Ecce equus niger von AomaSade (LV x HP) ================================================================================ Kapitel 12: Hilflos ------------------- Mit einem leisen „Plopp“ tauchte Voldemort in der Eingangshalle von Riddle Manor auf. Einen Moment lang blieb er regungslos stehen und blickte abwesend vor sich hin. Schließlich atmete er tief durch, um seine bisher erfolgreich verdrängte Müdigkeit abzuschütteln. Aber es half nicht viel. Sein Körper verlangte dringend nach Schlaf. Außerdem würde eine erholsame Nacht helfen, die leisen Zweifel an der aktuellen Unterbringung seines Gefährten eine Weile zu verdrängen. Aber sie würden nicht verschwinden. Leider. Die Grübeleien ließen sich nicht abstellen. Waren es nun harmlose Zweifel oder doch eher Schuldgefühle, die ihn beschäftigten?! Der Herrscher über Zaubergroßbritannien und Schuldge... Kopfschüttelnd verdrängte Tom diesen absurden Gedanken. Körperliche Erschöpfung! Ja, daran musste es liegen. Er konnte nicht mehr klar denken! Da half auch kein Aufpepptrank. Heute würde er nur noch etwas essen und dann schlafen gehen. Alles andere musste bis morgen warten. Voldemort warf seine Jacke auf das Treppengeländer. Ohne Eile krempelte er die Ärmel wieder herunter und schloss geschickt die Manschettenknöpfe. Während er glättend über sein Hemd strich, huschte ein Reinigungszauber über ihn hinweg. Abschließend zog er sein Jackett wieder an. Von einem modebewussten Muggel-Business-Outfit unterschied sich sein Anzug nur durch dunkelgrün schimmernde Knöpfe und Schlangen-Stickereien auf dem Revers sowie die in gleicher Farbe abgesetzten Paspeln an den Taschenklappen. Dezent funkelnde Smaragd-Splitter auf diesen sprachen für Exklusivität. Diese feinen Details kennzeichneten ihn als Zauberer von Welt und unterstrichen seine Machtposition. Seit er seine schlangenhafte Gestalt losgeworden war und die Vorteile eines attraktiven Äußeren wieder genoss, achtete Tom sorgsam auf eine gepflegte Erscheinung. Durch gutes Aussehen ließ sich das Volk viel besser einlullen und lenken, Ziele schneller erreichen. Seine Todesser überschlugen sich schon, wenn er nur eine - jetzt vorhandene - Augenbraue anhob. Denn hinter der schönen Fassade lauerte immer noch ein grausamer Dunkler Lord. Auch wenn der Todesfluch nach dem Krieg kaum noch zur Anwendung kam, waren die Strafen für Fehlverhalten weiterhin qualvoll. Voldemorts Einfallsreichtum für neue Folterflüche kannte keine Grenzen. Jeder Untergebene kannte seine Vorliebe, die Auswirkungen der neuen Flüche an in Ungnade gefallenen Personen zu erforschen. Deshalb wollte kein Todesser seinen Herrn verärgern oder negativ auffallen. Das war auch zehn Jahre nach dem Krieg gefährlich. Es hatte Voldemort mit Genugtuung erfüllt, ganz oben an der Spitze des magischen Britannien zu stehen, Regentschaft und Befehlsgewalt in seiner Hand zu haben. Aber es hatte seine innere Unruhe nicht gestoppt. Sein Sieg schmeckte fade. Etwas hatte gefehlt, schmälerte den Triumph. Bis sein Seelenpartner am Horizont auftauchte. Nun war er auf der Erfolgsgeraden. Mit Harry an seiner Seite zu leben und zu herrschen wäre endlich ... Vollkommenheit. Unbewusst hatte er all die Jahre danach gestrebt. Nicht der Drang nach Sieg und Herrschaft hatte ihn so rastlos, fordernd, aggressiv und mächtig gemacht, sondern die Sehnsucht nach seinem Gefährten, den er bereits als Baby traf und all die Jahre nicht erkannte. Und solange dieser durch Abwesenheit glänzte, konzentrierte er seine geballte Kraft auf die Eroberung und Gestaltung eines Reiches, in welchem sie beide - von nun an gemeinsam - uneingeschränkt herrschen und leben konnten. Das neue Zaubergroßbritannien würde Harry Potter willkommen heißen, Tom würde ihm ihr Heimatland zu Füßen legen. Aber alles zu gegebener Zeit. Harry war noch nicht bereit dafür. Was er wohl gerade tat? Schlafen jedenfalls nicht. Denn dessen Schattenpferd bewachte aufgedreht und wutschnaubend die dichte Nebelbarriere um Harrys Gedankenwelt, wobei es jeden noch so kleinen vorbeifliegenden Nebelschwaden hitzig attackierte. Scheinbar war sein Seelenpartner ein klein wenig aufgebracht. Worüber wohl mehr: Die neue Unterkunft oder die Demaskierung? Tom tippte auf Letzteres. Er erinnerte sich an die samtgrünen Augen, welche vor Entsetzen riesengroß wurden. Der Schock über die Enthüllung würde sich legen, wenn Harry genügend Ruhe zum Nachdenken hatte. Sie brauchten jetzt beide etwas Abstand voneinander. Morgen würde Tom ausgiebig Zeit mit seinem Gefährten verbringen. Klärende Gespräche waren nämlich längst überfällig. Und nun wusste endlich auch Harry, dass Lord Voldemort seine wahre Identität kannte, schon seit Monaten darüber informiert war und ihn weder gefoltert noch getötet hatte. Trotzdem würde sein Partner ihm nicht freiwillig zuhören, sondern wie bisher schnellstmöglich das Weite suchen. Tom seufzte. Leider müsste er wohl regulierend eingreifen, damit der schwarze Hengst auch außerhalb der Striegelzeiten in seiner Nähe blieb. Aber auch dann würde Harry kein einziges Wort seiner Erklärungen glauben, denn er traute niemandem hier. Selbst Nagini wäre keine Hilfe, sie war jetzt sicher genauso unerwünscht wie er. Dass die Schlange eingeweiht war und Harry nicht gewarnt hatte, wird ihm inzwischen sicher aufgefallen sein. Und Dark? Nein! Er konnte schlecht ein „normales“ Pferd in die Höhlen bringen. Harry war jetzt übervorsichtig. Er würde sofort durchschauen oder vermuten, dass Dark nicht echt war. Und wenigstens einen Trumpf wollte Voldemort noch behalten, falls eine weitere Notsituation eintreten sollte. Und das würde auf jeden Fall passieren. Harry Potter war einfach ein Garant dafür. Wie brachte er also seinen unberechenbaren Gefährten dazu, gerade ihm zu vertrauen? Gute Frage! Seltsam ungelenk ging er in Richtung Arbeitszimmer. „Meister, du humpelst!“, zischte Nagini, als sie ihn mit harten gelben Augen aus dem Schatten unterhalb der großen Treppe anfunkelte. Der Dunkle Lord schaute irritiert auf seinen Fuß. „Oh, das ...“, winkte er ab. Die Schlangendame bemerkte sofort, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Ihrem Meister fiel nicht einmal auf, dass er kein Parsel sprach. Voldemort lief einfach an ihr vorüber, heilte nebenbei seine Verletzung und rief nach einem Hauselfen. Er ignorierte seine Schlange völlig. Das kam nur vor, wenn er ein neues, äußerst reizvolles Ziel vor Augen hatte, dass seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte. Nagini ahnte schon, welcher Name auf der Zielscheibe stand und folgte ihm ins Arbeitszimmer. Die Schlangendame würde sich nicht abwimmeln lassen. Es ging schließlich um Harry. „Das ‚Oh‘ hat nicht zufällig etwas mit dem Verschwinden meines Zauberpferdes zu tun?“ Voldemort schenkte ihr keine Beachtung. Seine Vertraute war auf Streit gebürstet. Er war jetzt einfach zu müde und zu fertig, um mit ihr zu argumentieren. Denn dann würde er heute überhaupt nicht mehr ins Bett kommen. Also ließ er sie aus „reinem Selbstschutz“ links liegen. Während er die Papiere auf dem Schreibtisch durchsah, orderte er vom erschienenen Hauselfen eine Mahlzeit für sich. Dieser machte sich mit schnippenden Fingern an die Arbeit und deckte den kleinen Esstisch am Fenster ein. Nagini positionierte sich demonstrativ vor dem Tisch und starrte ihren Meister erbost an. Nichtbeachtung machte sie fuchtig. Der Elf stand katzbuckelnd daneben und zitterte stark wegen der tödlichen Schlange. Aber Nagini interessierte sich jetzt nicht für den kleinen Zwischen-Snack. Sie wollte Antworten. Als leckerer Bratenduft den Raum erfüllte, blickte der Dunkle Lord auf und bemerkte, dass zwei Augenpaare ihn anstarrten. „Informiere meinen Sekretär, dass ich heute und morgen nicht gestört werden will, Grumper“, befahl er dem ängstlichen Hauselfen. Dieser verneigte sich tief. „Grumper wird es sofort ausrichten, Meister“, grummelte das Geschöpf in seinen nicht vorhandenen Bart und löste sich erleichtert in Luft auf. Heute würde er nicht als Schlangenfutter enden. Der Dunkle Lord hatte seiner Schlange zwar verboten, die Hauselfen zu vernaschen. Doch Schuppenkriechtieren war nicht zu trauen. Nagini jagte weiterhin Elfen im Manor, ließ die Eingefangenen aber danach wieder laufen. In der Vergangenheit waren viele von Grumpers Kameraden auf Nimmerwiedersehen im Bauch des Reptils verschwunden. Die Angst blieb, denn alte Gewohnheiten ließen sich schwer abstellen, was sicher auch für Schlangen galt. Das Rückfall-Risiko war also groß, doch noch als Appetithäppchen auf dem Teller der Jägerin zu enden. Tom umrundete die Schlangendame und setzte sich an den gedeckten Tisch. ‚Keine Diskussion mit Nagini anfangen!