Ecce equus niger von AomaSade (LV x HP) ================================================================================ Kapitel 10: Zeitsprünge ----------------------- „Nein!“, schrie jemand hektisch. Hastige Schritte und erschrockenes Aufkeuchen waren zu hören. Sie hatten erkannt, was er vorhatte. Schlimmer noch. Voldemort hatte erkannt, was er vorhatte! Harry galoppierte noch schneller, nur noch das eine Ziel vor Augen. Nebenbei fühlte er, wie einer der Halteflüche, die er bisher erfolgreich abwehren konnte, nach ihm griff. Der neue Fluch war viel stärker als die anderen, als dieser versuchte, ihn zu verlangsamen und sein Stehenbleiben zu erzwingen. Seine Abwehrzauber wurden schwächer und brachen schließlich. Aber es war zu spät, er war da. Der schwarze Hengst konzentrierte sich auf den Sprung, mobilisierte alle Kräfte. Er hatte nichts mehr zu verlieren, setzte alles auf eine Karte. Es musste einfach gelingen. Jetzt! Harry sprang mit voller Wucht in die Barriere des Bannkreises. Nun würde sich zeigen, ob der magische Schutzwall von Riddle Manor nur Feinde am Eindringen oder auch am Verlassen hinderte. Leider traf wohl Letzteres zu, denn die Welt begann zu verschwimmen, sein Flug verlangsamte sich bis zum Stillstand. Gleichzeitig erfasste ihn der Haltefluch. Aber er stürzte trotzdem schwer auf den Boden, Schmerz explodierte in seinem Körper, dann wurde alles schwarz.   ~•~•~•~•~•~   London blieb auch nach Kriegsende Zentrum der Magischen Welt. Wichtige Einrichtungen wurden umstrukturiert und nahmen dann wieder ihre Arbeit auf. Über dem unterirdischen Zaubereiministerium wurde ein mehrstöckiger Prachtbau errichtet. Der neue Regierungssitz war als schnödes Bürohaus getarnt. Muggel liefen daran vorbei, ohne es zu beachten. Der Neubau diente vorrangig Repräsentationszwecken. Kernstück war der riesige Thronsaal, der das halbe Erdgeschoss umfasste. Die anderen Räumlichkeiten hier und auf den nächsten Etagen wurden für Beratungen, Versammlungen und Staatsbankette genutzt. Im obersten Stockwerk befanden sich die Arbeitsräume von Voldemort und der Mitarbeiter des inneren Regierungskreises sowie die Dienstwohnung von Sekretär Malfoy. Das riesige Penthouse darüber mit dem malerischem Dachgarten bewohnte der Dunkle Lord, wenn er in der Hauptstadt residierte. Eine separate Treppe verband die herrschaftliche Suite direkt mit dem genau darunter liegenden Büro, welches eine exakte Kopie seines Arbeitszimmers auf Riddle Manor war. Von gewohnten Dingen umgeben, konnte Voldemort viel besser arbeiten und sich entspannen, falls die Regierungsgeschäfte mal wieder in Stress ausarteten und er kurz davor stand, jemanden wegen totaler Unfähigkeit zu töten. Der Cruciatus-Fluch kam trotzdem noch oft genug mahnend zum Einsatz. Regen mit Schnee vermischt prasselte an die Fensterschreiben. Das Londoner Wetter passte hervorragend zu seiner Stimmung. Wie so oft in den letzten Wochen saß der Dunkle Lord auch heute grübelnd am Schreibtisch, anstatt zu arbeiten. Nagini lag in Mini-Format auf der Rückenlehne, den kleinen Kopf bequem auf seiner Schulter abgelegt. Winterwetter behagte ihr ganz und gar nicht. Selbst ein permanenter Wärmemantelzauber, der die Schlange bei fallenden Temperaturen vor der Kältestarre bewahrte, konnte sie selten zum Jagen nach draußen locken. In der kalten Jahreszeit blieb sie lieber drin, meistens in der unmittelbaren Nähe von ihren „warmblütigen“ Herren. Wenn sie nicht bei Harry im Stall war, dann begleitete sie ihren Meister ins Ministerium und schaute ihm stillschweigend beim Regieren zu. Aber momentan interessierte Voldemort die aktuelle Zaubererpolitik herzlich wenig. Er starrte blicklos aus dem Fenster. Seine schlechte Laune war ihm zwar nicht anzusehen, aber der Zeigefinger der rechten Hand pochte ein ärgerliches Stakkato auf der Unterlage. So konnte es einfach nicht weitergehen. Wochen, nein Monate waren vergangen und er war keinen Schritt näher an seinen Seelengefährten gekommen. Eher das Gegenteil war der Fall. Harry wurde bei jedem Treffen verrückter, wenn er Lord Voldemort alias Tom Vorlost Riddle sah. Sobald er sich dem schwarzen Hengst näherte, schien Harry sämtliche Aggressionen auf seine Person zu projizieren, tickte förmlich aus, stand kurz vor einem hysterischen Zusammenbruch und beruhigte sich nach seinem Besuch nur sehr schwer, wie ihm Nagini und Angus berichteten. Es war zum Verzweifeln. Dabei konnte Harry sich auch vollkommen normal verhalten – bei allen anderen zumindest. Nagini schien er zu mögen, sie konnte ihn sogar berühren, ohne dass der schwarze Hengst ängstlich wegzuckte. Tom wünschte sich jedes Mal an ihre Stelle, wenn er sie beide aus der Ferne beobachtete. Und Dark, seinem Alter Ego, begegnete Harry zwar mit Zurückhaltung, aber ohne großes Misstrauen. Beide Hengste standen oft fast freundschaftlich beieinander und genossen die Gegenwart des anderen Tieres. Sie redeten hauptsächlich über Pferdethemen und das Gestüt, wobei Tom sehr aufpassen musste, dass er sich nicht verriet. Sobald er das Gespräch aber vorsichtig auf Voldemort lenkte, blockte Harry ab und verstummte. Diese gestohlenen Stunden, in der sein Seelenpartner ohne Argwohn bei ihm stand, waren der Höhepunkt des Tages. Konnte er auf seine eigene Animagusgestalt eifersüchtig sein? Ja, er konnte. Voldemort, mächtigster Schwarzmagier, Dunkler Lord und Herrscher über ganz Zaubergroßbritannien beneidete sein Alter Ego Dark. Und alle anderen, dachte er missmutig. Sogar die Aufmerksamkeiten von Angus und dessen Pflege duldete Harry. Er blieb zwar immer sehr wachsam bei dem Stallmeister, aber außer Anfassen war alles erlaubt. Selbst bei seinen Todessern verhielt sich der schwarze Hengst weitestgehend ruhig. Die ganze Situation war frustrierend. Tom hatte sämtliche Bücher gelesen, die auch nur ansatzweise das Thema Angst streiften, aber keine zufriedenstellenden Antworten gefunden. Ebenso waren die zahlreichen Geistheiler, die er konsultiert hatte, keine große Hilfe. Denn in einer expliziten Sache war die Zaubererwelt sehr archaisch: Wer auffiel, war tot! Da also niemand Harrys Erkrankung jemals „offiziell“ gehabt hatte, gab es auch keine bekannten Heilmethoden, nur wilde ungesicherte Theorien. Durchgedrehte oder verrückte Zauberer und Hexen, die auch wegen solcher Symptome, wie sein Seelenpartner sie zeigte, früher aus der Reihe tanzten, waren meistens Fälle für die zahlreichen Hexenjagden und -prozesse in beiden Welten. Die letzte britische Hexe wurde 1944 in London verurteilt und die jüngste Zauberer-Schlacht fand 1998 vor Hogwarts statt. Wenn es Heiler über Jahre oder gar Jahrzehnte nicht schafften, neue Krankheitsbilder samt Therapierung in den Heilkatalog aufzunehmen, dann stimmte etwas mit dem ganzen System nicht. Das St.