Myth, Story, Legend von Ireilas (Kurzgeschichten aus Desteral) ================================================================================ Kapitel 1: 1. Die Legende von Desteral -------------------------------------- Lange bevor es Städte und Dörfer gab, sogar lange vor der Gründung Destercitys, war Desteral ein freies Land ohne Herrscher. Die Monarchie hatte sich in Azamuth erst erhoben und somit die Anarchie unter den Dämonen verdrängt. Sie verabscheuten die Sonne und das Grün, um einiges mehr als heute, sodass sie die Steppen Desterals mieden. In Arcan wuchs die Kultur erst so richtig heran. Die Grenzen zu Desteral waren weitaus offener, sodass viele ihr zuhause in den beginnenden Landschaften des Nachbarlandes fanden. Das Mondland, Arcans östliches Nachbarland, blühte zur selben Zeit wie die Magier auf. Ein Kaiser unterwarf mit Hilfe zwei Arcaner sämtliche Ländereien des Mondlandes und gründete das erste Imperium. Er hatte als Gegenleistung versprochen, sich mit Arcan zu verbünden. Doch seine Machtgier war nicht gestillt. Ein Krieg überrollte im Sturm den Süden und vergrößerte das Land um fast das Doppelte. Nachdem es nichts mehr zu erobern gab, hegte er den Gedanken, den Kontinent zu vereinen. Der Kaiser wusste nichts von den Dunkelheit liebenden Kreaturen, auf der anderen Seite des Kontinents; doch war er zuversichtlich, mit Hilfe von Arcan sein Reich zum größten allerzeiten zu erheben. Doch Arcan machte nicht mit. Die Magier waren schlau und wussten, wie leichtsinnig und machtgierig sein Plan war. Zwar drohte ihnen der Kaiser, auch Arcan einzunehmen, doch davon beeindrucken ließen sie sich nicht. Er war ein Mensch, dessen Herrschaft ganz einfach beendet werden konnte, in dem man ihn nächtlich aus dem Weg schaffte. Der Herrscher wusste das und schwieg des weiteren, anstatt zu drohen. Fortan trat stille zwischen den Ländern ein; zumindest, was die Politik anging. Während die Magier ihrer Geschäfte nachgingen, durchquerten große Armeen das Land. Der Kaiser hielt zwar sein Versprechen des Friedens ein, doch verfolgte er stets seinen Plan, den Kontinent zu vereinen. Schon bald betrat der erste Mensch des Mondlandes das Niemandsland und damit das spätere Desteral. Sie glaubten, mit ihrer Entscheidung den Hauptgewinn gemacht zu haben: weite Wiesen, unendliche Wälder, große Täler und massenhaft Berge mit Quellgewässern. Doch schon bald sollten die Truppen feststellen, dass sie nicht so alleine waren, wie sie anfangs gedacht hatten. Naturvölker, bestehend aus einfachen Menschen, sahen es nicht gerne, wenn die Fremdlinge Wälder abholzten, große Schmieden errichteten und sich langsam aber sicher einnisteten. Auch, wenn sie unterlegen waren, überfielen sie die Siedlungen des Mondlandes. Sie wollten nicht kampflos zusehen, wie Fremde ihre Heimat plünderten und zerstörten. An diesem Punkt beginnt eine Legende, die sich bis heute, in verschiedene Variationen und Formen, unter dem Volk Desterals hielt. Sie wurde zu eine Sage, einem Märchen, die man kleinen Kindern beim Einschlafen vorliest; und vor der so mancher tapfere Soldat Ehrfurcht hegt. Was an jenem Morgen geschah, veränderte das Leben eines jungen Kriegers. Er war hoch angesehen in seiner Gruppe und für seine Furchtlosigkeit bekannt. Doch trotz seines hohen Ranges, wurde er fortgeschickt, vom Stammesanführer. Er sollte nicht mit leeren Händen zurückkehren. Ehe er sich nicht bewiesen hatte, war er fortan ein ausgestoßener seines Volkes. Anders würde er es auch nicht wollen: es war die Chance, seine einzige Möglichkeit, die Zukunft so zu formen, wie er es sich erträumte. So zog er fort; weg von seiner Heimat, seinem Hab und Gut und den Personen, denen er in laufe der vielen Jahre ans Herz gewachsen war. Der Krieger durchstreifte bekannte Felder und Wiesen, wie schon so oft in diesem kurzen Jahr. Für normal tat er es, um zu jagen, oder sein Volk vor den Eindringlingen zu verteidigen. In den letzten Wochen waren sie immer näher heran gerückt, mittlerweile schon gefährlich nah dem einfachen Dorf. Doch nun war die Zeit gekommen, seine Gruppe alleine kämpfen zu lassen; sie hatten viel gelernt und würden die Heimat gut beschützen. Auch, wenn es nicht so wäre: der junge Krieger musste einfach vertrauen haben. Zwei Tage verstrichen auf seiner Reise, als der dritte Morgengrauen hereinbrach. Wasser gewann er aus den Blättern des letzten Regens und den vielen, sauberen Bächen, seinen Hunger stillte er mit Beeren und Waldfrüchten. Wenn ihm ein einsames Tier begegnete, gewann er mit etwas Geduld Fleisch. Hierzu hatte er immer griffbereit seinen Bogen umgehängt und stets ein scharfes Kurzmesser am Ledergürtel. Handwerk wurde damals noch groß geschrieben; er stellte seine Waffen selbst her, weswegen sein Bogen und Pfeile auch aus stabilen Ästen und Sehnen bestanden – eben das, was die Natur zu bieten hatte. Gerade aufgebrochen, entdeckte er auf der Steppe, durch das hohe, ausgetrocknete Gras, in der Ferne einen mächtigen Bison. Dieser schien aufgebracht und sich heftig zu wehren – fragt sich nur, wovor. So kletterte der junge Krieger auf einen Felsen, um sich über das Geschehen einen besseren Überblick zu verschaffen: ein Mensch. Er steckte in einer schweren, silbernen Rüstung und schien erschöpft mit dem zwei mal so großen Bullen zu ringen. Zwar hatte er Schwert und Schild, doch nützten diese Waffen ihm nur wenig. In die Hocke gegangen, spannte der Krieger seinen Bogen, ehe er mit einem gezielten Schuss das große Tier von dem Mann weglockte. Nun lief das Bison auf ihn zu – schnell vom Felsen geklettert, spannte er im schnellen Gehen erneut den Bogen. Das tobende Tier schnaufte regelrecht vor Wut. Es beugte den Kopf und war auf und dran, den Krieger mit seinen großen Hörnern um zu rammen. Ein Wimpernschlag – schon durchbohrte der spezielle Pfeil des gepanzerten Kopf des Bisons. Im nächsten Augenblick ging es leblos zu Boden. Ungläubig starrte der erschöpfte Mann in Rüstung zum Geschehen. Noch merkwürdiger erschien es ihm, als der junge Krieger seinen Bogen wegsteckte und an der großen Beute vorbeiging – einfach weiter, selbst an dem geretteten Mann. Was er sich nicht zusammen reimen konnte, war, dass der junge Krieger weder Zeit noch Platz für so ein mächtiges Tier auf seiner Reise hatte. Die Natur würde sich schon selbst um den Leichnam kümmern. Kurz den Kopf geschüttelt, lief der Mann in silberner Rüstung seinem Retter hinterher. „Warte mal!“, er holte zu ihm auf, „Das- das war ja unglaublich! Du hättest nicht eingreifen dürfen – so leicht Bekleidet hätte das Vieh dich in der Luft zerfetzt! He- Hörst du mir überhaupt zu?“ Der junge Krieger antwortete nicht – er schien den Mann nicht einmal zu beachten. Kurz blieb er Mann stehen, ehe er seinem Retter erneut nachlief. „Heh! Weißt du überhaupt, wer ich bin?! Ich bin Kommandant Grenth Desteral, dritter Sohn des Ulrich Desteral und rechte Hand des Kaisers von Mentan, des Mondlandes!“ Auch dies schien den jungen Krieger nicht im geringsten zu beeindrucken. So hob Grenth Erkenntnisreich die Arme: „Ich seh schon, du verstehst mich nicht, oder? Na, ist auch kein Wunder.“, er seufzte, „Dann lass mich dir wenigstens meinen Dank ausdrücken.“, er lief vor den jungen Krieger und verbeugte sich – dabei bot er in seinen Händen einen reich mit Juwelen besetzten Dolch an. „Ein Kunstschatz und starke Waffe unseres Volkes. Bitte nimm mein Geschenk an.“ Der junge Krieger, welcher Augenbrauen gehoben vor dem verbeugten Mann stehen geblieben war, ging mit einem leichten Kopfschütteln an ihm vorbei. „Guter Staubfänger.“ „Was?“, wieder einmal perplex starrte ihm Grenth nach – und lief ihm eruneut hinterher. „Du kannst ja doch unsere Sprache! Ha, welch ein Glück!“ „Kein Glück, gute Beobachtung.“ „Ja, was auch immer...“, er sah zu dem Dolch, „Wieso Staubfänger?“ „Gut im Aussehen, schlecht im stechen. Kein gutes Metall.“ „Kein g-“, Grenth musste prusten, „Die besten Schmieden Mentans haben daran gearbeitet!“ „Kann es Bison erstechen?“ „Was? Nein-“ „Guter Staubfänger.“ „Du bist schon ein schräger Vogel.“, meinte Genth, der den jungen Krieger nebenbei im Gehen Musterte. „Mit all den rot-orangen Federn an den Schultern und Haaren aber auch passend. Nun, wie auch immer. Ich muss zu meinen Soldaten und habe mich verlaufen.“, er kratze sich unter dem Helm, „Eigentlich sollten wir uns im nahen Wald von hier treffen, aber sie waren nicht da. Ich denke einmal stark daran, dass sie aufbrechen mussten. Die Rede war von einem Lager, welches nahe des „eisernen Wasserfalls“, wie wir ihn nennen, errichtet werden sollte. Uhm... du weißt nicht zufällig, wo ich da hin muss...?“ „Immer in Westen.“ „Westen?“, er sah den Weg, den der junge Krieger gekommen war, „Du kommst von dort, stimmts?“ „Lager liegt neben meinem Dorf.“ Kurz blieb Grenth Schuldbewusst stehen, „Oh...“, ehe er dem jungen Krieger weiter nachging. „Na, dann sehen wir uns wohl wieder hm? Solange du zurückkommst, versteht sich. Sag mal, hast du auch einen Namen?“ „Tendeskeasarak.“ „Woa- ok, uhm... hat das auch irgend eine Bedeutung, oder soll ich dich „Tend“ nennen?“ „Schwarzer Adler.“ „In Ordnung. Und? Wo soll deine Reise hingehen, Tend?“ „Viele Fragen, keine Beobachtung...“ „Eh, ja. Ich muss dir aber auch alles aus der Nase ziehen. Nicht wörtlich nehmen, bitte.“ Dem jungen Krieger schien es, als könne er sein Reiseziel dem Kommandanten verraten. In seinen Augen war er schwach und unaufmerksam – und würde ihn unmöglich mit anderen Soldaten im Gepäck einholen können. „In ein Tal, ein wichtiges Metall – Stein holen.“ „Oh, klingt nach einem seltenen Material zum Schmieden. Wir aus dem Land Mentan sind Meister in dem Handwerk, wie du an dem Dolch gesehen hast. Klingt eigentlich leicht.“ „Großer Wächter bewacht das Tal.“ „Das klingt nicht mehr so leicht. Besonders, wenn man deine Betonung beachtet – und wenn ich mich so an das Bison erinnere...“, er sah zurück, „Dann muss dieser Wächter wirklich groß sein. Hm.“ Grenth ging durch den Kopf, was der Kaiser, dessen er als rechte Hand verschrieben war, zu den Soldaten vor dem Aufbruch erzählt hatte. Die „Wilden“ des neuen Landes schienen nach vielen gesammelten Erfahrungen nur wenige Schwachstellen zu haben. Sie hatten Heimspiel und waren durchaus in der Lage, sich mit einfachsten Waffen zu verteidigen. Die Reise des jungen Kriegers schien eine perfekte Gelegenheit zu sein, die hier lebenden Menschen zu beobachten – und wer, außer ein junger Mann, der alleine mit zwei Pfeilen einen mies gelaunten Bison-Bullen zur Strecke brachte, würde sich besser eignen...? „Weißt du was, Tend? Du scheinst ziemlichen Respekt vor diesem Wächter zu haben. Ich werde dich begleiten und dir helfen das Gestein zu besorgen – als Gegenleistung für meine Rettung!“ „Wunderbar.“ Dieses Wort, muss man erwähnen, hatte der junge Krieger nicht in einem gleichgültigen Ton gesagt; eher in einem bestürzten. „Sieh mal einer an, du lernst wirklich schnell – Sarkasmus hast du bereits drauf!“ Kapitel 2: Lange Reise ---------------------- Es waren keine zwei Stunden verstrichen, da ging der rechten Hand des Kaisers von Mentan, Grenth Desteral, die Puste aus. Der junge Krieger vor ihm ging stets im gleichen, schnellen Tempo voran und hatte scheinbar eine ausgezeichnete Ausdauer. Grenth schlenderte inzwischen eher hinterher, als dass er mit seinem Retter gleichauf ging. Sie durchstreiften immer noch die gleiche, eintönige Prärie – nur schleichend änderte sich die Landschaft und vor ihnen erstreckte sich die erste Gebirgslandschaft. An einer Gabelung war Tend – wie Grenth ihn beschlossen hatte zu nennen – kurzerhand stehen geblieben, sodass der Begleiter aufholen konnte. „Was- was ist los?“, seine Stimme klang erschöpft, auch, wenn er es nicht zeigen wollte. „Weißt du den Weg nicht weiter?“ Der junge Krieger schüttelte darauf hin den Kopf, deutete auf Grenth. „Zieh sie aus.“ „Hä... was?“ „Deine Schale ist laut. Zieh sie aus.“ „Meine-?“, Grenth musste laut auflachen, „Aaach soo, meine Rüstung!“, und klopfte sich auf die scheppernde Brust. „Die kann ich doch nicht einfach ausziehen – sie ist gepanzert und schützt mich vor schweren angriffen. Du solltest dir viel eher auch eine anlegen!“ „Mit Schale-“ „Rüstung.“ „Mit Rüstung wäre ich langsam. Unbeweglich, keine Bewegung.“, Tend richtete kurz den Gürtel an der Schulter, an dem der Bogen hing, „Und tot.“ Bei seinen kurzen Worten blinzelte Grenth ihm mit großen Augen an. Es war immer wieder erstaunlich, wie wenig Tend sprach und doch immer gezielt die richtigen Worte traf. Klar, ohne Rüstung wäre der Mann aus fremden Lande leichter angreifbar. Doch wäre seine Ausdauer um einiges höher – und nicht zuletzt würde er nicht durch seine lauten Geräusche ungebetene Gäste anlocken. Er gab nicht gern zu, dass der Krieger aus dem Naturvolk Recht hatte, sodass er beim abschnallen seiner Rüstung nichts als ein kurzes Schnaufen von sich gab. Kaum hatte er die letzte Beinschiene entfernt, ging Tend auch schon weiter, die Bergstraße entlang. In den nachfolgenden, steilen und schmalen Wegen, hoch oben in den ersten Klippen, war Grenth doch ganz froh, keine schwere Rüstung mehr am Leib zu tragen. Jeder kleinste Stein, den er mit dem Fuß stupste, schien in den steilen Gewölben laut zu hallen – wie auffällig wäre dann erst die Rüstung gewesen? Nach dem schwierigem Teil im Gebirge, folgte ein angenehmerer Fußmarsch über die weiten Hügeln des Tales. Bei einem klaren Bach machten sie kurz Rast, um zu trinken. Grenth hatte sich dabei generell Wasser ins Gesicht gespritzt, ehe er den halben Bach hätte austrinken können. Der junge Krieger füllte derweilen die mitgebrachten Wasserbeutel wieder auf. Nach weiteren zwei Stunden des Gehens begann es zu Dämmern. Im weiten Feld gingen sie, im Licht der abendlichen Sonne einem Wald entgegen. Er befand sich nicht auf der gleichen Ebene, sondern unterhalb eines felsigen Abhanges. Die Reisenden konnten sich nun entscheiden, hinunter zu klettern und dabei Verletzungen riskieren, oder einen leichten Weg in Form eines Trampelpfades hinab zu finden. Sie entschieden sich für eine Zwischenlösung und suchten einen weniger gefährlicheren Abhang. Eine Weile suchten sie, da blieb Grenth kopfschüttelnd stehen, ehe er die Arme schwang: „Das hat keinen Sinn, wenn wir weiter gehen, können wir unten den ganzen Weg wieder zurückgehen!“ Ebenfalls stehen geblieben, sah Tend überlegend den Abhang hinab. Das erste Mal musste er dem Fremden Recht geben; es gab keine andere Möglichkeit hinab, ohne langen Umweg. „Stimmt.“, meinte er schließlich und ging kurz in die Hocke. „Ich suche die einfachste Stelle.“ Das war Grenth nur recht – endlich konnte er ein wenig verschnaufen. Die Schultern gelockert, ließ er sich kurzerhand auf seine vier Buchstaben sinken. Direkt hinter ihm ein raschelndes Gebüsch – und schon war die Anspannung wieder da. „Was ist denn-?“, bereits etwas unaufmerksam erhob er sich und trat leicht gegen den Strauch: da war plötzlich ein Knurren zu hören. „Eh- Tend?“, anstatt einen Schritt zurück zu machen, drückte er nach einem Schlucken die Äste hinab: da stand ein Rudel von sechs Wölfen vor ihm. „TEND-!“, kaum gerufen, zog ihm der junge Krieger nach hinten, als der knurrende Wolf nach ihm schnappen wollte – und stieß diesem mit dem Bogen auf den Kopf. „Lauf!“, meinte er zu Grenth, „Lauf und spring! Der Abhang!“ „Spri-!?“ Tend war in diesem Moment bereits an ihm vorbei gelaufen und machte es ihm vor: ohne der geringsten Angst sprang er mit weiten Anlauf den Abhang hinab. Hinter Grenth die Wölfe, vor ihm der felsige Abgrund. Er hatte ein Schwert und war ausgebildeter Soldat. Mehr noch: er war Kommandant und Ritter. Warum in aller Welt sollte er dann flüchten!? Kaum das Schwert gezogen, gingen alle sechs Wölfe zum Angriff über: und schon war Grenth dem jungen Krieger nach gesprungen. Mit einem lauten Schrei der Panik heraus, landete Grenth in einem kleinen See. Durch den hohen Punkt des Absprungs sank er tief hinab, fast bis auf den schlammigen Grund. So schnell er konnte schwamm er zurück nach oben, um beim Auftauchen kräftig nach Luft zu schnappen. Dann kam er Tend nach, der – ebenfalls schon ziemlich erschöpft – das Ufer erreichte. „Oh... großer König im Himmel...“, Grenth taumelte aus dem Wasser, ehe er lachend sein Hemd ausdrückte. „Haha, zum Glück hatte ich meine Rüstung nicht mehr an... ich wäre ersoffen, so schwer wie sie war!“, er sah zu Tend, der sich seinen Bogen neu am Rücken ausrichtete, „Gute Idee, zu springen – ich hatte gar nicht gesehen, das da ein See ist. Darum nennt man dich wohl den „schwarzen Adler“, wegen deinen guten Augen! Mein Freund, wir sind ein gutes Team!“ „Wir sind keine Freunde.“ In seiner lobenden Ansprache unterbrochen, sah er Tend nach, der im Sonnenuntergang weiter ging, dem Wald entgegen. Zuerst die Luft angehalten, wurde Grenth schnell klar, was er meinte. Er war aus Mentan, dem Land, welches schon so viel Leid über das des Naturvolkes brachte. Sie waren Fremd, Eindringlinge. In so großer Zahl vorhanden, dass sie das neue Land irgendwann überrennen würden. Ein wenig Tat es Grenth Leid, Tend Recht geben zu müssen. Aber es stand fast schon in Stein geschrieben, dass die zwei sich in vielen Jahren, ohne es zu wissen, auf dem Schlachtfeld wieder sehen würden – und zwar als Feinde. Im Wald, nahe des Sees, begann nach Einbruch der Dunkelheit das wärmende Licht eines Lagerfeuers zu lodern. Der Ritter und der Krieger saßen immer noch durchnässt dem Feuer gegenüber. Durch Tends treffende Richtigstellung „Wir sind keine Freunde.“ herrschte zwischen ihnen eisernes Schweigen. Gut, Grenth wurde nie darum gebeten, den Naturburschen zu begleiten... und es stimmt auch, dass der Mann aus dem fremden Land ihm nur im Genick hing, um die Schwächen der Einwohner heraus zu finden. Doch seit seinem Satz spürte Grenth, dass er doch mehr wollte; von Tend gäbe es so vieles, dass er lernen könnte. Vom kalten Nass einen rauen Hals bekommen, begann Grenth sich zu räuspern – so lang, bis ein gequältes Husten daraus wurde. Wenig überrascht schob ihm Tend – nachdem er ihn beobachtet hatte – eine Holzschüssel zu, aus der er, seitdem das Lagerfeuer brannte, gegessen hatte. Grenth beugte sich und sah fragend zur grünen Kräuterpampe darin. „Was ist das?“ „Iss.“, so die kurze Antwort, „Hilft.“ Grenth sah den Krieger skeptisch an: das zusammengewürfelte Grünzeug soll er essen? „Mit den Fingern?!“ Tend zuckte über die für ihn merkwürdige Frage mit den Achseln. „Kannst Stock nehmen.“ Hygienisch war in Grenths Augen etwas anderes. Aber wer mit einem Natureinwohner allein im Wald saß durfte nicht wählerisch sein – schon gar nicht, wenn er mit einem seine grüne Pampe teilte. So griff Grenth eher zögerlich in die Holzschüssel und steckte noch viel skeptischer das Zeug in den Mund. Die Augen vor dem erwarteten Ekel zusammengekniffen, sah er einen Moment später überrascht auf: „Das schmeckt gar nicht so schlecht..! Fehlt nur etwas Salz.“ Zufrieden mit seiner Reaktion, nickte ihm Tend zu. „Sag mal, Tend... wieso bist du eigentlich auf der Suche nach diesem Material – noch dazu so ganz alleine?“, Grenth stellte die Schüssel beiseite, „Da muss mehr dahinter stecken... ich habe dich noch nie lächeln gesehen. Oder liegt das an mir?“ Dem Mann aus dem fremden Land ging das nicht im geringsten etwas an. Niemanden, außer Tends engsten Kameraden. So saß er schweigend vor dem knisternden Feuer und hatte die Flammen fixiert. Grenth sah ihm an, dass der Grund ein schwerer Brocken sein musste. Doch er sah auch, dass Tend es ihm nie einfach so erzählen würde. So seufzte der Ritter, sah von ihm ab. „Als ich noch klein war... erzählte mir mein Vater von fernen, wunderschönen Orten. Er stand einst wie ich im Dienste des Kaisers und sein größter Traum war es, sein eigenes Reich zu besitzen. Selbstverständlich immer noch unter der Treue des Kaisers. Er wollte ihm so nah wie möglich sein, damit sein Traum wahr werden konnte. Ich blickte zu ihm auf, er war mein Vorbild... so vieles hatte er erreicht. Hatte dem Kaiser ein Bündnis mit Arcan ermöglicht und dessen Reich nahezu verdoppelt... doch er durfte nie seinen eigenen Grund besitzen. Er starb im Alter von sechsunddreißig Jahren an einer Lungenentzündung. Vielleicht ist es Irrsinn, doch lebt sein Traum in mir fort. Ich hatte den Vorteil, das vertrauen des Kaisers dank meines Vaters schon früh für mich gewinnen zu können. Ich stieg schnell auf, bis ich schließlich die Position der rechten Hand erreicht hatte. Nun darf ich Außenmissionen leiten und neue Welten erkunden...“, er seufzte, „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass auch mir nie die Chance zuteil wird, mein eigenes Ländlein zu besitzen.“ „Aber?“ „...Was?“ „Wenn nicht besser wüsste.“ „Das ist so eine Redensart, Tend! Ich weiß es leider nicht besser.“ Kurz herrschte Stille, als Grenth nachdenklich zum Feuer sah. Seinem Ziel etwas über Tend in Erfahrung zu bringen näher fühlend, wagte er eine weitere Frage: „Was ist mit dir? Du scheinst mir ein starker Krieger deines Volkes – hast du deinen eigenen Ort?“ „Nein.“ „Was, nicht? Aber wenigstens dein eigenes Zelt oder so etwas?“ „Ja.“ Grenth begann nebenbei mit einem Stock im Feuer zu stochern. „Na wenigstens etwas. Ich hätte vermutet, dass ihr ein paar Plätze an der Grenze zu Arcan besetzt hält.“ „...Wir halten uns fern von Halbgöttern.“ Der Ritter dachte, er habe sich verhört. Hielten diese Naturmenschen Arcaner tatsächlich für...? „Du weißt aber,-“ „Menschen, gesegnet vor langer, langer Zeit. Drei Götter, drei Völker.“ So war das. Die Einwohner in diesem Land hatten einen Glauben. Oder war dies mehr eine Legende? Grenth traute sich nicht zu fragen; er wollte nicht den Eindruck erwecken, seinen Glauben in Frage zu stellen. „Äh...“ Tend seufzte darauf und legte sich auf seine mit Blättern ausgekleidete Stelle nieder. „Wissen gerät in Vergessenheit. Bald verloren.“ „Meinst du? ...Und was ist, wenn ich es weiterverbreite?“ Der Krieger antwortete, dem Feuer bereits den Rücken zugekehrt. „Niemand versteht. Schlafen.“ „Jetzt schon?“ „Wir gehen früh.“ „Wie in meiner Ausbildungszeit!“, Grenth lachte, „Damals musste ich auch-“ „Schlaf.“ „Ist ja gut!“, Grenth legte sich etwas mürrisch nieder, „Aber bereite dich darauf vor, dass ich morgen nicht allzu schnell aufstehen können werde – der Boden ist verdammt hart und mein Rücken ist empfindlich.“ Kapitel 3: 2. Im arcanischen Krieg ---------------------------------- Desterals östliches Nachbarland, Arcan, war ein wundervoller Ort. Nur dort gab es einzigartige Pflanzen- und Tierarten anzutreffen, dafür waren handelsübliche Waren, wie Äpfel und Kirschen eine besondere Seltenheit. Das Volk der Arcaner war gebildet und hochkultiviert. Es war stets drum bemüht, mit dem Mondland und Desteral eine gute Beziehung zu führen – die Menschen boten dem Land gute Handelsgüter, im Gegenzug brachten die Arcaner schon so manche Baukonstruktionen für Destercity und half der erst seit kurz existierenden Königsfamilie oft aus der Patsche. Eines Tages begann im weiten Osten Arcans ein Mann mit Magiebüchern zu experimentieren. Er holte sich daraus das Wissen von Vorfahren und schrieb seine eigenen, neuen Werke nieder. Nach und nach kamen immer mehr Sprüche zu Stande… diese waren keines Wegs hilfreich und freundlich. Sie dienten ausschließlich dazu, anderen Lebewesen zu Schaden. Der Mann wurde, umso mehr er schuf, von seinem eigenen Volk gehasst. Es kam der Tag, an dem die Arcaner nicht mehr wortlos zusehen wollten. Sie stellten den mittlerweile alten Mann vor die Wahl: er soll seine Werke vernichten, oder wird hingerichtet. Trotz der Chance sein Leben zu retten, stellte sich der Mann dagegen; er versteckte seine Bücher, ehe ihm die Arcaner finden konnten. Sie kämpften gegen ihn, ein dutzend Männer gegen einen alten Mann. Die Arcaner waren verblüfft über seine Stärke: sie konnten ihn einfach nicht in die Knie zwingen. Er hatte während seinen Forschungen eine Macht entdeckt, die größer als die der normalen Magie war. Sie war zerstörerisch und unberechenbar. Niemand, der einen schwachen Willen besaß, sollte je Herr über sie werden: die dunkle Magie. Es heißt, erst nach einem Tag und einer Nacht haben die mehr als zehn Arcaner den einzelnen Mann bezwingen können. Er wurde am darauf folgenden Tag hingerichtet… doch seine Bücher existierten weiter. Es kam der Tag, da entdeckten drei junge Magier die Bücher des alten Meisters. Die Verlockung war zu groß und so riskierten sie einen Blick hinein. Die drei Arcaner lasen Zeile für Zeile; und mit jeder weiteren spürten sie, wie die dunkle Magie sie in seinen Bann zog. Ihr größter Fehler war es, die Bücher an ihre Freunde und Verwandte weiter zu reichen. Immer mehr Arcaner verfielen dadurch der dunklen Gabe und veränderten ihren sonst so gütigen Charakter. Sie wurden streitsüchtig, egoistisch und eitel. Die, die der dunklen Magie verschont blieben, stellten sich gegen sie: der natürliche Verstand eines Arcaners verriet ihnen, dass es diese Art von Magie nicht geben durfte. Sie griffen zu ihren Waffen, ehe ein bitterer Krieg innerhalb des eigenen Volkes ausbrach. Ein großer Teil Arcans, der Osten, trennte sich vom restlichen Land. Zu viele dunkle Magier verdarben es, bis sie es schließlich zerstörten. Der restliche Teil des Landes nannte es von nun an „Altarcan“. Auch wenn die dunklen Magier nun ihr eigenes Reich besaßen, war ihnen dies nicht genug: sie fielen ins übrige Arcan ein und ließen den Magiern keine Ruhe. Die, die Frau und Kinder besaßen, flüchteten, so lange sie noch konnten. Die starken und selbstbewussten Arcaner blieben und kämpften um ihr Land: auch wenn sie in der Überzahl im Gegensatz zu den dunklen Magier waren, brachten sie es nicht fertig, ihr Land von der Plage zu befreien. Der Krieg tobte mehr als ein Jahrhundert, ehe es Still wurde. Sehr still. Denn Arcan hatte sich während des Krieges Stück für Stück selbst vernichtet. Kapitel 4: 3. Im Verborgenen ---------------------------- Am Rande der Stadt Sylvar, nahe dem See der Erkenntnis, eilten zwei im schwarzen Mantel gehüllte Gestalten die Straße entlang. Der Himmel war Sternenklar in dieser kalten Herbstnacht. Für sonst kreisten zu der Jahreszeit Nebelfelder zwischen den Feldern. In dem kleinen Holzhaus, welches die zwei Gestalten ansteuerten, flackerte warmes Licht durch die Fenster; wie gut es doch nicht war, endlich am Ziel zu sein. Als die Tür aufging, blickte die schwarzhaarige Frau vom Boden auf, zu den zwei Männern, die, erleichtert zu hause zu sein, ihre Mäntel an die Wand hingen. „Hallo, Schatz.