher beordert! Diane kam am Nachmittag zu Alain in die Kaserne, um sich von ihm zu verabschieden. Somit bestätigte sie ihm seine Vermutung, als sie erzählte, wohin und mit wem sie für eine Woche wegfuhr. - - - Etwa um dieselbe Zeit packten Oscar und Andre ihre Sachen für die Reise ein. Jeder auf seinem Zimmer. Oscar hatte eine Kiste mit ihren alten Spielsachen heraus geholt und kramte darin. Ihre Mutter kam unbemerkt herein und wunderte sich über ihr Tun. „Wozu brauchst du deine alten Spielsachen in der Normandie, mein Kind?“ Bei „Mein Kind“ drückte sich Oscars Brustkorb zusammen, aber sie fand schnell eine Ausrede: „Ich will sie den armen Dorfkindern verschenken. Sie haben keine vernünftigen Spielsachen und meine verstauben im Keller. Das ist ungerecht!“ Emilie setzte sich auf die Bettkante vor ihrer Tochter und kramte ein bemaltes Holzschwert aus der Kiste. „Sophie sagte mir, dass du ganz alleine deine Sachen packen willst und jetzt weiß ich auch warum. Aber vor ihr brauchst du doch nicht deine Schwäche für die Menschen aus einfacher Herkunft verbergen. Vor deinem Vater dagegen schon.“ „Das weiß ich, Mutter.“ Oscar stellte ungerührt die Kiste auf dem Boden ab und schob sie mit dem Fuß zur Seite. „Ich kann mich nicht entscheiden und nehme einfach die ganze Kiste mit. Er soll sich selber etwas heraussuchen!“ „Wer ist er?“, vernahm sie den neugierigen Ton ihrer Mutter und musste mit Schrecken feststellen, dass sie sich laut verplappert hatte. „Andre“, kam es ihr über die Lippen, noch bevor sie ihren Geist ordnen konnte. Und als ihr auch noch das bewusst wurde, fiel ihr schon die nächste Ausrede ein: „Andre kennt sich doch besser mit Seinesgleichen aus.“ Was redete sie da? Sie schlug sich ihre Handfläche gegen die Stirn. Am besten würde sie nichts mehr sagen! Emilie legte das bemalte Holzschwert neben sich auf das Bett und fasste ihre Tochter sachte am Arm. „Was ist los mit dir? Was fehlt dir, mein Liebling? Du bist heute noch eigenartiger als gestern.“ „Es ist nichts, Mutter.“ Oscar sprang hastig auf, ließ ihre Hand von der Stirn fallen und formte sie zur losen Faust. „Keine Sorge, mit mir ist alles in Ordnung. Ich fühle mich bestens.“ Aber dem war nicht so. Sie fühlte sich miserabel. In diesem Moment flog die Tür zu ihrem Salon auf und die tiefe Stimme des Generals donnerte durch alle Ecken des Raumes: „Oscar! Bist du hier?!“ Er war gerade erst auf das Anwesen angekommen. Oscar zeigte sich gefasst aus ihrem Schlafzimmer. „Was ist, Vater?!“ Reynier marschierte mit festen Schritten auf seine Tochter zu, seine Brauen streng zusammengezogen. „Kannst du mir erklären, warum du deinen Dienst in der königlichen Garde quittiert hast?!“ „Das war meine Entscheidung, Vater“, meinte Oscar aufrecht und fügte noch entschlossener hinzu: „Ich möchte, dass Ihr sie akzeptiert und es dabei belasst.“ „Was sagst du?“ Reynier glaubte sich verhört zu haben. Seine Tochter stellte ihm Forderungen! Es sah danach aus, als würde er ihr eine Ohrfeige dafür verpassen wollen, aber aus irgendeinem Grund wurden seine harten Gesichtszüge plötzlich weicher. Sein Blick fiel rein zufällig in das Schlafgemach von Oscar. Oder besser gesagt auf das bemalte Holzschwert neben seiner Frau auf dem Bett. Er schob seine Tochter zur Seite und steuerte an ihr vorbei. „Schön dich zu sehen, werter Gemahl“, grüßte ihn Emilie und erhob sich. Ihr Ehemann winkte mit einer Handbewegung ab. „Ich grüße dich auch, meine Gemahlin. Allerdings kannst du ruhig sitzen bleiben und brauchst meinetwegen nicht gleich aufzustehen.