‘, er war einfach zu übernächtigt und viel zu hungrig. Genüsslich füllte er sich von allem auf und begann zu speisen. Aber lange konnte er sich nicht am Essen erfreuen, da stechende Blicke ihn erdolchen wollten. Klirrend legte er sein Besteck beiseite und lehnte sich zurück. Unwillig erklärte Voldemort: „Dein liebes Zauberpferd hat sich gestern früh aus dem Staub gemacht. Nein, ich korrigiere mich: Meine hilfsbereiten Todesser haben Aris auf einen Ausflug nach Addington mitgenommen und in Gefahr gebracht, weil sie ihn im Tiefschlaf aus dem Transporter gezerrt haben. Zum Glück hatten sie so viel Verstand, um mich zu rufen. Ich war einen ganzen Tag lang damit beschäftigt, Harrys neues Quartier ausbruchssicher zu gestalten und es mit allem Komfort auszustatten. Es wird keine weiteren Fluchtversuche geben. Harry bleibt dort, bis wir uns ausgesprochen haben und er seine Situation begriffen hat. Das Versteckspielen ist vorbei, denn die Katze ist aus dem Sack.“ Müde rieb er sein Gesicht. „Harry geht es gut, Nagini. Ich werde morgen mit dir darüber reden. Versprochen.“ Die Schlange fixierte ihren Meister missbilligend. Sie ließ sich garantiert nicht abwimmeln. „Sicher? Anderes Quartier? Wo hast du ihn hingebracht?“, fragte sie rebellisch. „Wie kann ein anderer Ort für deinen Gefährten sicherer sein als hier bei uns, Meister? Du hast ihn doch nicht in ein Verlies oder Ähnliches gesteckt? Er hat Albträume vom Eingesperrtsein. Und welche Katze meinst du?“ Voldemort schloss die Augen und kniff gereizt seine Nasenwurzel. Er hatte jetzt nicht die Nerven, sich Naginis Inquisition zu stellen. Er war schlicht und ergreifend k. o. „Als Kerkerzelle würde ich seine neue Unterkunft nicht bezeichnen. Es ist etwas größer“, verteidigte er sich lahm. Naginis Worte enthielten größere Fünkchen an Wahrheit, als ihm lieb war und nährten die Zweifel an seiner Vorgehensweise. Aber damit würde er sich jetzt nicht auseinandersetzen. Punkt! Er brauchte Schlaf. Aber so wie Nagini ihn wütend anfunkelte, würde er diesen im Manor nicht finden. Enttäuscht schaute er auf die köstliche Hausmannskost. Auswärts in einem Gasthof dinieren wäre die nächste Option? Oder ... Kurz entschlossen verschwand Voldemort mitsamt dem Essen und ließ eine empörte Schlange zurück. ~•~•~•~•~•~ Wieder nichts. Müde und abgekämpft trottete der schwarze Hengst weiter. Seine Augen brannten vom Untersuchen der endlosen Steinwände. Hunger und Durst quälten ihn, waren jedoch nebensächlich. Dafür verschwendete er keine kostbare Zeit. Es gab Wichtigeres zu tun. Harry hatte stundenlang das Höhlenlabyrinth erkundet, doch bis jetzt keinen Ausweg gefunden. Aber es musste einen geben. Diese Überzeugung hielt ihn als Einziges auf den Beinen. Er konnte nicht hierbleiben. Hilflos. In der Gewalt seines Todfeindes. Diese Leere in ihm. Sie schwächte ihn zusätzlich. Seine Magie, die immer da gewesen war, ihn umarmte, tröstete, heilte, stärkte, unterstützte – war fort. Einfach fort. Geraubt. Was würde Voldemort das nächste Mal stehlen? Er wollte es nicht herausfinden. Verbissen setzte er seinen Weg fort und betrat leicht taumelnd den nächsten Gang. Seine Muskeln schmerzten, nur noch mühsam setzte er einen Huf vor den anderen. Wieder schwankte er bedenklich, seine Beine fingen an zu zittern. Nachdem ein Stolpern ihn beinahe zu Fall gebracht hätte, blieb er schließlich erschöpft stehen, wollte jedoch nur ganz kurz verschnaufen. Sein Fluchtinstinkt trieb ihn vorwärts, ließ keine lange Pause zu. Die Rast half überhaupt nicht, denn als Harry seine Erkundung fortsetzen wollte, konnte er seine Beine nicht mehr bewegen. Sie ließen sich nicht anheben, gehorchten ihm nicht. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gab er auf. Träge betrachtete er die Vorderhufe. Nur langsam drang die Erkenntnis durch seine übermüdeten Gedanken: Es lag nicht an ihm und seiner Entkräftung. Die Hufe waren fest mit dem Boden verbunden. Wie festgeklebt. Verzaubert. Er wurde festgehalten! Durch einen Fesselzauber! Nein! Oh Merlin, nein! Nicht nochmal! Panisch bäumte der Hengst sich auf, konnte aber nur den Kopf wild hin und her werfen. Egal, wie sehr er sich anstrengte, er kam einfach nicht weg. Harrys Kampf wurde immer hektischer. Plötzlich war auch sein Kopf bewegungsunfähig. Ein Halfter hielt ihn fest. Pure Angst überwältigte ihn. Das hatte er schon einmal erlebt. Nachdem er hier unten aufgewacht war – ohne seine Magie und wehrlos. Voldemorts verrückten Spielen ausgeliefert. Was nahm er diesmal? Sein Bein? Oh Merlin, er hatte Voldemort aus Wut getreten. Horrorszenarien von leeren Augenhöhlen, verstümmelten Gliedmaßen überfluteten seinen Geist, ließen ihn vor Entsetzen erstarren. Dann hörte er vertraute Schritte, die langsam näher kamen. Sein Herz begann zu rasen, er schnappte panisch nach Luft. Kopflos versuchte er, seine Hufe zu befreien, obwohl die Aktion aussichtslos war. Es gab kein Entrinnen! Er war gefangen ... gefangen ... gefangen ... Wie ein Mantra wiederholte sich das Wort in seinem Kopf. Übelkeit verknotete seinen leeren Magen, verursachte Schwindelgefühle. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, drehten sich im Kreis. Die Realität verblasste. Schreckensbilder aus seiner Vergangenheit blitzten kaleidoskopartig auf und übernahmen dann vollständig die Gegenwart. Alles verschwamm vor seinen Augen, der Höhlengang löste sich auf und Harry war zurück in Malfoy Manor. Die modrigen mit seinem Blut bespritzten Kerkerwände umzingelten ihn. Rasselnde, schwere Ketten hielten ihn an Ort und Stelle. Er hörte Schritte. Die Todesser kamen. Eine neue Foltersession stand bevor. Doch diesmal war es viel, viel schlimmer. Nicht nur die Handlanger, sondern auch ihr Herr kamen. Diesmal war sein Todfeind da. Voldemort würde ihn eigenhändig foltern. Die Schritte verstummten. Sie waren da! Harrys keuchende Atemzüge und sein hämmernder Herzschlag verdoppelten sich, während eine bodenlose Schwärze anfing, ihn zu verschlingen. Sie griffen nach ihm, fassten ihn an. Sie redeten mit ihm, flüsterten beruhigende Worte in sein Ohr, strichen durch sein Haar. Sein Körper fing an, sich ungewollt zu entspannen, weil nichts Schlimmes passierte. Das war neu. Dieser Albtraum lief vollkommen anders als alle bisherigen ab. Es gab ... keine Schmerzen. Harrys Panikattacke flaute langsam ab. Die dunklen Schatten lichteten sich, wurden grauer. Eigenartig!? ~•~•~•~•~•~ Big Ben schlug neunmal, als der Dunkle Lord seinen ersten Schluck Kaffee nahm. Er stand an die Balustrade gelehnt und sah nachdenklich auf das in Nebel gehüllte Zentrum von London, aus dem der berühmte Uhrenturm deutlich herausragte. Der Dachgarten seines Penthouse war durch Zauber klimatisiert und vor Witterungseinflüssen geschützt, so dass der Aufenthalt im Freien zu jeder Jahreszeit möglich war. Bäume, Sträucher, Kletterpflanzen, Blumen und Kräuter wuchsen wildromantisch und umrahmten idyllisch die große Terrasse, auf welcher derzeit ein reichhaltiges Frühstück angerichtet war. Hier hoch oben über der Stadt konnte er ganz in Ruhe und entspannt Pläne schmieden. Dies war seine grüne Oase der Stille, wenn er nicht in Riddle Manor war. Oder derzeit nicht sein konnte, weil dort eine wütende Riesenschlange lauerte. Außer Nagini hatte hier niemand Zutritt zum Penthouse. Die Schlange lag gern auf der Brüstung und beobachtete das Muggel-Treiben unten auf der Straße. Seine Schlangenfreundin war gestern zu Recht aufgebracht gewesen. Voldemort wusste, dass sie an Harry hing und sich Sorgen machen würde, wenn er verschwand. Er hatte schlicht und ergreifend vergessen, sie zu benachrichtigen. Als er vorgestern mit dem schlafenden Hengst in die Höhle appariert war, schickte er Angus einen Patronus, damit dieser einen der stellvertretenden Tierheiler zur Raststätte schickte, um Delaney abzulösen, und informierte ihn, dass Aris in guten Händen war, bevor er mit dem Verzaubern des Höhlenlabyrinthes begann. Leider hatte er nicht an Nagini gedacht. Harrys beinahe geglückter Fluchtversuch hatte ihn zum Handeln gezwungen. Er war darüber verärgert. Der Frust von Monaten hatte sich zusammengeballt und in ihm gegärt. Unter diesen Umständen schnelle Entscheidungen zu treffen ... war vielleicht nicht das Klügste gewesen. Jetzt musste er sich den Konsequenzen stellen, das Für und Wider gut abwägen, um alles in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Regierungsgeschäfte waren deshalb im Moment zweitrangig. Draco sagte bereits alle öffentlichen und inoffiziellen Termine für die nächste Zeit ab oder verlegte unaufschiebbare nach Riddle Manor. Sein Seelengefährte hatte jetzt absoluten Vorrang. Die Schonfrist für sie beide war vorbei. Zu lange hatte er Abstand gehalten, nun würde er aktiv ihre Beziehung vorantreiben. Apropos Harry, den Tom bis jetzt erfolgreich ausgeblendet hatte, um zu schlafen und nachzudenken: Warum schleppte sich dessen Schattenpferd mühsam an der Nebelwand entlang, welche kaum mehr als ein dünner Schleier war. Harrys geistige Barrieren waren praktisch nur noch eine Illusion. Die Kraft dahinter war fort. Was hatte sein Gefährte getan, um sich so zu verausgaben. Er sollte doch in Sicherheit sein! Tom musste sofort nach ihm sehen. Er fühlte nun einen regelrechten inneren Zwang, dem er sich nicht entziehen konnte. Blind auf seine Intuition vertrauend disapparierte der Dunkle Lord augenblicklich in die Nähe von Harry. ~•~•~•~•~•~ Und tatsächlich. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Der schwarze Hengst wankte bedrohlich, hielt sich kaum noch auf den Beinen. Was hatte Harry getan? Vorsichtig näherte sich Tom, wobei er auf deutlich hörbare Schrittgeräusche achtete. Er wollte seinen Gefährten über seine Anwesenheit informieren, ihn vorwarnen. Sicherheitshalber warf er einen Fesselfluch. Denn falls der schwarze Hengst in Panik ausbrach und flüchtete, würde er sich in seinem derzeitigen Zustand glatt die Beine oder den Hals brechen. Was hatte Harry nur seit gestern Nachmittag getrieben? Innerlich verdrehte Tom die Augen über die sinnlose Frage. Natürlich hatte er wie immer nach einem Ausweg gesucht. Das hatte „der Junge, der überlebt hat“ sein ganzes Leben getan. Warum sollte er jetzt damit aufhören? Voldemort war immer noch sein Todfeind und so nah wie nie zuvor. Stirnrunzelnd betrachtete er seinen widerstrebenden Gefährten. Es waren noch nicht einmal 24 Stunden vergangen und Harry befand sich am Ende seiner Kräfte. Diese totale Erschöpfung war nicht normal. Lag es an der gedämmten Magie oder der Gesamtsituation? Ohne Magie waren die Auswirkungen wohl noch gravierender. Tom hatte nicht damit gerechnet, dass die vollständige Magie-Dämmung Harry so zusetzen würde. Verdammt! Er hatte nicht richtig nachgedacht. Wie konnte ihm so ein Fehler unterlaufen? Gut, er war gestern sehr müde gewesen durch das Einrichten der Höhlen als Harrys neues Quartier. Er hatte auch außergewöhnlich viele Zauber geworfen und mächtige Banne in den Stein gewoben. Aber das war keine Entschuldigung für Fehlentscheidungen. Seine Zerschlagenheit konnte nicht mit Harrys Erschöpfungszustand verglichen werden. Niedrig-Magie in Notlagen war für Zauberer gefährlich, schwächte sie zusätzlich. Sein Seelengefährte befand sich seit Monaten in einer für ihn extremen Notsituation. Er war in der Hand seines Todfeindes - scheinbar unerkannt bis gestern. Seitdem konnte er sich nicht mehr hinter der Animagusgestalt verstecken und hatte verzweifelt versucht, wie immer von hier und vor allem vor Voldemort zu fliehen. Vorsichtig berührte Tom die Kruppe und den Rücken des Hengstes, spürte, wie der gesamte Pferdekörper zitterte und verkrampft war. „Was hast du nur gemacht, Harry? Scheinbar kann ich dich nicht für ein paar Stunden ohne Aufsicht lassen. Erst hältst du Angus und meine Stallburschen im Gestüt auf Trab und nun machst du hier unten munter weiter“, sagte Voldemort mit ruhiger Stimme und legte seine Hand auf den Widerrist, erhielt jedoch keine Reaktion. Das war nicht gut. Er stellte sich vor den Hengst und streichelte ihn sanft. Sein Gefährte war weit weg und schaute durch ihn hindurch. Mit den Fingern kämmte er die Stirnmähne zur Seite und fuhr andächtig die blitzförmige Narbe entlang. „Harry. Komm zurück zu mir.“ Vorsichtig ließ er die Gefährtenmagie in seinen Seelenpartner fließen, während er ihn weiter berührte. „Ich werde dir nicht wehtun, Liebling. Niemand wird dir wehtun. Du stehst unter meinem Schutz.“ Harry reagierte nicht, stand nur keuchend und zitternd da. Also versuchte Tom weiter, ihn zu erreichen, und setzte seinen Monolog fort. „Auch Nagini sorgt sich um dich. Sie hat dich nicht wirklich verraten oder hintergangen. Nagini ist eine Schlange, mal altklug, dann wieder kindisch verspielt. Ganz aufgeregt hat sie mir von ihrer Rettung durch ein Parsel sprechendes Zauberpferd erzählt. Ich wollte dich damals verfluchen, weil du sie verletzt abgeworfen hattest, bis ich die Bedeutung ihrer Worte begriff und erkannte, wer der wilde schwarze Hengst wirklich war. Nagini hat dir nicht erzählt, dass ich deine Identität bereits kannte, weil ich ihr befohlen hatte, nichts zu verraten. Sie trifft also keine Schuld. Deine Schlangenfreundin ist sehr beschützend, wenn es um dich geht. Sie würde jeden Todesser angreifen, der dir Böses will. Selbst mich, wenn sie könnte.“ Der Hengst schien weniger hektisch zu atmen. Tom nahm das als gutes Zeichen, trat an die Seite des Tieres und begann mit einer herbeigewünschten Bürste seine Mähne zu pflegen, wobei er vor sich hin summte. Nebenbei zauberte er portionsweise Trinkwasser sowie Nahrungstränke in den Pferdemagen und ließ einen Teil der gedämmten Magie frei. Als er zum Schluss die Stirnmähne bürstete, sah Harry ihn mit klaren Augen ermattet an. Die Panik war vorüber, aber der Hengst scheute hilflos bei jeder zufälligen Berührung. Tom wollte keine neuen Ängste aufkommen lassen. Also ließ er Bürste und Halfter verschwinden, legte seine Hand auf die Blitznarbe und wirkte lautlos einen Schlafzauber. Der Hengst kippte zur Seite, bis er waagerecht über dem Boden schwebte. Tom hockte sich hinter ihn und umarmte den Hals des Tieres. Er beugte seinen Kopf zu den samtweichen Ohren hinunter und flüsterte zärtlich: „Ruh dich aus, Liebling. Ich passe auf dich auf“, ehe er sie beide disapparierte. ~•~•~•~•~•~ Harry wachte langsam auf. Sein Kopf lag auf etwas Warmen. Aber das war im Moment nebensächlich, denn er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Keine Muskelkrämpfe, keine Schmerzen, kein nagender Hunger. Wohlig streckte er sich. Entspannt lag er da, bis der letzte Rest Schläfrigkeit verflog. Ungern schlug er schließlich die Augen auf und ... blickte auf ein paar Hosenbeine inmitten eines Strohbettes. Nicht seine, wohlgemerkt. Die Füße am Saum der teuren Hose steckten in eleganten Halbstiefeln, die er nur allzu gut kannte, hatte er sie doch in letzter Zeit öfter gesehen und ... gehört. Das Geräusch dieser Absätze war unverkennbar und hatte sich in sein Gehirn gebrannt. Ganz vorsichtig schaute Harry nach hinten. Seine Augen wanderten an einer Hemdknopfleiste entlang. Am oberen Ende erblickte er das Gesicht des Dunklen Lords, welcher an die Wand gelehnt dasaß und schlief. Der schwarze Hengst konnte ein erschrecktes Zucken nicht verhindern und bemerkte erst jetzt die Hand auf seinem Hals. Sein Herz setzte aus und schlug dann donnernd weiter. Panik drohte ihn zu überwältigen, aber diesmal schaffte er es, sie erfolgreich niederzukämpfen. Ruckartige Bewegungen wären jetzt fatal. Voldemort könnte aufwachen und ihn in einer völlig hilflosen Position vorfinden und mit seinen krankhaften Spielen fortfahren. Der blanke Horror! Äußerst vorsichtig hob er seinen Kopf und erstarrte, als die Hand plötzlich herunterrutschte. Er schielte ängstlich zu seinem Feind. Dieser drehte nur leicht den Kopf zur Seite und schlief weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich der schwarze Hengst langsam und bemühte sich, dabei keine Geräusche zu machen. Was in Pferdegestalt fast unmöglich war, aber scheinbar hatte der Dunkle Lord einen gesunden Schlaf. Als er endlich stand, blickte er misstrauisch auf den schlafenden Mann. Nichts passierte. Er könnte ihn niedertrampeln. Ihn hier und jetzt verstümmeln oder sogar töten. Rache nehmen. Aber Harry war kein Mörder. Er konnte niemanden umbringen und ... hatte es trotzdem getan ... während des Krieges ... aus Notwehr, um seine Freunde oder sich selbst zu retten. Wenn es keinen Ausweg mehr gab. Töten oder getötet werden. Er wählte damals Überleben. Trotzdem hatte er riesige Schuldgefühle, er hatte Leben ausgelöscht. Die Gesichter der Getöteten vergaß er nicht. Krieg war schrecklich und alle Zauberer taten in Kriegszeiten schreckliche Dinge. Er wollte so etwas nie mehr durchmachen. Würde er sich heute wieder für das Überleben entscheiden, wenn es um Leben oder Tod ginge? Er hasste es zu kämpfen, wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Aber hörte jemand auf ihn? Nein. Weder Freund noch Feind hatten es jemals getan. Auch Friedenszeiten würden daran nichts ändern. Sonst wäre er immer noch im Verbotenen Wald und nicht hier in dieser Pferdebox auf seinen Todfeind starrend. Momentan griff Voldemort ihn nicht an, hatte es eigentlich all die Monate nicht getan, stellte er verblüfft fest. Warum nicht? Was hatte sich geändert? War Voldemort weich geworden? Blödsinn! Er führte irgendetwas im Schilde, dessen Umsetzung mehrere Monate dauerte. Furcht kroch über den Pferdekörper. Was wollte Voldemort ihm antun, wofür er eine so lange Vorbereitungszeit brauchte? Aber trotz allem: Harry konnte ihn nicht grundlos verletzen oder töten. Das lag einfach nicht in seiner Natur. Schrittweise entfernte er sich rückwärts von dem Schlafenden, bis er die gegenüberliegende Holzwand mit seinem Schweif berührte. Schnell überprüfte der Hengst seine Umgebung. Leider sah die Tür sehr verschlossen aus. Er konnte nicht weg. Zu versuchen die Wand einzutreten, war eine gute Idee, leider würde der Krach selbst Tote aufwecken. Wobei er wieder bei seinem Hauptproblem wäre. Der Herrscher über Zaubergroßbritannien – Voldemort – schlief seelenruhig in seiner Gegenwart. Verwundert stellte Harry fest, dass er keine Panikattacke hatte. Angst ja, aber keinen