“, seufzte der größere Mann, ehe er sich durch die dunklen Haare fuhr, „Was für eine Kälte da draußen.“ „Wenn's allein die Kälte wäre.“, der zweite schmiss sich in einen der Stühle, neben dem Tisch, „Envael hat fast den Auftrag verhaut, so abgelenkt wie er war.“ „Aber nur, weil du eine Frau mit reingezogen hattest, Metho.“ „Hey-“, schmunzelnd hob er die Arme, „Mein Meister sagte einst 'Hab immer einen Sündenbock dabei, falls etwas schief geht.' Und er war sehr weiße.“ „Weiße hin oder her-“, Envael klappste seinen Freund gegen den braunhaarigen Kopf, „Mach das noch einmal und ich nehm dich nicht mehr mit.“, dann sah er zur Frau, die immer noch abgelenkt am Boden saß. „Was machst du da eigentlich, Schatz?“ Ein wenig brauchte die Frau, ehe sie kurz zu ihrem Mann aufsah, anschließend wieder trocken zu dem Kind, welches mit seinen Bauklötzen spielte. „Ich glaube, Avrial ist debil.“ „Ach was, Unsinn!“ „Schau ihn dir doch an, er ist fast vier Jahre alt und spricht kein Wort.“ „Jetzt übertreibst du aber. Avrial kann sehr wohl sprechen und zwar gut.“ „Er saß gestern in der Kindergruppe zusammen. Denkst du, er hat auch nur ein Spielzeug lange gehabt? Stets sah ich mit an, wie andere Kinder es ihm wegnahmen!“ „Das ist doch normal. Ich war in meiner Kindheit auch sehr still und zurückhaltend.“ „Das erklärt das Weichei, das du bist.“ „... Warum leben wir noch gleich zusammen...?“ „Weil dein Vater mich drum gebeten hat, auf dich aufzupassen.“ „Wow, halt, Clair – jetzt verdrehst du aber einiges.“ In der Tat war er es gewesen, der ihr im schwächsten Moment das Leben gerettet hatte. Dunkle Magier terrorisierten einst die Heimatstadt, vernichteten ganze Ländereien und Familien; unter anderem auch die von Clair, dessen reiche Eltern sich als erstes von ihrer Existenz verabschieden konnten. Envael und andere Arcaner griffen ein, als die Angriffe eskalierten und retteten somit ihr Leben. „Es ist schön zu sehen, wie gut ihr euch versteht.“, Metho, Freund der Familie, ließ sich eine Flasche Apfelwein herbei schweben, als Envael diese abfing und auf den Tisch stellte. „Oh, du solltest erstmals erleben, wenn wir richtig in fahrt sind; und lass den Wein stehen, wir haben keinen Geldscheißer.“ „Envael!“ „Entschuldige, Schatz. Geldpupser.“ Metho zuckte mit den Achseln. „Dann arbeitet doch mehr. Ich spiel sowieso den Babysitter.“ „Wenn wir schon beim Thema sind.“, Clair nahm den Jungen hoch, ehe sie nach einen Brief griff und vor den Männern damit winkte. „Der ist heute am Fensterbrett gelegen.“ „Was steht denn drinnen?“ „Hab ich nen Röntgenblick!?“, sie schnaufte und knallte den Umschlag in die Hände ihres Mannes, wobei Metho anfing zu lachen. „Hat ein schwarzes Siegel.“, so Envael, der den Brief aufriss. „Drum habe ich ihn ja nicht geöffnet.“ „Darfst du aber...“ „Nun lies schon, du Depp!“ „Jajajajaja.“, er faltete das Papier auf und überflog die Zeilen. Nach einer kurzen Pause sah er auf, zu Metho. „Tja, es ist mal wieder so weit.“ „Wird nach meinen Zweitjob verlangt?“ „Jap.“ „Ich hoffe, ihr bringt Apfelwein mit.“, Metho nahm den Jungen von Clair an sich, „Wenn ich schon sonst nicht entlohnt werde.“ „Du kannst dich auch nur beschweren, was?“, die Eltern warfen sich in die schwarzen Mäntel, „Es ist ja nicht so, als ob Äpfel auf Bäumen wachsen würden!“ „Geht schon, bevor ich mit Bauklötzen nach euch werfe!“, als die zwei nach draußen traten, ging ihnen Metho nach, bis zur Türschwelle. „Und wehe, ihr kommt nicht in einem Stück nach hause!“ Einen kurzen Augenblick sah er den beiden nach, wie sie in der kalten Nacht hinaus verschwanden. Als dann Avrial ein Niesen von sich gab, stupste Metho seine Nase. „Was hast du nur für Eltern; einer wahnsinniger, als der andere. Wenn du mal so wirst, geb' ich mir den Todeszauber. Lass uns reingehen, eh' wir uns erkälten.“ Einige Stunden vergingen, seitdem die Eltern das Haus verlassen hatten. Im Geheimen waren sie unterwegs, spionierten nicht selten die Clans der dunklen Magier aus. Sie wussten, ein kleiner Fehler reichte, um aufzufliegen. Um die Kollegen, die Freunde und vor allem die Familie in Gefahr zu bringen. Doch das Risiko gingen sie des Nächtens ein. Zum Wohle des Dorfes, der für sie letzte sichere Ort im Süden Arcans. Es war knapp, doch sie waren erfolgreich. Als der Morgen graute, kehrten sie Heim. Leise kamen sie bei der Tür herein und zogen sich die Mäntel aus. Als beide vor der Couch standen, verdrehten sie gleichzeitig entzückt den Kopf. „Aaw.“, Clair griff vorsichtig nach Avrial, der auf dem Bauch des Familienfreundes friedlich schlief. Sie ging hinüber, zum einfachen Gitterbett und deckte ihren tief schlafenden Sohn darin zu. Währenddessen klopfte Envael etwas unsanft Methos Backe, der sogleich die Augen aufriss. „Hey. Komm schon, Zeit zum Aufstehen.“ „Oh, da seid ihr ja-“, er rieb sich über das Gesicht, bevor er sich aufsetzte. „Hat etwas länger gedauert, als gedacht. Irgendwie wird es immer schwieriger, nicht aufzufallen.“, Envael räumte schmunzelnd das Spielzeug vom Boden in eine Kiste, „Wir sind wohl zu Normal für dunkle Magier.“ „Haha – ihr, ehrlich?“ „Lach du nur, dein nächster Auftrag kommt sicher noch. Auch wenn er nicht so viel Geld abwirft, wie unserer.“ „Ja, was auch immer. Wenigstens muss ich mich nicht mit den Elite-Spinnern anlegen~“, Metho zog sich seine Robe über, ehe er nach seinen Schuhen griff. „Übrigens Metho, wir müssen später noch einmal weg, die Belohnung abholen.“ „Was? Habt ihr das etwa noch nicht erledigt?“, etwas entsetzt sah er zu Envael auf, „Ihr habt also keinen Apfelwein dabei, stimmts?“ „Hey, auch Ratsmitglieder brauchen Schlaf.“, er schmunzelte, „Du kriegst deinen Wein schon noch, keine Sorge. Am Nachmittag.“ „Versprochen?“ „Versprochen.“ Kapitel 5: Am Spielplatz ------------------------ „Am Nachmittag, versprochen.“, spöttisch äffte Metho seinen Freund und Kollegen nach. Nebenbei stapfte er schnaufend, mit Avrial rechts an der Hand, durch das Dorf. Es war inzwischen drei Uhr Nachmittags – und die Eltern des Kindes sind gerade erst aufgebrochen, sich ihre Entlohnung beim arcanen Rat abzuholen. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie tun das mit Absicht.“, er sah zu dem Kleinkind, welches mit großen Augen zurück blinzelte. „Aber ich weiß natürlich, wie beschäftigt die zwei sind. Einen schweren Job und die Beziehung gleichzeitig zu managen ist nicht einfach; und da machst du die Sache nicht gerade einfacher.“, er seufzte, „Nicht einfacher für mich, jedenfalls.“ „Da!“, Avrial ließ die Hand von Metho los, als er auf den Spielplatz geradeaus deutete und anfing zu laufen. „Ja, ja.“, er ging ihm im Schnellschritt nach – das allein reichte bereits aus, um ihn einzuholen. „Tut mir leid, Kleiner... es war nicht so gemeint, bin im Moment nur etwas... schlecht drauf.“ Der Junge achtete gar nicht auf seinen Aufpasser. Mit gehobenen Armen lief er kichernd auf die Sandkiste zu. „Oh gut – es ist dir eh egal.“, Metho nahm seufzend auf der Bank, in der Nähe der Sandkiste, platz. Leise murmelte er dabei „Bist ein süßer Fratz.“ in seine Robe, dann lehnte er sich zurück, um den Jungen etwas beim Spielen zu beobachten. Als Freund der Familie konnte er sich noch gut an die Zeit vor Avrials Geburt erinnern. Im Prinzip war es nicht anders als jetzt; bis auf den Punkt, jetzt vorsichtiger sein zu müssen. Envael und Clair hatten nie darüber nachgedacht, ihren Lebensstil für ein Kind zu ändern. Vielleicht hätten sie es getan, wenn ihr Job nicht so schwer wäre. Schwer – und voller Verantwortung. Als Spion konnte man nicht einfach das Handtuch werfen. Sie galten als „Mitglied“ in einem der Clans – ein plötzliches Aufhören kam bei den dunklen Magiern nicht in Frage. Vielleicht liebten die zwei aber auch gerade diese Gefahr. Der Nervenkitzel und das Gefühl, bei kleinen Fehlern auffliegen zu können, schweißte sie mit Sicherheit auch ein wenig an einander. Metho konnte sich sogar den Grund für Avrials Existenz vorstellen, doch wollte er seine Gedankengänge lieber nicht verfolgen. Nein, lieber nicht. „Lang nicht gesehen, Metho.“ Es riss ihn ein wenig, als jemand neben ihm Platz genommen hatte. „Kael!“, Metho war froh, den bekannten Mann zu sehen, hielt sich aber dennoch die Hand vor die Brust. „Schön dich zu sehen – ich hatte fast einen Herzendfakt!“ Der kurzhaarige Mann aus dem Dorf lachte, „Ach, sei nicht so ein Weichei. Dabei habe ich extra Magie für kurze Distanzen angewandt.“ „Mit deiner Tochter durchs Dorf zappen wäre auch nicht so einfach.“, dabei sah er zur Sandkiste, in der sich ein sechs Jähriges Mädchen zu Avrial gesellt hatte. „Doch, das wäre es, aber ein wenig Bewegung schadet nicht.“, er setzte sich zu Metho, ehe er seinen Blick zu den Kindern schweifen ließ. „Ist das Avrial? Ach, wie die Zeit vergeht...“ „Na, jünger werden wir nicht. Da hilft auch keine Magie.“ „Nicht einmal dunkle Magie, so viel ich weiß.“ „Nein.“, Metho verschränkte seufzend die Arme, „Noch ein Grund, weshalb ich nicht verstehen kann, wieso so viele die dunkle Magie so toll finden.“ Im Gespräch vertieft, bekam der Aufpasser nicht mit, wie Avrial aus der Sandkiste kletterte und zum Klettergerüst tapste. „Ach, wer weiß das schon. Interessiert mich auch gar nicht... und? Arbeitest du immer noch als Spion?“ „Selbstverständlich, aber nur halbtags. Ich steh es mir nicht so auf die Gefahr, auch wenn ich damit vielleicht etwas zur Rettung von Arcan beitragen würde und einmal in den Geschichtsbüchern stehen könnte.“ „Halbtags reicht doch schon. Was tue ich? Baue mit Magie Häuser.“ „Aber Architekt ist doch ein schöner Beruf?“ „Wird mir aber nichts mehr bringen, wenn es niemanden mehr gibt, der da drinnen wohnen kann, oder?“ „Also, jetzt neigst du ein wenig zur übertrei- Avrial!“, Metho war aufgesprungen, als der Junge den Halt vom hohen Gerüst verlor und kopfüber stürzte. Sofort die Hände gehoben, hielt der Aufpasser den Fall mit Magie auf und ließ das Kind zurück auf den Boden schweben. Sogleich fragend zu ihm gesehen, hüpfte Avrial auf die Beine zurück und lief zur Rutschte. „Hahahaha-“, Kael schüttelte den Kopf, „Haha, was ist los, Metho? Kein direkt in deine Arme manifestieren? Hahaha, da fehlte mir eindeutig was!“ „Ach, sei still.“, Metho ließ sich zurück auf die Bank fallen, „Nicht jedem fällt die Magie so einfach.“ „Was war eigentlich nach der Schule? Hast du deine Ausbildung noch beendet?“ „Wie denn? Das ist ja das Problem, das Gebäude steht dank den dunklen Magiern schon lang nicht mehr.“ „Ach, darum...“ „Wird sowieso noch lustig, für Avrial eine brauchbare arcane Ausbildung zu finden. Zur Not müssen wir wohl Lehrer spielen.“ „Wir?“, Kael musste prusten, „Du springst wohl noch häufig als Babysitter ein, was?“, und schmunzelte. „Wird es nicht langsam Zeit, sich selbst eine Frau zu suchen und eine Familie zu gründen?“ „Also Arbeit habe ich mit Avrial genug. Und was heißt da „Wird es nicht langsam Zeit“, ich bin erst 78!“ „Ich sag ja nur. Die Zeit tickt tickt tickt – wer weiß, wie lang unser Land noch steht...“ Bei seiner Aussage hob Metho die Augenbrauen an. Dem alten Freund schien die Bedrohung durch die dunklen Magier große Sorgen zu bereiten. Nicht zuletzt lehnte sich Kael nach vorne, um etwas in Gedanken versunken auf den Boden zu starren. „...Was wirst du tun, wenn Sylvar fällt?“ Überrascht musste Metho diese Frage erst einmal verdauen. „Was?“ „Wenn Sylvar fällt, gibt es keine große Stadt in Arcan mehr... das solltest gerade du als Spion wissen.“ „S-selbstverständlich, aber-“ „Wirst du flüchten? In den Süden, der bereits von dunklen Magiern überrannt wurde, ja?“ Mit einem kurzen Seufzer gab Metho zu erkennen, dass er das Problem nun begriffen hatte. Einen wirklichen Notfallplan hatte er nicht. Weder er, noch Envael und Clair. „Ich werde mit meiner Tochter nach Desteral gehen.“, bevor Metho nachhaken konnte, hob Kael lächelnd den Kopf: „Desteral ist für dunkle Magier uninteressant. Einfache Kultur, keine brauchbaren, technischen Werke. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich mit meinem Mädchen das Land verlassen. Und wenn es hart auf hart kommt... wird sich ein Waisenhaus um meine kleine Jeane kümmern.“ Der Plan, das Land zu verlassen, war für Metho etwas überstürzt. Er lebte nun schon so lange hier, da konnte er seine Stadt, seine Mitarcaner nicht einfach im Stich lassen. Doch was war wohl am Besten für den Nachwuchs? Für die nächsten Generationen? Sollten sie im ewigen Krieg gegen die dunklen Magier aufwachsen und stets um ihr Leben fürchten müssen? Durchaus hatte Kael einen Plan geäußert, der im dringenden Notfall wohl als letzte Chance angesehen werden konnte. Etwas angeschlagen von dem Gedanken, drehte Metho den Kopf und blickte selbst zu Boden. „...Verstehe.“ „Nun, wie auch immer.“, von der Bank erhoben und gestreckt, blickte sein Freund zu dem spielenden Mädchen. „Jeane, komm!“, anschließend zu Metho. „Wir müssen noch ein paar Sachen besorgen, wir kriegen heute Abend nämlich Besuch.“ „Aha- dann viel Spaß!“ „Danke-“, er nahm seine Tochter an die Hand, „Und mach dir keinen Kopf, Arcan fällt, wenn es so weit ist. Schönen Tag wünsche ich euch! Grüße an Envael und Clair!“ „Danke, richte ich aus!“, schmunzelnd den beiden nachgewunken, wandte Metho seine gelben Augen wieder zu Avrial. Er war ebenso fertig mit Spielen und kam angelaufen. „Na? Sollen wir auch zurückgehen?“ Der Junge nickte schnell und griff von selbst nach der Hand des Aufpassers. Gerade war er aufgestanden, da zog der Sprössling an ihm. „Komm! Komm, Meeto!“ „Jaja-“, er lachte, „Wir können uns doch Zeit lassen, die zwei sind sicher noch nicht da.“ Kapitel 6: Apfelwein -------------------- Den ganzen Weg zurück, vom Spielplatz bis zum Haus von Envael und Clair, war Metho mit seinen Gedankengängen beschäftigt. Sein alter Kamerad Kael hatte ihm einen Floh ins Ohr gesetzt. Einen Stein ins Rollen gebracht, der den Arcaner zum Nachdenken brachte. Auch wenn er nicht zur Familie gehörte, so war ihm als guter Freund das Wohlbefinden der Eltern und vor allem das von Avrial wichtig. Was wäre, wenn Sylvar fällt? Was würde geschehen? Was würden Envael und Clair tun? Kämpfen? Nicht mit einem kleinen Kind. Das hoffte Metho inständig. „Da seid ihr ja wieder!“, Envael ging den beiden entgegen, ehe Avrial seinen Vater registrierte und auf ihn zu lief. „Papaa!“ Metho musste schmunzeln und kratzte sich sogleich am Kopf. „Ach, ihr seid schon zurück? Dachte, es würde länger dauern.“ „Wir waren doch nur die Belohnung abholen.“, als Envael seinen Sohn hochhob, hielt er sich kurz den Rücken, „Autsch, das war nicht gut. Erst fast den zweiten Dreißiger und schon Rückenschmerzen...“ „In die Hocke musst du gehen. Ich mache es genau so – mit einem Kind geht so was schnell.“ „Jetzt muss ich mir schon von dir Tipps für mein Kind geben lassen?“, er lachte, „Warte, das hat noch ein Nachspiel.“ In der Nähe des Hauses konnte man Clair schon etwas länger winken sehen. Als die zwei Männer allerdings immer noch am Reden waren, machte sie einen Schritt nach vorne – verschwand dabei kurz in einem roten Schleier und tauchte direkt bei den Männern wieder auf. „Da ist ja unser Kinderentführer.“ „Was heißt hier Entführer?“, Metho stemmte die Arme in die Hüften, „Ich war am Spielplatz, wo wir viel Spaß hatten!“ „Ist Avrial wieder vom Klettergerüst gefallen?“ „Ja, aber nur einmal.“ „Oh, gut.“, Clair küsste den Kleinen auf die Wange, worauf hin er sich diese sofort abwischte. „Also wirklich, Schatz. Coole Jungs brauchen keine Küsse.“, so scherzhaft Envael. „Na wenn das so ist, kann ich mir ja heute Zeit für mich nehmen.“ „Was? Nein, Clair-“ Unerwartet warf die Arcanerin eine Apfelweinflasche in Methos Richtung. Tollpatschig diese mit den Händen aufgefangen, verschränkte sie die Arme. „Gern geschehen, das war die letzte auf dem Markt.“ „D-die letzte? Wieso das?“ „Die Lieferanten sind überfordert. Besser gesagt, gibt es kaum noch welche. Glück für sie, was die viele Arbeit und die daraus resultierende Einnahmen angeht.“ Metho musste daraufhin hart schlucken; wieder wurden die Worte von Kael in ihm laut. Als der Freund einen starren Blick bekam, zog Envael eine Braue hoch. „Alles ok?“ „J-ja, uhm...“, er griff sich an den Nacken, „Mir ist da nur eine Frage eingefallen, die ich euch noch stellen wollte.“ „Na, dann raus damit.“ „Wenn Sylvar nicht mehr- also wenn die Stadt auch noch-“ Da fing Avrial an zu schreien. Als er sich heftig in Envaels Armen wehrte, ließ er ihn schließlich hinunter. „Mal wieder quenglig.“, Clair schnaufte, „Er hatte kein Schläfchen, Metho?“ „Aber- was- w-wie denn, in der Sandkiste?“ „Das ist nicht Methos schuld.“, meinte Envael, „Er wollte nicht zu Mittag schlafen, schon vergessen?“ „Ach stimmt ja.“, da hob sie spottend die Arme. „Denn es ist ja wichtiger 'mit den Bauklötzen zu spielen' als zu schlafen.“ „Schatz, Kleinkinder können sind nicht verteidigen. Immer noch nicht.“ „Hach, ja.“, sie griff nach Avrials Hand, als er sie wegzog und trotzig den Kopf schüttelte. „Ich fürchte, wir müssen nach Hause...“ „Kann deine Frage bis morgen warten, Metho?“ „Aber natürlich. Kein Problem, geht nur.“, er klopfte auf seinen Apfelwein, „Wir zwei hier machen uns heute noch einen schönen Abend~“ „Sauf aber nicht zu viel – der arcane Rat erwähnte was von einem geringem Auftrag. Kann sein, dass du morgen eine Einladung kriegst.“ „In Ordnung, vielen Dank-“ „Gib die Hand jetzt her-“, Clair lief ihrem Sohn nach, als dieser, kreischend – vor Lachen – von ihr weglief. „Ich steck dich in nen Käfig, wenn du nicht sofort herkommst!“ „Clair! Schatz, was- Avrial, zieh deine Weste wieder an!“, Envael griff sich an die Stirn, ehe er seinem Freund zum Abschied winkte und dem sich entfernenden Geschehen nachging. „Also, vielen Dank fürs Aufpassen. Wir hören morgen von einander!“ „Ja, auf Bald!“, Metho winkte ebenfalls, dann ging er den Weg zurück, um seine Wohnung in der Stadt aufzusuchen. Vielleicht machte er sich einfach zu viele Sorgen. Metho und Envael arbeiteten nun schon seit vielen Jahren als Kollegen zusammen; egal wann er mit ihm unterwegs war, hatte der Vater stets aufs neue bewiesen, wie stark er war. Sowohl körperlich als auch geistig. Selbst als sie vor zwei Jahren einmal fast aufgeflogen wären, brachte sie Envael erfinderisch aus der gefährlichen Situation hinaus. Zu viele Sorgen. Es war doch alles bestens? Metho beschloss, sich in seiner 2-Zimmer-Wohnung mit einem heißen Bad und seinem Apfelwein zu entspannen. Für normal trank er sehr wohl aus einem Glas, doch an diesem Abend hatte er gleich die ganze Flasche neben der Wanne stehen. Er ließ ein Bein heraushängen, den Kopf einschließlich den spitzen Ohren unter Wasser. Keine Geräusche hören zu können, bis auf das eigene Raunen des zirkulierenden Blutes, konnte sehr entspannend sein. Gerade streckte sich Metho und ließ einen Seufzer los, als trotz des Wassers in seinen Ohren ein vertrauter, heller Ton zu hören war. Abermals seufzte er, dieses Mal nicht aus Entspannung. Er rieb sich noch kurz mit einer Hand die Augen, ehe er sich aufsetzte. Ein Brief des Rates war am Rand der Wanne erschienen... mit schwarzem Siegel! Metho griff eilig mit seinen nassen Fingen nach ihm – schwarz hatte höchste Priorität und kam speziell für Metho das erste Mal vor. Sonst waren es blaue, oder rote Siegel gewesen, was dem Arcaner dieses Mal etwas seltsam vorkam. Vielleicht war der Brief gar nicht für ihn bestimmt? Nein, auf der Rückseite war Methos Name eingraviert... Vorbei war die Entspannung – nach einem harten Schlucken, gepaart mit Gänsehaut, öffnete er den Umschlag. „Äußerste Dringlichkeit. Methoael Dencai, wird mit diesen Zeilen in der Halle des arcanen Rates verlangt. Sofortige Ankunft erforderlich.“ Sofortige Ankunft. Das bedeutete, dass theoretisch nicht einmal viel Zeit zum Anziehen blieb: keinen Schritt durch die Straßen, ja nicht einmal durch die Tür durfte die Reise gehen. Sofortige Ankunft verlangte schlichtweg die Manifestation direkt in die Halle des Rates, egal auf welcher Weise. Zu Methos Pech musste er sich schon lange nicht mehr Rasch zwischen zwei Orten bewegen... ob er es überhaupt noch konnte? Ach, hätte er es heute doch nur mit Avrial geübt, als der Kleine vom Klettergerüst fiel... „Was denk ich da bloß?“, Metho ging sich durch die nassen Haare, ehe er aus der Wanne stieg und nach einem Handtuch griff. Als er sich den halben Körper abgetrocknet hatte, klatschte er sich auf die Stirn. Das schwarze Siegel hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht: mit einer einfachen Handbewegung, von ihm weg, verschwanden die nassen Stellen auf seinem Körper, sodass er sich anziehen konnte. Endlich fertig, begann Metho zu überlegen, wie er denn nun in die Halle des Rates kam. Sich den Kopf kratzend, fasste er noch einmal nach dem Brief. Während er die Zeilen überflog, griff er nach seinem Apfelwein, um einen Schluck daraus zu machen. Da blitze der Brief auf und verschwand – mit ihm auch Metho – aus der Wohnung. In der Mitte des prachtvollen, kreisrunden Steinsaals aufgetaucht, senkte Metho die Flasche. „Wow...“, er sah kurz in die Runde, zu den Steinbänken, „Gut, dass ich schon angezogen war.“ Die Halle hatte nur wenig Beleuchtung; keine Kerzen, oder Fackeln. Arcanische Symbole zierten Gemäuer und Säulen, schienen sich zu bewegen und spendeten bläuliches Licht. „Methoael, Ihr wisst, weshalb Ihr hier seid...?“, eine ältere, edle Frau ging an Metho vorbei. Ihr langes, gräuliches Haar ging über ihr sowieso schon großes Erscheinungsbild hinaus, endete hinter ihr, zeitgleich mit ihrer Samtrobe. Ehe Metho zu Wort kam, hatte sich die Frau gesetzt und aus einer anderen Richtung der Halle erklang eine Männerstimme. „Eure Aufgabe hat größte Priorität, wie Ihr wisst.“ „Die Herrschaften scheinen Aufgebracht – dürfte ich kurz zu Wort kommen?“ Die edle Frau nickte sanft. „Nein, ich habe keine Ahnung was los ist. Nur, dass es sehr dringend sein muss.“, er sah zu einem dritten Mann, er in einer braunen Robe verhüllt neben einer Säule stand. „Krieg ich ein Glas für meinen Apfelwein? Wer von euch war eigentlich so nett, mich hierher zu beamen?“ „Methoael, wir fürchten um die Sicherheit von Sylvar. Die dunklen Magier sind der Stadt gefährlich nahe gekommen.“ In Methos Hand war ein Glas erschienen, „Oh, danke.“, das er füllte. „Da stellt sich mir nur eine Frage, die Herrschaften.“, Metho sah auf, zur edlen Frau, „Wieso habt ihr nicht die Spezialisten kontaktiert? Envael und Clair?“ „...Wir erreichen sie nicht mehr.“ „Wie bitte...?“ „Nach dem letzten Auftrag stimmte etwas nicht. Unser Kristall, den Clair im Versteck der dunklen Magier platzierte, lauschte den Worten der Verdorbenen. Ehe die Verbindung abbrach, konnten wir klar erkennen, dass unsere Feinde verdacht schöpften. Wenn unsere Befürchtung zutrifft, sind weder Envael und Clair, noch Sylvar sicher.“ „Aber- aber-“, Metho hatte plötzlich überhaupt keine Lust mehr auf Apfelwein, „Aber- aber das würde bedeuten...“ „Die dunklen Magier unterbrechen den Kontakt zu ihnen. Der Verdacht liegt nahe, dass sie Bescheid wissen.“ „Dann sind sie in größter Gefahr! Bringt mich zurück, ich muss sie warnen-!“ „Methoael!“, ein älterer Herr mit langem, grauen Bart war aufgestanden, „Wir wissen über Ihre Sorge Bescheid. Doch solltet Ihr nicht unseren Befehl missachten: evakuiert Sylvar, bevor es zu spät ist.