-Mungo-Hospital für magische Krankheiten und Verletzungen musste dringend reformiert werden. Den verantwortlichen Minister für magische Gesundheit hatte er schon entsprechend zur Rechenschaft gezogen, die Neuorganisation des Krankenhauses sowie eine bessere Ausbildung der Heiler war von nun an dessen Hauptaufgabe. Zukünftig sorgten monatliche Sachstandsberichte an den Dunklen Herrscher persönlich für die nötige Motivation, seine neuen alten Pflichten nie wieder zu vernachlässigen. Bei so viel Stümperei und Unwissen in den eigenen Reihen hatte Voldemort trotz seiner Muggel-Abneigung diverse Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen in der Menschenwelt aufgesucht. Sie nannten es „PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung“, ein extremes Trauma ausgelöst durch außergewöhnliche Bedrohungen, Katastrophen, schwere Unfälle, Gewaltverbrechen oder Kriegshandlungen. Mit Symptomen wie Angst, Panik, Flashbacks, Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhte Wachsamkeit, ausgeprägte Schreckhaftigkeit, Vermeidungsverhalten, Alpträume, Schlafstörungen, Schuldgefühle, Selbsthass sowie Depressionen wurde eindeutig Harrys jetziges Verhalten beschrieben. Sehr zu seinem Verdruss waren alle diese Ärzte, Doktoren und Professoren einhellig der gleichen Meinung: Eine Heilung begann erst dann, wenn der Auslöser der Angst, also Voldemort selbst, nicht mehr da war. Im Prinzip sollte es seinem Seelengefährten besser gehen, wenn sie sich beide trennten und da die Gefahr eines Rückfalls aufgrund der stark ausgeprägten PTBS ziemlich groß war, müsste die Trennung dauerhaft sein. Das konnte er niemals akzeptieren. Es musste noch eine andere Lösung geben. Er würde weiter forschen. Harry und er waren vom Schicksal bestimmte Gefährten, ihre Seelen bildeten eine Einheit. Sie gehörten zusammen. Er brauchte Harry! Ohne ihn ... Er war leer, eine kalte und gefühllose Hülle. Harrys Inneres dagegen war voll mit Wärme und Liebe. Er war das Licht, dass seine Dunkelheit erhellte. Niedergeschlagen raufte er sich die Haare und atmete tief durch. Es gab einen Weg. Es gab immer einen Weg. Er musste ihn nur finden. Was hatte er übersehen oder noch nicht bedacht?   Sein linkes Handgelenk fing an zu kribbeln. Harry! Es war etwas mit Harry! Angus rief um Hilfe. Er sprang auf, streckte wortlos den Arm nach Nagini aus, die sofort daran hoch schlängelte und sich um seinen Hals wickelte. Einen Augenblick später disapparierten beide nach Schottland zu seinem Stallmeister, der mit mehreren Pferdepflegern bei Harrys Koppelzaun stand und diskutierte. Die Todesser versanken umgehend in respektvolle Verbeugungen, als sie ihren Herrn erblickten. „Aris ist verschwunden, mein Lord. Wir können ihn nicht finden. Euer Hengst war auf der Weide, als zwei Pfleger frisches Heu und Stroh brachten. Sie begannen, seine Box zu reinigen. Kurz danach war er weg. Wir haben schon überall gesucht“, erklärte Angus gleich, als er sich aufrichtete. Der Dunkle Lord sah sich kurz prüfend um, ging dann ruhig an ihnen vorbei und blieb in einiger Entfernung mit geschlossenen Augen still stehen. Auch Nagini rührte sich nicht, spielte lebloses Halsband. Als Herr von Riddle Manor war er mit seinem Land verbunden. Es war eine uralte Art von Symbiose – der Lord eines Hauses beschützte das eigene Land und im Gegenzug unterstützte das Land ihn. Wenn Voldemort es also wollte, konnte er jedes Lebewesen lokalisieren, welches sich auf seinen Ländereien befand. Und nun wollte er wissen, wo sein Seelengefährte sich versteckte. Seine Magie floss in den Boden unter ihm, wurde freudig begrüßt und hilfsbereit unterirdisch zum Aufenthaltsort von Harry geleitet. Unvermittelt schlug Voldemort die Augen auf und schaute seinen Stallmeister an. „Scheinbar will mein Aris nahe der Peitschenden Weide einen kleinen Ausflug in den Verbotenen Wald unternehmen. Und niemand“, Voldemort sah tadelnd auf seine Todesser, „hat ihn aufgehalten. Umstellt das Pferd und fangt es ein!“, befahl er und verschwand. Er würde im Hintergrund bleiben, denn leider neigte Harry in seiner Gegenwart verstärkt zu selbstzerstörerischen Handlungen. Lautlos tauchte Tom mit genügend Abstand hinter Harrys Versteck auf. Raffiniert! Wenn er nicht genau gewusst hätte, wo sich sein Gefährte befand, hätte er ihn im ersten Moment übersehen. Der schwarze Hengst stand halb verborgen zwischen einigen Büschen und hatte Tarn- und Ablenkzauber über die Umgebung gelegt. Jetzt lief er leise und vorsichtig wegen der Eisglätte Richtung Waldrand. Der Dunkle Lord hatte sich anfangs gefragt, wie Harry es schaffte, so oft ungesehen auszubrechen. Die Antwort hatte ihn verblüfft. Sein Gefährte konnte auch in seiner Animagusgestalt stablos einfache Magie wirken, nutzte kleine nonverbale Zauber, um seine Häscher zu verwirren. Voldemort war schwer beeindruckt, unternahm aber nichts, um die Ausbruchsversuche direkt zu stoppen. Er passte lediglich die Alarmzauber rund um das Gestüt an und band seine Untergebenen darin ein, so dass sie bei Alarmierung den Hengst rasch zurückbringen konnten. Wenn das Schmieden von Fluchtplänen Harry daran hinderte, in Depressionen zu versinken, dann konnte dieser seine Todesser so oft austricksen, wie er wollte. Weit kam er ja nicht – bis heute. Heute hatte sein cleverer Gefährte alle Kontrollzauber überwunden, seine Aufpasser abgeschüttelt und es fast bis an die Grenzen geschafft. Harrys Einfallsreichtum schien unerschöpflich, aber nach wie vor bemerkte keiner seiner Todesser die sie irreführenden Zauber, fiel ihm jetzt auf. Wie war das eigentlich möglich? Angus McLachlan war ein sehr starker Zauberer, er hätte etwas spüren müssen. Nun doch neugierig geworden prüfte Voldemort die angewendeten Zauber: Graue Magie! Harry verwendete graue Magie! Unbekannte graue Zauber! Sein Seelengefährte kombinierte weiße und schwarze Magie, kreierte daraus neue graue Zauber, die andere Hexen und Zauberer nicht aufspüren konnten. Sein Partner steckte voller Überraschungen. Trotzdem gab es kein Entkommen von Riddle Manor. Heimlich verringerte er die Wirkung von Harrys Zaubern, so dass der schwarze Hengst für jeden sichtbar wurde. Endlich trafen auch die Pferdefänger mit einem bekannten Plop ein und bildeten einen weiten Kreis um das flüchtige Tier. Dann verringerten sie ruhig unter gutem Zureden den Abstand. Aber statt stehenzubleiben und aufzugeben, weil er umstellt war, galoppierte Harry ohne Vorwarnung auf die überrumpelten Todesser zu. Diese sprangen aus dem Weg, um nicht von den Hufen getroffen zu werden und rappelten sich hastig auf, um mit den anderen die Verfolgung aufzunehmen. Aber Fangseile und Halteflüche prallten einfach vom fliehenden Pferd ab. „Nein!“, rief Angus entsetzt, als sie das davon preschende Pferd gefährlich schlittern sahen. Auch der Dunkle Lord war erschrocken und handelte augenblicklich. Er apparierte so nah wie möglich an den Flüchtenden heran und warf einen mächtigen Haltefluch auf ihn. Leider bemerkte der schwarze Hengst ihn vorher und galoppierte noch schneller. Dann geschah alles gleichzeitig. Harry sprang aus vollem Lauf in den Bannkreis, welcher den unberechtigten Grenzgänger aufhielt, indem er ihn ins Land der Träume schickte. Voldemorts Haltefluch erfasste ihn zu spät, um den Aufschlag zu mildern. Der betäubte Hengst versuchte vergebens, sich auf den Beinen zu halten, rutschte weg und kollidierte ungebremst mit dem gefrorenen Boden. Schwerverletzt blieb der Körper regungslos liegen. Die Knochen des offenen Beinbruches hatten sich in die Brust gebohrt, Blut floss aus den Wunden, färbte den vereisten Schnee rot. Schnell hockte sich der Dunkle Lord an Harrys Seite und überprüfte dessen Verletzungen. Mit grimmiger Miene holte er seinen Zauberstab hervor und stillte zuerst den Blutfluss. Der Hengst bäumte sich schmerzvoll auf, brach dann aber besinnungslos zusammen. Grob presste Voldemort seinen Stab gegen den Unterarm. Ein paar Sekunden später tauchten drei Todesser, zwei mit langen grauen Bärten, der dritte war deutlich jünger, neben ihm auf. Sofort fielen sie eingeschüchtert auf die Knie und verbeugten sich tief. Sie sahen etwas seltsam aus, da sie ohne Vorwarnung von ihrem Herrn hierher gezwungen wurden. Einer hatte nur Schlafanzug und Socken an, die beiden anderen waren in legerer Freizeit- sowie Muggelkleidung erschienen. Unschickliche Garderobe war für den Dunklen Lord ein Affront, den er sonst streng ahndete, aber es heute wegen des akuten Notfalles unterließ. „Heilt ihn!