Anfall. Warum? Weil ... weil er sich durch die schlummernde Person am Boden nicht bedroht fühlte. Wie konnte das sein? Vor ihm lag Voldemort. Voldemort! All die vergangenen Monate auf Riddle Manor hatte er es vermieden, den Dunklen Lord näher zu betrachten, ihn direkt anzuschauen. Weil er befürchtete, erkannt zu werden. Diesen scharfen blauen Augen entging nichts. Aber hier und jetzt bot sich ihm die Chance, Voldemort ungestört zu studieren. Vielleicht fand er ja Schwächen heraus, wenn er ihn schon nicht mit seinen Hufen „massierte“, witzelte er vor sich hin. Nervös biss er sich auf die Lippe, bevor er seinen Mut zusammennahm und den Blick prüfend über den Körper vor ihm wandern ließ. Die schlangenartige Gestalt war fort und der Mann war jetzt eigentlich recht ... ansehnlich. Groß; maskulin; trotzdem geschmeidig wie eine Katze; schlank mit sehnigen Muskeln; stilvolle Kleidung unterstrich sein elegantes Auftreten, wobei Schwarz ihm besonders gut stand; ein glattrasiertes attraktives Gesicht; eine kräftige Kinnpartie mit schönen Lippen, lange Finger, die wunderbar streicheln konnten; eine angenehme Stimme, welche Schauer über seine Haut schickte, wenn sie nicht gerade eiskalt Todesbefehle erteilte; ein herrischer Charakter, dominant bis in die Spitzen seiner rabenschwarzen Haarlocken sowie durchdringende blaue Augen, die alles und nur ihn sahen – also ... aber ... kein Mann für ihn! Denn unter all dieser männlichen Pracht von Tom Riddle steckte schön verpackt Voldemort, der schrecklichste und mächtigste schwarze Magier aller Zeiten, der Mörder seiner Eltern und Freunde. Ein großer böser Wolf in einem sehr ansehnlichen Schafspelz, der mit ihm Rotkäppchen spielte. Was ...? Ganz bestimmt nicht! Verwirrt schüttelte der Hengst den Kopf. Wo kamen diese verrückten Ideen her? Das musste an seinen schlimmer werdenden Albträumen liegen. In einem badete Voldemort im Blut seiner Feinde, während er Harry, der auf seinem Thron festgebunden saß, zuzwinkerte und ihm eine Kusshand zuwarf. Blutige Herzen sausten in seine Richtung und zersprangen kurz vor ihm in einem roten Glitzerregen und bedeckten seinen Körper mit glänzenden Rubinen. Voldemorts Blick verschlang ihn regelrecht, er kicherte manisch „Schau, wie schön blutig es funkelt, Liebling.“ Gruselig! Schlimmster Albtraum aller Zeiten. Und der letzte von Malfoy Manor war auch nicht besser, stellte er doch alles auf den Kopf und verunsicherte ihn dadurch noch viel mehr. Das Wort „Liebling“ in den Albträumen klang so vertraut. Als wenn er es schon einmal wirklich gehört hätte. Grauenhafte Vorstellung! Warum träumte er so haarsträubendes Zeug - über Voldemort und ihn? Lagen immer noch irgendwelche Zauber auf Harry, die ihm das Gehirn zermatschten? Er stand versunken in seine Betrachtungen da, als der Dunkle Lord die Augen öffnete. Den Pferdeanimagus ohne Anzeichen einer Panikattacke in seiner Nähe stehen zu sehen, machte Tom glücklich. Endlich ein kleiner Fortschritt! Sich schlafend zu stellen, war ein brillanter Einfall. So lernte er ein paar Dinge über seinen Seelengefährten, die er noch nicht wusste oder nun bestätigt bekam. Erstens: Ein „hilfloser“ Voldemort, der vor dem schwarzen Hengst auf dem Boden lag, löste keine Panik- oder Angstattacken aus. Damit konnte er arbeiten und es wäre sicher später auch bei anderen Aktivitäten nützlich. Zweitens: Harry war von sich aus nicht rachsüchtig oder gewalttätig, denn er hätte seinen Todfeind ohne Rücksicht auf Verluste kaltblütig niedertrampeln können. Er und seine Todesser mussten also nicht vor Angriffen aus dem Hinterhalt auf der Hut sein. Gut, im Eifer des Gefechts könnte Harrys Temperament mit ihm durchgehen und er hatte diesen Retterkomplex und sah gut aus. Tom erinnerte sich an den jungen Mann mit wildem Haar und funkelnden grünen Augen, den Zauberstab auf ihn gerichtet, unbeugsam und kampfbereit. Hoffentlich traf er ihn bald wieder. Je mehr er über Harry Potter erfuhr, je öfter er mit ihm zusammen war, desto mehr wollte er ihn. Sehnsucht überkam ihn. Sein rotgeflammter Blick verriet seine aufgewühlten Emotionen. „Worüber denkst du nach, Harry?“ Der Hengst sprang vor Schreck zurück und prallte mit seinem Hinterteil voll gegen die Holzwand. Voldemort saß entspannt im Stroh und gab sich den Anschein von Harmlosigkeit. Nur die roten Augen musterten ihn intensiv. Dann winkelte der Mann in Zeitlupe das rechte Bein an, legte seinen Zauberstab-Arm auf das erhobene Knie und ließ die Hand locker herunterbaumeln. Ein Friedensangebot!? Mit roten Augen? Harry fiel darauf nicht herein. Er sah das Monster unter der ansprechenden Hülle, obwohl im Moment keine Gefahr von ihm auszugehen schien. Der Hengst kräuselte die Nüstern. Das war verwirrend. Unschlüssig stand er mit klopfenden Herzen da und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. „Harry ...“, begann Voldemort erneut zu sprechen, woraufhin sich der schwarze Hengst noch enger an die Boxwand drängte und ihn besorgt beobachtete, als erwartete er jeden Augenblick einen Angriff von ihm. ‚Kleine Schritte‘, ermahnte sich Tom gedanklich. Wie zwei Gegner im Duell starrten sie einander an. Keiner rührte sich. Voldemort wollte den schwarzen Hengst nicht in die Flucht schlagen und Harry wartete unschlüssig auf den nächsten Schritt seines Todfeindes. Schließlich beendete Tom ihren kleinen Starr-Wettkampf. Sein Gefährte war noch nicht bereit für ein Gespräch. „Gut, wir reden ein anderes Mal. Jetzt möchte ich nur, dass du dich nicht erneut so verausgabst. Es sei denn, du willst ganz schnell wieder in meinen Armen landen, um dortzubleiben.“ Die Pferdeaugen weiteten sich ängstlich, aber auch mit Empörung. Ärger war auf alle Fälle besser als Angst. Der Hengst wurde unruhig, fing an zu tänzeln. ‚Kleine Schritte!‘, erinnerte sich der Dunkle Lord. Leicht winkte er mit der Hand und die Tür des Paddocks schwang weit auf. Sein Seelenpartner warf einen letzten argwöhnischen Blick auf ihn, bevor er sich umdrehte und erleichtert davon galoppierte. Wehmütig sah Tom ihm hinterher und sagte leise: „Du kannst nicht mehr vor mir weglaufen, Liebling!“ Geschmeidig erhob er sich und streckte seine Glieder. Die Ruhepause war vorbei. Er musste ein Versprechen einlösen. Wie sauer war Nagini auf ihn? Er schindete etwas Zeit, indem er einzelne Strohhalme per Hand von seiner Kleidung zupfte. Dann schaute er sich bedauernd um und ließ die Pferdebox verschwinden. Harry würde diese nicht wieder betreten, da sie mit Erinnerungen an ihr kleines Aufwach-Intermezzo „verunreinigt“ war. Tom dagegen hatte die vergangenen Stunden genossen. Seinen Seelengefährten in den Armen zu halten, ihn zu heilen und zu pflegen, seinen Körper zu liebkosen, hatte seinen inneren Aufruhr über Harrys schlechten Zustand besänftigt. Und wie bei den Albträumen in den vergangenen Monaten half die körperliche Nähe beiden Zauberern, sich besser zu fühlen. Ohne auf die heimlichen Blicke zu achten, die jede seiner Bewegungen verfolgten, disapparierte der Mann nach Riddle Manor. Er war weg! Angespannt hatte der schwarze Hengst Voldemort aus der Dunkelheit des Ganges heraus beobachtet, weil er eine Hinterlist vermutete. Warum sonst sollte sein Todfeind ihn einfach gehen lassen? Ihm fielen nur finstere Gründe ein. Aber Riddle verschwand einfach und ließ ihn allein zurück. Eine ganze Weile stand Harry wachsam da und lauschte. Nachdem es weiterhin mucksmäuschenstill blieb, drehte Harry sich erleichtert um und setzte seine Erkundungen des Labyrinths fort, während er über die absurden und verwirrenden Handlungen eines Dunklen Lords nachdachte. Erst nahm er seine ganze Zauberkraft weg und dann gab er sie ihm teilweise wieder? Dann päppelte er ihn auf und kämmte hingebungsvoll seine Mähne? Wieso lebte Harry immer noch? ~•~•~•~•~•~ Voldemort fuhr sich frustriert durch die Haare. Sie war nicht sauer. Nein, sie war stinksauer. „Du hast was gemacht? Seine Zauberkraft weggenommen?“, zischte Nagini giftig. „Das Versteckspielen ist endlich vorbei. Ich muss jetzt keine Rücksicht mehr auf seine Tarnung nehmen, kann mit offenen Karten spielen. Und ich gehe kein Risiko mehr ein. Wer weiß, ob er den nächsten verrückten Fluchtversuch unbeschadet übersteht. Außerdem ist seine Zauberkraft nur teilweise gedämmt.“ „Du denkst, ohne Magie wird Harry weniger gefährliche Fluchtversuche unternehmen? Reden wir über den gleichen störrischen Zauberer?“ „Mit ‚teilweise gedämmter‘ Magie kann er nicht aus den Höhlen entkommen und auch keine Todesser becircen, da ich der Einzige bin, der Zugang hat.“ „Du hast ihn eingesperrt? Deinen magielosen Gefährten? In eine Höhle? Unter der Erde? Lebendig begraben?“, schnappte Nagini immer lauter werdend. „Nein, natürlich nicht ...“, wiegelte der Dunkle Lord ab. „Harry ist nicht magielos und er wird dort auch nicht lange bleiben. Nur bis ich ...“ „Ihr ...