“ Die Frau nickte, „Envael und Clair wissen, was sie tun. Sollten sie bis zum Schluss nicht gegangen sein, dürft Ihr ihnen Gesellschaft leisten.“ „Aber-“ „Folgt unserem Befehl, für das Wohl von Sylvar. Für Arcan.“ Metho war mit dem Plan des arcanen Rates überhaupt nicht einverstanden. Er würde für seine Freunde weit gehen, sehr weit. Doch wusste er auch, dass wenn er sich gegen den Befehl seiner Arbeitgeber und damit dem Rat stellte, er sich auch Arcan verweigern würde. Der arcane Rat konnte die Halle nicht verlassen. Sie war das älteste Werk und damit eines der letzten Heiligtümer Arcans; die dunklen Magier spürten bereits am Beginn des Krieges den arcanen Rat auf; würden sie gehen, wären sie verloren. Alles, was sie tun konnten, war das Land aus dem geheimen aus zu navigieren, so gut es ging. Und sie hatten recht. Es war wichtig, so viele Leben wie nur möglich zu retten. Schweren Herzens kniff Metho die Augen zusammen, ehe er sich verneigte. „Wie die Herrschaften wünschen, wird es geschehen.“ Kapitel 7: Evakuierung ---------------------- Metho hatte von ganz oben klare Befehle bekommen. Die letzte noch sichere Stadt Sylvar war in Gefahr und das vermutlich schon seit mehreren Stunden. Das wäre für Menschen wahrscheinlich nicht weiter schlimm, doch für Arcaner waren mehrere Stunden unter Umständen schon viel: sie bewegten sich nicht mit Hilfsmittel, sondern oft mit Magie fort und sparten sich dadurch sehr viel Zeit. Als Metho in der Innenstadt, vor dem Haus seiner Wohnung erschien – dank der freundlichen Hilfe des arcanen Rates – blieb ihm kaum Zeit zu überlegen: die letzten Sonnenstrahlen erhellten den Himmel in einem nur mehr schwachen orangen Ton, machten der kommenden, für Sylvar sehr finsteren Nacht platz. Nur mehr wenige Arcaner waren auf den Straßen zu sehen, die meisten hatten sich bereits in ihre Behausungen zurückgezogen. Metho musste daher zu lauten Mitteln greifen: er holte tief Luft und rief mit Hilfe von Magie, so laut wie durch ein Mikrofon, die Botschaft des Rates: „Sylvar, hört mich an! Ich stehe hier im Auftrag des arcanen Rates, mit einer dringenden Warnung! Dunkle Magier sind auf dem Vormarsch in die Stadt!“, schon nach seinem ersten Satz sahen einige Frauen und Männer, sowohl fraglich als auch genervt aus ihren Fenstern, „Der Rat befielt eine sofortige Evakuierung, es bleibt nicht viel Zeit!“ Ehe die Bewohner dies für einen schlechten Scherz halten konnten, sprach Metho weiter: „Das ist keine Übung! Sylvar wird in den kommenden Stunden fallen! Beeilt euch und packt-“ Metho duckte sich aus Reaktion vom plötzlichen, ohrenbetäubenden Knall: zwei Blöcke weiter war ein Gebäude explodiert, sodass man die Erschütterungen noch bis zu seiner Stelle spüren konnte. Im nächsten Moment begannen die ersten Arcaner eilig ihre liebsten Sachen zu packen und aus der Stadt zu verschwinden. Die Explosion war gar nicht gut. Ganz und gar nicht. Metho sah mit entsetzten Blick zur hinter den Gebäuden aufsteigenden Flammen. Waren die dunklen Magier schon hier? Auch wenn es Gefährlich war, so hatte er Befehle. Der Magier musste so viele Leute wie möglich warnen und in Sicherheit bringen; daher lief er los, dem zerstörten Haus entgegen. Auf dem Weg liefen panische Arcaner vorbei, die ihm ein wenig Arbeit abnahmen und die Warnung verbreiteten. Doch knapp vor dem entflammten Gebäude angekommen, blieb Metho erschrocken stehen. Er kannte das zerstörte Haus... in ihm wohnten unter anderen Kaels Familie. „Nein...“, sogleich wieder den Weg aufgenommen, lief Metho so schnell er konnte. Der Wind hatte seine Richtung geändert und blies ihm stickigen Rauch entgegen, dennoch kämpfte er sich bis zum Grundstück vor, auf dem einst das große Gebäude stand. „Kael!“, Methos Stimme klang erschöpft und verzweifelt zugleich. Es war dumm, überhaupt zu rufen, wenn doch das Wissen bestand, dass eine Schar von dunklen Magiern immer noch in der Nähe sein könnten. Doch daran dachte er nicht; er wollte die finden, die er heute Nachmittag noch mit einem Lächeln begegnet war. Nur mit Mühen konnte Metho in seiner Aufgeregtheit seine Magie entfesseln und damit eine kräftige Windböe, die ein Teil der Flammen löschte. „Kael!“ Er suchte die Gegend ab, grub sich durch die noch von glimmende Asche verdeckten Gebäuderesten durch. Dies wiederholte er, ehe hinter einer Flammenwand die Umrisse von zwei Personen Sichtbar wurden. „Kael! Jeane!“, die Wand mit einer weiteren Böe ausgeblasen, schnaufte Metho überglücklich, sie endlich gefunden zu haben. Doch beim Anblick des verbrannten, in der Ecke kauenden Mannes, der fest ein Mädchen umschlossen hielt, verzog sich sein erleichtertes Lächeln zur verzweifelten Trauer. Am Rande der Stadt gingen im kleinen Holzhaus die ersten Lichter an, nachdem die Sonne gänzlich gesunken war. Clair und Envael saßen beieinander, lasen Zeitung, während Avrial in seinem Bettchen endlich eingeschlafen war. Den ganzen Nachmittag und Abend war er noch wach, lief umher und „ärgerte“ seine Mutter gekonnt. Da deutete sie auf einen Artikel und meinte leise: „Wie ich es gesagt habe, sie sind unfähig.“ „Sie sind nicht unfähig, Schatz.“, so die Antwort, „Es ist schwierig, ein Schiff dieser Größe mit Magie ins Meer zu heben.“ „Ja.“, sie verschränkte die Arme, „Für dich vielleicht.“ Darauf hin musste Envael schmunzeln. „Dann glaube ich, hast du den falschen Beruf gewählt.“ Clair wollte mit erhobenen Finger kontern, als nahe gelegen lauter Krach zu hören war. So laut, dass sich die zwei erst fragend ansahen, ehe sie zur Tür gingen um nachzusehen, was den Schlaf ihres Sohnes unbedingt stören musste. Als Clair schnaufend einen Schritt aus dem Haus machte und die Arme verschränkte, fügte sie schmunzelnd an. „Jetzt heben die sicher das Schiff an unserem Haus vorbei.“ „Wohin denn?“, Envael stand neben ihr, „In den See?“ „So dämlich wie sie sind...“, Clair streckte den Kopf gen Himmel und blinzelte zu den aufsteigenden Qualm hinter den Bäumen. „...Da brennt was in der Stadt.“ „Und das nicht gerade wenig.“, Envael verging die Lust am Scherzen. Gleichzeitig fing das Paar an zu überlegen. Als sie beide der gleiche Gedanke erreichte, sahen sie sich gegenseitig ernst an. „Avrial.“, als Clair den Namen aussprach, drehten die Eltern eilig um, liefen zur Tür hinein – und blieben prompt stehen. Ein fremder Mann stand neben dem Bettchen und hatte das verschlafene Kind bei sich auf dem Arm. „...So ein süßer Fratz.“, begann er, ehe er zu den Eltern grinste. Keiner der beiden Hausbewohner bewegte sich. Auch wenn sie den Arcaner nicht kannten, wusste sie genau, wer vor ihnen stand. „Hallo, Envael und Clair.“, da hockte eine Frau auf dem Schrank, sprang bei ihrem Anblick herab. „Oder soll ich lieber sagen: Rean und Zea?“ „Lyda.“, allein an ihren leicht wahnsinnigen Blick wusste Clair, wer diese Frau war. „Hübsch habt ihr es hier.“, die Frau strich über ein Küchenmesser, „Etwas eng. Aber hübsch.“ Hinter dem Paar kam ein dritter Arcaner hinzu, der den Ausgang zur Tür versperrte. „Wir waren in der Gegend und dachten uns... Oh, statten wir unseren 'Kollegen' doch einen kleinen Besuch ab. Sie wohnen ja schließlich so ungewöhnlich weit weg vom Quartier.“ „Avrial hat nichts damit zu tun. Lasst ihn gehen.“, Envael blieb trotz allem ruhig. „Das sehen wir aber anders.“, Lyda setzte sich bequem ins Sofa, „Unsere Gemeinschaft, unsere Regeln. Ihr habt euch angeschlossen. Keine Sorge, der kleine wird sich später prima in Sache dunkle Magie schlagen. Und wenn nicht, bleibt da immer noch der Gnadenstod.“, sie schmunzelte, „Ihr hingegen habt uns sehr enttäuscht. Uns so anzulügen, tz tz.“ „Der Witz an der Sache ist, dass ihr es uns so viele Jahre abgekauft habt.“, Clair schnaufte, „Zieht die dreckigen Stiefel aus, bevor ich sauer werde.“ „Haha, das gleiche Miststück wie eh und je.“, nebenbei sah Lyda zu den Mann, der Avrial am Arm hielt, „Was sagt ihr, wollen wir der Familie beim 'Haus aufräumen' helfen?“ „Gerne.“, so Envael, „Ich fange an!“, mit einem Mal drehte er seiner Frau den Rücken zu und schoss den Weg versperrenden Arcaner mit einer eisigen Böe weit zurück – sofort gefror ihm der Körper, sodass er sich nur schwer rühren konnte. Im gleichen Moment drehte sich Clair geschickt zur Seite und verschwand, als Lyda das Küchenmesser von vorhin per Magie auf sie steuerte. Sie tauchte direkt neben dem Mann auf, als dieser – von Schmerz geplagt, da Envael ihm aus der Ferne die Kehle zuschnürte – die Arme locker ließ. Sogleich schnappte sie Avrial und warf ihn ihrem Mann zu, als Lyda lachend auf sie zulief und sie umstieß. Sie wollte Clair mit ihren spitzen Nägeln, die durch dunkle Magie violett glühten, attackieren, als diese wie mit einer Art roten Schleier im Nichts verschwand. Ehe die dunkle Magierin sie finden konnte, lief sie bereits zusammen mit Envael und ihrem Sohn zur Tür hinaus. Eng bei einander stehend, blickten die drei um sich, ehe der Vater Avrial an Clair übergab. „Wie schade... ihr währt so gute Verbündete gewesen.“, Lyda saß auf einem Baum, nahe der Familie, „Aber was man nicht haben kann, soll man zerstören.“ Envael zuckte mit den Schultern. „Ihr könntet in den Osten zurückkehren?“ „Sorry Süßer, so einfach ist das nicht.“ „Doch klar.“, so Clair, „Ihr kehrt in euer dreckiges, zerstörtes Loch zurück und wir spielen Nachbarn.“ Lyda lachte darauf hin laut auf: „Hahaha, Nachbarn? Hörst du dir eigentlich selbst zu? Es gibt kein 'Nachbarn', es gibt nur eine Gemeinschaft-“, sie dachte an den dunklen Magier, den sie gestern verschnürt von einer Klippe stieß, da er ihre Nachspeise gestohlen hatte, „Zumindest gibt es kein 'euch'. Und jetzt tut uns den Gefallen und sterbt.“, sie kommandierte sogleich ihre Kollegen: „Schnappt sie euch!“, die sogleich verschwanden und vor Clair auftauchten. Geduckt und den Sohn an sich gedrückt, hielt sie die zweite Hand vor sich, um eine rote, halb durchsichtige Barriere zu erzeugen, die keinen vorbei ließ. Schon im nächsten Moment riss der Boden dank Envael unter den dunklen Magiern weg, sodass sie sich wegteleportieren mussten. „Lauf mit Avrial voraus-“, der Vater wusste genau, wozu er diesen kurzen Moment nutzen konnte. „Envael-“ „Ich lenke sie ab und komme gleich nach.“ Clair glaubte in diesem Moment, das Herz in ihrer Brust zersprang: auf der einen Seite vertraute sie ihm, doch ein Teil in ihr sagte, dass dies eine Lüge war. Um die Chance zum Entkommen am Besten zu nutzen, nickte sie schließlich. Beide drückten sich einen Kuss auf den Mund auf, ehe Clair in einem roten Schleier verschwand, da in jenem Moment die zwei dunklen Magier eingreifen wollten. „Lasst sie nicht entkommen-!“, Lyda deutete auf Clair, die bereits weit voraus, Richtung Wald aufgetaucht war und um ihr Leben lief. Die dunkle Magierin schnaufte böse, da ihre Kollegen, lachend, tief im Kampf mit Envael verwickelt waren. Schließlich entschloss sie sich die Verfolgung selbst aufzunehmen. Zuvor aber zerknüllte sie eine Nachricht, die in violetten Flammen aufging, ehe sie diese aus ihrer Hand pustete: eine Botschaft an die nahe gelegenen dunklen Magier, dass Verstärkung notwendig sei. Clair hetzte durch den bereits dunklen Wald und hielt Avrial fest in den Armen. Er war kein allzu kleines Kind mehr, sodass sie das Gefühl hatte, er würde mit jeder Sekunde schwerer werden. Ach, wie hilfreich die Formel der Federgewicht-Magie jetzt wäre... „Mama, wohin gehen wir?“, Avrial zeigte keine Angst, fing aber an leise zu fragen, da ihn das Geschehnis verwirrte. „Keine Sorge-“, meinte Clair dabei schnell, „Es wird alles gut.“ „Wo ist Papa?“ Ein Baum knickte vor den Beiden um und versperrte Clair den Weg. Sie war rechtzeitig stehen geblieben, doch wusste sie auch, dass dies kein Ereignis der Natur war. Schon im nächsten Moment hörte man ein lautes Frauengelächter, sodass Clair keine Sekunde zögerte und in das dichtere Unterholz floh. Egal wie weit sie lief, immer noch waren von allen Seiten das Gelächter und Lydas Stimme zuhören. „Claa~iir...“, die Magierin warf sich – so sanft es für Avrial nur ging – zu Boden, als sechs geisterhafte, violette Messer nach einander auf sie zu flogen. Sie verfehlten durch ihre schnelle Reaktion ihr ziel und blieben in einem dicken Stamm vor Clair untereinander stecken. Wieder war Lydas Lachen zu hören. „Hahaha, Cla~aiir, ich hab hier noch mehr für dich~“ Den Sinn in ihrer Nachricht verstanden, schlug die Magierin auf den Boden, sodass sie, wie durch eine Falltüre, darin verschwand und etwas entfernt wieder auftauchte. Schon kurz darauf hagelte an der Stelle, an der sie mit Avrial gelegen war, violett glühende Eisdornen herab. So schnell es ihre Ausdauer zuließ stand sie auf, wechselte Avrial auf die rechte Schulter und lief weiter, weg aus Sylvar und den Ansiedlungen. Kurz darauf tauchte Lyda vor ihr auf, die sie, erschrocken, mit einer Schockwelle durchstieß. Sie zersprang wie ein Spiegel vor ihr – es war ein Abbild gewesen... eine Falle – denn als sich Clair zum weglaufen umdrehte, drückte die echte dunkle Magierin ihre Hand gegen ihre Brust, sodass sie, kurz einen Schmerz spürend, Lyda von sich weg stieß und wieder in einem roten Schleier verschwand – und weiterlief. Schon nach einem kleinem Stück ging Clair kurz in die Knie. Gerade, als Avrial „Mama?“ fragte, wankte sie auf ihre Beine zurück, um leicht verzweifelt weiter zu laufen. „Hahahaha-“, Lyda hatte Spaß daran, immer wieder auf einen nahe gelegenen Baum aufzutauchen und sie zu hetzen. „Hahaha, Clair- Clair! Hahaha, du wirst nicht mehr weit kommen!“, Sie ließ sich kurz auf einem Ast über ihr hängen, „Gib mir lieber gleich das Kind, dann kannst du in Ruhe sterben.“ „Nein!“, Kopfschüttelnd geschrien, lief Clair weiterhin gerade aus, der Waldlichtung entgegen. So zuckte Lyda mit den Schultern. „Ich bin gespannt, wie lange es dauert, ehe sich deine Organe auflösen. Wollen wir Wetten abschließen?“, sie lachte, „Ach richtig; an der Wette teilnehmen wirst du nicht mehr können! -Clair? Hahaha, wo bist du?“, ehe sie erneut verschwand, um Clair wieder zu suchen. Die Magierin fühlte die Schwere in ihren Beinen und wurde langsam mit jedem Schritt schwächer. Zusammen mit Avrial war sie an einen steilen Abhang angekommen. Nur kurz suchte sie nach einem anderen Weg, ehe sie, sich leicht krümmend, in die Knie ging. Die Hetzjagt war vorbei. Gegen Lydas dunkle Magie kam sie nicht alleine an. So starrte sie voller Hoffnung den Abhang hinab, wo an der linken, steinigen Wand nur zart ein Felsspalt zu erkennen war. „Avrial-“, Clair biss beim Aufstehen die Zähne zusammen, wobei der kleine Junge zu ihr sah, „Avrial, halte dich jetzt gut fest.“ „Wieso?“ „Tu es-“, sie zuckte zusammen, versuchte sich aber zu beherrschen, „Sonst- sonst stecke ich dich in einen-“, erneut zuckte sie, „H-Halte dich gut fest.“ Nickend klammerte sich ihr Sohn an ihre Schulter, ehe die Frau ihre Kraftreserven zusammennahm und den Abhang hinunter sprang – kurz vor dem Ende wurde sie in den roten Schleier gehüllt, der durch ihre Schwäche jedoch nur mehr kurz zur Teleportation verhalf. Unten relativ Sicher angekommen, wankte Clair Richtung Felsspalt, in dem sie schließlich keuchend die Wand hinab rutschte, auf den Boden. Kapitel 8: Arcan den Rücken gekehrt ----------------------------------- Oben, im Dorf Sylvar, hatte Metho nach einer langen Nacht die letzten Einwohner, die er finden konnte, aus der Siedlung geführt. Zwar standen die meisten Häuser noch, doch wusste er, dass die dunklen Magier von nun an immer wieder kommen würden, um auch den Rest der letzten hier lebenden Arcaner zu entwurzeln. Als er endlich die Zeit hatte, seinen größten Sorgen nachzugehen, eilte er so schnell er konnte zur Behausung von Envael und Clair: doch es war niemand hier. Nur Trümmer. „Nein...“, Metho taumelte leicht bei dem Anblick. Ihn durchfuhr der Gedanke, zu Spät zu sein. Doch Envael und Clair waren schlau und kannten sich mit dunklen Magiern aus. Sie waren mit Sicherheit entkommen! Mit diesem schon viel positiveren Gedanken lief er los, dem Wald entgegen. Rufen wollte er nicht; im Gegenteil – als er im Unterholz angekommen war, schlich er, so leise er konnte. Wenn die zwei hier entlang gekommen waren, musste es eine Spur geben. Egal ob eine der Verwüstung oder eine unauffällige. Metho vertraute hierbei nicht nur seinen Augen, sondern auch seiner Magie. Jeder Arcaner hatte seine ganz eigene Art von Magie, wie ein Fingerabdruck. Wenn Envael oder Clair hier waren, so würde er es auch sehen. Ein bläuliches Band zog sich über den Boden. Kein Materielles, sondern aus Licht: Metho hatte eine Spur von Envael gefunden. Dieser folgte er und versuchte dabei die anderen zwei unbekannten Bänder zu ignorieren; an einer Stelle wurden aus diesen drei Spuren vier, dann fünf und sechs – bis die blaue endete. Im Kreis sah sich Metho um: hier war Endstation, Envael war nicht weiter gegangen. Doch... wo war er? Nach einem langen Zögern erst kniff der Magier die Augen zusammen, schluckte und sah langsam nach oben. Sofort die Hände vor den Mund geschlagen, um nicht laut zu schreien und mögliche Feinde auf sich aufmerksam zu machen, sank Metho auf die Knie: sein bester Freund war auf einem hohen Baum auf geknüpft. „Beim arcanen Rat, nein...“, er schluchzte, „Nein...!“, die Spur hatte es bereits verraten, doch wollte Metho es nicht glauben: nach einer Verfolgungsjagd war Envael in einen Hinterhalt geraten. Weit in der Unterzahl gewesen. „Diese Schweine...!“, Metho krallte seine Hände in den Boden, bis er die Erde zwischen seinen Fingern spürte. „Verdammte Bastarde...!“, dann sah er geschockt auf: „Clair... Avrial!“ Hatte der Rest der Familie das selbe Schicksal ereilt? Waren sie entkommen? So muss es gewesen sein... Envael blieb zurück, hatte sich geopfert, um die zwei zu retten, die ihm am Herzen lagen. Sofort zurück auf die Beine getaumelt, lief er los, weiter durch den Wald. Für Envael kam jede Hilfe zu spät, doch Clair und Avrial hatten immer noch eine Chance! Metho war bereits völlig außer Atem, doch an Ausruhen dachte er nicht: eine rote Spur, gefolgt von einer violetten, streckte sich dem Boden entlang. Immer wieder endete das rote Band und fing an einer anderen Stelle wieder an; ein Hinweis dafür, dass Clair sich einige Male mit Magie fortbewegt hatte. Metho war stehen geblieben, als die rote Spur verschwand und die violette in einer Vielzahl vorhanden war. Scheinbar war er nicht der erste, der an dieser Stelle nach Clair suchte. Auch ohne Spur beschloss Metho eine weile lang weiter zu gehen. Auf seinem jetzigen Weg war keine Magie mehr zu sehen, doch war er sich ziemlich sicher, dass seine Freundin hier vorbeikommen sein müsste – denn einen anderen Weg, außer einen mit vielen Steinen und Sträuchern, gab es nicht. Siehe da: Metho kam bei einem steilen Abhang an. Noch einmal konzentriert und die Augen wieder geöffnet, hatte er das rote Band wieder gefunden: es endete bei einem Felsspalt. Ohne auf seine Gesundheit zu achten, sprang er – mit etwas Hilfe von Magie – den Abhang hinunter und lief das letzte Stück der Spur nach. Als er sich beugte, um hinein zu sehen, zierte ein erleichtertes Lächeln sein Gesicht: da waren sie, Clair und Avrial. Der kleine Junge war an seine Mutter gekuschelt und hob den Kopf, als er den Freund der Familie sah. „Metho...“, sagte er leise, in einen müden Ton. Anschließend sah er zu Clair. „Mama schläft.“ Bei seinen Worten verging ihm das Lächeln wieder. „Mama wacht nicht auf.“ „Avrial-“, Metho griff nach dem Jungen, „Komm her zu mir... jetzt ist alles gut...“ „Mama wacht nicht auf.“, der kleine ließ sich aus dem Felsspalt heben. „Ich... ich weiß.“ Wie sollte er ihm bloß erklären, dass sie nie wieder aufwachen würde? „Weißt du... manchmal... wenn es einem Körper zu viel wird, da-“ „Haben die Bösen Mama tot gemacht?“ Metho schluckte. „Ich...“ „Schlafen.“ „Huh...?“ „Bin müde...“ Erleichtert nickte Metho, ehe er mit Avrial am Arm aufgestanden war. „Schlaf ein bisschen, in Ordnung?“ Schon nach kurzer Zeit hatte der Junge seine Augen geschlossen. Es war eine lange Nacht für ihn gewesen. Tapferer, kleiner Avrial. Doch wie ging es weiter? Metho war klar, dass sie nicht zurück konnten. Nie wieder. Nicht nur Envael und Clair waren auf der Abschussliste der dunklen Magier gewesen: auch Metho war ein Spion... und solange sich Avrial bei ihm befand, war der Junge nicht sicher. In ihm hallten die Worte seines ehemaligen Freundes, Kael wieder. „Desteral ist für dunkle Magier uninteressant. Einfache Kultur, keine brauchbaren, technischen Werke. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich mit meinem Mädchen das Land verlassen. Und wenn es hart auf hart kommt... wird sich ein Waisenhaus um meine kleine Jeane kümmern.“ Schweren Herzens ging Metho los, einfach gen Westen. Wenn Kael es nicht schaffte, dann vielleicht er. Zum Schutz von Avrial. Egal wie Müde sein Geist, oder seine Beine waren: es ging immer weiter in den Westen. Es schien Metho, als ginge dies ganz von allein, ohne seinen Einfluss. Die Sonne war vor ihnen am Aufgehen und vertrieb die Dunkelheit der Nacht. Allmählich änderte sich die Landschaft zu einer weiten, hügeligen Wiesensteppe: Desteral war zum Greifen nah. Im goldenen Morgenlicht hatte Metho das erste Dorf erreicht – doch betreten wollte er es nicht. Abseits der Siedlung nahm er vorsichtig den Jungen von seiner Schulter. Als er ihn auf einen von Morgentau feuchten Stein setzte, wachte er schließlich auf und rieb sich die Augen. „...Metho?“ Seine Unterlippe zitterte, bei dem Gedanken, den Jungen ganz alleine lassen zu müssen. Doch es gab keinen anderen Weg – Avrial sollte die Möglichkeit haben, ohne dem Krieg aufwachsen zu können. Wenn er bei ihm blieb, wären sie nie sicher. Stets mit den dunklen Magiern im Hinterkopf würden sie von Ort zu Ort reisen. Das war kein Leben für einen kleinen Jungen. Einfach mit einem Kuss auf die Wange wollte Metho sich nicht verabschieden. So viel, wie Avrial erlebt hatte, würde ihn seine Vergangenheit ewig verfolgen. Keine Ruhe lassen. Als er seine Hand auf die Stirn des Jungen legte, blinzelte der kleine um sich her. „Metho, wo sind wir?“ „In Sicherheit.“, war die schmunzelnde, aber traurige Antwort. „In Sicherheit.“ Mit einem stummen Wimmern spiegelte sich nichts mehr in Avrials leeren Augen. Metho nahm die Hand von seiner Stirn und drückte den Jungen ein letztes Mal an sich. „Lebe wohl, Avrial.“ Sich von ihm gelöst, wischte sich dieser für Avrial fremde Mann eine Träne weg und ging, ohne sich umzudrehen, seine eigenen Wege. Zurück blieb der kleine Junge ohne Vergangenheit, verwirrt auf einem Stein sitzend. Es dauerte nicht lang und eine Frau mit Obstkorb kam vom Weg ab, da sie das Kind einsam auf einem Felsen sitzen sah. Sie beschloss das sonderbare Kind aus dem Nachbarland mit zunehmen, um es in das vom Dorf nahe gelegene Waisenhaus abzugeben. Kapitel 9: 4. Neubeginn ----------------------- Es war ein sonniger Tag gewesen. Ein sonniger Tag, mit nur wenig Wolken und glänzendem Meer. Die Gischt spülte an den feinen Sandstrand auf und ab, als ob die hohe See atmen würde und mit jedem Luftzug die Insel Ikana umarmte. Da huschte eine kleine Krabbe aus dem Wasser, versteckte sich schnell bei einem Stein. Kaum setzte sie ihre Reise fort, wurde sie von einer hungrigen Möwe geschnappt und hoch in die Lüfte getragen. Die Vögel kreisten gemeinsam um den Strand, während die glückliche Möwe mit seinem Frühstück auf einem Fass am Steg platz nahm und begann in Häppchen zu fressen. Gerade hatte sie das letzte Stück geschluckt, flog sie, erschrocken durch den jungen Mann, der den Weg von einem angelegten Schiff entlang kam, hinfort – dabei fiel die leere Schale der Krabbe vom Fass, zurück ins Wasser, wo sie herkam. Der junge Mann hatte die Möwe nicht bemerkt. Er war damit beschäftigt, sich die neue Gegend, in der er sich befand, vertraut zu machen. Den Kopf nach rechts gedreht, betrachtete er durch sein gelbes Auge jedes noch so kleine Detail. Den Strand entlang waren nur wenige Häuser zu sehen. Ein einsamer Steinweg führte von den Docks aus in das Dorf von Ikana. Es war ein vornehmer Ort gewesen, der, verglichen mit dem Rest des Landes, momentan wie die Zivilisierteste Ansiedlung wirkte. Vielleicht hatte es den jungen Mann gerade deswegen auf die Insel verschlagen. Das, oder er versuchte sich abseits all seiner Probleme, so weit es nur ging, in den Norden zu flüchten. Kaum kam ihm das grinsende Gesicht seines einst besten Freundes in den Sinn, zuckte er zusammen; sein linkes Auge, welches verbunden war, fing wieder an zu Schmerzen. „Sir, wir legen jetzt ab.“ Schnell umgedreht – mit einer Hand das Auge zuhaltend – nickte der junge Mann freundlich dem Kapitän zu. Der graubärtige grummelnde, ehe er beim Anblick der Insel die Stirn runzelte. „Sind Sie sicher, dass Sie hier bleiben wollen? Transportschiffe, die zurück an das Festland von Desteral fahren, kommen nur einmal im Monat vorbei… wenn überhaupt.“ „Ich bin mir sicher.