“, knurrte er nur und erhob sich, um Platz für die Tierheiler zu machen. Als sie nicht augenblicklich aufsprangen, zischte er aggressiv: „Sofort!“ Eilig setzen sich die drei Todesser in Bewegung. Sie zückten ihre Zauberstäbe* und versuchten, dem am Boden liegenden Pferd, zu helfen. Nach ein paar Minuten wurden ihre Aktionen langsamer, stoppten dann ganz. Voldemort runzelte die Stirn. Der Älteste der Tierheiler verständigte sich wortlos mit seinen zwei Kollegen, wobei einer nickte und der andere eher skeptisch wirkte. Dann fasste er die gemeinsamen Untersuchungsergebnisse zusammen: „Wir empfehlen, das Tier einzuschläfern, mein Lord. Die Heilung wäre zu aufwendig und kompliziert, die Erfolgsaussichten sehr gering und ...“ Plötzlich konnten alle drei nicht mehr atmen. Ihre Körper wurden von einer unsichtbaren Kraft langsam und qualvoll zerquetscht. Mit purem Grauen schauten sie auf die hoch aufgerichtete zornige Gestalt ihres Herrn. In dessen Augen loderte rotes Feuer. Ihn umgab eine Aura schwärzester Magie, die gefährlich pulsierte. Gleichzeitig spülte über Riddle Manor eine wütende Woge unermesslicher Macht hinweg, schmetterte alle zu Boden. Jeder Todesser in Voldemorts Nähe krümmte sich vor Schmerzen. Nur Nagini und der verletzte Hengst blieben unberührt. Mit eisiger Stimme, jedes Wort betonend, drohte er: „Ihr werdet ihn vollständig heilen oder ihr und eure gesamten Familien werdet ausgelöscht!“ Die gewalttätige Magie verschwand abrupt. Zurück blieben total verängstigte Untergebene. Angus und die übrigen Todesser erholten sich relativ schnell und waren erleichtert, nicht für den Zornesausbruch ihres Herrn verantwortlich zu sein. Denn auch wenn die drei Dummköpfe das Wunder vollbrachten und den Hengst heilten, würden sie nicht ungeschoren davon kommen. Ob sie den morgigen Tag noch erlebten, war fraglich. Diese weiter im Würgegriff gefangen haltend, beugte Voldemort seinen Oberkörper geschmeidig zu den drei Pechvögeln herab und fragte seidenweich: „Habe ich mich jetzt klar genug ausgedrückt?“, ehe er sie freigab. Die drei Heiler fielen zu Boden und nickten heftig. Dann stürzten sie sich mit Übereifer auf den Patienten. Angus dachte mit und zauberte selbstwärmende Decken unter und auf den Tierkörper. Er schüttelte nur den Kopf. Da behandelten diese drei Experten die offenen Wunden, aber riskierten eine spätere Lungenentzündung wegen Unterkühlung. Der Dunkle Lord nahm wohlwollend sein Engagement zur Kenntnis. Ungläubig beobachteten alle Todesser, wie ihr Herr sich zu dem schwarzen Hengst setzte, dessen Kopf auf seinen Schoss bettete, um ihn dann sanft zu streicheln. Seine Schlange glitt von ihm herab zum Hals des Pferdes und rollte sich dort zusammen, die Augen argwöhnisch auf die hektisch Medi-Zauber werfenden Todesser gerichtet, ihre Giftzähne effektvoll ausgefahren. Sie zischte bösartig. Voldemort liebkoste den Kopf seiner Vertrauten, während sein diabolischer Blick die Heiler fixierte: „Nagini, beruhige dich. Diese drei sind kein Futter. Sie wollen unseren Aris heilen. Aber sollten sie versagen, ...“, vielsagend machte er eine Pause, „bekommst du dein gewünschtes ,Drei-Gänge-Menü'.“ Entsetzte Gesichter starrten die Schlange kurz an, bevor der Fokus hastig wieder auf die Verletzungen gerichtet wurde. Alle wussten, dass Nagini als Einzige das Vertrauen und die Zuneigung des Dunklen Lords besaß. Sie hatte sozusagen Narrenfreiheit, war Auge und Ohr ihres Herrn, interessierte sich nur für ihn. Aber hier und jetzt wachten beide gemeinsam über ein verletztes Pferd und würden sich tollwütig auf jeden stürzen, der ihrem Schützling ein Leid zufügte. Schließlich erkannten auch die zwei älteren Tierheiler ihren fatalen Fehler: Sie wollten nicht irgendein unbedeutendes Pferd töten, sondern das neue Lieblingstier von Lord Voldemort und seiner Schlange. Statt sich voll auf die Rettung des Tieres zu konzentrieren und alles zu versuchen, wogen sie vorschnell die Heilungschancen ab, übergingen die Gegenargumente ihres jüngeren Kollegen und empfahlen die Einschläferung, weil eine komplette Genesung unmöglich schien und ein versehrter Zuchthengst wertlos wäre. Eine verhängnisvolle Fehlentscheidung! Denn ihr Leben hing nun vom Gesundheitszustand eben dieses Zuchthengstes ab. Das Pferd musste gesund werden. Scheitern war keine Option, sondern bedeutete ihr Todesurteil. Unter den wachsamen Augen ihres Herrn gaben die Heiler ihr Bestes, wuchsen über sich hinaus, um die Wunden zu heilen und Folgeschäden zu verhindern. Mit dem Ehrgeiz der Tierheiler zufrieden, konzentrierte sich Voldemort nun voll und ganz auf seinen Seelengefährten. Unter sanften Streichelbewegungen vertiefte er behutsam Harrys Schlaf, so dass er keine Schmerzen mehr fühlte und auch die Erinnerung daran verblasste, ihm keine neuen Albträume bescherte. Leider beruhigte sich das Schattenpferd in Toms Geist nicht so leicht. Total konfus, sprang es wild umher. Die Schrecken der Vergangenheit wiederholten sich, denn wieder hatte sein Todfeind ihn eingefangen und unsägliche Schmerzen waren die Folge. Die Gedanken und Gefühle seines Seelengefährten waren völlig durcheinander, die beiden Geschehen verschmolzen, wurden zu einem grauenhaften Ganzen. Das heutige Erlebnis hatte Harry aus der Bahn geworfen, seine Schutzschilde zum Einsturz gebracht. Dadurch war die Nebelbarriere an manchen Stellen durchlässig geworden. Erinnerungsfetzen des damaligen Horror-Martyriums fegten vorbei. Wie in einer Endlosschleife wechselten sich Bilder einer dunklen, engen Kerkerzelle und sadistischen Folterknechten gemischt mit qualvollen Schreien, Kettenrasseln sowie Peitschengeräuschen ab. Und überall war Blut. Soviel Blut. Der Dunkle Lord widerstand der Versuchung, sich ein wenig im Kopf seines Gefährten umzusehen. Dieser würde ihm niemals vertrauen, wenn er ohne Einwilligung in dessen Geist eindrang. Außerdem war es viel wichtiger, das Schattenpferd, den überaktiven Außenposten von Harrys Verstand, zu beruhigen, damit sich alles wieder normalisierte. Tom verbannte alle Wut und Finsternis aus den eigenen Gedanken, machte aus dem Bereich vor der Nebelwand eine Oase des Friedens. Behutsam sandte er Gefühle der Sicherheit, der Geborgenheit aus, welche liebevoll um und über das Schattenpferd strichen, ihm begreiflich machten, dass keine Gefahr drohte. Es schien zu funktionieren. Allmählich begann der Nebel wieder dichter zu werden, die Risse schlossen sich. Entspannt patrouillierten zwei Schattenpferde an der Barriere entlang. Voldemorts Bewusstsein hatte unabsichtlich die Form seiner Animagusgestalt angenommen. Instinktiv war seine Schattenmanifestation wesentlich kleiner und heller als sein Gegenpart, um auf gar keinen Fall bedrohlich zu wirken. Harry sollte sich bei ihm in jeder Hinsicht wohlfühlen, auch auf geistiger Ebene.   „Verzeihung, mein Lord“, sagte jemand leise mit unsicherer Stimme. Aus seinen Gedanken gerissen, schaute Voldemort auf den jüngsten Heiler. Doktor Alexius Devaney** aus Cardiff mit dem übergroßen Herz für Tiere und sehr unkonventionellen Heilmethoden. Schon damals auf der Pferde-Show in Windsor hatte der Dunkle Lord seinen Nutzen erkannt und ihn rekrutiert. Der gute Doc hatte aber keinen Funken Ehrgeiz in puncto Todesser-Karriere im Sinn und sich deutlich rar gemacht. Erst heute, angesichts Harrys Verletzungen, hatte Voldemort sich wieder an ihn erinnert und ihn herbeordert. Was wollte Devaney ansprechen? Gab es Komplikationen? Schnell überprüfte er den schlafenden Hengst. Nein, alles soweit in Ordnung, keine Verschlechterung. Fragend blickte er zu ihm. Der junge Mann sammelte sich, während seine älteren Kollegen abwehrend die Köpfe schüttelten. Seinen ganzen Mut zusammennehmend blickte er seinem Herrn in die blutroten Augen: „I-i-ich empfehle, den Heilungsprozess in me-mehreren Schritten vorzunehmen. So könnten auch die anderen Mangelerscheinungen behoben ...“ „Welche anderen Mangelerscheinungen?“, fuhr Voldemort aufgebracht dazwischen. Eingeschüchtert schaute Alexius auf das verletzte Tier, strich über das schwarze Fell, ehe er die Frage beantwortete: „Nun, Euer Hengst weist Anzeichen von Misshandlungen auf. Er muss während des Aufwachsens einen sehr schlechten Besitzer gehabt haben, bei dem Hunger und Schläge auf der Tagesordnung standen. Dadurch sind die Knochen brüchiger, die Organe nicht voll leistungsfähig, die Blut- und Muskelbildung erschwert. Sein gesamter Körperbau ist kleiner als normal. Auch gibt es Narben auf der Haut, die durch das Fell verdeckt sind. Bei einer mehrstufigen Behandlung der Mängel und Symptome in Einzelschritten, natürlich zuerst die akute Verletzung, würde Euer Hengst vollständig genesen und in spätestens zwei Wochen wieder ausgelassen über die Koppel galoppieren.“ „Warum sollte ich deinem Rat folgen?“ „Mein Lord, ich liebe Tiere und bin Tierheiler aus Leidenschaft. Ich habe einen sehr guten Ruf in beiden Welten, weil ich keinen Unterschied zwischen magischen und normalen Tieren mache. Denn den gibt es für mich nicht. Ich helfe allen gleichermaßen. Sicher habe ich nicht so viele Erfahrungen sowie mehrere theoretische Abhandlungen und Bücher geschrieben wie meine hochgeschätzten Kollegen hier. Theorie liegt mir nicht. Mein gesamtes Fachwissen habe ich durch die Ausbildung zum Tierheiler, das Studium der Veterinärmedizin und vor allem eigene Praxis erworben. Ich kann Tiere nicht leiden sehen und helfe, wo ich kann. Traurigerweise kann ich nicht alle retten, aber die meisten. In meiner Freizeit kümmere ich mich seit Jahren um misshandelte Tiere. Ich habe schon jede Art von Missbrauch gesehen und erfolgreich behandelt. Meine Methode funktioniert!“, sagte der junge Mann mit Überzeugung in der Stimme. „Mach es!“, wies der Dunkle Lord ihn an. „Und ihr“, kalt funkelte er die beiden anderen Tierheiler an. „Mit eurer Inkompetenz hättet ihr beinahe meinen S…“, er räusperte sich, „mein Lieblingspferd getötet. Meine Folterkeller sind schon länger etwas verwaist, da kommen zwei neue Gäste gerade recht. Ich werde mich später sehr ausführlich mit euch beiden unterhalten.“ Ohne Vorwarnung verschwanden die zwei Todesser. „Herzlichen Glückwunsch, Dr. Alexius Devaney. Du bist gerade befördert worden – zum Obersten Tierheiler des Riddle Gestüts.“   ~•~•~•~•~•~   Harry wachte benommen auf. Erst langsam klärte sich seine Sicht. Verdammt! Er lag wieder in seiner Pferdebox auf diesem weichen Stroh. Wie so oft nach einer misslungenen Flucht. Aber diesmal waren die Kopfschmerzen besonders heftig, auch sein ganzer Körper fühlte sich irgendwie taub an, nicht richtig geheilt. Vorsichtig hob er den Kopf und sofort fiel der Blick auf sein rechtes Vorderbein, welches mit einem Stützverband fixiert war. Wieso trug er einen Verband? Grübelnd starrte er darauf. Bruchstückhaft, dann mit voller Wucht, stürmten die Bilder der letzten Flucht auf ihn ein. Er war so nah dran gewesen. Verdammt, verdammt, verdammt! Harrys Kopf fiel frustriert zurück ins Stroh. Da schaffte er es endlich, nach weit über fünfzig Fluchtversuchen – er hatte längst aufgehört, sie während seiner monatelangen Gefangenschaft zu zählen – bis an den Bannkreis, konnte bereits die Freiheit dahinter fühlen und scheiterte doch wieder so kurz vor dem Ziel. Voldemort musste einen siebten Sinn haben. Immer wenn der schwarze Hengst den Stallknechten schon entkommen war, erschien sein Erzfeind im letzten Moment und hielt ihn mit extrem starken Halteflüchen auf, um ihn anschließend auszuknocken. Harry wachte dann stets unversehrt im Stall auf. Nur dieses Mal war er scheinbar nicht so glimpflich davon gekommen. Beim ungewollten Abbruch seines Sprunges hatte er versucht, auf allen vier Hufen zu landen, rutschte aber wegen des eisglatten Untergrundes aus und krachte ungebremst auf den tiefgefrorenen harten Boden. Nur noch verschwommen erinnerte er sich, dass weiße Knochen aus seinem Vorderbein sprangen und sich in seinen Oberkörper bohrten. Überall war Blut gewesen. Vor lauter Schmerzen hatte er nur noch bunte Sterne gesehen, weshalb er gnädig in Ohnmacht fiel. Oder lag es mehr daran, dass der Dunkle Lord sich bedrohlich nah bei ihm hingekniet hatte und mit dem Zauberstab einen Fluch auf ihn schleuderte. Was hatte sein Todfeind getan? Sein ganzer Körper fühlte sich müde und zerschlagen an. War Voldemort endgültig der Geduldsfaden gerissen und er bestrafte sein derzeitiges „Lieblingspferd“ mit unvollständiger Heilung? Hoffte er, dass Schwäche den schwarzen Hengst am Weglaufen hindern würde? Niemals! Da konnte er lange warten. Harry würde selbst kriechend noch versuchen zu fliehen.   Hinter ihm raschelte das Stroh. Seine Nackenhaare sträubten sich. Er war nicht allein! Widerwillig und mühselig erhob sich der schwarze Hengst, er würde niemandem hier den Rücken kehren. Eingesperrt auf Riddle Manor war er die ganze Zeit von Feinden umzingelt, fühlte sich dauernd beobachtet, musste ständig übervorsichtig sein. Die Angst vor Entdeckung ließ ihn niemals los, im Gegenteil, sie nahm mit jedem Tag zu. Am schlimmsten waren die Begegnungen mit Voldemort, welche grässliche Angstattacken auslösten. Diese pausenlose Anspannung zermürbte ihn langsam, machte ihn anfälliger für Fehler. Er musste hier unbedingt weg. Sein Leben drehte sich deshalb nur noch um Fluchtpläne. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn jeder, der hinter das Geheimnis seiner wahren Identität käme, würde ihn ohne Zögern an den Dunklen Lord verraten. Leider bildete auch Nagini keine Ausnahme, obwohl er sich wünschte, es wäre anders. Schade. Aber Harry konnte niemanden hier trauen. Er war allein. Gerade in solchen Momenten, in welchen ihm seine eigene Einsamkeit schmerzlich bewusst wurde, vermisste er seine alten Freunde besonders, trotzdem sie schon über ein Jahrzehnt fort waren. Die Trauer war leiser geworden, aber der Verlust tat immer noch weh.   Ehe er sich aber umdrehen konnte, schlängelte sich Nagini durch seine Beine nach vorn. Harry stand stocksteif da, er mochte keine Berührungen, aber verletzen durch versehentliche Huftritte wollte er sie auch nicht. Fünf Meter Schlange rollten sich vor ihm provokativ langsam zusammen. Dann hob sie ihren Kopf bis auf seine Augenhöhe, funkelte ihn wütend an und zischte erbost: „Idiot. Diesmal bist du zu weit gegangen, Harry. Es wird keine weiteren verrückten Fluchtversuche mehr geben. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Hast du eine Ahnung, wie knapp es war. Dein Leben hing an einem seidenen Faden.“ „Wa-was?