“ Eine völlig fremde Sanftheit lag in seiner rauen Stimme. Sein Augenmerk heftete sich nur auf das Holzschwert, seine Hände nahmen es behutsam an sich und seine Füße trugen es langsam zu seiner Tochter. „Das war dein allererstes Schwert, Oscar. Du warst so stolz darauf, als ich es dir mitgebracht habe! Deine Augen haben geleuchtet wie helle Saphire!“ „Nun werden sie leuchten wie grüne Smaragde“, dachte Oscar bei sich und schluckte. Zum ersten Mal sah sie die weiche Seite ihres Vaters, die weder gekünstelt noch gestellt war. Das war beinahe unheimlich, als wäre er ein ganz anderer Mensch. Reynier reichte ihr das Holzschwert ehrenvoll und mit Hingabe, als überreiche er ihr einen kostbaren Schatz. „Du warst damals fünf Jahre alt gewesen, mein Kind. Das war die Zeit, als du beinahe im See ertrunken wärst.“ „Ich erinnere mich, Vater.“ Oscar nahm das Schwert mit Schwermut an sich und umschloss den kleinen Griff fest in ihrer Hand. Ihr Sohn würde bald auch fünf Jahre alt sein und er würde noch heute Abend dieses Spielzeug bekommen. „Ich hatte mir gewünscht, du würdest die Beste von uns werden und unserer Familie alle Ehre machen“, betonte Reynier und schaute direkt in ihre Augen. „Aus dir wäre demnächst ein guter General geworden. Aber du hast dich offensichtlich für einen anderen Weg entschieden - das kann ich dir nicht nehmen. Aber enttäusche mich nicht.“ „Ja, Vater...“, formten Oscars Lippen tonlos und steif. Reynier fasste sie bei den Schultern, seine Gesichtszüge verhärmten sich wieder und er stampfte dann wortlos aus ihren Gemächern. Emilie hatte währenddessen jede Regung ihrer Tochter beobachtet und entdeckte dabei eine fremde Art an ihr: Oscar betrachtete ihr erstes Spielzeugschwert nicht mit den Augen eines erwachsenen Soldaten, sondern eher liebevoll und wehmütig, als wollte sie ihre Kindheit zurück. Emilie zerbrach das Herz. Was hatte ihr Mann mit seiner Erziehung ihrem Kind angetan?! Ihre Tochter würde dieses Jahr dreiunddreißig werden und wusste immer noch nicht, mit ihren eigenen Gefühlen umzugehen! Weil diese Gefühle weiblich waren und Oscar sie im Keim erstickte! Emilie kam auf ihre Tochter zu und legte ihr wieder die Hand auf den Arm. „Oscar, mein Liebling. Du kannst mit mir über alles sprechen“, sagte sie mitfühlend und geduldig, als wäre Oscar ein unverstandenes Kind, das aufgeklärt werden musste. Oscar nickte. Sie wusste die fürsorglichen Worte ihrer Mutter sehr zu schätzen, aber sie würde ihr nichts sagen. Nicht jetzt. Noch nicht. Aber bald. Das schwor sie gerade auf das kleine Holzschwert in ihrer Hand. Emilie wartete vergeblich darauf, dass ihre Tochter sich ihr öffnete. Das schmerzte ihr zutiefst. Aber sie blieb bei ihr und Oscar bat sie weder zu gehen, noch sie alleine zu lassen. Oscar packte stumm ihre restlichen Sachen, entledigte sich ihrer Uniform und zog ihre Zivilkleider an. „Mutter...“, brach sie das Schweigen, als alles soweit fertig war: „Ich bitte Euch um Verzeihung. Vergebt mir, dass ich Euch eine miserable Tochter bin.“ „Du bist nicht miserabel, mein Kind.“ Emilie war wieder bei ihr und hielt sie zart an den Händen. „Wenn du nicht reden willst, dann warte ich bis du dazu bereit bist.