“ Oh verdammt, Nagini wurde wieder hochtrabend. Die Schlangendame richtete sich gerade auf, so dass sie sich beide von Angesicht zu Angesicht in die Augen blicken konnten, und sagte todernst: „Ihr werdet mir eine Schlangenpforte einrichten, damit ich mein Zauberpferd jederzeit besuchen kann. Ansonsten rede ich kein Wort mehr mit Euch, Mylord.“ Sich mit den Fingern in den Nasenrücken kneifend versuchte Tom, seine Handlungsweise zu erklären: „Nagini, Sinn des ganzen ...“ „Keine Worte mehr! Die Klappe! Jetzt!“ ‚Dickköpfige, herrische Schlange‘, murrte er in Gedanken. „Okay. Du bekommst deinen Extra-Schlangen-Labyrinth-Eingang. Darf ich jetzt wenigstens meine Entscheidung erklären?“ „Nein! Ich kenne dich in- und auswendig, Meister. Ich weiß genau, wieso und warum du es getan hast. Aber deshalb muss ich deine Entscheidung noch lange nicht gut heißen. Es geht einzig und allein um Harry! Du wolltest, dass ich seine Freundin bin, die ihm Gesellschaft leistet und vor Dummheiten bewahrt. Freunde beschützen auch einander. Ich bin seine Freundin und wenn ich muss, schütze ich ihn - selbst vor dir.“ Die Schlange ähnelte jetzt eher einem feuerspeienden Drachen, der seinen Schatz verteidigt. Wann war Nagini zur Gegenseite übergelaufen? Aber dann: Standen sie nicht beide auf derselben Seite? Auf Harrys Seite. ~•~•~•~•~•~ Der schwarze Hengst sah auf den See hinaus oder besser gesagt in den See hinein. Die Halle mit den großen Unterwasserfenstern musste knapp unterhalb der Wasseroberfläche liegen. Er konnte sehen, wie einzelne Sonnenstrahlen die Schuppen der vielen Fischschwärme funkeln ließen. Ein Hauch von Tageslicht - den es nur hier gab. Diese Halle war der einzige Ort des riesigen Höhlenlabyrinths, wo er die Tageszeit richtig einschätzen konnte. So viel hatte er wenigsten schon herausgefunden. Überall sonst ... gab es durch Zauber beleuchtete Gänge, Nischen, Höhlen und Säle, in letzteren befanden sich Pferdeboxen ohne Türen mit Stroh- oder Heuunterlage, Tränken mit stets frischen Trinkwasser sowie Futter in großer Auswahl. Für seinen Komfort als Pferd war also hervorragend gesorgt. Darüber hinaus war der gesamte Boden trittsicher und … hufschonend. Der schwarze Hengst verdrehte die Augen. Sein Kerkermeister hatte an alles gedacht. An den Kreuzungen waren sogar Hinweisschilder, damit er sich nicht verlief. Nur leider gab es keinen Wegweiser für den Ausgang, dachte er ironisch. Das perfekte Luxus-Gefängnis für ein Pferd. Oder für einen Pferdeanimagus, der in seiner Tiergestalt feststeckte. Für ihn. Harry schnaubte frustriert und begann vor den großen Fenstern hin und her zu laufen, während er weiter über seine missliche Lage grübelte. Und das Witzigste! Er vertraute Voldemort, dass er ihn nicht, während er trank oder etwas Nahrung zu sich nahm oder sich in einer Box befand, angriff. ‚Er vertraute Voldemort‘ – das war verrückt. Ja, er verlor langsam seinen Verstand. Er bildete sich Sachen ein. Warum sonst spürte er Voldemorts Hände immer noch auf seinem Körper? Dieses seltsame Wohlgefühl dabei ... Was passierte hier mit ihm? Er veränderte sich - ohne es selbst steuern zu können. Und das machte ihm wirklich Angst. Mit menschlichen Berührungen war Harry nicht vertraut. Kaum dass er stehen und laufen konnte, musste er sich selbst waschen und anziehen. Niemand kümmerte sich um ihn im Dursley-Haushalt. Es gab keine Umarmungen, keine Gute-Nacht-Küsse, kein liebevolles Durch-die-Haare-Streichen. Nichts. Auch später im Freundeskreis reagierte er steif und ungelenk bei kameradschaftlichen Gesten. Und jetzt war Harry ganz durcheinander. In seinem ganzen Leben war er noch nie so fürsorglich gestreichelt worden. Berührungen waren bisher immer mit starken Schmerzen verbunden, sei es die Ohrfeige oder die Prügel von seinem Onkel, die Verletzungen bei seinen ungewollten Kämpfen oder die Qualen der Folterungen durch die Todesser. Niemals hatte ihn jemand zärtlich berührt, er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern. Und ausgerechnet Voldemort, sein Todfeind, seine Nemesis, der grausamste Schwarzmagier aller Zeiten berührte ihn sanft, so behutsam und umsichtig, als wäre er eine zerbrechliche unschätzbar wertvolle Kostbarkeit. Wann hatte er nochmal seinen Verstand verloren? Die Flügeltüren aller acht Ausgänge schlossen sich plötzlich leise mit einem Klickgeräusch. Erschrocken fuhr Harry herum und suchte nach der Ursache. Auf einer der Steinbänke, die sich in den vielen Nischen an den Seitenwänden befanden, erblickte er Voldemort. Seine Arme lagen locker auf der Rückenlehne. Die Beine hatte er ausgestreckt, die Knöchel gekreuzt. Ganz entspannt saß der Mann da und sah Harry an. Dieser wich augenblicklich zurück, brachte so viel Raum wie möglich zwischen sie beide. Ängstlich schaute er sich nach Fluchtwegen um. Aber es gab keine. Alle Türen waren verschlossen und würden sich auch garantiert nicht öffnen, solange Voldemort es nicht wollte. Panisch blickte er wieder zu seinem Kerkermeister zurück. War es endlich so weit? Würde er heute sterben? Würde sein Blut die Wände sowie den Boden rot färben, nachdem er ihn zu Tode gefoltert hatte? Voldemort sah nicht besonders mordlustig aus, so wie er dasaß und zu ihm hochschaute. Harry fühlte sich nicht bedroht, obwohl sein Verstand genau das Gegenteil sagte. Denn das vor ihm war die größte Bedrohung überhaupt! Verstand und Gefühl lagen im Widerstreit. Aber Harry war schon immer mehr ein rationaler Mensch. Gefühle hatten bisher nur Schmerzen und Leid verursacht, weshalb er die meisten tief in sich verschlossen hatte, damit sie ihn nicht beeinflussen konnten. Derzeit traf aber genau das Gegenteil zu. Nur noch Stolz, Angst und Wut hielten ihn aufrecht, weil sein Verstand ‚Schachmatt‘ schrie. Grimmig starrte er den Dunklen Lord an. Er würde nicht kampflos untergehen. „Wollen wir unser verschobenes Gespräch fortsetzen, Harry?“, fragte Voldemort entgegenkommend, obwohl die ablehnende Haltung des Hengstes Antwort genug war. Enttäuscht atmete er tief ein. Sein Seelenpartner redete immer noch nicht mit ihm und zeigte Tom die kalte Schulter. Was hatte er erwartet? Das Harry sein feindseliges Verhalten aufgab? Sicher nicht. Dazu standen sie zu lange auf gegnerischen Seiten. Vergeben und Vergessen waren keine einfachen, schnellen Vorgänge, sondern würden Zeit und Engagement brauchen. Dabei musste er aufpassen, dass Harry nicht zerbrach. Es hatte zu viele schlimme Ereignisse in seinem jungen Leben gegeben. Die Panikattacken waren deutliche Alarmsignale, dass er nah an seiner Bruchstelle war. Harry sollte sich nicht verändern, nur heilen. Er wollte keinen angepassten, unterwürfigen Harry Potter. Er mochte seine Persönlichkeit, sein Denken und Handeln und vor allem diese Kratzbürstigkeit. Wie sie unter seinen streichelnden Händen abnahm und der widerspenstige Körper langsam geschmeidig wurde. Er hätte nie geglaubt, dass der unnahbare Retter der Zauberwelt so auf seine Berührungen reagieren würde. Trotzdem wunderte er sich. Was brachte ihn dazu, trotz Angst und Hass dahinzuschmelzen? Harry brauchte er nicht zu fragen. Der Sturkopf würde aus Prinzip alles abstreiten und lieber mit dem Kopf durch die Wand stürmen. So sah er jedenfalls gerade aus. „Es gibt keine Fluchtmöglichkeit aus dem Labyrinth. Hier kann nur ich hinein- oder herausapparieren. Ansonsten gäbe es noch das Flohen durch den Kamin“, vage zeigte seine Hand in die Richtung des großen Felsenkamins an der Stirnseite der Halle. „Aber ohne Flohpulver ist es ausgeschlossen.“ Ernst sah er den schwarzen Hengst an. „Ich möchte mit dir zu einer Übereinkunft kommen, die für uns beide von Vorteil wäre“, er pausierte bedeutungsvoll, damit die Worte bei Harry ankamen, „und bis dahin ... bleibst du hier und genießt die Annehmlichkeiten deiner neuen Unterbringung sowie die Gespräche mit mir.“ Das Letzte war ein wenig provokativ, aber irgendwie musste er Harry aus der Reserve locken. Und wenn das nicht half ... Übereinkunft, ha! Kapitulation und Unterwerfung sowie lebenslange Knechtschaft - darauf lief es hinaus. Das hatte Voldemort also die ganzen Monate vorgehabt. Ihn zermürben, damit er auf sein „Angebot“ eingeht. Mordversuch, Imperiusfluch, Folter hatten früher nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Deshalb hatte er seine Taktik geändert und ihn in seiner Animagusgestalt die ganze Zeit an der Nase herum geführt, obwohl er von Anfang an wusste, wer er war. Voldemort sah Harry nachdenklich an und entschloss sich, den nächsten Schritt zu machen. Langsam zog er seinen Zauberstab heraus und begann laut und deutlich zu sprechen. „Ich, Tom Vorlost Riddle, bekannt als Lord Voldemort, Herrscher über Zaubergroßbritannien werde Harry James Potter jetzt und in Zukunft nicht absichtlich oder bewusst körperlichen Schaden zufügen. Auch werde ich keinen derartigen Befehl an Dritte erteilen. Von nun an steht er unter meinem Schutz und ich werde die meines Erachtens notwendigen Maßnahmen ergreifen, um diesen zu gewährleisten. Das schwöre ich auf meine Magie.