“ Ungläubig und erschreckt durch ihren Zorn taumelte Harry rückwärts. Unbeirrt fuhr Nagini fort: „Mein Meister hätte fast die Tierheiler gelyncht, als die vorschlugen, dich wegen deiner schweren Verletzungen einzuschläfern. Leider brauchte er sie noch für deine Heilung, denn die Knochenreparatur bei Pferden erfordert sehr spezielles Wissen und Können, um eine vollständige Genesung zu gewährleisten. Ich weiß gar nicht, wann ich meinen Meister das letzte Mal so wütend erlebt habe. Doch, ich weiß es. Das war der Tag, an dem Harry Potter aus Malfoy Manor floh und er die verantwortlichen Todesser eigenhändig bestrafte. So viel Blut an einem Ort habe ich nie wieder gesehen, es lief von allen Wänden herab. Die Schreie der Gefolterten waren wie Musik, so hoch und schrill. Mein Meister war atemberaubend in seiner eisigen Wut. Er kennt so viele wunderbare Folterflüche, welche die Opfer nicht töten, aber ihnen größtmögliche Qualen schenken. Seine Todesser bettelten am Schluss für ihren Tod, jedenfalls die, die noch sprechen konnten. Aber mein Meister ist keine barmherzige Person und der Tod kam sehr, sehr langsam zu jedem Einzelnen. Einzig Lucius Malfoy hat die damalige Blutnacht überlebt. Er humpelt heute ...“ Harry wurde immer übler, je mehr Nagini sich über die „tollen“ Foltermethoden ihres mörderischen Meisters ausließ. „Wer ist Harry Potter?“, unterbrach der schwarze Hengst ihren Redefluss. Er wollte sie ablenken, nichts mehr über Folterungen und Sterben hören. Sein Magen vollführte bereits Drehungen, schien aber zum Glück leer zu sein. Wie lange war er eigentlich bewusstlos gewesen? „Harry Potter? Du kennst Harry Potter nicht? Nein, natürlich kennst du Harry Potter nicht! Du bist ja ein Pferd.“, beantwortete sie sich ihre Fragen selbst. „Harry Potter ist jemand, der sich meinem Meister früher mutig in den Weg gestellt und ihn mit tollkühnen Aktionen bekämpft hat. Harry Potter und seine Freunde wurden von Dumbledore irregeleitet. Sie glaubten tatsächlich, dass ihr kleiner Aufstand Erfolg haben würde. Er war ein törichter Junge, wenn du mich fragst. Niemand kann meinen Meister, den mächtigsten Zauberer auf der Welt, besiegen. Es waren damals wilde Zeiten, auf Rebellion stand die Todesstrafe und fast alle Mitglieder des Widerstandes wurden hingerichtet. Auch Harry Potter wurde gefangen genommen, konnte aber fliehen. Soweit ich weiß, wurde er nach seiner Flucht von Malfoy Manor vor über zehn Jahren nie wieder gesehen. Er wird zwar immer noch gesucht. Aber mein Meister will ihn nicht mehr töten. Auch nicht einsperren, nur mit ihm reden.“ Der schwarze Hengst schnaubte ungläubig. „Wirklich. Das stimmt.“ Er glaubte ihr nicht. Warum sollte er auch. Seine ganze Jugend wurde er von ihrem Herrn mit tödlichen Zaubern verfolgt und die letzten zehn Jahre hatte er menschenscheu im Wald verbracht. Was könnte ihn überzeugen? Sie dachte angestrengt nach. „Mein Meister wird … demnächst ... eine General-Amnestie für Widerständler erlassen. Er will Harry Potter und seine Mitstreiter begnadigen. Diese öffentliche Geste der Versöhnung soll Zaubergroßbritannien endgültig befrieden. Mein Meister foltert niemanden mehr für bloße Widerworte oder bringt ihn deshalb um.“ Harry schluckte. Schwachsinn! Das war zu schön, um wahr zu sein. „Du erzählst mir allen Ernstes, dass dein Herr diesen Harry Potter begnadigen will? Wir reden hier doch über den gleichen Zauberer? Dein Herr, Voldemort, die Bösartigkeit in Person, der grausamste Dunkle Lord, den es je gab, welcher gnadenlos seine Feinde verfolgt und tötet, jeden Widerstand im Keim zerquetscht, den jeder fürchtet, sogar seine eigenen Untergebenen und der jetzt eisern über die magische Welt von Großbritannien herrscht. Selbst die harmlosesten Wesen im Verbotenen Wald, die absolut nichts mit der Zaubererwelt zu tun haben, kennen seinen unbarmherzigen Ruf. Niemand stellt sich ihm in den Weg oder er ist tot. Damals wie heute. Ich bin jetzt über ein halbes Jahr hier und habe seine Todesser beobachtet. Sie haben alle Angst vor ihm. Und du willst mir weismachen, er hätte sich geändert?“ „Harry, der Krieg ist lange vorbei und wir leben in Friedenszeiten. Mein Meister will nicht mehr kämpfen, sondern ein Land regieren ohne Gewalt und Terror.“ Lügen! Nichts als Lügen. „Ich glaube dir kein Wort. Voldemort wird sich niemals ändern!“ Er sah auf seinen Verband. Bei so vielen Märchen über den 'guten' Voldemort half nur noch Sarkasmus weiter: „Warum bin ich nicht gesund. Vergreift sich dein Meister jetzt schon an harmlosen Pferden, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzen?“ Empört richtete sich Nagini kerzengerade auf: „Selbstverständlich nicht. Aber da dein Körper neben den aktuellen Verletzungen auch noch andere schwere Mangelerscheinungen aufweist, erfolgt die Behandlung in mehreren Abschnitten, um dich vollständig zu heilen. Warum hast du mir nicht erzählt, dass dein früherer Besitzer dich misshandelt hat? Mein Meister hätte dir schon viel eher helfen können.“ „Mein Leben geht niemanden etwas an!“, antwortete Harry erbost. Als wenn er seinem Erzfeind jemals irgendetwas über seine Kindheit oder Jugend mitteilen würde, damit er es gegen ihn verwendete. Vertrauen war gut, Verschweigen viel besser. Nagini sah ein, dass der schwarze Hengst jetzt auf stur geschaltet hatte. Etwas Abstand wäre ganz gut. Außerdem musste sie ihrem Meister noch etwas beichten. „Du hast recht, Harry. Es ist dein Leben. Aber ich bin eine gute Zuhörerin. Reden hilft manchmal. Ich muss jetzt los, meinem ungeduldigen Herrn berichten, dass du aufgewacht bist und schon wieder munter auf allen Vieren durch den Stall stolperst. Mein Meister sorgt sich nämlich wirklich um dich. Er hält sich extra fern, um deine Genesung nicht zu gefährden. Ihm ist nämlich auch schon aufgefallen, dass du seine Gegenwart nicht besonders schätzt.“ „Ich mag deinen Herrn eben nicht“, knurrte Harry. Hass, Angst, Feindschaft, Zorn, Abscheu: ihm fielen eine Menge Begriffe ein, die passender waren als bloße Abneigung. Aber das würde er Nagini nicht auf die Nase binden. In seiner momentanen Verfassung – körperlich sowie auch emotional angeschlagen – traute er ihr derzeit nicht über den Weg. Sie war Voldemorts Haustierschlange. Sie war ihrem Meister hörig. Oder nicht? „Ich weiß.“ Elegant schlüpfte Nagini durch das Boxenfenster auf den Stallgang und verschwand.   ~•~•~•~•~•~   Die kleine Foltersession mit den zwei neuen Kerker-Insassen hatte leider nicht den gewünschten Effekt gehabt. Immer noch total aufgewühlt stürmte Voldemort die Kellertreppen hinauf und weiter durch die Eingangshalle. Er betrat sein Arbeitszimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Tief durchatmend versuchte Tom, sich zu beruhigen. Harry wäre heute beinahe gestorben. Anstatt ihm nahe zu sein, sprang sein Seelengefährte lieber in den nächsten Abgrund, nur um so weit wie möglich weg von ihm zu kommen. Früher hätte es ihn amüsiert, wenn seine Nemesis solche halsbrecherischen Stunts durchführte. Aber heute? Der Dunkle Lord hatte noch nie solche Angst im Leben verspürt – Angst um jemand anderen. Seine Gefühle waren Amok gelaufen, als er die schweren Verletzungen gesehen hatte. Dennoch hatte er seine Emotionen entschlossen zurückgedrängt. Stoisch und überlegt sorgte er für die notwendige Behandlung, konnte sich gerade noch beherrschen, die inkompetenten Tierheiler vor Ort zu töten, während er seinen zusammengebrochenen Seelengefährten in den Armen hielt. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, durfte er nicht einmal bei ihm bleiben. Weil Harry, wenn er ihn beim Aufwachen erblickte, sofort panisch weg stolpern würde und sich in seinem angeschlagenen Zustand wahrscheinlich das nächste Bein brach. Deshalb hatte er Nagini gebeten, bei ihm zu bleiben, über ihn zu wachen, bis er zu sich kam. Freudlos fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht und sah dann an sich herab. Auf seinen Ärmeln, seinem Hemd, ja seiner ganzen Kleidung befanden sich dunkelrote Flecken und Spritzer. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er immer noch seine verschmutzten Sachen trug. Wieder sah er den schwarzen Hengst in der Blutlache vor sich liegen, hörte dessen rasselnden Atem, sah wie das Leben aus ihm herauslief. Um Voldemort herum begann es zu flimmern und zu knistern. Gemälde purzelten von den Wänden, Bücher und Papiere flogen durchs Zimmer. Der ganze Raum begann zu beben. Alles wirbelte durcheinander. Minutenlang. Dann war der Spuk schlagartig vorbei und die Gegenstände fielen zu Boden. Die hilflose Wut hatte sich fürs Erste gelegt. Sichtlich ermattet ließ sich Tom in seinen Schreibtischsessel fallen, ein Bein über die Armlehne geschwungen, umgeben vom Chaos eines völlig zerstörten Arbeitszimmers. Gedankenverloren nahm er seinen Zauberstab und vollführte damit eine kleine Pirouette. Daraufhin öffnete sich am Schreibtisch ein schmales Geheimfach. Blind griff er hinein und holte einen zweiten Zauberstab heraus: Stechpalmenholz, Phönixfederkern, 11 Zoll lang - beschlagnahmt bei Harry Potters Gefangennahme. Wirklich erstaunlich. Wie oft hatte er ihn schon in der Hand gehalten, die wohltuende Wärme genossen, das zarte Kribbeln der Magie in den Fingern gespürt, genauso wie bei seinem eigenen. Geschwisterstäbe! Es hatte so viele Hinweise gegeben. Sie wären niemals so unversöhnliche Todfeinde geworden, wenn er nur eher … Voldemort blickte auf, als Nagini durch die Schlangenklappe ins Zimmer kroch. Sich umsehend, zischte sie anerkennend: „Ihr habt umdekoriert, Meister.“ „Wie geht es ihm?“, wollte der Dunkle Lord ohne Umschweife wissen. „Er wird noch eine Weile etwas humpeln, aber ansonsten ist er wieder ganz der Alte. Stur, eigenwillig, uneinsichtig. Wir hatten … eine kleine Meinungsverschiedenheit.“ Nagini wirkte zerknirscht. „Meister, ich habe etwas Dummes getan. Um Harry zu beruhigen und Euch in einem besseren Licht darzustellen, habe ich ihm erzählt, dass Ihr eine General-Amnestie für Widerständler erlassen wollt, verbunden mit einem großen feierlichen Akt für die ganze Zauberergemeinschaft. Es ist mir einfach herausgerutscht, weil Harry nur Böses sieht, wenn es Euch betrifft. Bitte verzeiht mir.“ Voldemort tippte eine Weile nachdenklich mit beiden Zauberstäben an sein Kinn. Dann stand er auf, verstaute den Stechpalmenstab sorgfältig in der geheimen Schublade und schloss sie mit Nachdruck, ehe er zu seiner Schlange blickte. „Nagini, das ist eine geniale Idee. Darauf hätte ich auch selbst kommen können.“ Voller Elan tigerte der Dunkle Lord durch den Raum. „Das wird mit Sicherheit Harrys Verfolgungsängste lindern. Natürlich wird er trotzdem eine Falle hinter dem Straferlass vermuten und seine Deckung nicht aufgeben. Aber es ist ein Anfang.“ Mit einer eleganten Bewegung senkte er seinen Zauberstab auf den linken Unterarm. „Neue Pläne müssen gemacht werden, Nagini.“ Als Voldemort hinter sich zwei Apparier-Geräusche hörte, drehte er sich um. Die Neuankömmlinge starrten entsetzt auf die blutige Kleidung ihres Herrn, welcher mitten in seinem verwüsteten Arbeitszimmer stand. Hatte er hier jemanden gefoltert? Waren sie die nächsten? Diskret scannten sie das Zimmer auf der Suche nach Hinweisen und sanken dabei unterwürfig auf die Knie. Zwar regierte der Dunkle Herrscher sein Land seit dem Krieg mit einem gemäßigteren Führungsstil und verzichtete dabei auf den Kniefall seiner Untergebenen, aber heute erschien ihnen eine normale Verbeugung zur Begrüßung nicht ausreichend genug. Sie gingen lieber auf Nummer sicher, um ihren Lord milde zu stimmen. Voldemorts Mundwinkel zuckten, als er ihre Reaktion bemerkte. Einschüchterung konnte so befriedigend sein. Deshalb steckte er betont langsam seinen Zauberstab weg und ließ die Arme locker seitlich hängen. Plötzlich bewegten sich die herumliegenden Gegenstände auf ihre angestammten Plätze zurück und seine Kleidung war wieder tadellos in Ordnung. Wenn möglich weiteten sich die Augen seiner Todesser noch mehr, denn nur sehr, sehr mächtige Zauberer konnten stab- und wortlose Magie in dieser Größenordnung wirken. Also eigentlich nur er selbst und ansatzweise – soweit er das beurteilen konnte – Harry Potter in Animagusgestalt. In solchen Momenten waren die beiden knienden Zauberer regelrecht erleichtert, die richtige Seite gewählt zu haben und ihrem Lord treu zu dienen. Ja, ab und zu kleine Machtdemonstrationen sicherten die Dienstbeflissenheit seiner Todesser. „Lucius“, genüsslich zog sein Herr den Namen in die Länge „Ich habe einen Auftrag für dich.“ Resigniert erwartete der Angesprochene wie immer in den letzten Jahren eine minderwertige Aufgabe. „Einen Auftrag, für den deine Malfoyschen Fähigkeiten erforderlich sind.“ Nun hatte er die volle Aufmerksamkeit seines Untergegebenen. „Kürzlich gab es eine Menge Zeitungsartikel über Harry Potter, um die Suche nach ihm aufzufrischen. Aber das Wissen über ihn erscheint mir doch recht oberflächlich und weist einige gravierende Lücken auf. Kein Wunder, dass niemand meine Nemesis finden konnte. Ich will einen kompletten Bericht über Harry Potter, Lucius. Ich will, dass du jedes wichtige und unwichtige Detail aus seinem Leben ausgräbst! Alles über seine Abstammung, seine Titel, seine Finanzen, sein Erbe, seine Häuser und Güter, seine Krankheiten, seine Stärken und Schwächen, et cetera. Ich will seinen kompletten Lebenslauf von der Geburt an.“ Voldemort stockte. Hatte der Tierheiler nicht Missbrauch erwähnt? „Und ich will den Namen und die Adresse der Muggelfamilie, bei welcher er aufgewachsen ist. Deine Aufgabe hat oberste Priorität. Für die gesamten Recherchen untersteht dir die Aurorenabteilung des Ministeriums. Du berichtest ausschließlich mir persönlich. Enttäusche mich nicht noch einmal, Lucius.“ Mehr musste sein Herr nicht sagen. Er hatte genau verstanden. Das Ende seiner Bestrafung rückte in greifbare Nähe, wenn er diesen Auftrag mit Bravour erledigte. Dieser Auftrag war die erste und einzige Chance, die Vergebung seines Herrn zu erlangen. Wie damals hielt er Harry Potters Leben, wenn auch nur symbolisch, in seinen Händen. Nur dieses Mal würde er nicht leichtsinnig damit umgehen, sondern akribisch jedes Quentchen Wissen darüber zusammentragen und endlich seinen vor Jahren begangenen Fehler korrigieren. Lucius Malfoy würde nicht scheitern! Bestätigend senkte er den Kopf: „Jawohl, mein Lord.“ Zufrieden mit der Antwort wandte sich Voldemort an den zweiten Todesser. Die Arme hinter sich verschränkend ging er gemächlich auf ihn zu. „Nun zu dir, Severus. Ich habe mich an deine frühere Spionagetätigkeit erinnert. Du warst so ein guter … Doppelagent, dass ich fast an deiner Loyalität zweifelte.“ Voldemort sah ihn wissend an und fuhr fort: „Kein Todesser ist meinen Feinden so nah gekommen wie du. Doch nun leben wir in Friedenszeiten und der Widerstand ist seit über zehn Jahren gebrochen. Daher habe ich beschlossen, im Zuge einer General-Amnestie alle ehemaligen Widerständler zu begnadigen. Mir schwebt ein öffentlicher Festakt in Hogwarts vor, mit großem Bankett und Ball am Abend, an dem ausgewählte Freigelassene stellvertretend teilnehmen. Die Organisation der Veranstaltung lege ich in deine Hände. Zwei Monate sollten für die Vorbereitungen genügen, denke ich.