“, der junge Mann sprach im ruhigen Ton, „Es ist ein friedlicher Ort mit fleißigen Arbeitern. Ich hatte nicht vor, auf das Festland zurück zu kehren.“ „Na wenn das so ist.“, der Kapitän zog schmunzelnd seinen Hut, „Einen schönen Neustart wünsche ich, der Herr.“ Noch einmal lächelnd, nickte er dem freundlichen Seefahrer zu, ehe die Insel wieder seinem Blick galt. Er sah an den Wäldern vorbei, den Berg hinauf. Dort, weit oben, stand ein Schloss, welches sich erhaben in den Himmel streckte. Zu jener Zeit wusste der junge Mann nicht, wer aller in diesem Schloss lebte und das Sagen hatte; vielleicht würde er es auch nie Erfahren. Er ging davon aus, dass ein alter, mürrischer Fürst auf dem Thron saß und weit aus dem Hintergrund die Fäden der Insel zog. Gleich am nächsten Morgen suchte sich der Neuankömmling eine Arbeit. Da Ikana groß im Fischergeschäft tätig war, hatte er leichtes Spiel damit, bei den Docks als Helfer zu arbeiten. Zu seinen Aufgaben zählten Netze entwirren, Boote anbinden und Fische sortieren. Es war nicht viel, doch wurde er jeden Tag mit vier Nima bezahlt. Von dem wenig Geld konnte er seine momentane Unterkunft des Gasthofes bezahlen und sich seine erste, auf Ikana hergestellte, Kleidung kaufen. Fortan lief er mit einer schwarzen Hose, gleichfarbigen Stiefeln und einem weißen Hemd umher. Wenn es kühl bei den Docks wurde, zog er sich eine dunkle, ärmellose Weste über. Es war ein Dienstagvormittag gewesen, als sein Vorgesetzter ihm und einem mitarbeitenden Knaben den Auftrag gab, einen Wagen frischer Fische zu dem Händler, in der Mitte des Dorfes zu bringen. Leider hatte der Betrieb nicht viel Geld – der Gaul, der eigentlich den Wagen hätte ziehen sollen, war sehr alt und langsam. So mussten die zwei Helfer den Wagen anschieben und das Tier mit Karotten durch die Straßen locken. Während der Bursche, so gut es ging, den Gaul zum Gehen motivierte, versuchte der Neuankömmling den Karren anzuschieben. Zu der Zeit wusste niemand etwas von seiner Herkunft, geschweige denn von seiner Gabe für Magie. Der junge Mann hatte auch nicht vor, jemals damit aufzufallen; er konnte sich gut aus Kindheitstagen erinnern, wie er von Mitmenschen behandelt wurde – und so zivilisiert das Volk von Ikana auch war, hatte er keine Lust heraus zu finden, wie seine neue Heimat auf Magie reagieren würde. So kam es, dass eine Steinplatte am Boden aufwärts des Weges fehlte und der junge Mann in den Schlamm trat; keine Sekunde später rutschte ihm das Bein weg und der Wagen drohte über ihn zu rollen – allein mit Muskelkraft und mit Hilfe des Knaben, der die Karotte fallen ließ und den Wagen von vorne Festhielt, konnte der Wagen aufgehalten werden. Erleichtert von der Aktion, wischten die zwei sich den Schweiß weg. Während sich der junge Mann den Zopf seines schwarzen Haares neu band, lächelte der Knabe dem Neuankömmling zu und deutete auf ein kleines Haus, der Gasse entlang: „Wir haben es gleich geschafft, dort liegt das Geschäft des Händlers!“ „Wunderbar.“, entgegnete er ihm, „Dann lass uns schnell weiter, damit wir vor Mittag zurück beim Strand sind.“ Gerade nahmen die beiden fleißigen ihre Position beim Karren wieder ein, waren mehrere Pferdehufe zu hören. Die zwei sahen den Weg hinab, den sie durch das Dorf gekommen waren – ein Mann, hoch zu Ross, ritt den Weg voraus und rief mit lauter Stimme den schaulustigen Bewohnern entgegen: „Zur Seite Ikana-Volk, macht Platz für die Fürstin!“ Schließlich ritt er auch an den zwei Helfern vorbei, die schon bei seinem ersten Ausruf reagierten und die Idee gut fanden, den Karren mit dem Gaul auf die Seite der Straße zu ziehen. Gerade zog der Neuankömmling den Wagen das letzte Stück vom Weg, zu einer Hauswand, da ratterte die Kutsche mit dem Zweier-Pferdegespann vorbei. Beim Anblick des punktvollen Gefährts, sah er zu den offenen Fenstern des Wagens, in der die zu transportierende Person saß. Es gibt Momente, die ewig dauerten. Ewig, obwohl sie gerade einmal einen Bruchteil weniger Sekunden ausmachten – und genau dieser Moment, in dem die Kutsche am Neuankömmling vorbei fuhr, dessen Blick sich mit dem der jungen Fürstin traf, dauerte ewig. In Wirklichkeit fuhr die Kutsche, ohne langsamer zu werden, zügig an den beiden Anglerhelfern vorbei und verschwand so schnell hinter den nächsten Häusern, wie sie gekommen war. Vom Ereignis im ersten Augenblick erstarrt, schob der junge Mann den Wagen weiter an. Zwar merkte der Knabe, dass mit seinem Mitarbeiter plötzlich etwas nicht stimmte, doch ging er aus Höflichkeit nicht weiter darauf ein. Den ganzen Nachmittag dachte der junge Fremdling über die Begegnung nach. Ihn ging das Bild der Fürstin mit den goldenen Haaren einfach nicht aus dem Kopf. Er war unkonzentriert und machte ins Tau des Fischerbootes drei höchst fragwürdige Knoten, obwohl es doch einfach nur an den Steg gebunden gehört hätte. Auch wenn es nun am Horizont zu dämmern begann und sein Vorgesetzter den Feierabend einläutete – Fischer standen dafür sehr, sehr früh auf – arbeitete der junge Mann weiter. Ihm wurden zwei weitere Nima versprochen, wenn er dafür am Abend auf die Netze nahe dem Strand achtete. Manchmal verhedderten sich zur Dämmerung große Fische darin, die man nur zu einer bestimmten Zeit, weit draußen am Meer fangen konnte. So saß der junge Mann am Strand, starrte hinaus ins Wasser. Es war angenehm, einfach nur abwarten zu müssen – so konnte der Neuling wenigstens nichts falsch machen und gleichzeitig etwas seine Gedanken schweifen lassen. Seit nun einer Woche lebte er auf der Insel. Er hatte eine Arbeit gefunden und sich zum Ziel gesetzt, spätestens in einem Monat eine feste Behausung zu haben. Zwar müsste er diese Mieten, aber er hätte wenigstens mehr als nur ein kleines Gastzimmer für sich; außerdem waren die Mieten zurzeit nicht hoch und damit leistbar. Da bewegte sich etwas. Der junge Mann stand vorsichtig auf, als er im seichten Wasser das verhedderte Netz sah, in dem ein dicker Fisch wild umher schlug. Sofort watete er durch das Wasser – seine schwarzen Stiefel gingen nicht umsonst bis zu den Knien – und zog an dem Netz, indem sich der Fisch befand. Durch die vom Fisch ausgelösten heftigen Wellen und der aufgewühlten Erde, sah er nicht, wo sich nun der gefangene Fisch aufhielt. Es dauerte nicht lange und er zog an der falschen Seite des Netzes; im nächsten Moment sprang der Fisch aus dem Netz, auf und davon, ins offene Meer. Kurz sah er dem Tier nach, wie es in die Freiheit entkam, dann ließ er das Netz zurück ins Wasser sinken, um anschließend schwer zu seufzen… Als der junge Mann, über seinen Misserfolg verärgert, seinen Blick über das Meer schweifen ließ, entdeckte er ein großes Handelsschiff bei den Stegen anlegen. Zuerst fragte er sich, wie er etwas so großes übersehen konnte, anschließend, was ein Handelsschiff zu dieser späten Stunde denn hier mache. Vielleicht hatten die Händler sich verfahren und legten nur kurz auf Ikana an. Eventuell waren sie auch seit Tagen auf hoher See und suchten nun dringend eine Pause? Der Neuling blieb eine ganze Weile im seichten Wasser stehen und sah zu den nahen Docks. Erst, als die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verzogen waren, beschloss er zurück zu seinem Quartier zu gehen. Morgen, so dachte er sich, hatte er vielleicht mehr Glück. So schlenderte er, müde vom langen Tag, den Strand entlang, zurück zum Steg. Als er die drei Holzstufen hinauf gegangen war, konnte er einen der Händler zum Schiff laufen sehen. Der Neuankömmling dachte sich zuerst nichts dabei, als zwei weitere am Nachbarsteg vorbei liefen und hektisch das Schiff zum Ablegen bereit machten. Als dann aber zwei Männer eine Frau, gefesselt und geknebelt, zum Schiff schleiften, blieb der junge Mann stehen. Er hatte keine Ahnung von den Sitten, Bräuchen und seltsamen Handelsabkommen der Insel, doch wusste er, dass Entführungen von Frauen definitiv nicht zu den Legalitäten von Ikana zählten. „Hey-!“, gerade hatte er sein erstes Wort zu den ‚Händlern’ gesagt, legte das Schiff auch schon vom Steg ab. Oben konnte man einen Mann bei der Reling lachen sehen; sie wussten, kein Mensch konnte sie jetzt noch aufhalten. Doch der Neuling war kein Mensch. Er hatte sich geschworen, seine Magie nie wieder einzusetzen… doch in diesem Augenblick gab es keine andere Möglichkeit. Natürlich hätte er die Entführer entkommen lassen können; doch was wäre er für ein neuer Bewohner Ikanas, wenn er das täte? So verzog sich seine Miene, ehe er die Fäuste entschlossen ballte. Er hob die Arme und richtete diese auf das davon segelnde Schiff – bei einem normalen Menschen sehe es verrückt aus, wenn er versuchen würde, mit seiner bloßen Willenskraft ein Schiff von seinem Kurs abzulenken. Bei dem jungen Mann jedoch machte es eine Linkswende, als er seine Arme befehlend nach links schwang. Es dauerte nicht lange und das Schiff samt Entführern fuhr unkontrolliert an dem sandigen Strand auf, ehe es zur Seite kippte. Bewohner von Ikana hatten den Vorfall der Entführung wohl schon früher gesehen – sie waren samt Soldaten der Fürstin zu den Docks gelaufen, ehe sie ungläubig auf das gestrandete Schiff starrten. Ehe die taumelnden Entführer entkommen konnten, wurden sie von den Soldaten festgenommen. Es stellte sich später heraus, dass es sich bei ihnen tatsächlich um Händler handelte… die Sklaven in anderen Länder verkauften. Während die Soldaten mit der Festnahme beschäftigt waren, lief der Neuling zum hinteren Teil des Schiffes, wo die gefesselte Frau im freien saß und auf Hilfe wartete. Kaum bei ihr angekommen, band er sie auch gleich los – als er feststellte, wer die entführte Frau war. „Ihr seid es…“, die Frau mit dem goldenen Haar sah ebenso überrascht in sein Gesicht. „Vielen Dank, Ihr habt mir das Leben gerettet.“ „Nicht der Rede wert.“, lächelte der Neuankömmling, ehe er seine Hand anbot, damit die Fürstin mit dem langen Kleid nicht stolperte. „Madam Yne!“, bei dem Ausruf des herbei laufenden Soldaten drehten sich beide in dessen Richtung: „Oh bei Desteral, zum Glück ist Euch nichts passiert! Wie oft habe ich nicht schon gepredigt, Ihr sollt nicht alleine bei Dämmerung durch das Dorf wandern? Ihr hättet verschleppt werden können!“ Die junge Frau musste kichern, nickte aber dann Schuldbewusst. „…Zum Glück hat es noch ein gutes Ende gefunden… dank ihm hier.“, dabei sah sie ihren Retter an, „Sagt, wie ist Euer Name?“ „Mein Name… ich heiße Avrial.“, er Neuling verbeugte sich dabei höflich. „So dann, Avrial... habt vielen Dank.“, der Außenseiter wusste nicht, wie ihm geschah: als sie mit ihren blauen Augen in seine sah, wurden seine Knie weich. „Ihr habt das Schiff mittels Magie vom Kurs abgelenkt… Ihr seid Arcaner, habe ich Recht? Eure gelben Augen verraten es.“ Die wenigen Schaulustigen, die sich um das umgestürzte Schiff versammelt hatten, fingen an unter einander zu tuscheln – selbstverständlich gefiel das dem Neuling gar nicht. „Madame, wir müssen aufbrechen…“, der Soldat machte schon einmal einen Schritt Richtung Straße. „Herr Avrial, noch einmal vielen Dank. Vielleicht laufen wir uns wieder über den Weg?“, sie verbeugte sich, „Bis dorthin… wünsche ich Euch einen schönen Aufenthalt in Ikana.“ Kapitel 10: Der Leibwächter --------------------------- Einige Tage waren vergangen, seitdem Ikanas Neuankömmling, Avrial, die Fürstin vor einer drohenden Entführung gerettet hatte – mittels Magie. Seit jenem Tag an wurde er von jedem anders behandelt. Manche hatten plötzlich Respekt vor ihm, andere fürchteten ihn. Selbst seine sonst so gewohnten Arbeitskollegen verhielten sich ihm gegenüber fremd. Einmal wurde Avrial gefragt, ob es stimme, dass sich die Arcaner selbst vernichtet haben. Was sollte man darauf antworten, wenn man nicht im Heimatland aufgewachsen ist…? So lag Avrial eines Abends in seinem kleinen Zimmer des Gasthauses und starrte an die Decke. Vor dem Spiegel, auf der einzigen Kommode des Raumes, stand das unangetastete Abendessen. Die gutmütige, dickliche Gasthof-Leiterin stellte trotz des Wissens, einen Arcaner im Haus zu haben, jeden Tag seine Malzeit ins Zimmer. In seinen Gedanken versunken, überlegte er allmählich, die Insel wieder zu verlassen – wenn ihm nicht ab und zu das Bild der schönen Fürstin, Madame Yne, in den Kopf schießen würde. Er war zerrissen in seiner Entscheidung, noch einmal irgendwo von neu zu starten, oder zu versuchen, das Beste aus seinem kurzen Leben auf Ikana zu machen. Ehe der Magier zu einem Entschluss kam, fing sein rechtes, verbundenes Auge an zu Schmerzen. Schon seit längerem hatte er eigentlich seinen Frieden – umso verwunderlicher war es für ihn, plötzlich wieder ein Stechen zu fühlen. Avrial setzte sich auf und trat anschließend hinüber zum Spiegel. Viel zu lange hatte er den Verband bereits oben; vielleicht sollte ihn das Stechen daran erinnern, ihn abzunehmen. Nachdem der Knoten geöffnet war, wickelte er den Verband ab. Doch als er seine Augen öffnete, starrte er ungläubig in den Spiegel: das rechte Auge grau, ohne jegliche Tiefe… hinzu kam die Gewissheit, blind zu sein, da selbst jetzt ohne Verband, keine Gegenstände erkennbar waren. Kein Licht, kein Schatten. Gar nichts. „VERFLUCHT!“, in seiner Wut schlug Avrial einmal kräftig auf die Kommode, wobei eine Lade heraus fiel und der Teller samt Abendessen auf dem Boden landete. Da klopfte es an der Tür: „Avrial Schätzchen, ist alles in Ordnung?“, die Gasthof-Leiterin hatte den kleinen Wutanfall mit angehört. Ein wenig selbst erschrocken, mit rasendem Herz über die Gewissheit, auf dem Auge blind zu sein, starrte Avrial hinab zu seinen Fäusten – er hatte in seiner Wut Magie eingesetzt und tiefe Dellen in das alte Holz geschlagen. „Ja- ja, alles in Ordnung.“, rief er schließlich zur Tür. Den angerichteten Schaden – unter anderem den zerbrochenen Teller – wollte er selbst beseitigen. Schnell legte er sich vorher den Verband wieder an. Wenn er schon blind war, dann wenigstens auf eine Art und Weise, dass es niemanden auffiel. Als Fischer hatte man für normal keine geregelten Arbeitszeiten. Wenn es viel zu Fischen gab, wurde gearbeitet – wenn nicht, dann nicht. Umso lieber war es Avrial, nur als Helfer angestellt zu sein und einmal in der Woche frei zu haben. Diesen Tag konnte er sich zwar nicht aussuchen – die Fischer entschieden, wem sie brauchten und wem nicht – doch der Neuling nützte jeden freien Tag, so gut es ging. Heute war er am Markt des Dorfes unterwegs. Er hatte ein wenig Nima zusammen gespart und wollte sich nun ein wenig umsehen. Auf dem Weg durch die engen Gassen und breiteren Fußwege, sah er eine kleine Menschenmasse unter einen Baum versammelt stehen. Abseits stand ein Mädchen, das lauthals weinte, während zwei Frauen versuchten sie zu beruhigen. Avrial blieb kurz stehen und sah den Baum hoch: ein Katzenjunges saß weit oben auf einen dünnen Ast und kam nicht mehr herab. Wahrscheinlich hatte es sich durch etwas erschreckt und ist unglücklicherweise auf den Baum geflüchtet. Gerade ging er wieder seine Wege, da stellte sich ein dicklicher Mann in den Weg: „Hey, du bist doch der Zauberer, oder?“ Auf seine laute Frage hin, versammelte sich ein Teil der Menschenmasse um ihn herum. Avrial antwortete nicht; ein wenig bedrängt sah er die Leute um sich herum an, ehe er einen Schritt zurück machte. „Bitte, Herr Magier!“, begann eine ältere Dame, „Bitte, holen Sie das Kätzchen aus dem Baum!“ Bittend wurde nun um ihn herum geredet, ehe Avrial den Kopf schüttelte: „Ich kann nicht... es tut mir leid.“ Schnell sich durch die Menschenmasse hindurch gedrängt, ging er zurück, auf den Fußweg. „Hey, Zauberer!“, der Mann von vorhin stemmte die Arme in die Hüfte, sodass Avrial stehen blieb: „Was heißt hier ‚ich kann nicht’? Kannst du nun diesen Hokus-Pokus, oder bist du ein Bühnenclown?“ Da mischte ein älterer Knabe hinzu: „Wahrscheinlich ist er darum zu uns gekommen, weil er in seiner Heimat nichts drauf hatte!“, auf die Aussage des Jungen hin, fingen einige der Leute an zu lachen. Avrial hatte indes den Kopf gesenkt. Er wurde wegen seiner Magie verachtet und gefürchtet – und doch bettelten die Menschen um Hilfe. Er hatte jetzt die Möglichkeit, zu lügen und zu behaupten, er könne gar keine Magie und das Schiffsunglück der Sklavenhändler sei deren eigene Schuld gewesen… doch würde dadurch alles besser, oder schlimmer werden? Er könnte aber auch die kleine Katze mittels Magie vom Baum retten und von neuen eine mögliche Hysterie auslösen – oder das Gegenteil trifft ein und die Menschen erkennen, wie nützlich es ist, einen Arcaner im Volk zu haben. So geschah es, dass Avrial ohne Vorwarnung die Hand anhob, wodurch das Katzenjunge auf Wundersamerweise durch die Luft schwebte, in die Arme des weinenden Mädchens. Nun doch recht beeindruckt, raunten die Leute über seine Tat, ehe das Mädchen ein „Danke, Mister!“ hervorbrachte. Weder der erste, noch der zweite Fall war eingetroffen. Vielleicht aber redeten die Menschen nun wieder untereinander und verbreiteten die Nachricht von Avrials zweiter „Heldentat“. Der Magier ging währenddessen weiter, entlang des Fußwegs bis hin zum Markt. Leise schlich eine getarnte Frau um die Hausecke, tauchte unter, in der Menschenmenge. Manche Händler riefen und preisten ihre Waren an, andere saßen still an ihrem Platz, während die Bürger vorbeizogen. Die Frau war großzügig in einen verzierten Mantel mit Kapuze gehüllt, bis zur Nasenspitze – dies war das zweite Mal, dass sie so unterwegs war. Für normal wurde sie von mindestens zwei Soldaten begleitet und bei jedem Schritt von allen Leuten angegafft. Es hatte seinen Preis, die Fürstin einer Insel zu sein; ab und zu wünschte sie sich deshalb, nicht in diese Familie hinein geboren zu sein. Eines Tages wurde es ihr schließlich zu viel, nie alleine einen Fuß aus dem Schloss setzen zu dürfen; sie fing an, sich hinaus zu schleichen und zu verkleiden. Doch auch eine Tarnung hatte seine Nachteile: zwar wurde sie nicht als Madame Yne erkannt, dafür aber als zierliche Frau mit reich aussehendem Mantel – perfekt für Räuber, Diebe und – wie vor einigen Tagen erlebt – Sklavenhändlern. So kam es, dass sie aus dunklen Gassen heraus beobachtet wurde. Die Räuber, zwei an der Zahl, waren natürlich nicht blöd: an helllichten Tag jemanden auszurauben war keine gute Idee. Doch gemeinsam entwickelten sie einen Plan, mit dem sie schon viele wehrlose Bürger ausgeraubt hatten; und das ohne auf den Einbruch der Nacht warten zu müssen. Niemand hatte die zwei bis jetzt je erwischt – wenn die Soldaten eintrafen, waren sie schon längst auf der anderen Seite des Dorfes. So kam es, dass sich die zierliche Fürstin an eine Hausecke lehnte, als einer der zwei Räuber neben ihr aus der Seitengasse auftauchte: „Entschuldigen Sie, werte Dame!“, begann er und verbeugte sich dabei tief, „Mir ist nicht entgangen, dass Sie auf der Suche nach besonderen Waren sind.“ Wortlos sah die unerkannte Fürstin zu dem Mann. Einerseits interessierte sie tatsächlich seltenes Handelsgut, wie magische Gegenstände, Waffen aus fernen Ländern und besondere Bücher, andererseits sah der Mann nicht gerade vertrauenswürdig aus. „Werte Dame, unser Laden befindet sich hier, die Gasse hinab – wir bevorzugen einen abgeschiedenen Ort, da unser kleiner Laden ansonsten immer ausverkauft wäre!“, dabei lachte er ziemlich künstlich. „Nein…“, Yne trat von der Hauswand weg, „Danke, doch ich habe nur wenig Zeit und-“ „Für unseren Laden brauchen Sie nicht viel Zeit.“, der Mann zog sie am Arm mit sich, die Gasse entlang „Kommen Sie, Sie werden nicht enttäuscht sein, versprochen!“ Ohne einen Widerspruch einzulegen, ließ sie es geschehen. Vielleicht war sie in diesem Moment zu eingeschüchtert, oder hatte Angst, erkannt zu werden, wenn sie zu viel sprechen würde. Jedenfalls dauerte es nicht lange und der Mann stieß sie vor sich, in eine Sackgasse – wo bereits der zweite Räuber auf beide gewartet hatte. Grinsend kam dieser auf sie zu, hatte einen Dolch im Seitengürtel, den er nun zog. Als Madame Yne erschrocken zurück wich, stand ihr der andere Mann im Weg: „Her mit den Klunkern, na los!“ „I-ich verstehe nicht – was meinen Sie?“, sie wurde erneut am Arm gepackt und unsanft festgehalten. „Stell dich nicht dumm, reiches Weib! Her mit der Kohle, oder wir schlitzen dich auf!“ „Nein- bitte, ich-!“ „Mach schon, na los!“, drohend rüttelte er die unerkannte Fürstin, ehe sie sich vor Panik aus seinem Griff befreite – darauf hin stieß der Mann sie gewaltsam zu Boden; bei dem Geschehen löste sich die Kapuze und ihr wahres Gesicht kam zum Vorschein. Als sie mit ihren ängstlichen, blauen Augen zu den Räubern hoch starrte, erkannten die zwei – nicht zuletzt an ihren goldenen Haaren – wen sie hier gerade bedrohten. „Denkst du, das irritiert uns!?“, während der zweite Räuber tatsächlich kurz den Atem angehalten hatte, packte der Partner sie an den Nacken und hielt ihr den Dolch an die Kehle: „Und wenn du die Herrscherin von Aira wärst, ist das uns egal! Weib bleibt Weib – und jetzt rück alles raus, was du bei dir hast, das ist meine letzte Warnung!“ Plötzlich starrte der Mann erschrocken auf. Wie, als ob ihm wer die Kehle zudrücken würde, ließ der Räuber den Dolch fallen und entfernte sich von Madame Yne. Er fasste sich röchelnd an den Hals, obwohl nichts zu sehen war. Hilflos sah sein Partner dabei zu, wie er in die Knie ging und aus Luftmangel ohnmächtig zusammenklappte. Als nun der zweite Räuber panisch umher blickte, sah er einen schwarzhaarigen Mann am Ende der Gasse stehen – dieser senkte gerade seinen Arm, als der Kriminelle anfing in die entgegen gesetzte Richtung zu laufen und dabei vergaß, dass sie ihr Opfer doch in eine Sackgasse gelockt hatten… Avrial machte es kurz und schmerzlos – per Magie stieß er den Kopf des Räubers gegen die Wand, der durch die Erschütterung zu Boden ging. Während sich die junge Fürstin aufsetzte und erst verstehen musste, was gerade geschehen war, lief der Magier zu ihr. „Madame Yne… ist Euch etwas passiert?“ „Oh… Ihr seid es wieder…“, sie griff nach seiner Hand, ehe ihr hoch geholfen wurde, „Welch ein glücklicher Zufall. Wie habt Ihr mich gefunden?“ „Euer Mantel, Madame…“, er lächelte, „Niemand aus dem Dorf läuft verschleiert in großen Menschenmassen umher. Dies ließ mich vermuten, dass Ihr entweder eine zwielichtige Gestalt aus Desteral seid, oder eine Fürstentochter, die unbemerkt unter Ihrem Volk wandern wollte.“ „Fürstentochter…“, sie schmunzelte über seine Annahme, nur die Tochter des Fürsten zu sein. „Nun, Herr Avrial… habt erneut Dank.“ Aus Höflichkeit – und der Sorge, Madame Yne könnte erneut überfallen werden – begleitete er die wieder verschleierte Fürstin über den Markt. Man sah nebenbei Soldaten vorbei laufen, die eindeutig auf der Suche nach jemand waren. Sie bogen in die Seitengasse, die die beiden erst verlassen hatten. Dort werden die fleißigen Wachen zwar nicht die gesuchte Person vorfinden, doch zwei bereits lange gesuchte Räuber. Avrial brachte Yne zurück auf den Weg, der Richtung Bergstraße und dem Schloss führte. Nebenbei fragte er sie, wieso sie sich überhaupt verkleidete. Eine eindeutige Antwort gab sie ihm darauf nicht, doch sicherte die Fürstin ihm zu, dass diese Aktion die letzte gewesen sei. „Sagt, Avrial…“, Yne ging etwas langsamer, „Was haltet Ihr von einem Posten als Leibwächter…?“ „Leibwächter?“, bei seiner überraschten Frage blickte die Fürstin kurz zu Boden, ehe sie lächelnd aufsah. Bei der Abzweigung Richtung Bergstraße waren die zwei schließlich stehen geblieben. „Nun, wisst Ihr… als Arcaner habt Ihr Fähigkeiten, von denen Soldaten nur träumen können. Ihr habt mich bereits zwei Mal aus sehr schwierigen Situationen befreit, was mir den Anlass gibt, zu bedenken, euch als Leibwächter einzustellen.“, begeistert von der Idee, sah Yne ihm bittend in das Gesicht: „Was sagt Ihr dazu? Ihr würdet gut bezahlt werden, bei uns im Schloss wohnen und drei Malzeiten am Tag bekommen!“ Avrial wusste in diesem Moment nicht, was er sagen soll. Selbstverständlich gab es keine bessere Möglichkeit, Madame Yne nahe zu sein. Doch die Tatsache, dass er überhaupt gefragt wurde – und das auch noch von ihr selbst – ließ seine Knie wieder weich werden. „Nun, Herr Avrial… die Entscheidung liegt bei Euch.“, die Fürstin richtete sich ihren Mantel, bereit zurück zum Schloss zu gehen, „Wenn Ihr Euch für den Posten als Leibwächter entscheidet, kommt morgen Vormittag hinauf, zum Schloss. Dort wird Euch alles weitere erklärt.“ Sie lächelte fröhlich, als ob sie seine Antwort bereits kennen würde, „Habt noch einen schönen Tag, Herr Avrial.“, und machte sich auf den Weg, die Bergstraße entlang. Kapitel 11: Yne --------------- Als der Neuling Ikanas mit seinem Hab und Gut aus der Tür des Gasthofes trat, konnte die Leiterin nicht anders, als ihm eine letzte Jause mit auf den Weg zu geben. Sie hatte den Magier lieb gewonnen und bemuttert, im weitesten Rahmen, den Avrial zugelassen hatte. Vielleicht hatte es den Grund, dass die Gasthof-Leiterin ihren einzigen Sohn einst im Alter von siebzehn Jahren davon segeln sah, hinaus, in die Ferne Desterals – ohne ihn je wieder gesehen zu haben. Jedenfalls brachte Avrial gerade ein lächelndes „Danke“ hervor, da drückte die dickliche Frau den jungen Mann an sich. „Pass auf dich auf! Sollte es dir je im Schloss zu groß werden, habe ich jederzeit ein Zimmer für dich frei!