“ Zwei goldene Bänder schossen aus dem Stab. Eines wickelte sich um das rechte Handgelenk des Dunklen Lords, während das andere auf Harry zu raste und sich um sein rechtes Vorderbein wand, dann sanken beide in die Haut ein und verschwanden. Entsetzt betrachtete der schwarze Hengst sein Bein, anschließend schaute er ungläubig auf den Mann vor ihm. Halluzination, Paralleluniversum, Koma, Tod - etwas davon musste auf Harry zutreffen, denn gerade hatte Voldemort geschworen, ihn nie wieder zu verletzen - mit einem unbrechbaren Zauberereid. Er begann hysterisch zu kichern, was sich in Pferdegestalt eher wie ein abgehacktes Schnauben mit verstopften Nüstern anhörte. Die Absurdität der Situation ließ ihn überschnappen. Seine Fantasie gaukelte ihm Dinge vor, die völlig verrückt waren. „Ich sehe, du brauchst etwas Zeit für dich, um dich zu beruhigen und über meine Worte nachzudenken. Wir sprechen später weiter.“ Er stand langsam auf, um seinen Gefährten nicht zu erschrecken, während er fortfuhr „Ich will nicht mit dir kämpfen, noch will ich deinen Tod. Ganz im Gegenteil. Der Krieg ist seit zehn Jahren vorbei. Wir haben jetzt Friedenszeiten, Harry. Deshalb hoffe ich, dass wir unsere Feindschaft irgendwann beenden können. Du brauchst keine Angst mehr vor mir zu haben. Ich werde dir nicht weh tun.“ Vielleicht kamen klare Aussagen besser bei seinem Seelenpartner an. Voldemort wartete einen Augenblick, aber der Hengst schüttelte nur ungläubig den Kopf und beäugte ihn, als sähe er einen aus St. Mungo‘s geflohenen Insassen vor sich. Harry hatte dicht gemacht. Vorerst kam er hier nicht weiter. „Ach, ehe ich es vergesse: Nagini wird dich gleich besuchen kommen. Bitte rede mit ihr, sie ist nicht dein Feind. Sie mag dich sehr.“ Als er keine Antwort erhielt, hob er seinen Zauberstab und zeigte damit wortlos auf die Wand in seiner Nähe. Zufrieden mit dem Ergebnis warf der Dunkle Lord dem Hengst einen letzten Blick zu und verschwand ohne Kommentar. Harry starrte verdutzt die Wand an. Voldemort hatte eine Hundeklappe in ein Meter Höhe gezaubert?! Er begann wieder zu kichern. Am Ende schallte manisches Wiehern durch den Saal, verstärkt durch zahlreiche Echos. ~•~•~•~•~•~ „NAGINI“, rief Tom laut nach seiner Schlange, als er in der Eingangshalle erschien. Schnell kam sie angeschlängelt, weil sie schon auf ihn gewartet hatte. „Meister“, murmelte sie und sah erwartungsvoll zu ihm auf. „Nimm den Fluchttunnel hinten im Weinkeller. Fast am Ende findest du deine Schlangenklappe, durch die du ins Labyrinth kommst.“ „Dankessschön“, zischelte Nagini glücklich. Schmunzelnd schaute Tom zu, wie seine Schlangenfreundin auf die Treppe zum Kellergeschoss zu schnellte, ehe er selbst die Haupttreppe hinaufging. Frisch geduscht und sich die Haare mit einem Handtuch trocken reibend durchquerte der Dunkle Lord sein Schlafzimmer, um sich saubere Sachen aus dem begehbaren Kleiderschrank zu holen. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn innehalten und sich umdrehen. Grumper verbeugte sich eifrig und zupfte verlegen an seiner Uniform. Es kam nicht oft vor, dass er seinen Herrn halb nackt, nur mit einem Badetuch um die Hüften bekleidet, sah. „Lucius Malfoy bittet um eine Unterredung, Meister.“ ‚Malfoy Senior? Das könnte unterhaltsam werden‘, dachte Tom erfreut. „Er soll warten!“ Der Elf verschwand sofort, um den Befehl auszurichten. Währenddessen wandte sich Tom wieder seiner Kleiderauswahl zu. Als er entschieden nach einem schwarzen Seidenhemd greifen wollte, leuchteten seine Augen mutwillig auf. Warum nicht in bequemere Sachen schlüpfen? Voldemort glitt leichtfüßig die Treppe hinab. Belustigt blickte er seinen vor Angst erstarrten Untergebenen an. „Ah, Lucius. Du kommst unaufgefordert zu mir. Es muss wichtig sein“, spöttelte er. Die hämischen Worte blieben ungehört, weil der Anblick seines Herrn den blonden Zauberer geschockt hatte. Alles kam wieder hoch. Der Krieg ... das Gemetzel ... die Toten ... sein Versagen. Denn wie damals war der Dunkle Lord barfuß und in ein bodenlanges Gewand aus weich fließendem dunkelgrünen Stoff gekleidet. Lucius schluckte mehrmals. Als er sich gefasst hatte, verbeugte er sich tief. „Verzeihung für die Störung, mein Lord. Die Nachforschungen zu Harry Potter sind abgeschlossen. Ich sollte Euch sofort Bericht erstatten. Im Potter-Dossier ist alles festgehalten. Die anderen Dossiers sind noch in Arbeit“, erklärte er mit dünner Stimme, während er verkrampft einen Stapel Papiere festhielt. Zufrieden mit der beabsichtigten Wirkung seines Auftrittes ging Voldemort voraus. „Folge mir ins Arbeitszimmer!“ Beim Eintreten streckte Voldemort seine Hand aus und Lucius reichte das dicke Aktenbündel an ihn weiter. Die Tür schloss sich hinter den beiden Zauberern mit einem lauten Klick. Der Blonde versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken. Aber als die Akte auf den Schreibtisch knallte, zuckte er doch zusammen. Sein Herr, dessen Stimmung, die ganze Situation war furchteinflößend. Der Dunkle Lord hatte es sich in seinem Schreibtischsessel gemütlich gemacht und schlug die Unterlagen auf. „Nun, du musst wirklich etwas Außergewöhnliches gefunden haben, dass du unangemeldet zu mir eilst, Lucius. Spann mich nicht länger auf die Malfoy schluckte beim letzten Wort, wobei sich die Hand um den Knauf des Gehstockes anspannte, welchen er seit dem damaligen Fiasko tatsächlich brauchte. „Über die Muggelfamilie Evans gibt es nicht viel zu berichten, nur dass Lily Evans das einzige magische Kind in der Familiengeschichte war. Dagegen reicht der Stammbaum der Potters fast bis zum Ende der römischen Invasion zurück. Harry Potter ist praktisch mit allen hochrangigen Familien mehr oder weniger verwandt“, führte der blonde Mann aus. Die Empörung darüber war nicht zu überhören. „Deinem Tonfall entnehme ich, dass dazu auch die Malfoys gehören?“, unterbrach ihn Voldemort amüsiert. Missmutig gab das Malfoy-Oberhaupt zu: „Ja, ein zweiter Sohn in der 10. Generation – ein schwarzes Schaf der Familie – heiratete eine Potter. Das Paar wanderte nach Irland aus, um die magischen Rituale des keltischen Kopfkultes* zu erforschen.“ Die hochgezogenen Augenbrauen verrieten, was der Blonde davon hielt. Mit einem Räuspern fasste er sich wieder und fuhr sachlich fort: „Es gibt eine Auffälligkeit in Potters Stammbaum. Etliche Vorfahren von ihm waren ... Animagi.“ „Klein- oder Großtiere?“ Warum war sein Herr nicht überrascht? Niemand hatte davon gewusst. Er selbst war tagelang beschäftigt, die spärlichen Hinweise in vergilbten Schriftstücken und Überlieferungen zu finden. Irritiert beantwortete er die Frage und teilte auch seine Überlegungen mit. „Großtiere wie Hirsche, Kühe und Pferde. Es soll auch einen Walanimagus gegeben haben. Wenn Potter ebenfalls ein Animagus wäre ... erklärt das vielleicht, warum er bis jetzt nicht gefunden werden konnte, mein Lord. Es gibt allein in Großbritannien über zwei Millionen Rinder und 800.000 Pferde. Als Animagus in einer nicht bekannten Tiergestalt wäre er unauffindbar. Denn wie können wir Potter aufspüren, wenn er als Wal im Ozean oder als Hirsch in den Alpen unterwegs ist? Das hieße, die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen.“ „Denk nicht so negativ, Lucius. Vielleicht ist er näher als ... die DURSLEYS?“ Ungläubig und wütend blickte Voldemort auf. Seine Augen loderten rot. Malfoy schluckte: „Ich versichere Euch, mein Lord, niemand wusste davon. Nicht Eure Todesser, nicht seine Mitschüler oder Lehrer. Wahrscheinlich nicht einmal seine beiden toten Freunde Granger und Weasley. Er hat nie darüber gesprochen, dass er von seinen eigenen Verwandten, diesen Dursleys, misshandelt wurde. Diese Muggel hassen Zauberer. Unter Veritaserum kam die ganze hässliche Wahrheit ans Licht. Potter musste für sie putzen, kochen, waschen wie ein gemeiner Hauself. Sie beschimpften ihren Neffen als ‚Freak‘ und bestraften ihn für jede Kleinigkeit. Er musste jahrelang in einem engen verriegelten Treppenverschlag hausen.“ „Das erklärt Einiges“, sagte der Dunkle Lord mehr zu sich selbst. „Der Missbrauch von magischen Kindern ist eine Gräueltat und durch Nichts zu entschuldigen. Wie können Muggel es wagen, sich an ihnen zu vergreifen? Dieses schändliche Verbrechen fällt unter die Zauber-Strafgesetzgebung und verjährt nicht. Ich habe veranlasst, Vernon und Petunia Dursley nach Askaban zu bringen, wo sie auf ihre Verurteilung warten.“ „Gut. Ich werde mich später persönlich mit ihnen befassen“, knurrte sein Herr. „Was ist mit seinem Cousin ...“, er suchte auf der aufgeschlagenen Seite „... Dudley?“ „Er hat vor über zehn Jahren mit seinen Eltern gebrochen und ist zusammen mit Potter weggegangen und nicht wiedergekommen. Die Dursleys denken, ihr Neffe hätte ihren Sohn verhext und suchen ihn verzweifelt. Sie wissen nicht, wo er ist.“ „Du wirst ihn für mich finden. Ich will mit ihm sprechen. Er wird auch an dem Ball teilnehmen.“ ‚Ein Muggel auf dem Ball, zu welcher nur die Crème de la Crème der Zauberwelt eingeladen wurde?