“ „Eine solche Begnadigungsaktion würde auch für Harry Potter gelten“, regte sich Snape auf. Der Dunkle Lord lächelte. Sein Tränkemeister war so vorhersehbar und hegte anscheinend immer noch einen Groll gegen seinen Seelengefährten. „Ah, Severus, du hast gleich den entscheidenen Punkt getroffen. Natürlich gilt die Amnestie auch für Harry Potter. Vielleicht ist er dann eher geneigt, seine meisterhafte Tarnung aufzugeben und sich zu stellen. Da du Harry Potters Lehrer sowie auch Mitglied im Orden des Phönix warst, kennst du sicher alle seine Freunde und Personen aus seinem näheren Umfeld. Falls sie noch leben, wirst du dich um ihre baldige Entlassung sowie Genesung kümmern und dafür sorgen, dass sie an der Festveranstaltung teilnehmen. Für die Freilassung der restlichen Widerständler ist das Ministerium für magische Strafverfolgung zuständig. Selbstverständlich werden alle mit einem lebenslangen Überwachungszauber belegt, damit sie sich von Dummheiten wie zum Beispiel der erneuten Gründung eines Vogel-Ordens fern halten. Da diese Aufgabe dich voll einbindet, wird die Leitung von Hogwarts solange dein Stellvertreter übernehmen. Noch Fragen, Severus?“ Snapes Gesicht glich einer Zitrone, einer richtig sauren Zitrone. Aber er schüttelte verneinend den Kopf. Eine Augenbraue hochziehend wartete Voldemort auf mehr. Verdrießlich schnarrte der Professor: „Alles wird geschehen, wie Ihr es wünscht, mein Lord.“ „Ach, und Lucius? Wenn du schon dabei bist, kannst du auch noch die Lebensläufe von Harry Potters Freunden und Bekannten erstellen. Soweit es diesen Personenkreis betrifft, werdet ihr beide zusammenarbeiten.“ Der Dunkle Lord wandte sich ab und ging zu seiner Schlange, welche auf ihrem Diwan lag und sie beobachtete. „Übrigens wird die Widerstands-Delegation während der gesamten Festwoche hier im Gästetrakt untergebracht sein, um mögliche Provokationen auf beiden Seiten einzudämmen.“ Er vernahm ein empörtes Luftholen. Für jeden Todesser galt es als höchste Auszeichnung, einmal auf der Gästeliste von Riddle Manor zu stehen. Da Voldemort aber äußerst sparsam mit Lob umging, gab es sehr selten Gäste. Und nun sollten ehemalige Häftlinge dieses Privileg erhalten. So ganz konnte Voldemort es nicht lassen, den Standesdünkel von Malfoy Senior zu kitzeln, welcher noch nie hier zu Gast war, im Gegensatz zu seiner Frau und seinem Sohn. Es machte einfach zu viel Spaß. „Ihr könnt gehen. Eure neuen Aufgaben warten.“ Ohne weiter auf seine Untergebenen zu achten, setzte er sich in seinen Lieblingssessel neben dem Ruheplatz seines Haustieres. Leise verließen Lucius und Severus den Raum und gingen sichtlich geschockt zum großen Kamin in der Eingangshalle, um zu flohen. Für sie war gerade eine heile Zaubererwelt eingestürzt – Harry Potter war kein gesuchter Verbrecher mehr, weshalb sein Tod nicht mehr auf der Tagesordnung stand, sondern ein freier Mann.   „Harry wird es nicht gut finden, wenn du alle seine Geheimnisse aufdeckst und seine Freunde stalkst, Meister. Das kann furchtbar nach hinten losgehen.“ „Ich weiß, Nagini, ich weiß.“ Betrübt fuhr er sich durch die Haare. „Aber in der Vergangenheit ist so viel schief gelaufen, größtenteils durch Nichtwissen. Und es ist ja nicht so, dass ich wie früher beabsichtige, Harry zu schaden. Ich will meinem Gefährten helfen und da ist mir jedes Mittel recht.“ Wie fast jeden Abend legte Nagini ihren Kopf auf die Sesselarmlehne, Tom nahm sein angefangenes Buch über Angst- und Panikstörungen vom Beistelltisch und streckte die Beine aus. „Die Gäste-Sache ist ein kluger Schachzug, Meister. Soweit habe ich gar nicht gedacht. Harry wird sich freuen, seine Freunde wiederzusehen. Vor allem, wenn sie gesund und frei über deine Ländereien spazieren.“ Der Dunkle Lord lächelte und begann zu lesen.   ~•~•~•~•~•~   Angus McLachlan beugte sich über den schwarzen Hengst und presste ein Ohr auf dessen Brustkorb. Erleichtert setzte er sich auf und lauschte auf den gleichmäßigen Atem des Tieres. Dann legte er seine Hand auf die Herzgegend. Der Hübsche hatte wirklich eine echte Begabung, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Eine gereizte Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen: „Warum liegt mein Lieblingspferd außerhalb seiner Koppel am Seeufer und ist pitschnass? Erklärung!“ Entkräftet und ebenso nass sah Angus zu seinem Herrn auf. Dieser erbarmte sich und zauberte Mensch und Tier trocken, ehe er sich selbst neben seinen Seelenpartner kniete, welcher offensichtlich unversehrt war. „Was ist passiert?“, fragte Voldemort nun milder gestimmt. Nachdenklich begann der Stallmeister zu erzählen: „Auf meinem letzten Rundgang bemerkte ich etwas Dunkles im Großen See. Ich ging näher heran und sah Aris direkt auf die kleine Bucht zu schwimmen, welche in den Verbotenen Wald hineinragt. Mir fiel schlagartig ein, dass die Grenze von Riddle Manor und damit auch der Bannkreis dort nicht dem Uferrand folgen, sondern mitten durch die Bucht in einer Linie zum Waldrand verlaufen. Der Hübsche würde ohnmächtig werden und ertrinken. Ehe ich mich versah und etwas tun konnte, tauchte euer Hengst kurz vor der Barriere unter Wasser, kam aber dahinter nicht wieder hoch. Ich musste sofort handeln. Da Zauber im See nicht wirken, apparierte ich über die Unglücksstelle und ließ mich tief ins Wasser fallen. Aris kämpfte am Grund verzweifelt um sein Leben, weil er sich in den Wasserpflanzen verfangen hatte. Als ich bei ihm ankam, bewegte er sich nur noch sporadisch. Schnell schnitt ich ihn frei und schwamm mit dem fast bewusstlosen Hengst an die Wasseroberfläche. Von dort konnte ich uns an Land zaubern, wo der Hübsche total erschöpft eingeschlafen ist, während ich ihn untersuchte. In seine Lungen ist kein Wasser eingedrungen, auch sein Herzschlag hat sich normalisiert. Ich wollte Euch gerade informieren, aber ihr kamt mir zuvor, mein Herr.“ Beide Zauberer schwiegen einvernehmlich und streichelten die schlafende Schönheit. Nach einer Weile sprach Angus seine Gedanken zu dem Vorfall aus: „Pferde können nicht tauchen, selbst die 'weißen Pferden aus dem Meer' in Südfrankreich nicht. Und nur die Camargue-Pferde sind als einzige in der Lage, mit den Kopf unter Wasser zu grasen, weil sie ihre Nüstern verschließen können. Aber der Hübsche hier hat garantiert kein französisches Blut in den Adern. Warum kann Euer Hengst also tauchen? Und woher wusste er, dass der Bannkreis unter Wasser keine Wirkung hat?“ Voldemort antwortete nicht, hörte ihm nur aufmerksam zu und Angus fuhr mit seinen Überlegungen fort: „Seit seiner schweren Verletzung vor knapp zwei Monaten ist Aris, wenn ich heute mitzähle, bereits wieder elfmal von seiner Koppel oder aus dem Stall verschwunden. Und heute haben die Kontrollzauber versagt. Es gab keinen Alarm. Wenn ich ihn nicht zufällig entdeckt hätte, wäre der Hübsche ertrunken.“ Die Augen des Dunklen Lords begannen zu glühen, aber er schien mehr mit sich selbst zu hadern als wütend auf den Stallmeister zu sein. „So viele ausgeklügelte Fluchtversuche! Der Hübsche ist nicht nur ein Pferd, richtig?“, schlussfolgerte der Stallmeister. Sich mit den Fingern in den Nasenrücken kneifend, schloss der Dunkle Lord kurz die Augen, um eine Entscheidung zu treffen. „Du hast recht, Angus. Er ist ein Zauberer in Animagusgestalt, der sich momentan nicht zurückverwandeln kann und unter meinem Schutz steht. Wenn er wüsste, dass ich seine wahre Identität kenne, würde er mich und jeden hier todesverachtend bekämpfen und seine Fluchtversuche wären wirklich selbstmörderisch. Bisher war er sehr vorsichtig, um nicht aufzufallen. Der heutige Versuch und das Fiasko vor zwei Monaten waren nur Unfälle. Ich möchte sein Vertrauen gewinnen und mich ihm nähern, ohne angegriffen oder abgewehrt zu werden.