“ „Vie-“, der Magier rang ein wenig nach Luft, ehe er sich aus dem Griff befreite. „Vielen Dank, ich werde… daran denken.“ Es war gut zu wissen, im Notfall woanders unter kommen zu können; auch wenn es bei einer Ersatz-Mutter war. Die Koffer gepackt, machte er sich auf den Weg durch das Dorf, die Bergstraße hinauf. Noch nie hatte er einen Fuß auf diesen Berg gesetzt – an manchen Stellen war der Weg steil, an anderen Steinig, sodass Avrial alle Mühe hatte, mit Koffern das Schloss zu erreichen. Vielleicht hätte er seine paar Nima nicht aufsparen, sondern einen Kutscher geben sollen, der ihn im Gegenzug den Berg hochbringt. Schnaufend stand der junge Mann endlich unter den breiten Toren. Der Weg war ein gutes Ausdauertraining, wenn man von ganz unten schnell vorankommen wollte. Im ersten Saal mit den zwei großen Treppen angekommen, sah sich der Magier erstmals im Kreis um. Das Anwesen war mittelalterlich gehalten; man merke ihm an, dass es bereits sehr viele Jahre durchgemacht haben muss. Die Wände gräulich, jedoch in manchen erneuerten Räumen gelblich warm mit roten Vorhängen und Teppichen gehalten, hatte es einen gewissen Scharm. „Herr Avrial, nehme ich an…?“ Den Kopf zum rechten Durchgang gedreht, erblickte der Neuling einen älteren Mann mit schulterlangen, schwarzen Haaren. Steif stand er da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Um den Hals trug er eine silberne, lange Kette, mit großem, runden Rubin an dessen Ende. Seine Kleidung war prunkvoll; ein kurzer Mantel in bleichen blau, darunter ein weißes Rüschenhemd. Avrial war gespannt darauf zu erfahren, um wen es sich bei diesem neuen Gesicht handelte. Als er näher trat, verbeugte sich der ältere Herr. „Sir William Steiner; es freut mich sie kennen zu lernen, Herr Avrial. Ich bin treuer Bediensteter und Berater Madame Ynes. Ich wurde von Ihrer Ankunft in Kenntnis gesetzt.“ Seltsam, wenn man bedenkt, dass Avrials Antwort noch immer ausstehend war. Der Mann musterte den Neuling. „Verzeiht… doch ist es meine Pflicht, Ihre Fähigkeiten in Frage zu stellen, sollten Sie noch immer um den Posten als Leibwächter Madame Ynes werben wollen.“ Und was sollte das nun? Es war Madame Ynes Idee, Avrial als Leibwächter einzustellen. „Aber gerne…“, stimmte der Arcaner schließlich zu, „Wie kann ich mich Beweisen?“ „Nun-“ Unerwartet wurde Avrial hinterrücks von einem der Soldaten attackiert – mit laut ausgestoßenem Geschrei schwang der Wächter sein Schwert gegen den Magier. Zur Seite gedreht, erhob der Neuling die Hand gegen ihn. Eine Barriere blitzte auf, die den Schwerthieb stoppte, ehe sie in die Richtung des Angreifers zersprang und dabei eine Druckwelle auslöste, sie den Soldaten zu Boden warf. Im nächsten Moment stand Avrial drohend über ihn, senkte aber dann den Arm. „Sehr gut.“, der Berater klatschte leicht in die Hände, „Das reicht mir als Demonstration. Nun denn, wenn Sie mir bitte folgen würden…“, der Mann ging voran, während Avrial dem Soldaten einen entschuldigenden Blick zu warf, ehe er dem Berater nachkam. Gemeinsam schritten sie die lange Treppe hinauf, in den zweiten Stock und rechten Flügel. „Wahrscheinlich ist Ihnen nicht entgangen, dass Ausländer wie Sie, ein Arcaner, auf Ikana etwas misstrauen entgegen gebracht werden. Ich muss vielmals um Verzeihung bitten; aber um bei der Wahrheit zu bleiben, stand ich der Idee, Sie als Leibwächter einzustellen, sehr skeptisch gegenüber.“, der Mann räusperte sich, „Diese dummen Vorurteile, nicht wahr?“ Er blieb mit Avrial im langen Gang mit vielen Türen stehen. „Wir befinden uns im Soldatenflügel. Als Leibwächter wird sich Ihr Quartier hier befinden.“, der Mann öffnete die Holztür, mit der Nummerierung 04. „Ihr Zimmer liegt gleich am Anfang des Flügels – sollte es jemals zu Notfällen kommen, können Sie somit schnell reagieren und in den Hauptbereich des Schlosses gelangen.“ „Vielen Dank.“, Avrial verbeugte sich höflich, ehe der Berater einen Schritt zur Seite machte – drei Dienstmädchen huschten an ihnen vorbei. „Mädchen!“, der Mann rief die drei zu sich, die sogleich umdrehten und herbei eilten. „Herr Avrial, dies ist das zuständige Personal der Wächter und Soldaten; sie werden sich auch um Ihre Angelegenheiten kümmern: Dienstmädchen Christy, Juls und Rina.“ Gleichzeitig verbeugten sich die drei, antworteten im Chor: „Es freut uns, Euch kennen zu lernen, Meister Avrial.“, auch sogleich griffen sie nach den Koffern des Magiers. „Lassen sie uns das machen!“, Juls eilte voraus ins Zimmer, ehe ihr die zwei anderen folgten. „Nun, ich werde Sie jetzt alleine lassen, zur Einquartierung.“, der Berater ging langsam ab, „Um zu verhindern, dass Sie sich am Anfang im Schloss verlaufen, folgen Sie den Dienstmädchen in den Speisesaal, sobald das Mittagsmahl vorbereitet ist.“ Dem neuen Leibwächter der Fürstin von Ikana blieb kaum Zeit zur Eingewöhnung. Gleich am Nachmittag wurde er zu seinem ersten Einsatz gerufen: Madame Yne kam die Stufen hinab und hatte ihrem Berater, William Steiner, mitgeteilt, dass sie sehr gerne einen Ausflug zum Strand, hinter dem Schloss machen würde. Der Strand war nur durch einen schmalen Bergpfad zu erreichen und daher nicht öffentlich zugänglich. Sie verbrachte dort gerne viel Zeit in ihrer Kindheit. So ließ der Berater nach Avrial und drei weiteren Soldaten rufen. Madame Yne verschränkte bei dem Anblick allerdings die Arme: „Sir Steiner! Ich habe nicht nach einem Leibwächter gebeten, damit ich weiterhin von Soldaten umzingelt werde!“ „Aber- aber Madame Yne, Ihr-“ „Es ist doch nur ein Ausflug zum Strand – und abgeschiedenen Strand! Gebt Herrn Avrial die Chance, sich alleine zu beweisen.“ So geschah es. Während Madame Yne mit einem lächeln auf ihren zarten Lippen voraus eilte, die Bergstraße entlang, dachte Avrial an die Worte des Beraters, die er ihm kurz nach dem Mittagessen gesagt hatte: „Als Leibwächter sind Ihre Aufgaben simpel: beschützt Madame Yne, komme was wolle. Hierzu müssen Sie die folgenden Regeln beachten: Halten Sie sich im Hintergrund. Seien Sie stets in ihrer Nähe, doch mischen Sie sich nur in Gespräche und Situationen ein, die Ihnen verdächtig oder gefährlich vorkommen. Fallen Sie nicht auf. Madame Yne braucht keinen, der Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als Fürstin ist es unter anderem ihre Aufgabe, vom Volk gesehen zu werden – und nicht der Leibwächter. Also; seien Sie wie ihr Schatten. Folgen Sie ihr auf schritt und tritt, auf eine Art und Weise, dass sie das Gefühl hat, jederzeit in Sicherheit zu sein.“ Kaum noch einmal an seine Worte gedacht, blieb Yne bei einer Kreuzung stehen und wank nach Avrial. Als er schließlich schneller ging, bis er bei ihr stand, schüttelte die junge Dame den Kopf. „Also wirklich Avrial, du könntest ruhig mit mir schritt halten.“ Hatte sie ihn gerade geduzt…? „Ihr Berater hat mir-“ „Pff, der alte Geier redet viel, wenn der Tag lang ist.“, Yne bog nach links, den Trampelpfad ein, „Er hält sich für meinen Ersatzvater und denkt, er muss mich immer noch erziehen. Dabei vergisst er gerne, wer hier auf dem Fürstenthron sitzt.“, sie lächelte zu dem Magier neben ihr, „Sag Avrial, magst du Maskenbälle? Das Dorf veranstaltet einmal im Jahr, Mitte Sommer einen groooooßen Ball mit viel Musik und Tanz!“ „Madame Yne-“, Avrial schien perplex von ihrer Art, „Sie- Ihr- wieso habt Ihr die anderen Wachen vorhin abgelehnt? Nachdem was passiert ist-“ Die Fürstin unterbrach ihn mit einem Kichern, anschließend schüttelte sie den Kopf: „Avrial, ich wollte dich als meinen Leibwächter haben, damit wir alleine sein können!“ Der Arcaner war sich in diesem Moment nicht sicher, ob er ihren Satz richtig verstanden hatte. „Schau, ich habe es satt, ständig von Soldaten umzingelt zu sein. Man kann sich nirgends wohin begeben, ohne dass man ständig von der Öffentlichkeit angestarrt wird… zwar wird sich daran wenig ändern, doch weichen die Leute nun wenigstens aus Angst vor den Wachen nicht mehr zurück. Wenn ich ehrlich bin… war das auch der Grund, weshalb ich mich verkleidet aus dem Schloss geschlichen habe…“, sie hielt Avrial belehrend den Finger vor die Nase, woraufhin er stehen blieb: „Und hör auf mich zu Siezen – schlimm genug, dass das mein Herr Berater tut!“ „In- in Ordnung Madame-“ „Wie war das?“ „In Ordnung, Yne.“ „Na also…“, zufrieden ging sie weiter, in den beginnenden Wald vor ihr, „Geht doch.“ Den restlichen Weg entlang redete Avrial über seinen alten Job als Helfer bei den Fischern, als Yne danach fragte. Ihr als Fürstin war solch eine schwere Arbeit fremd – doch interessierte sie sich sehr dafür, zu erfahren, was die Bevölkerung so tat. „Warte-“, Yne hielt den Magier auf, als sie nahe dem Strand auf einer erhöhten Klippe des Weges ankamen. Fragend sah er der Fürstin nach, als sie sich den Abgrund näherte und hinab, ins Wasser sah. Es waren keine gefährlichen Klippen, oder starke Brandung vorhanden. Sie lächelte zu Avrial, als er nachkam. „…Damals bin ich oft mit meinem Vater hierher gekommen.“, erneut blickte sie ins blaue Meer, „Als ich noch klein war, sind wir gemeinsam da runter gesprungen.“ „Hier?“, verblüfft sah sich ihr Leibwächter um, „Hatte dein Vater keine Angst, dass euch etwas passiert?“ „Nein-“, sie lachte, „Der Strand ist gleich dort unten, hinter der Kurve. Wir sind gesprungen und zum Strand geschwommen, ehe sich meine Mutter fragte, wo wir beide steckten.“ „Verstehe…“, Avrial nahm langsam Abstand, ehe er und Madame Yne zurück auf den Weg gingen. „Du scheinst eine schöne Kindheit gehabt zu haben…“ „Ja… das Leben war damals schön… und einfach.“, während sich der Magier wieder in Bewegung gesetzt hatte, war sie immer noch am selben Fleck. Sie hatte einen Gesichtsausdruck, als ob sie gleich anfangen würde, zu weinen. So drehte Avrial doch lieber um und ging zurück, zu ihr. Noch ehe er etwas Tröstendes sagen konnte, schnappte Yne seine Hand – mit einem ganz und gar nicht traurigen Gesicht. „Weißt du was, Avrial? Ich habe eine tolle Idee!“ „Was? Nein!“, der junge Mann versuchte sich nicht von ihr mitziehen zu lassen, als sie auf die Klippen zulaufen wollte. „Wieso denn nicht?“, sie kicherte, „Du bist ein Magier! Selbst wenn es gefährlich werden würde, kannst du uns einfach fliegen lassen, oder so!“ „So einfach ist das nicht-“, sie zog Avrial weiterhin mit sich, „Yne, warte- das geht nicht! Das geht nicht-!“, schließlich machte sie einen großen Satz von der Kippe und sprang – zusammen mit Avrial, der noch während des Sprungs ihren Namen rief. Als beide in das blaue Nass sprangen und durch den langen Fall tief eintauchten, stiegen tausende von kleinen Blasen zur Oberfläche auf. Auch wenn es schön anzusehen war, war Avrial damit beschäftigt, ein wenig in Panik nach der verschwundenen Fürstin zu suchen. Als er sie im dunklen Wasser nicht finden konnte – und ihm die Luft ausging – war er gezwungen, wieder aufzutauchen. Nachdem er nach Luft geschnappt hatte, blickte er hektisch im Kreis umher: „Yyynee!“, er tauchte kurz abermals ein, um sicher zu gehen, dass sie nicht irgendwo bewusstlos trieb, ehe er wieder die Oberfläche absuchte. „Yyyne!“ Nach vielen Minuten spürte Avrial, wie ihn wegen der schwer gewordenen Kleidung die Kraft in Armen und Beinen ausging. Er hatte keine andere Wahl, als zum Strand zu schwimmen. Erschöpft und verzweifelt schlenderte der Leibwächter triefend aus dem Wasser. Er hatte gleich am ersten Tag seine Aufgabe vernachlässigt… „Hahaha!“, Madame Yne saß schnaufend am Strand und drückte lachend ihre nassen, goldenen Haare aus. „Dein Gesicht, Avrial! Du hättest dich sehen müssen! Unbezahlbar!“ „Yne-“, erleichtert und doch verärgert über ihre Tat, kam er zu ihr gelaufen. „Was sollte das eben?! Dir hätte etwas Furchtbares zustoßen können! Machst du das etwa öfter?! Kein wunder, dass du ständig in Gefahr gerätst!“ Immer noch mit einen sanften schmunzeln, blickte die Fürstin hoch, zu dem triefenden Mann. „Bist du fertig…?“ Erledigt von der Aktion, sank Avrial auf die Knie – anschließend legte er sich auf den Rücken, in den Sand. Neben ihm Madame Yne, Arme hinter dem Kopf verschränkt. Kapitel 12: Die nette Geste --------------------------- Der Berater schaute höchst überrascht, als Madame Yne zusammen mit ihrem Leibwächter, Avrial, pitschnass das Schloss betrat. Es war nicht gerade einfach, zu erklären, was geschehen ist, ohne dass der Neuling gleich am ersten Tag schlecht da stand. Dank guter Ansprache konnte Yne das schlimmste verhindern – doch einen guten Eindruck hatte diese Aktion trotzdem nicht bei dem Berater hinterlassen. Im Schloss gesittet und höflich, benahm sich die Fürstin außer reichweite ihrer Soldaten, Bediensteten und Berater viel entspannter. Kein Wunder, dass sie ein wenig frieden herbei sehnte, bei all der Arbeit, dem politischen Kram und dem bemühen, beim Volk stets gut da zu stehen. Bislang war es die Sache des Beraters, Madame Yne mit irren Versprechungen und anderen Dingen ins gute Licht zu zwängen. Seitdem die Fürstin frei von Soldaten und in Begleitung Avrials unterwegs war, konnte sie dies selbst in die Hand nehmen. Ohne irre Versprechungen. Auf dem Dorfplatz hörte sie sich jeden Freitag die Wünsche und Klagen ihrer Bürger an. Manche hatten Probleme mit ihrer Ernte, andere benötigten neue Geräte für die Arbeit. Ein paar waren sehr arm und hatten nichts zu essen, wieder ein anderer konnte nicht den Arzt bezahlen, der sich um seine kranke Tochter kümmerte. Natürlich gab es auch unmögliche Fälle, wie ein beinloser Bettler, der sich neue Beine wünschte. Diesem zumindest konnte mit Nima über die Runden geholfen werden. Eines der größten Ziele, die Madame Yne anstrebte, war die Ungleichheit zwischen Mann und Frau zu beseitigen. Männer hatten stets mehr Rechte; konnten bei wichtigen Ereignissen abstimmen, hatten in manchen Familien das Recht, über die Frau zu bestimmen und diese ohne triftigen Grund zu verlassen. Hingegen die Frau durfte in vielen Familien nicht arbeiten gehen (außer auf dem Feld), musste sich jederzeit um die Kinder kümmern und durfte niemals laut ihre Meinung äußern. Dies zu ändern war keine Tat von heute auf morgen. Yne wusste das – doch war es ihr wichtig, den ersten Schritt zu tun. In ihrer Freizeit beschäftigte sie sich viel mit Avrial. Schon lange gab es keine Einzelentscheidungen mehr; sie fragte sehr gerne, worauf der Magier gerade Lust hatte. So gab es Spaziergänge durch den Park, Jausen auf der Wiese, gesellschaftliche Brettspiele, Ausflüge auf Bauernhöfe, Besuche bei der netten Gasthaus-Besitzerin, bei der Avrial einst wohnte und gemütliche Abende, mit Tee und Erzählungen von Geschichten. An einem Freitag schließlich, nach getaner Arbeit auf dem Dorfplatz, fragte Madame Yne auf dem Weg zurück ins Schloss nach Avrials verbundenem Auge. Zwar hatte er oftmals einen anderen Verband oben, doch wunderte sie sich schon seit längerem, wieso er es stets verbarg und ob die Wunde, die er aus ihr unerfindlichen Gründen hatte, nicht schon längst abgeheilt sein müsste. Dem Magier war es unangenehm, darüber zu sprechen. Doch es war Yne, die danach fragte. Schließlich konnte er nicht anders, als ihr die Wahrheit zu sagen, ihr zu verraten, dass er auf dem rechten Auge blind sei. Statt dem erwarteten schockierten Gesichtsausdruck, lächelte die Fürstin verständnisvoll über sein „Geheimnis“. Doch wäre es ihr lieber, wenn er nicht ständig mit einem Verband umher laufen würde – wenn er es verbergen wollte, dann musste eine Augenklappe her. Zumindest für den bevorstehenden, großen Maskenball. Der Maskenball war Tradition in Ikana. Vor vielen Jahren begann er als einmaliges Ereignis, veranstaltet vom damaligen Fürsten zur positiven Aufmerksamkeit. Da die Bewohner jedoch so viel spaß hatten, beschlossen sie, auf eigene Faust einmal im Jahr einen Ball her zu richten. Ob dieser jemals öfter stattfinden wird, stand in den Sternen. Madam Yne war für die Heutige Veranstaltung in einem verzierten, weißen Kleid unterwegs. Ihre goldenen Haare waren hochgesteckt zu einer Frisur, ebenwürdig für einen Ball. Auf der Nase trug sie eine Maske, mit ebenso weißen Federn geschmückt, dessen Augenform einem Vogel glich. Jahr für Jahr hatten die Männer immer das gleiche Outfit: schwarzer Anzug mit schwarzen Stiefeln und Zylinder, die Hose war gräulich bis weiß, wie das Hemd darunter. Allein die Masken hatten immer unterschiedliche Formen. Auch Avrial konnte diese Tradition nicht umgehen. Am liebsten wäre er erst gar nicht auf dem Maskenball erschienen – doch weil Madame Yne anwesend war, war es seine Pflicht als Leibwächter, für sie da zu sein. Ihm gefiel der Zylinder nicht. Er hatte für normal nur selten eine Kopfbedeckung und ein Zylinder war für ihn alles andere als eine praktische Sache. Avrial hatte dies auch bei der Vorbereitung erwähnt, während Yne fertig für den Ball war. Die Fürstin gab ihm Recht, dass der Zylinder zu seinen ohnehin schon pechschwarzen Haaren nicht passte – ihrer Meinung nach würde ihm dunkelrot viel besser stehen. Für Avrial wurde speziell eine Maske angefertigt. Diese verdeckte die halbe Gesichtshälfte; sparte Nase und Mund aus, deutete aber das rechte Auge nur an. Wie man sich denken kann, stand der Magier nicht gerade begeistert unter all den Leuten des großen Saales, welcher sich in der nähe des Dorfplatzes befand. Genauer gesagt lehnte er Arme verschränkt an einer seitlichen Säule, stets ein Auge auf Yne gerichtet, die sich gerade vornehm mit anderen Leuten aus einer höheren Schicht unterhielt. Da huschte, leicht torkelnd, ein Mann an ihm vorbei und verschüttete dabei sein Weinglas. Avrial hatte zum Glück nichts abbekommen, doch der vorzeitig betrunkene schien zu glauben, der Arcaner sei an dem Missgeschick schuld – auch wenn er die ganze Zeit regungslos an der Seite gelehnt war. Als der Leibwächter sich weder verteidigte, noch beschwerte – er sagte einfach gar nichts – ging der Mann selbstgesprächig weiter. Von dem Vorfall etwas abgelenkt, blickte Avrial zurück ins Gewimmel, auf der Suche nach Madame Yne. Sie stand nicht mehr bei den Leuten von vorhin. Doch wo war sie dann? Die Augenbrauen überlegend zusammengezogen, machte der Magier einen Schritt nach vorne, um eventuell einen besseren Blick zu erhaschen. Unerwartet griff Madame Yne nach seiner rechten Hand und zog ihn mit sich. „Yne-!“, er stockte, „Madame Yne, was habt Ihr vor-?“ „Wir gehen jetzt tanzen!“ „Was? Nein!“ „Kommt schon, Herr Avrial! Alles kann man lernen!“, sie kicherte dabei überaus fröhlich. Avrial ließ sich von ihr wieder einmal erweichen. Wie konnte man denn auch die Tanzaufforderung einer sowieso schon schönen Person in einem noch viel schöneren Kleid ablehnen? Am Anfang war der Magier miserabel. Jeder zweite Schritt endete damit, entweder ein anderes Tanzpaar zu stören, oder der Fürstin auf die Zehen zu steigen. Sie jedoch gab nicht auf – als Avrial flüchten wollte, hielt sie ihn erneut am Arm fest. „Das ist alles eine Frage der Übung! Wenn nicht jetzt, wann wollen Sie es dann lernen?“, kurz musste die Fürstin schmunzeln, „Du meine Güte… zum Glück bin ich eine große Frau. Wir würden gemeinsam ziemlich komisch aussehen, so groß, wie Sie sind, was? …Passt auf, es gibt einen Rhythmus, dem Sie folgen müssen.“ Yne und der Leibwächter gingen wieder in Stellung, ehe sie den ersten Schritt machte. „Eins-“, dann den nächsten. „Zwei.“ Als Avrial ihr gefolgt war, wiederholte sie das ganze, nur etwas schneller. „Eins- zwei.“, und abermals schneller. „Eins, zwei, eins zwei.“ Kurz war sie stehen geblieben, um ihr kichern zu unterdrücken. „Das Lied ist ja gerade zu Perfekt; es fängt ganz langsam an und wird immer schneller!“, nun griff sie wieder nach ihrem Leibwächter, „Kommt, Herr Avrial, das geht noch besser!“ und fing mit dem leicht überforderten Mann an zu tanzen, nach dem Rhythmus. Tatsächlich hatte Avrial in der Mitte des über achtzehnminütigen Liedes den Bogen raus und konnte tanzen, ohne das andere Tanzpaare leiden mussten. Es wurde langsam spät in Ikana. Viele Gäste des Maskenballs waren bereits nach hause gegangen, andere volltrunken vor die Tür gesetzt, um unnötigen Ärger zu ersparen. Der Sichelmond war bereits am sinken, da lehnte Madame Yne am Geländer des breiten Balkons und sah hinaus, ins Meer. Sie wurde allmählich müde – und ihre Füße schmerzten von den unbequemen Stöckelschuhen. „Madame Yne?“, Avrial schob den Vorhang der Tür zur Seite, um sie allein am Balkon zu entdecken. Nachdem er sich versichert hatte, dass wirklich sonst niemand anwesend war, kam er auf sie zu. „Was machst du denn hier draußen…?“ „Ich brauchte nur eine Pause.“, seufzte sie und strich dabei über das Geländer. „Der Maskenball ist schön, bis einem die Nachteile einer Frau wieder einfallen.“ Der Magier verstand nicht ganz. Er lehnte sich neben sie und verdrehte leicht den Kopf in ihre Richtung: „Die Schuhe?“ „Die Schuhe.“ Nach einem kurzen schweigen sah Yne wieder hinaus, ins weite Meer. „Weißt du, Avrial… mein Vater hatte mir damals viele Geschichten über das Festland, Desteral, erzählt… wie groß es seien muss und wie unendlich der Himmel.“, sie lächelte und sah hinab, obwohl sie es gar nicht fröhlich meinte: „Wir wollten gemeinsam hinreisen, doch leider starb er vorher…“ „Darf ich fragen… woran er gestorben ist?“ „Eine lange Geschichte. Es begann schon vor Jahren, doch konnte ihm kein Arzt helfen.“, sie seufzte und lehnte den Kopf an das Geländer, „Seine inneren Organe versagten, eins nach dem anderen.“ Nun wusste der Magier nicht, was er sagen sollte. Es tut mir leid? Mein Beileid? Oder doch lieber etwas Aufmunterndes? Noch eher er sich entscheiden konnte, sah Yne lächelnd zu ihm auf: „Was ist mit dir, Avrial? Wie waren deine Eltern so?“ „Also… uhm…“, er fasste sich an den Nacken, „Ich kann mich nicht so recht erinnern… ich war sehr klein, als ich sie verlor. Aber eine Erinnerung an meine Mutter ist mir geblieben. Ich weiß, dass sie eine starke Frau war. Eine, die ihren Kopf durchsetzte, egal, was passierte.“ „Du hast sie verloren…?“ „Ja… wenn es wahr ist, dann durch den arcanischen Krieg. Ich bin in einem Weisenhaus in Desteral aufgewachsen, zusammen mit einem anderen Magier-“ „Du bist in Desteral aufgewachsen!?“, fast vor Neugierde platzend, hob Yne den Kopf und sah dem zurück weichenden Leibwächter ins Gesicht: „Wie ist es dort so? Gibt es Schlösser wie hier? Berge und Seen? Erzähl mir mehr!“ „Nun, also…“, Avrial musste kurz überlegen. „Oh, also Berge gibt es viele… und große. Viel größer als auf Ikana.“ „Wirklich?“ „Ja – es gibt auch Wüsten, große Wälder und unendliche Wiesenlandschaften. Neben der schönen Natur gibt es aber auch majestätische Städte – die Hauptstadt, Destercity, ist eine der größten, die ich kenne – abgesehen von Ikana natürlich.“ „Wow-“, begeistert hatte die Fürstin Avrials Worten gelauscht. Für eine junge Frau, die ihr ganzes leben auf einer Insel verbrachte, klang das alles märchenhaft. „Nun…“, der Magier überlegte abermals. Hatte Madame Yne doch so eine Begeisterung für Desteral – ließ sich da nicht etwas zu ihrer Freude machen? „Weißt du… sofern das Wetter gut ist… und der Berater einverstanden… spricht doch eigentlich nichts gegen einen Tagesausflug?“, bei Ynes fragenden Gesichtsausdruck, redete er schnell weiter. „Ich meine, auch eine Fürstin braucht einen freien Tag. Als dein Leibwächter lässt sich dein Berater mit Sicherheit zu einem Picknick an der Küste Deserals überreden-“ „Ist das dein ernst? Das würdest du für mich tun!?“, fast schon so, als ob das Unternehmen eine feste Sache wäre, fiel Yne dem Magier um den Hals. „Vielen Dank! Danke!“ Perplex von ihrer Umarmung, wusste Avrial wieder einmal nicht, wie er sich verhalten soll. Schließlich aber erwiderte er sie und drückte die Fürstin an sich. Auch sie hatte nun begriffen, was sie da gerade tat und ließ von ihm ab, so schnell, wie sie ihm auch um den Hals gefallen war. Doch waren ihre Hände immer noch auf seinen Schultern, während ihr Blick in die gelben Augen des Arcaners fiel. Avrial konnte nicht anders. Besser gesagt, spürten beide in diesem Moment eine Macht, sodass keiner sie daran hindern konnte, sich dem Gesicht des anderen zu nähern. Der Leibwächter machte dabei nur den Anfang und hatte seine Augen geschlossen, ehe er die zarten Lippen Ynes berührte. Kapitel 13: Ausflug ------------------- Auch wenn niemand etwas von der Beziehung zwischen der Fürstin und dessen Leibwächter wusste, wurde es schwerer, diese zu verheimlichen. Immerhin musste Madame Yne, mit dem höchsten Rang Ikanas, stets höflich angesprochen werden; was mit einem Empfinden eines angenehm brennenden Herzens, bei jedem Anblick des Geliebten, nicht gerade einfach war. Nicht zuletzt warfen die zwei sich seit dem Maskenball oftmals im Schloss einen langen, lächelnden Blick zu. Diese Merkwürdigkeit blieb vom steifen Berater unbemerkt. Jedoch beobachtete Dienstmädchen Christy schon seit dem Eintreffen des Magiers die Beziehung zwischen den beiden. Immer wieder einmal, beim Aufräumen der Zimmer und dem Abwasch, hatte sie die Fürstin beobachtet und wie fröhlich sie plötzlich wurde, sobald Avrial in ihrer Nähe war. Eines Tages kam Yne ganz aufgeregt in den Speisesaal gelaufen. Die drei Dienstmädchen waren am Tisch abräumen und die Leibwache gerade fertig mit dem Essen, da zog sie an seinem Arm, bis er aufstand: „Kommt, Herr Avrial! Schnell, ich muss Ihnen etwas zeigen!