‘ Schauderhaft! Lucius musste sich zusammenreißen, um keine Miene zu verziehen. Aber er verstand den versteckten Hinweis. Dudley Dursley würde nicht das Schicksal seiner Eltern teilen und das Oberhaupt der Malfoy-Familie hatte dafür zu sorgen, dass ihm nichts Schlimmes widerfuhr, und war verantwortlich, dass der Muggel präsentabel auf der Gala erschien. Er versteifte sich, als er das wissende Lächeln seines Herrn sah. „Was hast du sonst noch herausgefunden?“ Der Dunkle Lord lehnte sich gelassen zurück. Sein Todesser war so vorhersehbar. „Ich habe seine finanziellen Verhältnisse überprüft. Seit er eine Waise ist, haben sich die Gringott-Kobolde um seine Vermögenswerte gekümmert. Sollte Harry Potter sein gesamtes beschlagnahmtes Vermögen eines Tages wieder erhalten, wäre er ... sehr reich. Die Kobolde haben außergewöhnlich profitabel gewirtschaftet, selbst in den Krisenzeiten“, setzte er mit sauertöpfischer Miene nach. „Oh, Lucius. Harry ist nicht nur mit dir verwandt, sondern auch noch reicher als du. Das ist hart“, witzelte der Mann hinter dem Schreibtisch. Mit verkniffenem Mund fuhr Malfoy fort. „Als sein Geld noch nicht eingefroren war, gab es nur kleine Abhebungen für Schulmaterial. Seinen Gewinn beim Trimagischen Turnier hat er den Weasley-Zwillingen überlassen. Geld spielte bei Potter nie eine große Rolle. Oder ... er wusste nichts von seinem Reichtum. Denn beim Durchsehen des Potter-Nachlasses habe ich versiegelte Unterlagen gefunden. Genau das gleiche bei der Black-Erbschaft. Anscheinend gab es nie Testamentseröffnungen. Obwohl gerade Kobolde überkorrekt in solchen Dingen sind, hat Harry Potter nie sein Erbe angetreten. Dumbledore muss davon gewusst haben oder steckte sogar dahinter. Nur das würde die seltsamen Umstände erklären. Aber es gibt keinen Beweis dafür. Ja, ich bin davon überzeugt, dass der Alte es veranlasst hat. Außer Euch, mein Lord, wäre nur Dumbledore in der Lage gewesen, so mächtige Untätigkeitszauber zu wirken, dass selbst die Kobolde die offiziellen Potter- und Black-Schriftstücke unbearbeitet liegen lassen. Warum ließ die Leitfigur der weißen Magie den angeblichen Retter der Zauberwelt verarmt und im Dunkeln?“ Voldemort stand auf und ging zur Fensterfront. Grimmig blickte er mit auf dem Rücken verschränkten Händen nach draußen und sah die Parallelen zu seiner eigenen Kindheit. „Damit er ihn besser kontrollieren konnte. Ein mittelloser Harry Potter, der kein liebevolles Zuhause hat, wäre abhängig von seiner Gunst gewesen, würde sich nach Zuwendung sehnen und somit leichter führen lassen. Ein reicher sorgenfreier Junge könnte unabhängig seine eigenen Entscheidungen treffen. Mich würde nicht wundern, wenn Dumbledore genauestens über die Dursleys Bescheid wusste und Harry absichtlich dort untergebracht hätte. Gleichzeitig hat er die Gerüchte geschürt, dass der Goldjunge auch ein goldenes Zuhause hätte. Und niemand hat es hinterfragt“, brachte Voldemort ihre gemeinsamen Vermutungen auf den Punkt. Nach einer Pause fuhr er verärgert fort: „Ich werde dazu auch noch das eine oder andere Wort mit Severus wechseln. Er war immer der größte Verfechter für Harrys verwöhnte Kindheit und hat damit Dumbledores Lügen unterstützt.“ Lucius gab einen erstickten Ton von sich, als wäre er an etwas Unangenehmes erinnert worden. Der Dunkle Lord drehte sich um und sah seinen Todesser scharf an. Die Erinnerung hatte eindeutig mit dem Paten seines Sohnes zu tun. „Wolltest du mir etwas über Severus erzählen, Lucius?“, fragte er süffisant und kam näher. Der Blonde zuckte ertappt zusammen und platzte heraus: „Severus ist Harry Potters Pate!“ Die Augen seines Herrn loderten erneut vor Wut auf, weil sein Tränkemeister ihn hintergangen und diese kriegswichtige Information verheimlicht hatte. Nach dem Tod der Eltern war der Pate die wichtigste Person im Leben eines Waisenkindes, erhielt deren Autorität und Vollmacht. Harry Potter hätte sich also von Anfang an in den Händen seiner Todesser befinden und im Sinne schwarzer Magier geformt werden können bis der Dunkle Lord wiederkehrte und über dessen Schicksal entschied. Harry Potter hätte ein Verbündeter der dunklen Seite sein können. Lucius musste den Sachverhalt ganz schnell richtigstellen, ehe es einen toten Paten gab. „Mein Lord, Severus hat es erst nach dem Krieg erfahren. Scheinbar hat der Untätigkeitszauber durch Dumbledores Tod seine Kraft verloren. Die Erbschaftssachen wurden mit der Beschlagnahmung von Harry Potters Vermögen weiter auf Eis gelegt, aber alles andere ist aufgearbeitet worden. Ich fand eine Kobold-Notiz, die dokumentierte, dass Severus kurz nach Kriegsende ein offizielles Pergament übergeben wurde, indem die Potters Severus Snape zu Harrys Paten ernannten sowie ein persönlicher Brief von Lily Potter, in welchem sie ihn an ein Versprechen erinnert und darum bat, auf ihren Sohn aufzupassen. Die Abschriften befinden sich in der Akte.“ Mit eingezogenem Kopf wartete das Malfoy-Oberhaupt auf die Reaktion seines Herrn. War Snape ein toter Mann? Er hatte seine Potter-Patenschaft bis heute niemals erwähnt. Weil Potter weg oder tot war? Weil es unwichtig war? Was ging in Snapes Kopf vor? War er lebensmüde? Wenn ihr Herr entschied, dass das Geheimhalten dieser Information Verrat gleichkam ... Lucius schloss ergeben die Augen, um sie gleich wieder aufzureißen. Voldemort lachte schallend und musste sich sogar mit der Hand ein paar Lachtränen wegwischen. Er lachte immer noch, als er sich an seinen Schreibtisch lehnte und mit den Händen abstützte. „Severus muss der Schlag getroffen haben, als er von der Patenschaft erfuhr. Der letzte Wunsch der reizenden Lily Potter, indem sie um Protektion für ihren geliebten Sohn bat. Und der gute alte Severus hat unwissend aus Hass auf ihren Ehemann das genaue Gegenteil getan. Oh, wie muss er sich in Verzweiflung und Trauer gewunden haben, weil er seine hochverehrte Lily enttäuscht hat. Die Schuldgefühle müssen ihn auffressen. Jetzt weiß ich auch, warum er immer so ein sauertöpfisches Gesicht macht, wenn Harrys Name fällt. Es erinnert ihn an sein Versagen.“ Die Heiterkeit verschwand und Voldemort wurde todernst. „Und er hat es vor mir verheimlicht sowie auch sein Versprechen nie erwähnt. Was versprach er Lady Potter genau?“ „Das Leben ihres Sohnes zu schützen, wenn die Eltern es nicht mehr können“, antwortete Malfoy schnell. „Die ganzen Jahre versuchte ich, Harry zu fassen und zu töten. Immer wieder entwischte er mir und sehr oft auf unerklärliche Weise. Und nun stellt sich heraus, dass mein verräterischer Tränkemeister dabei seine Finger im Spiel hatte? Mich immer wieder bewusst hintergangen hat, um ein Versprechen seiner verflossenen Liebelei einzulösen?“ Sein Gesichtsausdruck war mörderisch. Der blonde Todesser erstarrte vor Angst. Er befürchtete aus leidgeprüfter Erfahrung, dass er als Überbringer schlechter Nachrichten die Wut seines Herrn zu spüren bekam, weil der Schuldige im Moment nicht greifbar war. Aber Voldemort ließ seinen Zorn nicht wie in früheren Tagen an Malfoy Senior aus, sondern klopfte nur gereizt mit den Fingern auf die Schreibtischkante und kam zu einer Entscheidung. „Nun“, fuhr er widerwillig fort, „zum Glück für Severus braucht sein Patensohn eine Familie.“ Verständnislosigkeit breitete sich über Lucius‘ Gesicht aus. Draco hatte doch Familie – seine Eltern, seine Ehefrau, seine zahlreichen Verwandten ... seinen Paten. Dann kam plötzlich die Erleuchtung. Sein Herr meinte nicht Draco, sondern Potter. Harry Potters Familie war tot, abgesehen von diesen Muggel-Verwandten. Und weil er Potters Pate war, würde Severus leben. Weil Potter eine Familie brauchte? Wozu brauchte ... ‚Harry‘ – sein Herr hatte während der ganzen Unterredung nur Potters Vornamen benutzt. Und er hatte ihn vor Monaten beauftragt, ein neues Potter-Dossier anzufertigen. Weil das alte Papier Unwahrheiten und riesige Lücken zu enthalten schien. Was sich als richtig erwies. Sein Herr hatte auch gewusst, dass Lucius seinen ersten richtigen Auftrag nach Jahren besonders ernst nehmen und jeden Stein in Potters Leben umdrehen würde, egal wie winzig er war. Sicher hatte das Malfoy-Oberhaupt nicht erwartet, dass Potters weltbekannte Lebensgeschichte völlig auseinanderfiel und erschütternde Wahrheiten sowie arglistige Lügen und Täuschungen ans Licht kamen. Warum hatte niemand sie durchschaut? Selbst er hatte sich blenden lassen und nur den Feind gesehen. Warum also jetzt nach über zehn Jahren die Vergangenheit durchkämmen? Die letzte große Potter-Suchaktion waren die Zeitungsartikel im Juli letzten Jahres. Seitdem hatte der Dunkle Lord nicht mehr nachgehakt und auch keine neuen Suchtrupps losgeschickt. Der Dunkle Lord hatte Potter begnadigt, ein neues Potter-Dossier angefordert ... Bei Merlin! Harry Potter war wieder da! Und alle Weichen für seine Rückkehr in die Öffentlichkeit wurden gestellt. Der Todesser schulte sein Gesicht, um seine Bestürzung zu kaschieren. Aber Voldemort starrte durch Malfoy-Senior hindurch, als wenn er in einer