“ Der Stallmeister strich die Stirnmähne zur Seite und fuhr sanft die schwach zu erkennende blitzförmige Narbe nach. „Ich denke, ich weiß, wer er ist. Schon seit längerem. Aber warum lebt er noch, mein Herr?“ Der Dunkle Lord war froh, dass Angus McLachlan zu seinen engsten Vertrauten gehörte, ihm absolut treu ergeben war und mitdachte. Das hatte er erneut bewiesen, indem er Harrys längst gelüftetes Geheimnis für sich behielt. Voldemort war selten in der Stimmung, sich Ratschläge anzuhören, aber hier mit einem fast ertrunkenen Seelengefährten, war er dafür bereit und würde Angus auch einweihen. Sein Stallmeister, der ihn sehr gut kannte, wohl auch väterliche Gefühle für ihn hegte, hatte gewusst, dass er heute frei sprechen und seine Gedanken mit ihm teilen konnte. Behutsam streichelte Voldemort über den Pferdehals. „Harry Potter ist mein Seelengefährte, Angus. Meine fehlende Hälfte, die mich vollständig macht. Und er hat, wie du weißt, panische Angst vor Berührungen und vor mir im Besonderen. Darum die ganze Scharade. Er spielt Pferd, fühlt sich dadurch sicher, muss mich dabei aber in seiner Nähe dulden, um sich nicht zu verraten. Ich tue so, als wüsste ich von nichts und behandle ihn wie ein normales Pferd, komme aber dadurch nah an ihn heran. Ich hatte gehofft, dass er sich allmählich an mich gewöhnt und zutraulicher wird, um ihn dann zu überzeugen, dass ich keine Gefahr mehr für ihn bin und ihm niemals wieder schaden werde. Erst dann kann ich versuchen, ihm so schonend wie möglich beizubringen, dass wir Seelengefährten sind. Derzeit hat es keinen Zweck, er würde mich kategorisch ablehnen und nie mehr an sich heranlassen. Durch unsere Seelenbindung bin ich ein Pferdeanimagus geworden und Dark ist mein Alter Ego. In meiner neuen Gestalt kann ich mich ihm wenigstens nähern, ohne dass ihm der Angstschweiß ausbricht. Trotzdem trete ich seit Monaten auf der Stelle, Angus. Anstatt besser, wird es immer schlimmer. Scheinbar treiben ihn meine Gegenwart und seine Gefangenschaft langsam zur Verzweiflung.“ „Ich nehme stark an, Ihr habt zum ersten Mal von Eurer Seelenpartnerschaft erfahren, als der Hübsche auf Riddle Manor aufgetaucht ist?“ Der Dunkle Lord stutzte. „Worauf willst du hinaus?“ „Die Anleihe Eurer Bindung ist noch ganz frisch, nur ein halbes Jahr alt. Meine Urgroßeltern vereinte ebenfalls eine Seelenbindung. Aber sie wussten schon seit ihrer Kindheit, dass sie Seelenpartner waren, und hatten zwanzig Jahre Zeit, sich richtig kennenzulernen und zu vermählen. Geduld ist das Zauberwort. Gute Dinge brauchen Zeit.“ „Na, bei dem derzeitigen Tempo der wenigen Fort- und vielen Rückschritte kann das Jahre dauern“, sagte Voldemort trocken. „Mein Herr, ich bin Harry Potter nie begegnet, nur seiner Animagusgestalt Aris. Aber da sich die Persönlichkeit bei der Wandlung nicht ändert, kann ich ihn doch recht gut einschätzen. Und ich mag ihn. Euer Gefährte ist kein freiwilliger Kämpfer, aber er verteidigt selbstlos jeden, der Schutz und Hilfe benötigt. Er ist gleichzeitig mutig wie ängstlich. Er ist unvoreingenommen, gütig, fürsorglich und liebevoll. Vor allen Dingen ist er äußerst sensibel. Er spürt die Gefühle von anderen, kann sie darum gut einschätzen. Tod und Gewalt stoßen ihn ab, er verabscheut Grausamkeit. Darum hasst er Euch wie die Pest und alle Eure Untergebenen sowie die dunkle Seite. Er hat die weiße Seite nicht aus Überzeugung gewählt, sondern weil sie für ihn das kleinere von zwei Übeln ist. Ohne den Krieg wäre aus ihm wahrscheinlich ein grauer Zauberer geworden und er hätte sich vorurteilsfrei weißer und schwarzer Magie bedient. Ihr könnt also nicht erwarten, dass er Eure Taten, die sein ganzes bisheriges Leben in einen Albtraum verwandelt haben, einfach vergisst und neu anfängt. Ihr tragt die Schuld am Tod seiner Familie und seiner Freunde, habt ihn foltern lassen und für vogelfrei erklärt. Das sind nicht die besten Ausgangsbedingungen für eine Partnerschaft.“ „Keine guten Aussichten für ein Happy End“, fasste der Dunkle Lord die Einschätzung seines Stallmeisters zusammen. „Nichts ist verloren, mein Herr. Ihr und Euer Gefährte seid vom Schicksal auserwählt. Trotz aller Widrigkeiten wird Euch beide die Seelenbindung schließlich zusammenführen. Davon bin ich fest überzeugt. Niemand kann Eurem Charme und Charisma lange widerstehen, wenn Ihr beides gekonnt einsetzt, auch Euer Seelengefährte nicht.“ Voldemort ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. „Danke für deine Worte, Angus.“ Wieder schauten beide gemeinsam auf den schlummernden Hengst. Angus drapierte die Mähne wieder über die Stirn und versteckte die Narbe. Herr und Stallmeister verstanden sich wortlos. „Trotzdem solltet Ihr über eine Änderung seiner Situation nachdenken, Euch ihm notfalls doch offenbaren. Irgendwann schafft er es durch die Barriere und ist verschwunden. Das letzte Mal hat es über zehn Jahre gedauert, um ihn zu finden.“ „Glaubst du wirklich, es gibt auf dieser Welt noch irgendeinen Ort, wo er sich vor seinem Seelengefährten verstecken kann, Angus? Ich habe die Bindung bereits akzeptiert und kann ihn deshalb überall finden. Aber vielleicht lasse ich Harry einen kleinen Vorsprung, damit er sich abreagieren kann, bis ich ihn zurück an meine Seite hole“, schmunzelte der Lord und stand auf. „Es ist spät. Aris sollte im Stall sein, ehe er aufwacht, sonst springt er womöglich nochmal in den See für ein Mondscheinbad.“ Voldemort nickte zum Abschied und ging zum Manor. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um. „Danke für die Rettung seines Lebens. Ich stehe tief in deiner Schuld. ... Du kannst mich künftig mit Tom ansprechen.“ „Ich bringe ihn wohlbehalten zurück, ... Tom und wache über ihn“, versprach Angus gerührt, erhob sich ebenfalls und zog seinen Zauberstab heraus. Kurz darauf lief er mit dem schwebenden schwarzen Hengst neben sich in Richtung Stall, während sein Herr im Haus verschwand.   _________ * Tierheiler – Zauberstäbe Gut ausgebildete Todesser haben ihre Zauberstäbe immer bei sich, selbst wenn sie schlafen oder Freizeit haben. Und Voldemort achtet akribisch darauf, dass alle seine Todesser perfekt geschult sind, selbst die Geist- und Tierheiler. _________ ** Eckdaten zu Alexius Devaney - Waliser und 41 Jahre alt - glücklich verheiratet, zwei Kinder - ehemaliger Ravenclaw und Tierliebhaber - drei Jahre Ausbildung zum Tierheiler an der School of Veterinary Studies, Glasgow - fünf Jahre Studium Veterinärmedizin an der University of Bristol - Doktor der Tiermedizin (Muggeltierkunde) - arbeitet als Tierarzt sowie Tierheiler in Cardiff - rettet misshandelte Tiere aus beiden Welten - grauer Zauberer, nutzt weiße wie schwarze Magie für Heilzauber - rangniedriger Todesser - bisher Aushilfsveterinär und ab jetzt Oberster Tierheiler des Riddle Gestüts Alexius ist nur durch Zufall Todesser geworden. Vor sieben Jahren war er bei der Royal Windsor Horse Show als Tierarzt eingesetzt. Saban, der Araberhengst des Dunklen Herrschers, benötigte medizinische Versorgung. Voldemorts eigene Tierheiler hatten sich kurz vor der Anreise mit Drachenpocken außer Gefecht gesetzt. Dr. Devaney übernahm die Behandlung und Saban gewann das Springreiten. Wer sich einmal in den Augen von Lord Voldemort als nützlich erwies, kam um eine Todesser-Laufbahn nicht herum. Am Ende der Veranstaltung trug Alexius das Dunkle Mal. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)