“ „W-was denn?“, er wurde wieder einmal von ihr aus dem Raum gezerrt. „Das sehen Sie, wenn wir dort sind! Ein alter Teil des Schlosses, dessen Schlüssel wir in der Kommode meines Vaters gefunden haben! Beeilt Euch!“ Weg waren sie. Christy hatte eine Augenbraue gehoben, ehe sie sich kopfschüttelnd dem Einsammeln des schmutzigen Geschirrs widmete. „Eigenartig.“ „Was ist eigenartig?“, so Rina, die sich über den Tisch beugte, um an ein leeres Weinglas zu gelangen. „Habt ihr es denn nicht bemerkt?“ „Was nicht bemerkt?“ Juls lächelte vor sich her, während sie ein Tablett voll mit Tellern füllte. „Ich denke, ich weiß, was du meinst… es geht das Gerücht um, das Madame Yne und Meister Avrial etwas miteinander haben.“ „Echt?“, Rina wirkte überrascht, „Wer behauptet denn so was?“ „Och, ein paar Soldaten.“ Christy seufzte. „Man muss schon blind sein, um nicht zu sehen, was sich da zusammenbraut.“ Nun schmunzelte Juls. „So blind, wie ein Sir William Steiner?“ „Ja, so ziemlich.“ „Aber…“, Rina hielt ihr Geschirr, bereit um aus dem Saal zu gehen. „Verpfeifen wir sie?“ „Huh, Rina; wie kommst du darauf?“, Christy lachte, „Nicht doch, Madame Yne hat es verdient, wenn ihr mich fragt.“, nun schnappte sie ihr Geschirr und folgte Rina in die Küche. „Ihr werdet schon sehen, Master Avrial wird sie glücklich machen!“ Quer durch einen alten Teil des Schlosses gezogen, blieb Yne urplötzlich stehen, sodass ihr Avrial beinahe hinein gelaufen wäre. „Da wären wir!“, sie klopfte auf die alte Tür und kicherte, „Du wirst Augen machen… ich freu mich jetzt schon auf deinen Gesichtsausdruck!“ „So?“, Avrial putzte sein Hemd ab, „Na da bin ich aber gespannt… wo ist denn der Schlüssel?“ „Hier.“, sie wedelte mit ihm vor seiner Nase, ehe sie ihn ins Schloss führte und aufsperrte. Als die Tür ein klicken von sich gab, betätigte Yne die Klinke, worauf hin die alte Tür, knarrend, nach innen aufging. Sie schmunzelte und trat zur Seite, um Avrial den Vortritt zu lassen. Drei Schritte voran gegangen, mit hoch gerichtetem Kopf, blieb dem Magier tatsächlich der Mund offen: eine Bibliothek, mit zweistöckigen Regalen und vielen, alten Büchern, lag vor ihm. „Na?“, Yne sah ihm ins überraschte Gesicht, „Zu viel versprochen?“ „Yne- das- das ist unglaublich!“, er freute sich sichtlich und drehte sich beim Umsehen einmal im Kreis. „So viele Bücher!“ „Ja… hm, nein.“, sie ging zu einem Regal und blies den Staub ab, „Wie du sehen kannst… sind viele Kästen leer. Mein Vater war drauf und dran, sich eine große Bibliothek einzurichten – doch wie du weißt, starb er früher als geplant.“ „Es sind trotzdem genug; um alle durchzulesen, braucht man bestimmt ein Jahr – wenn man fleißig ist.“ Schmunzelt sah Yne ihrem Leibwächter nach, wie er sich in Ruhe die Bücher ansah. Sie wusste gar nicht, dass er sich so fürs Lesen interessierte. „Wenn du willst…“, sprach Yne, „Kann ich dir gern den Schlüssel hierfür geben. Wenn wir nicht gerade unterwegs sind, versteht sich, kannst du deine Zeit hier verbringen.“ „Ja-“, er nickte dankbar zu ihr, „Das wäre toll.“ „Oh, warte!“, sie lief schnell an Avrial vorbei, um die Ecke. Ehe er sich umdrehen konnte, holte Yne ein schweres Buch aus dem Regal. Den Staub noch abgewischt, überreichte sie es ihm. Er strich über den Einband, auf dem unleserliche Schriftzeichen standen. „Was ist das?“ „Öffne es.“ Auf ihren Satz hin, blätterte er das dicke Buch auf. Die Seiten alt und vergilbt, waren neben Skizzen, wie Zeichnungen von Pflanzen und Tieren, auch Zirkel und Formeln eingetragen. Viele Kapitel waren in desteralisch geschrieben, andere wieder in diesen merkwürdigen Zeichen, wie auf dem Einband. „Ist das etwa…?“ „Ein arcanisches Buch.“, Yne stand eng neben ihn und hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt, ehe sie auf die Zeichen deutete, „Mein Vater hat sich sehr für Arcan interessiert. Ich hatte gehofft, du könntest sie vielleicht lesen…“, sie schmunzelte, „Aber… nachdem du in Desteral aufgewachsen bist…“ „Es ist schade… nicht wahr?“ „Ja, das ist es.“ „Hm… ich bräuchte so etwas wie ein Wörterbuch, oder Formeln, die-“ „So etwas hier?“, grinsend reichte Yne ihm ein dünnes Buch über die Schulter. Schnell durchblättert, fand er eine Art Alphabet vor. „Ja! Genau so etwas! Woher hast du-“ „Lag bei dem Buch bei.“, sie schmunzelte abermals. „Scheint, als hätte Vater selbst versucht, die Zeichen zu entziffern.“ „Yne, du bist fantastisch.“, er schloss das Buch und umarmte sie, „Es bedeutet mir viel, etwas über Arcan zu lernen.“ Sie kicherte, ehe sie die Umarmung erwiderte. „Ich weiß. Und das Beste daran ist: du kannst jederzeit hierher kommen, um etwas zu lernen.“ Endlich war es soweit: nach vielen Überredungsversuchen und absichtlichen Bedenkzeiten erlaubte Ynes Berater, Sir Steiner, einen Ausflug ans Festland. Avrial war als Leibwache von Yne nicht mehr wegzudenken und nach den vielen verflogenen Wochen vertrauenswürdig geworden – das waren unter anderen die Gründe, weshalb der Berater dem Ausflug zustimmte. Kurz bevor die Reise angetreten war, erklärte er noch einmal für Avrial, explizit und langsam, dass sie nur an die Küste durften. Nuuur aan diie Küüste und niicht hineeiin ins Festlaaand. Als ob Avrial zu Mehr den Mut hätte, nach allem, was geschehen war. Die Überfahrt verging gemeinsam sehr schnell. Auch, wenn es nur für einen Tag war, ließ Sir Steiner zwei Koffer für Yne packen – die ihr Leibwächter tragen durfte. Wie gut war es, ein Magier zu sein; die zwei großen Koffer waren plötzlich federleicht. Das Schiff hinter sich gelassen, machten die zwei sich auf den Weg durch den Hafen. Handels- und Fischerboote standen an den Ankerplätzen, nur wenige fuhren an diesem Wochenende hinaus. Wenn Avrial an seine Zeit als Fischeraushilfe dachte, war er über seinen Posten an Madame Ynes Seite noch glücklicher. Gemeinsam wanderten sie über den Strand, bis hin zur beginnenden Wiese. Kurz nahm Avrial sie an die Hand und führte sie einen Hügel hinauf. Oben angekommen, blickten sie über eine Ebene, voll mit grüner Wiese, blühenden Blumen, einzelnen Sträuchern und Bäumen, Bergen, Seen und Wälder. Für die Fürstin ein Anblick, den sie nie mehr vergessen wird. Nachdem sich das Bild gefestigt hatte, suchten die zwei sich einen schattigen Platz unter einem alten Eichenbaum, nahe dem Strand. Die Decke ausgebreitet, setzten sie sich zum Picknick. Avrial war dabei, ein Marmeladenglas zu öffnen. Für Yne ein witziger Anblick: er war Magier und hatte dennoch Mühen, das Gefäß zu öffnen. Endlich waren die Brote gestrichen und der kalte Tee eingeschenkt. Nach dem Essen legten sich Yne und ihr Leibwächter zurück, um die Wolken zu betrachten. Es war friedlich. Die zwei fühlten sich wohl und hätten fast beieinander einschlafen können. Yne rollte sich hinüber, zu Avrial, um sich auf seiner Brust auszuruhen. Den Arm um sie gelegt, blickte er auf, zum Himmel; auf Ikana zu bleiben war für ihn die richtige Entscheidung gewesen. Als die zwei die Augen schlossen, riss sie ein lautes Lachen aus der Müdigkeit. Sie blickten auf – galt das Gelächter ihnen? Sie fanden niemanden. Keiner stand vor ihnen, oder auch nur irgendwie in der Nähe. Fragend sich gegenseitig angeblickt, legten sie sich erneut zurück. Da erklang es abermals, dieses Mal länger. Sichtlich gestört, blickte Avrial umher in die Richtung, aber der das Lachen kam: von einem Baum? Wurden die zwei etwa schon länger beobachtet? „Wer ist da?!“, Avrials Frage klang genervt, da sich die zwei immerhin in ihrem Ausflug gestört fühlten. Schließlich war er aufgestanden, während Yne noch hinter ihm saß. „Zeig dich gefälligst!“ Das war unhöflich; immerhin hätte auch ein „Sir“ versteckt sitzen können. Doch auf dem Festland waren die Verhältnisse anders und so war es durchaus eher seltsam, einen Herren oder eine Dame vorzufinden, besonders wenn derjenige sich versteckt hielt. „Ist es nicht Merkwürdig?“, eine männliche Stimme war zu hören, „Da durchstreife ich den Norden, auf der Suche nach nem' kostenlosen Buffet und treffe ausgerechnet – auf dich, Avrial.“ „Was?“, nun wirklich überrascht, musste der Leibwächter schlucken: die Stimme kam sehr vertraut vor. „Nicht möglich-“, so machte er einen Schritt zurück, ehe fragend und zugleich sorgvoll Yne zu ihm aufsah. „Na und wie das möglich ist!“, da hang auf einmal, verkehrt aus den Blättern des Baumes, der Kopf eines jungen Mannes heraus. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, sah er die zwei mit seinem gelben Auge an; das andere war von dunklen, grünlich zerzausten Haaren verdeckt. Im nächsten Moment fing er an zu lachen. „Lange nicht gesehen! Was hast du denn da für Klamotten an? Und die da? Ist das deine Freundin?“, er lachte noch lauter, „Bei deiner Mädchenfrisur ein wunder!“ „Hör auf mit dem Schwachsinn, Furah! Was willst du von uns!?“ „Oh, was werde ich schon von euch wollen?“, der junge Mann hang immer noch verkehrt am Baum und putzte sich die Nägel, „Darf man nicht einmal „Hallo“ zu seinem alten Freund sagen...?“ „Wir sind keine Freunde!“ „Daw, jetzt hast du mich aber beleidigt.“, er grinste, „Wir sind doch die allerbesten Freunde.“ Dem Leibwächter ging der Sarkasmus zu weit. Ihm tat es leid, was aus der Beziehung wurde, so ärgerte es ihm noch mehr, dass Furah sich darüber lustig machte. Angespannt stand er da und hatte die Fäuste gebalt, ehe er einen Schritt nach vorne trat. „Avrial?“, Madame Yne fasste nach seinem Ärmel. „Wer ist dieser Mann?“ Als er ihre Berührung spürte, ließ er locker und senkte den Kopf. „...Das ist Furah, ein dunkler Magier. Der Grund... warum ich Desteral den Rücken kehrte.“ „So?“, mit traurigem Blick sah sie an ihrem Leibwächter vorbei, zum jungen Mann. „Lass uns gehen, Yne.“, er nahm sie an der Hand, nachdem die Sachen verpackt waren. „Es tut mir leid, wir werden ein anderes Mal an das Festland zurückkehren.“ Furah sah den Beiden nach, als sie gingen, „Hey-“, und schwang sich vom Baum. „Hey du Feigling, komm zurück!“ Den dunklen Magier ignorierend, ging er mit Yne einfach weiter. „Hahaha, du weichst einem Kampf mit mir aus? Das Flittchen hat dir aber ganz schön den Kopf verdreht!“, er griff in seinen Ärmel, „Warte, ich werde dich von deiner Last befreien-!“ Avrial wusste, dass er nach seiner Aussage nichts Gutes vorhaben würde. Schnell mit einer halben Umdrehung vor Ynes Rücken gedreht, bildete er eine durchsichtige Barriere, an der ein bereits erwartetes Stück Pergament, belegt mit einem Fluch des schnellen Alterns, dahin schmolz. Nun hatte der Magier genug. Auch wenn er zum Schutz Ynes nicht kämpfen wollte, lief er auf Fuah zu und entfesselte, Arme nach vorne gerichtet, eine Windböe, die den dunklen Magier von den Beinen riss. Trotz seiner Lage lachte er auf und rollte sich zur Seite, als Avrial auf ihn springen wollte. Schnell auf die Füße zurück gesprungen, stieß er flink die Hand gegen die Schulter des Leibwächters, bei dessen Berührung eine art Druckwelle ausgelöst wurde, die ihn sowohl zur Seite warf, als auch die Schulter verbrannte. „Avrial!“, Yne wollte zu ihm laufen, da holte Furah mit dem Fuß aus – als der Magier vom Boden verschwunden war. „Hahaha, was du kannst, kann ich schon lange!“, nun war auch der dunkle Magier verschwunden. Mit großer Sorge blickte die Fürstin umher und versuchte Avrial zu finden. Kaum wusste sie, wo die zwei waren, da flog ihr Leibwächter angeschlagen vom Baum. Furah hockte dabei auf einem niedrigen Ast, lachte abermals auf: „Haha, du glaubst doch nicht wirklich, mich in meinem Gebiet schlagen zu können!?“ Er sprang hinab, „Komm schon, Avrial.“, und stieg mit einem Fuß auf ihn. „Bin ich wirklich so viel stärker geworden? Das macht doch keinen Spaß, wenn du so schnell am Boden liegst...“ Furah drehte den Kopf zu Yne, als diese, bewaffnet mit einem großen Stock, den sie kaum halten konnte, zu ihm sprach: „Geh weg von Avrial! Lass ihn in Ruhe, i-ich warne dich…!“ „Hahahah-!“, höchst amüsiert drehte der dunkle Magier die Hand, worauf hin Yne der Stock zur Seite gerissen wurde. Gerade wollte er auf sie zugehen, da packte Avrial seinen Fuß, der immer noch auf ihm stand. „Nicht... nicht Yne...“ „Oh, du bewegst dich ja... Was murmelst du? Ich soll die Kleine verschonen? Wie rührend... Hm, was machen wir denn da?“, immer noch mit einem Fuß auf ihm stehend, blickte Furah überlegend in Ynes Richtung, die ängstlich einen Schritt zurück machte. „Furah... lass sie- in frieden-“ „Du hängst scheinbar wirklich sehr an ihr, huh? Tja, da kann man nichts machen.“, er hob die Schultern, „Wenn ich sie dir nehme, bist du sicher nicht mehr Ansprechbar. Und mit wem soll ich dann Spaß haben? ...Ich verschone sie. Aber...“, er grinste, „Wenn du so sehr an ihr hängst, stört es dich sicher nicht, sonst niemanden mögen zu können!“ Die rechte Hand auf Avrials Brust gestoßen, drang in diesem Moment ein violetter Blitz in seinen Körper ein. Reaktionsartig aufgeschrieen, stieß er mit letzter Kraft den dunklen Magier von sich weg. Als die Fürstin, Avrials Namen rufend, zu ihm eilte, war Furah von der Stelle verschwunden und auf den Baum zurückgekehrt. Er lachte, als Yne laut fragte: „Was hast du getan!?“ „Nichts weiter.“, so die grinsende Antwort, „Aber wenn dein Freund jemals Gefühle, egal welcher Art, für eine andere hegt, wirst du es sofort merken.“ Lachend verschwand Furah, so schnell, wie er auch aufgetaucht war. „Ich würde den Kammerjäger bereithalten!“ Kapitel 14: Die letzte Nacht ---------------------------- Vorsichtig half Madame Yne ihrem geschwächten Leibwächter hoch. Sie wusste nicht, was genau zwischen ihm und dem dunklen Magier damals vorgefallen war, doch näher darauf eingehen wollte sie im Moment auch nicht. Avrial konnte sich kaum auf den Beinen halten, weshalb ihn Yne auch auf dem Weg zurück zum Schiff stützte. Immer wieder schien es, als ob er jeden Moment in Ohmacht fallen würde, weshalb sie immerzu Sprach, um ihn wach zu halten. Sicherlich war der Fluch an seiner Lage schuld; alleine der Kampf hätte ihm nicht so zusetzen können. Taumelnd am Schiff angekommen, schlief Avrial ein und sollte nicht vor dem Morgengrauen erwachen. Er wurde von den Bediensteten, Christy, Juls und Rina, in sein Zimmer getragen, während Ynes Berater in Erfahrung bringen wollte, was genau vorgefallen war. Die Fürstin erzählte, dass sie in der Nähe der Küste von einem dunklen Magier, der ein alter Bekannter Avrials war, überrascht wurden. Er versuchte Yne einen Fluch aufzuhetzen, weswegen Avrial eingriff und in einen Kampf verwickelt wurde. Enttäuscht schüttelte der Berater den Kopf. In seinen Augen war die Sache ganz klar: Avrial hatte als Leibwächter versagt. Es war seine Idee gewesen, diesen Ausflug zu unternehmen und hatte Yne in eine sehr gefährliche Situation hineingezogen. Seine Gedanken gingen schließlich sogar so weit, ihm den Titel als Leibwächter abzuerkennen – fortan sollte die Fürstin wieder von mehreren Soldaten begleitet werden. „Was? Nein, das können Sie nicht tun!“, Yne lief ihrem Berater nach, der durch einen Flur schritt. „Avrial kann doch nichts dafür, es ist allein dieser dunkle Magier schuld! Wenn er nicht gewesen wäre-“ „Aber er war da.“, so der Berater, „Ein Leibwächter hat die Aufgabe, stets bereit zu sein, egal ob Gefahr droht, oder nur etwas sein könnte.“ „Aber-“, Yne war stehen geblieben und sah ihn zornig an. „Das ist nicht fair!“ Ebenso angehalten, drehte der Berater ihr den Kopf zu. „Madame Yne, seid vernünftig – dieser Arcaner hat seine Aufgabe vernachlässigt. Es geht um Eure Sicherheit, das wisst Ihr.“ Die Fäuste geballt, sah die Fürstin ihrem Berater an. Sie war vor Wut den Tränen nahe, wollte aber auf keinen Fall irgendwie auf die Beziehung zwischen ihr und Avrial aufmerksam machen. Schließlich senkte sie den Kopf und nickte. „Ja... Sie haben recht...“, sie brachte diesen falschen Satz nur schwer aus ihren Mund. Zufrieden schmunzelnd, ging der Berater seine Wege. In Wirklichkeit wäre es ihm egal gewesen; ob mit oder ohne Zustimmung, er wollte diesen – in seinen Augen unfähigen – Arcaner aus dem Schloss haben. Am nächsten Morgen saß Yne schon sehr früh an Avrials Bett. Sie wollte dabei sein, wenn er aufwachte. Dass er diesen Tag Zeit hatte sich zu erholen und mit dem morgigen Abend offiziell entlassen werden würde, hatte sie ihm vorerst verschwiegen. Ihr war es nur wichtig, dass es ihm besser ging. Doch nach dem gemeinsamen Frühstück wäre es vielleicht besser gewesen, es ihm zu sagen: er hatte sich in die Bibliothek zurückgezogen, um die arcanische Schrift zu lernen. Der Vorfall machte ihm deutlich, wie Gefährlich Furah geworden war. Wenn er ihn jemals schlagen wollte, musste er in Magie besser werden, viel besser. Yne respektierte seinen Drang nach Wissen. Sie hatte ihm und sich selbst eine Tasse Tee gemacht, ehe sie sich auf den Boden setzte, an seinen Rücken gelehnt. Den ganzen Nachmittag verbrachten sie bei den Büchern. Avrial hatte es geschafft, die ersten elf Zeichen zu identifizieren; bis zur Vollständigkeit fehlten somit nur mehr achtzehn. Hin und wieder warf er seinen Blick hinter sich, zu Yne, die immer deutlicher bedrückt an ihrem Tee nippte. Als er fragte, ob er denn die Studien für heute gut sein lassen soll, schüttelte sie nur den Kopf. Etwas stimmte nicht, das konnte der Magier sehen. So verbrachten die zwei auch noch die Zeit bis zum Abendessen in der Bibliothek. Als sie schließlich in den Speisesaal gerufen wurden, schlug Avrial das Buch zu. Nach dem Essen begleitete er Yne noch in den zweiten Stock. Gerade gingen sie einen Flur entlang, da begann Avrial scherzhaft zu meinen: „Die arcanische Schrift ist schwerer zu lernen, als ich dachte. Ein Buchstabe hat gleich zwei Bedeutungen, wie 'ke' und 'ko'... haha, in der Schule brauchten wir an die vier Jahre, die desteralische Schrift zu lernen – zum Glück haben wir noch etwas Zeit bis dorthin-“ „Nein, haben wir nicht.“, Yne war bedrückt stehen geblieben. Avrial wusste schon länger, dass etwas nicht stimmte. Er blieb ebenfalls stehen und blickte über den Flur. Schließlich griff der Magier nach ihren Händen, als sie den Kopf senkte. „...Was ist denn los? Rede mit mir, Yne.“ Die Fürstin verzog das Gesicht und schloss die Augen. Ein Seufzer entfleuchte ihrem Mund, ehe sie ihre Hände wegzog. „Mein Berater hat entschieden.“, meinte sie leise, „Mit morgigen Abend wird dir das Amt als Leibwächter entzogen.“ „Yne-“ „Du wirst aus dem Schloss geworfen-“, mit einem Schluchzen fasste sie sich ins Gesicht, „Es tut mir leid, Avrial!“ Der Arcaner stand einen Moment schweigend vor ihr. Traurig, aber verständnisvoll, legte er seine Arme um Yne, die sich darauf hin fest an ihn schmiegte. „Schon gut...“, begann er, „Wenn dein Berater so entschieden hat, sollten wir uns beugen.“ „Du weißt, dass wir uns nur noch selten sehen werden...“ Auf ihren leisen Satz hin, zog Avrial die Brauen zusammen und schloss die Augen. „Natürlich.“, in Wirklichkeit hatte er genau diese Tatsache verdrängt gehabt. „Yne-“, er ließ sie los, „Es ist Riskant für uns, aber gibt es denn keinen Weg? Ein Gesetz Ikanas, das man irgendwie umgehen kann? Ein nicht bedachtes Schlupfloch?“ „Ich- ich weiß nicht.“, sie sah von ihm ab, „Möglich wäre es. Dazu müsste ich mir gleich morgen die Gesetze ansehen.“ „Bitte tue das... es ist unsere einzige Chance.“ Yne wischte sich nebenbei eine Träne weg. „Ich weiß.“ Bei ihrem Satz kam schwach hervor, dass sie sich keine großen Hoffnungen machte. Vielleicht war es auch besser so; sollte sie nicht fündig werden, sah es schlecht für die Beziehung aus. Die Stunden vergingen und die Nacht brach herein. Auf den Fluren und Gängen des Schlosses war es still geworden. Nur einzelne Wachen zogen umher, mit Kerzen und Schwert im Hüftgürtel, stets bereit einen Einbrecher zu erwischen. Auch die drei Bediensteten der Soldaten, Christy, Juls und Rina, waren zu Bett gegangen. Natürlich haben sie das Vorhaben des Beraters mitbekommen. Jeder hat das. Aber im Gegensatz zu ihnen schien der Rauswurf von Avrial kaum jemanden zu stören. Wie immer war es Christy, die die Soldaten bei ihrem täglichen Putzgang belauscht hatte und dabei mitbekam, wie die Wachen, lachend, über das Ereignis sprachen. Was ihr besonders im Gedächtnis hängen blieb, war der Satz „Wurde auch Zeit, der Arcaner hatte es sich hier schon richtig bequem gemacht!“ Schmollend über das Gerede, drehte sie sich in ihrem Bett auf die andere Seite und umklammerte ihr Kopfkissen. Wie kann man nur so Rassenfeindlich sein? Männer aus Ikana sind echt das Letzte, so ihre Gedanken. Beim Blick zur Tür nahm sie einen Lichtschein war, der durch die Ritze drang. Eine Wache war in diesem Moment vorbei gegangen und auch schon wieder verschwunden. Doch sah Christy überlegend auf, als da ein zweites Mal jemand vorbei schlich. Ohne Licht. Ebenso wie die Bedienstete, lag Avrial am Ende des Flures in seinem Zimmer. Aufgesetzt, mit dem Kissen an die Wand gelehnt, starrte er eine ganze Weile überlegend gerade aus. Es war seine letzte Nacht im Schloss; warum musste Yne auch erst am Abend mit der Wahrheit kommen? Oder warum nicht später, morgen früh? Dann hätte Avrial wenigstens in Ruhe schlafen können. So saß er da, hellwach und doch müde, über sein zukünftiges Schicksal nachdenkend. Zurück ans Festland konnte er auf keinen Fall. Furah würde ihn höchstwahrscheinlich schon erwarten und kämpfen wollen. Kämpfen... für den dunklen Magier schien alles eher ein „Spielchen“ zu sein, als bitterer Ernst. Avrial hatte gehofft, möglichst viel über die Magie mittels des arcanischen Buches in Erfahrung bringen zu können. Vielleicht durfte er wenigstens das Buch, zusammen mit den Aufzeichnungen Ynes Vaters mitnehmen? Sicherlich würde auch da der Berater quer stehen. Yne war zwar Fürstin, stand aber stets im Schatten der Entscheidungen ihres Beraters. Es würde Avrial nicht wundern, wenn bereits ihr Vater mit ihm öfters nicht einer Meinung war. Der Berater… wenn er nicht den Ersatzerzieher spielen würde – obwohl Yne längst Volljährig war – würde die Lage ganz anders aussehen. Auch wenn sich Avrial nicht sicher war, ob er nicht doch Recht hatte. Wenn er nicht den Ausflug vorgeschlagen hätte, wäre Yne niemals in Gefahr geraten; wobei sie eigentlich die Gefahr wie magisch anzog. Da atmete er einmal tief ein und aus. Die Gedanken drehten sich, begannen von neu, ließen ihm einfach keinen Frieden. Vielleicht war es besser, sich einfach mit dem Schicksal abzufinden. Es war allein schon großes Glück, überhaupt Leibwächter zu werden und Yne stets nahe zu sein. Aber was man einmal hat, gibt man nicht gern wieder her. Besonders, wenn es sich um die Liebe handelte. Plötzlich – die Tür öffnete sich. Abgesehen davon, dass es zu dieser Zeit überhaupt das erste Mal geschah, hatte Avrial jeden erwartet. Jeden, außer Yne, die in einem dünnen Abendmantel unter dem Bogen stand. Die Tür sanft geschlossen, ging die Fürstin voran, auf Avrials Bett zu. „Yne-“, kaum den überraschten Satz begonnen, spürte er ihre Lippen auf seinem Mund. Verblüfft wie er war und doch froh, sie zu sehen, stellte er vorerst keine weiteren Fragen mehr. Die Augen geschlossen, genossen sie einfach den Moment. Schließlich löste sie sich von ihm. „Yne… was tust du hier…?“, flüsterte Avrial, „Wenn dich jemand gesehen hat-“ „Ssht.“, sie hielt sich den Finger vor den Mund und lehnte ihre Stirn an seine. Beide hatten dabei erneut die Augen geschlossen. Nach einiger Zeit der Stille, küssten sie wieder einander. Die Fürstin stand schon gar nicht mehr, sondern hatte sich zu ihm auf das Bett gesetzt. Als sie den Abendmantel von den Schultern gleiten ließ, blickte er schließlich auf. „Nicht- …wir dürfen nicht, nicht jetzt-“ „Wir können nicht mehr warten…“, die lächelte sanft und küsste ihn abermals. „Das weißt du.“ Wie Recht sie doch nicht hatte. Die Chance, jemals wieder so nah beieinander zu sein, war sehr gering. So ließ er es geschehen. Yne in den Arm geschlossen, liebkosten sie sich leidenschaftlich und vergaßen dabei, für eine Nacht, die strengen Regeln Ikanas und ihre verschiedene Herkunft. Kapitel 15: Hintertür ins Glück ------------------------------- Hell schien die morgendliche Sonne durch die großen Fenster des Zimmers, bis auf hellen Steinboden. Durch die offene Balkontür wehten sachte Windböen, die den roten Samtvorhang auf und ab hoben. Auf der anderen Seite des großen Doppelbettes klopfte es an der Tür, ehe eine Männerstimme „Guten Morgen, Madame Yne.