Erinnerung schwelgte. Seine Mundwinkel zuckten nach oben - in der Andeutung eines kleinen Lächelns. Vorsichtig beobachtete Lucius seinen Herrn. Er war wieder in dieser seltsamen Stimmung. Eigentlich ging das schon Monate so. Es hatte auch Auswirkungen auf alle anderen. Seine Frau und sein Sohn verheimlichten etwas. Er selbst erhielt endlich wieder anspruchsvollere Aufgaben. Es gab Begnadigungen, Feste wurden organisiert. Nagini hatte ein neues „Steckenpferd“ gefunden, lauerte Draco weniger auf. Und der Herrscher delegierte seine Regierungsgeschäfte, um mehr Zeit auf seinem Gut zu verbringen und Riddle Manor neu einzurichten. Alle Puzzleteile fügten sich zu einem Bild zusammen, welches Harry Potter zeigte. Da war sich Lucius nun sicher. Wann hatte das alles angefangen? Die Veränderungen begannen ... nach den Potter-Zeitungsartikeln. Kurz danach hatte der Dunkle Lord den verwilderten Hengst im Wald gefunden. Der schwarze Hengst ...? Nach dem Reden der Stallburschen machte das Pferd nur Ärger, brach ständig aus und ließ sich nicht zähmen, aber ihr Herr tolerierte diese Eigenwilligkeit völlig und unternahm nichts, um den Hengst zu brechen. Auch Angus hatte einen Narren an dem Tier gefressen und behandelte es wie einen guten Freund. ‚Einige Vorfahren waren Animagi ... Pferdeanimagi‘, Potter war ein Pferdeanimagus und er war die ganze letzte Zeit hier gewesen! Bei dieser Schlussfolgerung blickte der Blonde auf, direkt in die hypnotischen Augen von Voldemort. Der Dunkle Lord warf nur einen kurzen Blick in Malfoys Verstand und frohlockte. Seine Todesser waren keine Dummköpfe, außer vielleicht einige wenige für die gröberen Sachen. Trotz all seiner Dünkelhaftigkeit besaß der Blonde einen außergewöhnlich scharfen Verstand, welcher Voldemort schon oft sehr gute Dienste geleistet hatte. Seine besten Todesser Angus, Narzissa und Lucius - er war gespannt, wann Draco und Snape dahinter kämen - würden sich um Harry kümmern, ihn schützen und fördern. Voldemort richtete sich auf und ging um seinen Schreibtisch herum. „Du wirst über alles, was du früher und heute über Harry Potter herausgefunden hast, Stillschweigen bewahren, Lucius.“ Streng blickte er den Blonden an, während er sich setzte. „Du kannst gehen. Die anderen Dossiers will ich vor dem Festakt auf meinem Schreibtisch haben.“ Der Todesser presste seinen Mund kategorisch zusammen und verbeugte sich steif, bevor er ging. Voldemort achtete nicht weiter auf seinen Untergebenen, er war schon in Harrys Vergangenheit eingetaucht. Malfoy hatte nur die Highlights des Dossiers erwähnt. Er war gespannt auf den Rest. ~•~•~•~•~•~ Draußen dämmerte es bereits und eine einzelne Lampe erhellte den Schreibtischbereich im halbdunklen Arbeitszimmer. Voldemort saß dort im Lichtkegel über das Papier gebeugt. Er hatte den ganzen Nachmittag mit Lesen und Grübeln verbracht und dabei nicht bemerkt, wie die Zeit verging. Seine Gedanken kreisten um die neuen Erkenntnisse. Der Retter der Zauberwelt war kein Held gewesen, sondern nur ein unschuldiger Junge, der versuchte zu überleben. Harry hatte nie ein eigenes Leben gehabt. Er wurde seit seiner Kindheit von allen Seiten manipuliert, misshandelt und ausgenutzt. Niemand achtete auf seine Wünsche und Gefühle. Alles wurde über seinen Kopf hinweg entschieden. Der prophezeite Retter war zeitlebens gefangen in einem Netz aus den Erwartungen anderer Leute. Nach seiner Meinung wurde nie gefragt. Er war eine verlorene Schachfigur im Herzen des Krieges. Und daran hatte teilweise auch Voldemort Schuld, wie er sich selbst eingestehen musste. Kein Wunder, dass Harry von allem und jedem weglief, als er die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben sah, mit Verstecken als einziger Option. Die Furcht vor Entdeckung und Strafe schloss ihn in seine Pferdegestalt ein. Tom verstand Harrys verstörtes Verhalten. Seine Angst- und Panikattacken, seine Fluchtversuche waren Ausdruck seiner Hilflosigkeit, mit der ausweglosen Situation umzugehen. Als sein Todfeind Harry aus den Tiefen des Waldes herauslockte, um ihn erneut gefangen zu nehmen und einzusperren, kehrten die Schrecken der Vergangenheit mit voller Wucht zurück. Und Tom war das sprichwörtliche Monster unter dem Bett, das wieder zuschlug. Der Dunkle Lord wurde aus seinen schwerwiegenden Gedanken gerissen, als Nagini sich ganz aufgelöst durch die Schlangenklappe zwängte und atemlos zischelte: „Harry ist weg. Ich habe überall nach ihm gesucht. Er ist nicht mehr in den Höhlen. Hast du ihn freige...“ Sie stockte kurz, als sie den überraschten Gesichtsausdruck ihres Meisters sah. „Nein, das habe ich nicht. Was ist passiert?“, drängte er. Aufgeregt fuhr sie fort: „Es war alles ein großes Missverständnis. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich nicht böswillig gehandelt habe. Es war sehr schwer für mich, zwischen zwei Stühlen zu schlängeln. Ich mag meine beiden Meister und wollte keinen verärgern oder verlieren. Leider schien Harry nur den Verrat zu sehen und nicht die Umstände. Er hat Angst um sein Leben und glaubt fest daran, du würdest ihn ermorden, wenn du mit dem Spielen fertig bist. Harry fing an zu zittern und regte sich immer mehr auf. Ich wollte ihn beruhigen und erklärte dann, dass er sich nicht vor dir fürchten muss. Weil du die ganze Zeit über seine wahre Identität Bescheid wusstest und ihm kein Haar gekrümmt hast. Warum solltest du jetzt damit anfangen. Außerdem magst du ihn viel zu sehr. Er glaubte mir kein einziges Wort, tat alles als Spinnerei ab.“ Voldemort hörte ruhig zu und unterbrach seine Schlangenfreundin nicht. Er konnte fühlen, dass sein Seelengefährte nicht weit weg im Verbotenen Wald war. Und da er dort die letzten Jahre ohne Schaden verbracht hatte, würde er wohl eine weitere Stunde sicher sein. „Also redete ich weiter auf ihn ein, erzählte ihm, wie Schlangen sich paarten. Die Partner wären füreinander da und beschützen sich gegenseitig während der Paarungszeit. Sie taten sich nicht weh. Manche blieben ein Leben lang zusammen. Ebenso wäre es bei euch beiden. Harry sah mich erst verwirrt an, dann schien er zu verstehen und ... flippte aus. Ich habe nicht alles behalten, was er schrie. Nur dass er eher sterben würde, als mit einem Monster ins Bett zu gehen. Nachdem ich ihn darauf hinwies, dass menschliche Gefährten sich normalerweise in einem Bett paaren, insbesondere wenn sie gebunden sind, fing Harry irgendwie komisch an zu wiehern. Dann drehte er sich wortlos um und galoppierte weg.“ Tom musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Nagini hatte seine „Paarungsabsichten“ sehr „eindeutig uneindeutig“ kundgetan. Aber egal, wie sie es nannte, – Bettwärmer, Partner, Gemahl oder sonst wer von Voldemort – Harry wäre in jedem Fall ausgerastet. „Ich wollte mich wieder mit Harry vertragen, also versuchte ich, ihn zu finden, und folgte seinem Geruch. Es hat eine Weile gedauert, weil er ans andere Ende des Labyrinthes gestürmt war, und dann hörte die Spur überraschend vor einer Felswand auf. Als wenn er hindurchgelaufen wäre, aber es gab keinen Hinweis auf einen Geheimgang. Nur die Magie des Berges war an dieser Stelle etwas stärker zu spüren.“ Plötzlich spannte sich Tom an und starrte ins Leere. Harrys Schattenpferd galoppierte gerade in seine Gedankenwelt. Es wieherte laut. Nein, es schrie regelrecht um Hilfe und versuchte sich zu verstecken. Sein Seelengefährte hatte schreckliche Angst, brach gerade in Panik aus und konnte sich nicht bewegen. Die Nebelbarriere war wieder fast verschwunden. Bizarre Bilder rasten durch Harrys Verstand. Sie zeigten Augen, grauenvolle dunkle Augen, in allen Größen. Harry war von ihnen umzingelt. Der Dunkle Lord sprang auf. Jemand griff seinen Gefährten an. Welche Kreaturen des Verbotenen Waldes wagten es, seinen Seelengefährten anzugreifen und ihm Todesangst einzujagen? Tom hatte so eine Ahnung. Aber ehe er zu Harrys Rettung eilen konnte, musste er noch einen Abstecher nach Hogwarts machen. Und weg war er. Nagini starrte auf den Fleck, wo eben noch ihr Meister war. Sie war schon wieder ohne Erklärung versetzt worden. _____ * Keltischer Kopfkult oder Schädelmystik Es ist ein Kopfjagd-Ritual um têtes coupées (abgeschnittene Köpfe), welches auf mystischen Vorstellungen beruht. Die Kelten, welche einst ganz Europa besiedelten, waren überzeugt, mit dem abgetrennten Kopf eines Feindes dessen Kraft und Wissen zu besitzen sowie dessen Geist in der Anderen Welt zu vernichten. Sie schlugen den gefallenen Feinden die Köpfe ab und hängten sie an die Hälse ihrer Pferde oder spießten sie auf Lanzen auf, während sie ihre Triumphgesänge anstimmten. Schädelfragmente wurden als Amulette getragen. Aber die Köpfe ihrer vornehmsten Feinde balsamierten die Kelten ein und verwahrten sie sorgfältig in einer Truhe sowie über Generationen in der Familie auf. Für kein Geld der Welt würden sie diese Köpfe hergeben, rühmten sie sich Fremden gegenüber. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)