“ „Ich danke Euch, Mutter“, sagte Oscar beklommen und ihre Wimpern schimmerten ungewollt feucht, obwohl ihre feinen Gesichtszüge verhärtet blieben. „Ich verspreche Euch, Ihr werdet noch alles zum rechten Zeitpunkt erfahren. Aber jetzt kann ich Euch das nicht erklären. Mir fehlt der nötige Mut dazu.“ Sie lächelte bitter. Seit wann fehlte bitteschön ihr, der tapferen Oscar, Mut?! Ihre Mutter verstand sie dennoch und machte ihr keine Vorwürfe. „Wie ich schon sagte, ich werde warten.“ Sophie kam unbemerkt zu ihnen und unterbrach schweren Herzens das Mutter – Tochter - Gespräch: „Madame. Lady Oscar. Das Abendmahl ist angerichtet.“ „Danke, Sophie. Wir kommen.“ Emilie richtete ihr Augenmerk wieder auf Oscar. „Komm, mein Kind. Vor deiner Abreise musst du noch kräftig essen.“ Andre hatte schon gegessen und spannte die Pferde vor eine Kutsche. Diane und der kleine Oscar würden darin in die Normandie fahren. Er selbst würde auf dem Kutschbock sitzen und Oscar bestimmt im Sattel ihres Schimmels. Andre stellte sich schon die schöne Woche in der Normandie vor: Wie sie tagtäglich am Strand spazierten oder ausritten. Wie seine beiden Oscars lachten und wie sie unbeschwert eine Familie sein könnten. Andre kribbelte es dabei angenehm im Bauch und er glaubte schon den frischen Wind, den salzigen Geruch und das Rauschen des Meeres zu spüren. Ob Oscar jetzt auch an das gleiche dachte? Sicherlich freute sie sich, aber konnte sie es auch kaum abwarten wie er? Bei ihr konnte man das doch nie genau ablesen! Er hatte sie kurz mit ihrer Mutter im großen Speisesaal gesehen. Seine Großmutter ließ ihn dort nicht lange verweilen und ermahnte ihn, dass er hier nicht herum gaffen sollte. Er sollte sich lieber nützlich machen und die Pferde bespannen. Daher konnte er Oscar nicht genauer betrachten, aber er bildete sich ein, dass sie in sich versunken war und undurchschaubar wirkte. Was soll`s! In wenigen Stunden würde sich das alles ändern! Nach dem Abendmahl half Andre seiner Oscar die eingepackten Sachen in die Kutsche zu tragen. Über die Kiste mit den alten Spielsachen wunderte er sich und gleichzeitig war er davon entzückt. Danach trug er sein Gepäck herbei und verabschiedete sich mit Oscar von seiner Großmutter und Madame de Jarjayes. Sophie schniefte in ihr Taschentuch, als wäre es ein Abschied für immer und dann fuhren sie endlich los. Oscar, wie geahnt, hoch im Sattel. Er auf dem Kutschbock und sein Brauner trabte an der Seite der Spanntiere neben der Kutsche. „Ich freue mich schon auf die Woche mit dir und unserem Kleinen“, gestand Oscar ihrem Mann auf halbem Weg nach Paris. „Ich mich auch.“ Andre lächelte verschmilzt. „Das wird seine zweite Reise mit uns sein. Wobei ich nicht glaube, dass er sich an die erste erinnern kann.“ „Das glaube ich auch nicht“, stimmte Oscar ihm zu. „Er war damals noch zu klein dafür. Ein Wickelkind, kann man sagen. Diesmal wird er bestimmt mehr davon haben.“ „Sprichst du aus eigener Erfahrung, Oscar?“ „Nein, eigentlich nicht. Ich kann mich kaum an meine ganze Kindheit erinnern. Nur an bestimmte Momente, als du schon bei mir warst.“ „Mir ergeht es genauso.“ „Weil wir unsere Kindheit gemeinsam erlebt haben!“ Oscar lachte und trieb ihren Schimmel schneller an. „Hey, warte auf mich!“, rief ihr Andre glucksend nach und gab den Pferden kräftig die Peitsche, um sie einzuholen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)