“ sprach. Geduldig wartete der Berater der Fürstin eine Antwort ab. Nach einigen Minuten blinzelte er schließlich fragend, ehe er erneut anklopfte. „Madame Yne? Seid Ihr wach?“ In der Tat war es eher selten, dass die Fürstin lange schlief. Insbesonders, wenn ein schöner Tag so hell und freundlich begann. „Madame Yne?“, schließlich konnte er nicht anders – der Berater zog seinen Schlüsselbund und sperrte die Türe auf, die er anschließend langsam öffnete. „Madame Yne, geht es Euch gut…?“ Er sah durchs Zimmer, bis hin zum Bett, „Was!?“, und entdeckte, dass es leer stand. Sofort die Beine in die Hand genommen, lief er aus dem Zimmer und rief laut durch alle Flure. „Aaalaaarm!! Alarm, Madame Yne ist verschwunden!! Alarm, wacht auf!“ Bei seinem Ausruf liefen die aufgebrachten Soldaten und Wachen los, kreuz und quer über die Gänge des Schlosses. Der Berater stand panisch dazwischen und erteilte nebenbei befehlte: „Sucht in allen Wohnzimmern! Durchsucht die Bibliothek! Schnell, in den Innenhof mit euch! Ihr da, durchsucht den Garten! Bei Desteral, findet sie!!“ Verschlafend standen die drei Bediensteten der Soldaten an ihrer Tür und rieben sich die Augen. Rina gähnte dabei herzhaft. „…Was ist denn hier los?“ „Keine Ahnung…“, so Christy, „So wie die sich verhalten, wurde Madame Yne gekidnappt.“ „Oh?“ Juls hob die Schultern. „Vielleicht ist sie ja abgehauen. Würde mich nicht wundern.“ „Stimmt.“ „Genau.“ Tatsächlich aber, lag Yne, eng angekuschelt, im Bett bei Avrial. Den Lärm vor dem Zimmer bekamen die zwei erst spät mit. Vorher war der Arcaner aufgewacht und hatte seine Liebste mit einem Kuss auf die Stirn geweckt. Über sie gebeugt, wartete er ihr sanftes Lächeln ab, ehe er selbst lächeln musste. Schließlich sahen beide auf, zur Tür. Hastige Schritte waren zu hören, mehrere, die durch den Flur auf und ab zu liefen schienen. Ehe Avrial sich fragend aufsetzen konnte, klopfte es an der Tür. Dabei rollte sich Yne vom Bett, auf die andere Seite. „Yne-?“ „Aufwachen!“, ein Soldat hatte die Tür aufgerissen, „Madame Yne ist verschwunden, Beeilung!“ „Was-? Äh, oh. Oh!“ „Sie sind doch hier der Leibwächter! Ziehen Sie sich an, wir müssen sie finden!“ „Ja ich- natürlich, ich komme sofort!“ Kurz noch dem Magier zugenickt, schloss der Soldat die Tür, um das Schloss weiter zu durchsuchen. Als er weg war, atmete Avrial erleichtert aus. Er meinte gerade „Das war knapp.“, da hörte er Yne auflachen. Er beugte sich, sah zum Boden, wo sich die Fürstin bereits den Bauch hielt und den Tränen nah war. „Hahaha, diese Idioten! Haha, ich fasse es nicht! Sind die Dumm! Hahaha!“ „Also-“, er musste selbst etwas schmunzeln, „Wir sollten froh sein, dass sie dich nicht gesehen haben.“ „Ja-“, schnell eine Träne weggewischt, setzte sie sich auf, „Ja, das stimmt. Ich sollte hier weg, ehe du in Schwierigkeiten gerätst.“ „Gut...“, er sah zur Tür, „Aber da draußen ist gerade die Hölle los...“, und anschließend zu Yne, die ihm einen Kuss aufdrückte: „Kannst du mich mit Magie hier heraus bringen? Vielleicht... wo anders erscheinen lassen?“ „Ja, gute Idee! Ich bringe dich in dein Zimmer-“ „Nein, das wäre auffällig, wenn ich plötzlich im Zimmer stehen würde, wenn gerade jemand drinnen steht... lieber auf den Balkon, ich habe da eine prima Idee!“, ehe Avrial zu Wort kam, stellte sich Yne bereit in den Raum. „Ok, kann los gehen!“ „Äh, Yne-“, er griff nach dem Abendmantel, der neben dem Bett lag, „Vielleicht solltest du dir vorher etwas anziehen.“ „Findet sie!“, der Berater wischte sich bereits den Schweiß von der Stirn. Eigentlich war er, abgesehen von den Bediensteten, der einzige, der nicht auf der Suche war, sondern jeden vorbeilaufenden Soldaten ins Gesicht schrie. Nahe am Verzweifeln, ging er ein letztes Mal am Zimmer der Fürstin vorbei. Er hatte der Tür gerade den Rücken zugedreht, da räusperte sich Yne. „Kann mir mal einer sagen, was hier vor sich geht?“, sie parkte die Hände in ihren Hüften und stand im Abendmantel, vor ihrem Zimmer. „Sir Steiner, was soll die Aufregung?“ „Madame Yne!“, er schien überglücklich. „Madame Yne, geht es Euch gut!? Wir haben Euch überall gesucht…!“ „Was?“, sie schmunzelte, „Aber Sir Steiner. Ich war am Balkon, den schönen Morgen genießen.“ Leichten Schrittes ging sie an ihrem Berater vorbei, legte dabei die Hand auf seine Schultern. „Das nächste Mal sollten Sie mich im ganzen Zimmer suchen, bevor Sie das gesamte Schloss auf den Kopf stellen lassen.“ Von dem chaotischen morgen musste sich die gesamte Besatzung erstmals erholen. Das Geheimnis der Fürstin und ihres – noch – Leibwächters war somit weiterhin in Sicherheit. Allein Christy, die gestern Nacht schleichende Schritte wahrgenommen hatte, konnte sich denken, was das plötzliche Verschwinden und Wiederauftauchen Ynes zu bedeuten hatte. Auch, wenn sie eigentlich abseits derer Beziehung stand und noch kein Wort mit den beiden darüber verloren hatte, war sie Glücklich, zu wissen, dass die zwei wenigstens eine gemeinsame Nacht verbringen konnten. Die Zeit des Abschieds zog näher. Mittlerweile hatte Avrial aus dem Mund des Beraters gehört, dass er mit dem heutigen Abend kein Leibwächter mehr war und ins Dorf zurückkehren musste. Während Sir Steiner seinen nachmittäglichen Tee im Innenhof genoss und bereits zufrieden vor sich her schmunzelte, durchsuchte Yne das Büro des Schlosses nach den Gesetzen und möglichen Schlupflöchern. Sie war nicht lange allein, da Avrial, mit der Begründung noch knapp drei Stunden Leibwächter zu sein, das Büro zu ihr betreten durfte. Gemeinsam durchblätterten sie Bücher, durchwühlten Papiermappen und Zettelstapel, alte Kisten, Schränke und Schubläden. Als der Magier dann auf ein Dokument stieß, bei dem sich Yne zu ihm gesellte um es durchzulesen, zierte ein breites Lächeln ihr Gesicht. Der Berater war gerade mit zwei Wachen durch einen Flur unterwegs, zum mittleren Saal, als Madame Yne, Hand in Hand mit Avrial, den Durchgang versperrte. Bei dem Anblick musste Sir Steiner tief Luftholen, ehe er eilig auf die zwei zuging. „Was hat das hier zu bedeuten?“, er sah zu Yne, „Madame Yne, wieso ist dieser Arcaner noch nicht vor das Schloss geleitet worden!?“ Ernst sah die Fürstin ihren Berater an. „Na weil-“, und hielt ihm zwei unterzeichnete Dokumente unter die Nase. „Weil Avrial hier wohnt.“ „Wie? Was soll das heißen?“, er nahm ihr die Papiere aus der Hand. „Was ist das?“ „Eine Hochzeitsgenehmigung. Wir sind verlobt.“ „WAS!?“ „Laut Gesetz Ikanas hat ein Mann das Recht, ab dem Zeitpunkt der Verlobung, sich auszusuchen, ob er in seinem eigenen Heim bleibt, wobei die Frau zu ihm ziehen muss, oder in das Haus der Frau zieht.“ „A-aber- aber-“, der Berater schien aufgebracht, „Das ist nicht möglich! Das Gesetz ist außer Kraft gesetzt, weil Ihr Fürst- ich meine, Fürstin Ikanas seit! Und laut Gesetz ist es einem Fürst oder eine Fürstin nur erlaubt, eine Einheimische oder Einheimischen aus Ikana zu ehelichen!“ „Ganz genau.“, sie deutete auf das zweite Dokument. „Avrial war lange genug auf Ikana, um, mit Vorweisung von mindestens einem Beruf, Einheimischer zu werden. Mit dem Einverständnis und der Unterschrift des Herrschers – in diesem Fall mich – ist er ein offizieller Bürger Ikanas.“ Während die Soldaten hinter ihnen tuschelten und die drei Bediensteten heimlich um die Ecke grinsten, wurde Sir Steiner mit jedem weiteren Moment zorniger. Er atmete schwer und warf die Dokumente schlussendlich zu Boden. „Madame Yne, ich verbiete Ihnen, diesen Mann zu heiraten!“ „Sie können mir gar nichts verbieten!“, fuhr sie zurück, „Ich bin Fürstin Ikanas und letzte Erbin der Familie Kynia! Sie haben meinen Befehlen zu gehorchen und nicht umgekehrt!“, sie deutete auf die Dokumente. „Und jetzt heben Sie die Papiere auf und bewegen Sie ihren Arsch ins Büro, es muss eine Hochzeit für in zwei Wochen geplant werden!“ Die Soldaten waren mit aufgerissenen Augen ganze zwei Schritte zurückgewichen. Immer noch schwer atmend, schien sich der Berater allmählich zu beruhigen. Schließlich hob er die Dokumente auf und verbeugte sich. „Ja, meine Herrin.“ Er verließ die Runde, indem er Schulter rempelnd an einen Soldaten vorbei schritt. Yne und Avrial standen noch einen Moment lang am Fleck. Als dann auch die Soldat auseinander traten und sich verteilten, drehte der Magier den Kopf schief. „Wow.“ „Ja…“, so Yne, „Irgendwann musste ich es ihm ja mal sagen.“ Kapitel 16: Ein besonderes Geschenk ----------------------------------- Es gab einiges zu tun, seitdem die Fürstin und der Arcaner einstimmig entschlossen hatten, in zwei Wochen zu heiraten. Warum so schnell? Wieso nicht erst in drei, oder vier Monaten? Es gab zwei entscheidende Gründe dafür. Der erste betraf das Gesetz Ikanas: wenn ein Mann sich verlobte, wäre es Irrsinn, bereits ein halbes Jahr vor der Hochzeit in das Haus der Braut zu ziehen. Es gab eine Regel, die besagt, dass ab einer Zeit von vierzehn Tagen vor der Hochzeit umgezogen werden durfte. Denn sollte der Mann seine Meinung vorher ändern wollen, war dies somit möglich. Die Frau hatte kein Recht darauf, sich anders zu entscheiden. Der zweite Grund war im privaten Sinne: Yne und Avrial waren sich einfach sicher. Sehr sicher. Allerdings waren viele im Dorf anderer Meinung. Es hatte sich herum gesprochen, dass die liebevolle Fürstin diesen Arcaner heiraten wird. Einige meinten, der Magier hätte sie per Zauber in seinen Bann gezogen. Andere glaubten, Yne sei ihm tatsächlich verfallen und blind vor Liebe: in ihren Augen wollte der Fremdling einfach nur an die Macht kommen. Es gab aber natürlich auch Leute, die sich für die Fürstin freuten und die Hochzeit kaum abwarten konnten. Sie sollte im Übrigen am Dorfplatz stattfinden, wo jeder frei zusehen konnte. Dies barg natürlich auch Gefahren, weshalb die Wachen und Soldaten die nächsten Tage darauf vorbereitet wurden. Auch wenn es nicht zum Brauch gehörte, dass sich das Hochzeitspaar gegenseitig beschenkte, hatte Yne für Avrial eine Kleinigkeit in Auftrag gegeben. Als er davon erfuhr, machte er sich Gedanken darüber, was er ihr schenken könnte. Zwar waren die drei Bediensteten nicht gefragt worden, doch schlugen sie dem Magier ein paar Geschenke vor – als Frauen wussten sie schließlich ungefähr, was Madame Yne gefallen könnte. Rina kam auf die Idee, ein neues Kleid, in schöner Form und Farbe zu schenken. Christy meinte, die Fürstin würde sich bestimmt über Parfüm freuen. Wiederum Juls dachte da an Schmuck, wie Ohrringe, Ketten oder ein hübsches Armband. Avrial konnte bei keiner Idee sagen „Das ist es“, doch hatte er wenigstens Richtungen, in die er gehen konnte. Auf dem Marktplatz ein wenig umgesehen, sprang ihm nichts besonderes ins Auge. Die angebotenen Kleider, Blumen, Schmuckstücke und Düfte waren nicht wirklich außergewöhnlich, doch genau danach war Avrial auf der Suche. Ikana war eine der modernsten Ortschaften seiner Zeit – irgendetwas musste es doch geben. Dann, bei einem kleinen, unbedeutendem Stand am Rande des Marktplatzes, stach es hervor: ein aufgehängtes Lederband, an dem ein türkisfarbener Stein hing. Zwischen all den selbst hergestellten Ketten und Schmuckstücken, blitzte er hell hervor. Von diesem Stein ging eine seltsame Anziehungskraft aus, die Avrial nicht beschreiben konnte. Er griff nach dem Lederband und strich darüber, bis er den Stein zwischen seinen Fingern spürte. „Sie haben ein gutes Auge, mein Herr.“ Avrial sah zum dicklichen Händler, der gerade eine Kiste unter dem Tresen geschlichtet hatte. Dieser putzte sich die Hände ab, stemmte sie in die Hüften und blickte zur aufgehängten Kette. „Von allen Schmuckstücken, ist dieser Stein einer der seltsamsten, der mir je untergekommen ist.“ Dies konnte ein Händler leicht sagen, immerhin versuchte er etwas zu verkaufen. „Wieso steht ihr Markt abseits von den anderen?“, so Avrial. „Ich reise viel und bin nicht oft in Ikana. Wisst Ihr, wieviel so ein ordentlicher Platz kostet?“, dabei musste er prusten, „Um mir einen Stand in Marktmitte mieten zu können, müsste ich jeden Tag hier sein!“ Das leuchtete dem Magier ein. Er begutachtete wieder den Stein – irgendwie glaubte er nicht, dass der Händler lügt; der Stein war selbst in seinen Augen etwas besonderes. „Sie sagten, der Anhänger käme Ihnen seltsam vor... dürfte ich erfahren, wieso?“ „Ah, das ist eine lange Geschichte. Mein Neffe fand den Stein in einem ausgetrocknetem Brunnen. Ich hatte mich bei anderen Händlern und mit Büchern schlau gemacht. Der Stein sieht exakt wie in der Beschreibung einer alten Legende aus. Wenn man ihr glauben schenkt, hat vor sehr langer Zeit ein Ureinwohner Desterals einen Stein angefertigt, angeblich als Beweis seiner Liebe zu einer Frau. Er war eine Art Krieger und starb dementsprechend jung. Doch der Stein wurde innerhalb der Familie weiter gereicht, bis er einst mit dem Tod eines Nachfahren verschwand. Wohl waren es Grabräuber, die ihn mitnahmen und verkauften. Irgendwann muss ihn jemand verloren oder weggeschmissen haben, sonst hätte ihn mein Neffe nicht gefunden.“ Immer noch starrte Avrial auf den Stein. „Und- und den verkaufen Sie?“ Na ja, bisher Erfolglos. So richtig will niemand meiner Fundgeschichte glauben.“ „Verständlich...“, Avrial nahm ihn noch einmal in die Hand, „Was soll an ihm so besonders sein, dass er über Jahrhunderte hinweg nicht zerstört wurde?“ „Tja, also, wenn es wahr ist, kann der Stein Flüche und dunkle Magie absorbieren. Er sollte die Liebste des Kriegers wohl beschützen...“ „Dunkle Magie?“, er konnte es nicht glauben – zum Schutz vor Furah war der Anhänger wie für Yne geschaffen! „Ja, wenn es war ist, wie gesagt. Bis jetzt tat sich keine Gelegenheit auf, es zu testen; und unbeabsichtigt zerbrechen will ich ihn auch nicht.“ In Avrials Augen gab es nur einen Weg, das heraus zu finden. Zwar war er kein dunkler Magier, doch Zerstörungsmagie sollte eine ähnliche Wirkung haben. Die Hand gegen den Anhänger gehoben, ließ er Flammen erscheinen. Während der Händler panisch zurück gesprungen war, verbrannte weder der Stein, noch das Lederband: glühend in türkisem Licht, sog er die Flammen in sich, bis nichts mehr übrig blieb. „Tatsächlich...“ „W-was sollte das denn eben!?“, der Händler musste sich erst sammeln, „A-aber wenn das wahr ist... stimmt dann vielleicht die ganze Legende!?“, nun griff er sich auf den Kopf, „Einen Moment... Ihr seid dieser Magier, Avrial, den die Fürstin heiraten wird!“ Über seine Feststellung musste der Magier schmunzeln. Er deutete auf den Anhänger: „Könnten Sie ihn mir schön verpacken? Ich würde ihn gerne verschenken.“ Der Tag der Hochzeit rückte immer näher. Während die Soldaten und Wächter nun sehr gut auf die Feier vorbereitet waren, bemühten sich auch die Bediensteten des Schlosses, alles für den großen Tag festlich herzurichten. Auch Christy, Juls und Rina wollten dabei helfen und durften das öffentliche Buffet planen. Währenddessen hielt sich der Berater, Sir Steiner, immer öfter außerhalb des Schlosses auf. Anfänglich versuchte er Abends seinen Zorn in der Dorfkneipe, mit Bier zu ertränken, doch nach vielen Tagen und alkoholischen Getränken, wurde seine Zunge lockerer. Er fand zuerst einen, mit dem er einer Meinung war, was die Vermählung anging, dann zwei weitere und noch mehr, die sich unter anderem auch im Dorf umhörten. Längst war es keine kleine Gruppe mehr, die genauso wie der Berater dachte. Viele gaben es einfach nicht zu und tuschelten untereinander, was die fürstliche Hochzeit anging. Doch sie war beschlossene Sache; die, die gegen die Vermählung waren, mussten sich einfach damit abfinden. So kam der große Tag. Auch Sir Steiner musste einsehen, dass seine Machtzeit vorüber war. Er gab sich nach außen mit sich selbst im Reinen hin... doch in Wirklichkeit hatte er sich immer noch nicht mit der Situation abfinden können. Bevor die Braut, gemäß den Traditionen, für die Feierlichkeit eingekleidet wurde, suchte sie noch einmal Avrial auf: ihr Geschenk an ihn war endlich fertig. Der Hutmachter war persönlich noch ins Schloss hinauf gelaufen, um, schnaufend, Yne das Geschenk zu geben. Bei so einer Aktion möchte man denken, sie habe den armen Mann mit einer Strafe gedroht, sollte er nicht rechtzeitig fertig werden. Eigentlich aber, war er einer der wenigen Ikanas, der sich aus tiefen Herzen für die Fürstin freute. So hatte er ihr versprochen, sich zu beeilen und andere Aufträge, die nicht dringend waren, nach hinten zu stellen. Die Belohnung war, wie man sich denken kann, dafür reichlich. So klopfte Yne an jenem Morgen an die Tür des einstigen Leibwächters. Sie würden gemeinsam mit all den Wachen und Bediensteten in das Dorf gehen, doch wollte sie Avrial vorher alleine sehen. Als sie eintrat, stand er gerade vor dem Spiegel. Im Gegensatz zur Braut, die stets weiß trug, durfte sich der Mann die Farbe seines Anzuges aussuchen; und genau in diesem Punkt war sich Avrial eben nicht sicher. „Yne?“, er drehte sich überrascht um, als er sie im Spiegel hinter sich sah. „Was machst du denn hier...?“ Sie musste kichern. „Eigentlich sollte ich dich fragen, was du hier tust. Wir haben Bedienstete, die dir doch eigentlich bei deiner Auswahl helfen könnten?“, sie schmunzelte kurz auf die verpackte Kiste herab. „Vielleicht kann ich dir bei der Entscheidung helfen. Es... ist natürlich kein Muss, aber ich habe eine Kleinigkeit für dich, für den großen Anlass.“ „Jetzt?“, Avrial sah nach links und rechts, „Sollten wir... mit den Geschenken denn nicht bis nach der Hochzeit warten...?“ „Nun, das könnten wir, aber dann hätte meines wohl keinen Sinn mehr.“, sie lachte, „Es sei denn, du gewöhnst dich doch noch daran, wie ein Ikana umher zu laufen.“ Nachdem Yne schon fast den Inhalt der Schachtel verraten hatte, nahm sie den Deckel ab. „Weißt du noch, wie ich am Maskenball erwähnte, dir würde dunkelrot viel besser als schwarz stehen...?“, sie hielt ihm einen dunkelroten Zylinder entgegen, „Damit möchte ich danke sagen.“ Wortlos, mit einem kurzen Zögern, nahm Avrial den Hut entgegen. In diesem Augenblick wusste er nicht, was er sagen oder von dem Geschenk halten sollte... aber beim betrachten des dunkelroten Zylinders, welcher fein ausgearbeitet war, spürte er die Wärme und Liebe, die ihm Yne damit überreichen wollte. Er musste lächeln, ehe er den Kopf schüttelte. „Wofür musst du danke sagen? So ein Unsinn.“ Bei seiner Aussage holte Yne Luft – sie wollte gerade zum Gegenangriff übergehen, da zog Avrial eine kleine Ringschachtel aus seiner Tasche. Er öffnete diese und zeigte seiner Liebsten den türkisfarbenen Stein an einer Kette. „Wenn jemand zu danken hat, dann ich.“, sprach er ruhig, „Du gabst mir meinen Sinn im Leben.“ „Avrial...“, Yne versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. So schüttelte sie den Kopf und versuchte nicht darauf einzugehen: „Du Dummerchern, das ist wirklich nicht nötig-“, sie nahm die Kette aus der Schachtel, „Sie ist wunderschön.“ „Sie ist mehr als das.“, war die Antwort, „Der Stein wird dich vor Magie beschützen.“ Fragend blickte Yne daraufhin zu ihm. „Es ist wahr – ich habe es selbst ausprobiert.“ „Ein magischer Stein, also...“, sie legte die Kette an und sah an den Anhänger herab. Ehe Avrial ihr sagen konnte, dass die Kette zu ihr passt, fiel sie ihm um den Hals. „Von wegen „danke“, das sind TAUSEND Danke, die du verdient hast!!“ „Oh-“, er erwiderte die stürmische Umarmung, „Dann gefällt er dir also?“ „Gefällt? Ich liebe ihn! Ich steh auf mysteriöse Gegenstände!“ Nun, da hatte Avrial dann wohl ins Schwarze getroffen. Als Yne von ihm abließ, um noch einmal den Stein zu betrachten, setzte sich ihr einstiger Leibwächter den Zylinder auf. „Und...?“ Sie blickte dabei zu ihm. „...Gar nicht schlecht.“, und drehte den Hut, „Aber du solltest ihn richtig herum aufsetzen. So ein Zylinder hat zwei Seiten, die zur Seite gedreht gehören.“ „Na...“, der Magier nahm ihre Hände, ehe er seine baldige Frau küsste. „Dann weiß ich wohl, welche Farbe ich zur Hochzeit tragen werde.“ Kapitel 17: Absturz ------------------- Der große Moment war endlich gekommen. Die Einwohner, welche sich ehrlich für ihre Fürstin freuten – hauptsächlich junge Leute und Frauen – standen vorne in den ersten Reihen und jubelten schon jetzt, auch wenn noch niemand zu sehen war. Vielleicht waren viele der männlichen Einheimischen auch eingeschnappt, weil ihre Chance, jemals in Betracht für Madame Yne zu kommen, nun endgültig vorbei war. Auf dem langen, abgesperrten Bereich des Platzes, war am Ende, vor dem Rathaus, ein Bogen mit weißen Rosen aufgebaut. Er befand sich auf einer kleinen Bühne, welche mit zwei Stufen zu betreten war. Selbstverständlich stand knapp hinter dem Bogen bereits der höchste Pfarrer von Ikana, der Trauung vollziehen wird. Ähnlich wie bei einer kirchlichen Hochzeit, wartete Avrial bereits am Ende, vor den zwei Stufen, auf die Fürstin. Er war in einem dunkelroten, längeren Anzug gekleidet und trug den Zylinder, welcher Ynes Hochzeitgeschenk an ihn war. Die in der ersten Reihe aufgestellten Soldaten, zückten ihre Schwerter, um diese hoch mit den Waffen der Kollegen gegenüber zu kreuzen. Es war brauch, dass der Fürst oder die Fürstin durch diesen Bogen schritt. Er symbolisierte Schutz und Geborgenheit, aber auch die Treue und Ergebenheit der Soldaten. Schließlich kam Madame Yne den Weg entlang. Ganz in weiß, die Haare hochgesteckt, ging sie unter den Bogen hindurch, den ihre Untertanen bildeten. Avrial hatte noch nie einen Engel gesehen, geschweige denn sich näher mit ihnen Beschäftigt; doch war er sich in diesem Moment sicher, dass Yne genau wie einer aussah. Ihr die Hand gereicht, ging das Paar die wenigen Stufen hinauf, ohne den Blickkontakt zu verlieren. Die Zeremonie dauerte für normal nicht lang; da Madame Yne aber zum Adelsgeschlecht gehörte, gab es ein paar mehr Zeilen, die der Pfarrer vorlesen musste. Plötzlich hörte man einen ganzen Tisch samt Geschirr umkippen. Unterbrochen sahen alle in die entsprechende Richtung: zwei Wachen zerrten Sir William Steiner auf die Beine, der torkelnd, mit zerzausten Haaren, seinen Finger gegen sie erhob: „Ihr zwei, lasst mich los, ich steh über euch!“ „Sir, Ihr seid betrunken... wir müssen Euch leider Bitten, das Fest zu verlassen.“ „Ich werde euch gleich Bitten!“, lallte er Berater, „Und zwar in mein Büro, damit ich euch feuern kann!“ Während er nun anfing zu lachen, seufzten die Wachen, ehe sie ihn von der Zeremonie wegzerrten. Von dem Moment etwas irritiert, blinzelte das Hochzeitspaar zum Geschehen. Als sich der Pfarrer dann räusperte, ging die Trauung schließlich weiter. Keine zehn Minuten später, gaben sich Madame Yne, Fürstin von Ikana, und Avrial, der Arcaner, das Ja-Wort; mit diesem einfachen Wort wurde der einstige Außenseiter auf den selben Rang Ynes erhoben. Die Feier dauerte lange. Auch, wenn viele Einwohner gegen die Hochzeit waren, feierten sie mit Freuden mit. Woran das wohl lag? An dem fließenden Wein und Bier, oder an dem kostenlosen Speisen...? Nur Sir Steiner feierte nicht mit. Es sollte nicht lange dauern, bis weitere Trunkenbolde vom Hauptplatz gezerrt wurden; doch die rechte Hand der Fürstin so zu sehen, war beschämend. Yne wusste schon eine Weile von dem Absturz, doch dies war der Höhepunkt. In Ikana verlor man schnell an Ansehen und Sir Steiner hatte den Bogen eindeutig überspannt. So ließ sie am Beginn der Festlichkeiten Avrial allein, um den unter Arrest stehenden Berater aufzusuchen. Man merkte ihm seinen Einwand gegen die Vermählung nun wieder deutlich an; er hatte die Arme verschränkt und sich stets von Yne weggedreht. Nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen, ihn zu Beruhigen, schüttelte sie bestürzt den Kopf. „Sir Steiner... Sie waren mir gern ein Vormund, seitdem mein Vater von uns gegangen war. Ich habe Sie anfänglich gern gebraucht und sie stets respektiert, aber... ich fürchte, hier müssen sich unsere Wege trennen.“ Der Berater, nun wieder klarer im Kopf, sah sie wenig überrascht an. „Ich verstehe... Ihr braucht mich ja nun nicht mehr.“ „Nein-“, sie seufzte, „Nein, Sie verstehen nicht. Es liegt nicht an Avrial. Die Wahrheit ist... ich brauche Sie bereits seit einer ganzen Weile nicht mehr. Aber der Vorfall heute hat mir nun deutlich gezeigt, dass es nicht mehr geht.“, Yne stand von ihrem Platz auf, um zur Tür zu gehen. „Ich will, dass sie das Schloss verlassen... es tut mir leid.“ Abgesehen von diesem Vorfall, wurde im ganzen Dorf kräftig gefeiert. Den ganzen Tag und noch sehr tief in die Nacht hinein, sollte Musik und Gelächter zu hören sein. Auch die Soldaten ließen im Laufe des Abends ihre Hemmungen fallen und genossen Speis und Trank mit dem Volk. Yne und Avrial, stets zusammen, versuchten sich in Grenzen zu halten. Mit ein paar Bewunderern Ynes, lauschten sie Avrials Geschichten, vom Festland und irrwitzigen Situationen, die andere erlebt hatten. Später tanzten sie gemeinsam, sowohl zu festlichen Liedern, als auch zur schnellen Musik des Volkes. An diesem Abend schien es, als gäbe es keine Stufen in Ikana. Sowohl Männer als auch Frauen sprachen, lachten, tanzten und führten sich so manches mal sogar schweinisch auf. Um all den immer heftigeren Trubel zu entkommen – da immer weniger Wachen auf das Geschehen achteten – schnappte Yne ihren frisch gebackenen Mann und verschwand mit ihm in Richtung Strand. Die Sterne schienen ihnen in dieser Nacht besonders hell zu leuchten. Sie und der Mond brachten das weite Meer zu glitzern, an dem die zwei Entlang gingen. Über einen Umweg gelangten sie zurück ins Schloss. Niemand würde ihr Verschwinden bemerken; und selbst wenn, war es ab dieser Nacht offiziell egal. Der nächste Morgen brauchte lange. Zum einen hatte fast das gesamte Dorf einen Kater, zum anderen schliefen die Leute wegen der Feier eine halbe Ewigkeit. Während also viele der Wachen kaum mit lautem Krach zu wecken waren, fehlten einige, da sie die Nacht irgendwo auf der Gosse verbrachten, oder sich – manche mehr, die anderen weniger – voller Reue in dem Bett einer Frau fanden. Zwar ging das lähmende Geschehen fast unbemerkt an dem verliebten Fürstenpaar vorbei, nicht aber, dass Yne frühzeitig das Bett verließ, um aufs Klo zu rennen. Es ging schon seit einigen Tagen so. Die Fürstin konnte ihre Übelkeit bis jetzt gut vor Avrial verstecken; doch da sie sich seit der gestrigen Nacht ein Bett teilten, war mehr als offensichtlich, dass mit Yne etwas nicht stimmte. Schließlich sah sie nach dem Geständnis vor Avrial ein, dass es besser wäre, den Arzt aufzusuchen. Es könnte sich um eine Krankheit halten; wenn nicht sogar der Beginn einer Grippe, die zur damaligen Zeit unbedingt früh behandelt gehörte. Es war für den Magier selbstverständlich, Yne zu begleiten. Vor dem Arzt angekommen, trennten sich aber dann doch ihre Wege. Avrial wollte sich ein wenig am Markt umsehen; außerdem fand er es äußert seltsam, dass es im Dorf so still war. Gesagt, getan. Der bereits etwas ältere Arzt hatte selbst einen leichten Kater von gestern Nacht, war aber wach genug, um die Fürstin zu untersuchen. Nach dem damaligen Stand der Dinge, verlief eine Untersuchung nach einem Standard ab (Blutdruck messen, abhören, Reflexe testen...) und dem Ausfragen des Patienten, welche Symptome denn vorlegen. Als Yne von ihrer morgendlichen Übelkeit erzählte und – was sie Avrial verschwiegen hatte – den plötzlichen Appetit auf Süßigkeiten, weiteten sich die Augen des älteren Mannes. Als Yne dann auch noch von Durst-Attacken sprach, unterbrach sie der Arzt. „Ja ja ja, in Ordnung, diese Informationen reichen mir.“ „Und?“, harkte die Fürstin nach, „Was könnte mir fehlen? Doch nicht etwa Grippe?“ Beruhigend schüttelte der Mann seinen Kopf, „Nein, Madame, um Grippe handelt es sich eindeutig nicht.“, er ergänzte seinen Satz leicht unsicher: „A-aber ich muss mir die Symptome noch genauer ansehen und durch den Kopf gehen lassen... ihr wisst schon, in Büchern nachschlagen und so...“ „Und wann erfahre ich, was mir fehlt?“ „Ähm, heute Abend, spätestens...“, er schob die Fürstin doch tatsächlich aus der Tür, „Ich muss Euch nun bitten, die Praxis zu verlassen... e-es gibt noch einiges zu tun und meine Assistentin schläft immer noch am Arbeitstisch – ähm, ich schicke Euch jemanden ins Schloss hoch, sobald klar ist, was Euch fehlt.“ „Uhm... ich danke Ihnen.“, sie zückte gerade ihre Geldbörse, da fiel die Tür vor ihrer Nase zu. So rief sie mit lauter Stimme: „Augenblick der Herr, wollen Sie denn gar keine Bezahlung?“ Nachdem der Arzt bezahlt wurde, machte sich Yne auf den Rückweg ins Schloss. Avrial war irgendwo am Marktplatz unterwegs und würde nachkommen, so war es zumindest abgesprochen. Ihr kam der ältere Arzt ein wenig seltsam vor. So lange sie sich auch zurück erinnerte, hatte sie noch nie so ein Verhalten miterlebt. Doch in der Vergangenheit hatte der vertraute Mann auch nicht am Vortrag heftig gefeiert. Vielleicht war er nur etwas durcheinander und meinte das mit „in Büchern nachschlagen“ – eine Mütze voll Schlaf. In Wirklichkeit aber, schlich der Mann gerade zur Tür raus, um die Ecke, als die Fürstin außer Sichtweite war. Vorbei an auf der Straße liegende Taugenichtse, lief er eine enge Seitenstraße entlang, bis er eine Taverne erreichte. Schon seit dem Vortag saßen viele verstimmte Männer bei einander. Einige noch immer betrunken, andere wieder. Auch der einstige, treue Berater saß auf einem der Hocker. Zwar war er nüchtern, sah aber schrecklich ungepflegt aus. Aus evolutionärer Ansicht ein interessantes Phänomen: ein reicher, stets um Ansehen bemühter Mann, schaffte es innerhalb von zwei Wochen rapide abzustürzen, bis er in den letzten Stunden noch einmal zulegte und endgültig Obdachlos aussah. Sir Steiner hielt sich bereits seitdem er gestern entlassen wurde in der Kneipe auf. Zusammen mit den Kerlen, die ebenso die fürstliche Hochzeit mieden, sprachen sie über ihr Schicksal und dessen Ynes. Viele der Männer waren, wie bereits gesagt, einfach erbost darüber, dass ihre Chance bei der Fürstin vorbei war. Es gab aber auch zwei Frauen – plus der Tavernen-Gehilfin – die der Ansicht waren, dass der Arcaner eindeutig die falsche Wahl für die Fürstin war. Sie hielten an Traditionen fest und fanden es überhaupt nicht richtig, dass ein Mann von außerhalb, noch dazu kein Mensch, den Fürstenthron bestieg. „Wisst ihr, was toll wäre...?“, gab Sir Steiner von sich, ehe er an seinem Krug nippte, „Wenn der Kerl einfach verschwinden würde.“ „Ja.“, so einer vom Tisch, „Er ist eh' Zauberer, da kann er uns doch den gefallen tun!“ Auf seine Aussage hin, schallte Gelächter durch die Kneipe. Während wieder das Gerede losging, kam der ältere Arzt bei der Tür herein. Er wirkte aufgebracht, so bot ihm der Kneipenbesitzer erstmals einen Barhocker an. „Na, Gustav, was ist denn los? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen!“ „Oder untersucht!“, wieder auf den Satz eines Mannes, lachte die Meute. „So etwas ähnliches... ist mir auch passiert.“, schnell sich die Stirn mit einem Lumpen abgewischt, versuchte er für alle laut und deutlich zu reden: „Madame Yne war zur Untersuchung bei mir... die verehrte Fürstin weiß es noch nicht, aber sie ist schwanger.“ Da war entsetztes Gerede, durcheinander in der Kneipe zu hören. „Schwanger?“, einer der Männer sah von seinem Bierkrug auf, „Was heißt'n das?“ „Dass sie ein Kind kriegt, du Idiot.“ „Ach so.“, er sprang erschrocken auf, „Moment, was!?“ Nun wirklich die gesamte Kneipe im Gerede, warf Sir Steiner eine Flasche gegen die Steinwand, die im lauten Krach zersprang. Er stand auf dem langen Tisch und hatte mit der Aktion die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Jetzt reicht es! Merkt ihr denn nicht, was hier vor sich geht!?“, er sah in die Gesichter seiner Mitsäufer, „Dieser... Dämon sichert sich sein Erbe! Das ist doch offensichtlich!“ Nun ging er auf dem Tisch auf und ab, ganz egal, ob er dabei Krüge umstieß, „Ein Mann von außen, der Leibwächter wird? Kein Problem... eine Verlobung, die die Regeln unseres Volkes umgeht? Auch keine Tragödie.“, erbost blieb er stehen, „Doch Beischlaf mit der höchsten Stimme Ikanas, unserer Fürstin, vor der Vermählung!? Wie tief ist das Land gesunken? Wie tief ist Ikana gesunken!?“, Sir Steiner schnaufte, „Dieser Mann ist eine Bedrohung! Er setzt uns einen Halbgeborenen, einen Arcaner auf unseren zukünftigen Thron! Soll das die Zukunft Ikanas sein!?“ Nun breitete sich allmählich die Wut auch auf den Gesichtern der Anwesenden aus. „Wisst ihr, wie ich das sehe?“, rief der einstige Berater, „Der Arcaner muss weg! Aus Ikana verschwinden!“ „Ja!“, nun stand ein weiterer Mann auf, „Alles gut und schön! Aber wie wollen wir das anstellen?“ „Wenn ihr mich fragt, gibt es nur einen Weg, Madame Yne und Ikana nachhaltig zu beschützen... ich habe einen Plan. Einen, bei dem ich nach Vollendung den Platz auf dem Fürstenthron einnehme und für eure Rechte kämpfe... sofern ihr das auch wollt.“ Kurze Zeit war nichts in der Taverne zu hören. Die Kellnerin stand immer noch mit Tablett da, sah in die angespannte Menge. Nach diesem kurzen Moment, hoben die Leute einstimmig ihre Krüge, applaudierten und jubelten dem zufriedenen Ex-Berater zu. Kapitel 18: Trennung -------------------- Man hätte es ahnen müssen. Das verhalten des Beraters, sein stets bemühter Versuch, Madame Yne im Griff zu halten, um selbst aus dem Hintergrund die Fäden Ikanas zu ziehen. Nicht einmal jetzt, von seiner Macht enthoben und in ein tiefes Loch gefallen, gab er seine Rolle auf. Er dachte nicht im Traum daran. Der Großteil Ikanas war auf seiner Seite und auch wenn sich die Nachricht des Nachkommens der Fürstin nur schleppend verbreitete – die Einwohner schliefen bis zum frühen Nachmittag – hatte er genug Stimmen zusammen, um den gemeinsam entwickelten, teuflischen Plan durch zu setzen. Alle Beteiligten schworen einstimmig, die Tat zu vertuschen, auf dass nie die Wahrheit ans Licht kommen würde. Es musste schnell und lautlos geschehen. Der Arzt informierte die Meute, dass Madame Yne alleine bei ihm war. Wieder ein Geschäftsmann berichtete, Avrial auf dem Marktplatz gesehen zu haben. Eine Wache des Schlosses, welche gern in der Kneipe abhing, konnte bestätigen, dass sämtliche Soldaten entweder nicht im Dienst waren, oder von der gestrigen Feier erledigt. Es schien der perfekte Moment zu sein – jetzt, oder nie. Stets die Augen offen, bestieg eine fünfköpfige Meute, die sich zur Durchführung des Plans bereiterklärte, den Weg zum Schloss. Die Männer wollten unter keinen Umständen gesehen werden und folgten den genauen Anweisungen des einstigen Beraters, der jeden Winkel des Anwesens genau kannte. Durch ein offenes Fenster, welches durch die fehlende Glasscheibe mit einem Brett zugenagelt war, stiegen die Männer ein. Wie die Wache aus der Kneipe prophezeite, waren kaum andere Wächter auf dem langen Gang anzutreffen. Nur ein Mann stand am Haupteingang, der, müde wie er war, die an seinem Rücken vorbei schleichende Meute nicht bemerkte. Madame Yne kämmte sich ihr goldenes Haar, während sie auf dem Weg von ihrem Zimmer in eines der Wohnzimmer im zweiten Stock war. Es war schön für sie, einmal nicht an die Arbeit denken zu müssen; so etwas wie Flitterwochen gab es nicht, doch wenigstens den Tag nach der Hochzeit konnte man entspannt verbringen. Allein die Sorge, sich eine Krankheit eingefangen zu haben, beunruhigte sie. Yne wollte ihren Mann schließlich nicht anstecken; noch dazu so kurz nach der Vermählung. Mitten auf dem Flur stand sie, als sie aufschreckte: Sir Steiner versperrte den Weg und lächelte ihr zu. Eigentlich hatte die Fürstin sich nicht wegen ihm selbst, sondern vor seinem entsetzlichen Aussehen erschreckt. „Sir Steiner?“, sie senkte den Kamm. Bevor Yne fragen konnte, was er denn hier mache, kam auch schon die Antwort: „Ich muss noch meine persönlichen Gegenstände aus dem Schloss holen. Dafür war zu wenig Zeit.“, was, ganz ehrlich, keine Lüge war. „Aha...“, sie fasste sich verlegen an den Nacken, als er näher kam, „Und was brauchen Sie dann von mir?“ Der einstige Berater lachte. „Haha, Ihr fällt gleich mit der Tür ins Haus...“, er deutete nach oben, „Im Turmraum sind meine Besitztümer verwahrt... ich... ich war so viele Jahre hier tätig, da machte mir Euer Vater das Angebot, den Turm zu nutzen.“ Yne blinzelte, ohne auf die klägliche Stimme von Sir Steiner einzugehen. „Oh... und Sie brauchen den Schlüssel, nehme ich an?“ „Ja...“, er seufzte, hob dabei die Schultern, „Wisst Ihr, seitdem ich nicht mehr Euer treuer Berater bin, bin ich nicht befugt, einen Schlüssel in die Hand zu nehmen, geschweige denn versperrte Räume des Schlosses alleine zu betreten... aber ich kann keine brauchbare Wache vorfinden – nach dieser Nacht aber auch nicht weiter verwunderlich.“ Yne nickte lächelnd, ehe sie voranschritt. „Dann kommen Sie, ich werde Ihnen den Turmraum aufsperren.“ „Hervorragend... Ihr seid zu freundlich.“ Eine Falle. Es war eine Falle, hätte sich die gütige Fürstin denken müssen. Doch Sir Steiner spielte gut seine Gefühle weg, nicht zuletzt war er nun einmal ein sehr vertrautes Gesicht des Schlosses. So kam es, wie es kommen musste. Yne drückte gerade die alte Türklinke hinab und öffnete die knarrende Holztür, da stieß sie der einstige Berater in den Turmraum. Als sie erschrocken den Sturz mit den Händen abfing, schnappte sie gleichzeitig nach Luft: was war eben geschehen? Sie drehte sich beim aufstehen, um es heraus zu finden. Sir Steiner versperrte die Tür, während sich vier Männer zu ihm stellten. Da er nun seiner Fürstin einen kalten Blick zuwarf, sah sie verwirrt zu den fremden Männern auf. „Was soll das? Was geht her vor...? Sir Steiner, wer-“ „Wir haben lange genug zugesehen.“, war die Antwort, „Und wir sind nicht die einzigen, die so denken.“ „Was?“, Yne schluckte – sie spürte ihr Herz bis in den Hals schlagen, versuchte aber dennoch ruhig zu bleiben, „Es geht immer noch um Avrial... habe ich recht?“ „Um wen denn auch sonst.“, der Berater schnaufte, „Wäre er nicht gewesen, würde Ikana nicht ins Chaos stürzen.“ „Ins Chaos? Ins Chaos!?“, Yne ballte die Fäuste, „Wenn Sie mit „ins Chaos stürzen“ meinen, dass die strengen Regeln endlich fallen, dann ja, wir stürzen Ikana gemeinsam ins Chaos.“ Nun schrie der Berater regelrecht: „Es geht nicht nur um das Gesetz! Begreift es endlich, Ihr habt keinen Menschen geheiratet! Und wir werden auf keinen Fall tatenlos dabei zusehen, wie dieser Arcaner Euch langsam zu Grunde richtet!“ „Was soll das Bedeuten? Wer richtet hier wem zu Grunde!?“ „Seid nicht so engstirnig!“, der Berater machte ein wenig Platz, damit die vier Männer in den Turmraum eintreten konnten; Yne ging darauf hin einige Schritte zurück. „Wir werden Euch und Ikana retten, Madame Yne.“ „Was-“, nun presste sie sich bereits gegen die hinterste Wand. „Ihr- ihr braucht mich nicht retten, vor nichts und niemanden!“ „Nicht vor jemanden. Vor Euch selbst und dem Kind.“ „Dem-?“, die Fürstin verstand nicht. Im ersten Moment dachte sie auch gar nicht richtig nach; sie wollte nicht glauben, was aus ihrem einstigen, treuen Berater wurde, weshalb sie inständig hoffte, ihr würde ein kleiner Attentäter, ein Räuber nach dem Leben trachten und ihr damaliger Vormund wollte sie nur vor diesem bewahren. Um weitere Missverständnisse auszumerzen, deutete Sir Steiner, welcher immer noch bei der Tür stand, auf die Fürstin selbst. „Das Kind, das Halbblut in Euch. Es darf nie das Licht der Welt erblicken! Ihr wisst doch nicht einmal, ob Ihr in den nächsten Monaten aufgrund dessen sterben werdet!“ Nun begann Yne zu verstehen. Warum der Arzt so Eigenartig reagierte, anstatt es ihr zu sagen. Er steckte genauso wie viele Leute aus dem Dorf mit Sir Steiner unter einer Decke. Doch diesen finsteren Gedanken verfolgte die Fürstin nur kurz. Sie sah mit geweiteten Augen an sich hinab und berührte dabei ihren Bauch. Kaum hörbar entflohen ihr die Worte „Ich bin schwanger...“ Da packten sie die Männer, drückten sie an den Armen gegen die Wand. Yne versuchte sich zu wehren, hatte gegen vier dieser Kerle aber keine Chance. Verzweifelt richtete sie ihren Blick gerade aus, auf Sir Steiner, der lächelnd einen Dolch aus der Tasche zog. „Nein-“, nun war es so weit; Yne geriet in Panik. „Nein- nein! Sir Steiner, bitte-!“ „... Es ist die einzige Möglichkeit, Euch nachhaltig zu Beschützen...“, er schmunzelte, „Das versteht Ihr doch...?“ „Neein!“, sie schrie, „Nein, kommen Sie nicht näher! Avrial...!“ Im Moment der wahnsinnigen Tat, war eine ruckartige Windböe in Ikana zu spüren. Ein Verkäufer sah fragend gen Himmel: war Regen im Anmarsch? Vielleicht war diese Böe reiner Zufall. Doch als sie Avrials Gesicht streifte, während er die lange Bergstraße zum Schloss hinauf trat, könnte er schwören, Ynes Stimme vernommen zu haben. Auch, wenn er nicht genau wusste wieso, fing er an schneller zu gehen, bis er dabei war zu laufen. Die kürzlich gekauften Rosen begannen bei seinem schnellen Tempo rote Blüten zu verlieren, doch war ihm das egal. Ihm war alles egal, er wollte nur mehr Yne sehen. Wissen, dass es ihr gut ging und sie sich herzerweichend lächelnd bei seiner Ankunft zu ihm umdrehte. Doch als er im Saal ankam und vor den großen Stufen stand, war niemand zu sehen. Keine Wachen, keine Bediensteten, keine Liebste; Avrial ließ den Rosenstrauß fallen und hetzte die Stufen hinauf, Richtung Schlafgemach. Gerade hatte er den Flur erreicht, da war ein verzweifelter Ruf zu hören. „Yne!“, nun begann er zu rufen. „Yne!“ Obwohl das Schloss so groß war, konnte er genau hören, woher der Laut stammte; war es sein Instinkt oder der Drang, Yne zu finden – er eilte so schnell er konnte bis ans Ende des Flügels, zu den Stufen des Turmraumes. „Yne! Hörst du mich! Yne, ich komme!“ Fast wäre Avrial gestolpert, fing sich aber, gegen die Wand geworfen und lief weiter, immer weiter. Er stieß die Tür vor sich auf – ehe der darauf folgende Anblick eine Ewigkeit dauerte. In Avrials Augen schien die Welt für einen Moment den Atem angehalten zu haben... Auf dem kalten Steinboden lag Yne, kraftlos, mit einer Hand den Bauch haltend. Sie hatte versucht zur Tür zu gelangen, war dafür aber bereits zu schwach gewesen. „Yne-!“, hastig zu ihr gelaufen, nahm Avrial sie vorsichtig in den Arm. „Yne- nein... nein, öffne die Augen- öffne die Augen, bitte!“ Auf seine Stimme reagierend, drehte Yne den Kopf, ehe sie müde ihren Liebsten erblickte. Die Situation kam so schnell, so unerwartet, dass der Arcaner ein wahres Gefühlschaos erlebte. Panik, Zweifel, Wut... Trauer. Eng seine Frau an sich gedrückt, griff er nach ihrer Hand, die stets auf dem Bauch lag. Ihr eigentlich weißes Kleid war regelrecht in Blut getränkt, was Avrial erst jetzt bemerkt hatte. Vorsichtig hob er die Hand seiner Liebsten und sah mit Schreck die tiefe Wunde unterhalb ihrer Brust. „Was ist geschehen...?“, fragte er leise, ihre Hand drückend, „Wer war das? Wer war das, Yne!?“ „D-“, sie zuckte vor Schmerz, „D-das- e-“ „Nein-“, er griff zu ihrer Stichverletzung, „Es ist ok, du musst nicht Reden- spare deine Kraft, Yne-“ Die Fürstin schien, als würde sie langsam wegdämmern. „Yne?“, ein wenig hob er sie, „Yne? Hörst du mich- Yne!“ „E-es...“, schnell hielt er seinen Kopf näher zu ihrem, um ihre Worte zu hören. „Es- tut mir- l-leid Av...“ Sacht schüttelte der Liebste darauf den Kopf. Während seiner Antwort fiel ganz unbemerkt die erste Träne. „Was muss dir denn Leid tun? Es ist gut... es muss dir nichts Leid tun...“ „Doch...“, meinte sie heißer, „Ich- ich- wollte doch-“, sie zuckte abermals, jedoch nur mehr schwach. „Dein- Grund... sein...“ „Yne-!“, Avrial spürte deutlich, wie ihre Kraft in allen Körperteilen verloren ging. Als sich ihr Kopf zur Seite drehte und sich langsam ihre blauen Augen schlossen, flüsterte sie mit letzter Kraft „Ich liebe dich.“ Avrial konnte es nicht fassen. Er begriff es nicht. War das eben wirklich geschehen? War das ein Alptraum? Ein schrecklicher, einziger Traum? Ewig dauerte der Moment an. Der Moment der Stille. Yne lag regungslos in seinen Armen, während er sie anstarrte. Avrial war zu geschockt, zu gelähmt, auch nur irgendetwas zu tun – und sei es nur zu blinzeln. Schnelle Schritte waren zu hören; erst diese rissen den Arcaner aus dem ewig währendem Alptraum, in dem er steckte. Er sah zur Tür und entdeckte Sir Steiner, zusammen mit anderen geschockten Bewohnern des Dorfes. Auch ein paar Wachen waren herbeigelaufen, als sie den verzweifelten Ruf Ynes vorhin wahrnahmen. Viele der starrenden Menge schlugen die Hände vors Gesicht, ehe der einstige Berater an die Türschwelle kam. „Nein... was haben Sie getan...?“, er holte Luft und deutete fassungslos auf die regungslose Fürstin in seinen Armen. „Sie ist tot! Er hat sie umgebracht!“ „N-nein!“, Avrial schnappte selbst nach Luft, sah nach seinen blutigen Händen. „Nein, das war ich nicht! Ich-“ „Sie haben sie umgebracht! Es war nur eine Frage der Zeit!“ Nun begannen auch die anderen Bewohner den Kopf zu schütteln. Die Wachen waren sichtlich Enttäuscht, ehe die Leute in einem wahren Durcheinander auf den Magier einredeten: „Das kann nicht sein!“, „Wieso haben Sie das getan?“, „Ihr Mörder!“, „Nicht Madame Yne...!“ Aviral verlor allmählich die Kontrolle; immer wieder rief er „Nein- nein, das war ich nicht! Das war ich nicht!“, doch niemand hörte zu. Yne lag Tod in seinen Armen, das teuerste, das einzige, was ihn an diese unfaire Welt band – und die Bewohner Ikanas waren zu engstirnig, so verhasst auf den Magier, dass sie keine Sekunde daran zweifelten, der Arcaner könnte unschuldig sein. Schließlich platzte Avrial fast vor Wut, als er Madame Yne noch vorsichtig zu Boden legte und kopfschüttelnd die Worte „Geht weg... geht weg, alle!“ sprach. Doch sie standen immer noch da. Ihn beschuldigend, warfen sie immer noch mit Sätzen, wie „Sie Monster!“, „Sie war doch so unschuldig!“ und „Mörder!“ um sich. Schnell aufgestanden, brüllte Avrial die Worte heraus: „Ihr sollt verschwinden!!“, ehe er die Hände nach vorne riss und in seine Wut eine gewaltige Windböe erzeugte. „VERSCHWINDET, ALLE!“ Sämtliche Schaulustige wurden weit in den Flur zurückgeworfen, ehe die Leute in Panik gerieten – während die Bewohner aus dem Schloss liefen, setzte sich Sir Steiner zufrieden auf dem Flur auf. Es würde nicht mehr lange dauern und Avrial hielt nichts mehr an diesem Ort. Kapitel 19: Ohne dich --------------------- Als der erste Tag nach der Hochzeit langsam verging, standen die angehörigen des Schlosses beisammen. Wachen, Soldaten, Putzfrauen, Bedienstete und sogar Sir Steiner, waren im großen Hauptsaal versammelt. Christy, Juls und Rina standen abseits bei Madame Ynes Leichnam, der verdeckt unter einem Leintuch ruhig zu schlafen schien. Die drei Bediensteten waren fassungslos und versuchten sich gegenseitig zu trösten. Rina hielt sich die Hand vor dem Mund, um nicht laut zu schluchzen, als sich Juls ein paar Tränen wegwischte und sie in den Arm nahm. Christy starrte auf Ynes Körper hinab; ihr Tod kam so plötzlich und hinterhältig. Dass Avrial sie umgebracht haben soll, konnte sie nicht glauben. Es war unlogisch und völlig überstürzt; doch so etwas wie ein Gericht gab es in Ikana nicht. Erst recht nicht wurden Morde gründlich untersucht – fünf Leute waren anwesend, konnten die Tat angeblich bestätigen – das allein Reichte für ein Urteil aus. Doch Avrial konnte nicht so einfach verurteilt werden. Als Fürst von Ikana war er praktisch gegen Verhaftungen immun; allein die Tatsache, dass er nun alleine dastand, ließ das hassende Volk und vor allem Sir Steiner hoffen, er würde fortziehen und der Insel den Rücken kehren. Da hatte sich der machtbesessene Berater meilenweit geirrt. Auch wenn der Arcaner kaum ansprechbar war, weigerte er sich, auch nur einen Fuß aus dem Schloss zu setzen. Sir Steiner glaubte fest, es müssten nur ein paar Tage in das Land ziehen, ehe Avrial beschließt, zu gehen. Doch die Tage verstrichen und wurden zu Wochen. Madame Yne wurde im mittleren Garten, bei ihrem Vater beigesetzt. Inzwischen waren die vielen Blumen der Leute, die sich Verabschieden wollten, fast gänzlich verwelkt. Noch immer sprach Avrial kaum ein Wort, erst recht nicht war er außerhalb seines Zimmers häufig zu sehen. Der Tag war gekommen, da wollten weder die Dorfbewohner, noch Sir Steine länger warten. Der Arcaner wurde vor die Wahl gestellt: entweder er verließ das Schloss, das Dorf und Ikana, oder die vielen Bediensteten verließen ihn. Für Avrial hatte es nie eine Wahl gegeben. Er hatte sein Leben erst von neu begonnen – und nun sollte er schon wieder hinaus in die Welt? Vielleicht sogar Furah begegnen, damit er sich über ihn lustig machen kann? Wo würde seine Reise enden? Etwa genauso, wie in Ikana? Nein. Avrials Entschluss stand fest: er würde hier bleiben, im Schloss... bei Yne. So kehrte ihm Ikana den Rücken zu. Die Wachen, Soldaten, Bediensteten, Köche, Putzfrauen... die gesamte Mannschaft verließ das Schloss und kehrte ins Dorf zurück. In ein paar Jahren darauf sollte es die erste Wahl eines Bürgermeisters geben. Sir Steiners Plan war nie aufgegangen – nur zwei Jahre später sollte er erhängt in einer Seitengasse aufgefunden werden... Im sonst so lebendigen Schloss war ein Tag nachdem die Bediensteten weggezogen waren totenstille. Nur eine traurige Gestalt sollte durch die Flure wandern. Auch wenn bereits Wochen in das Land gezogen waren, verging der Schmerz nicht. Avrial dachte an die glücklichen Momente zurück, war gefangen in den Erinnerungen. Sie drehten sich, kehrten immer wieder. Sie ließen ihn nicht los, selbst dann nicht, wenn er versuchte sich mit Lesen zu beschäftigen. Christy, Juls und Rina standen als letzte mit gepackten Taschen vor dem großen Haupttoren. Eigentlich wollten sie nicht gehen – die Männer Ikanas waren ihnen zuwider, erst recht, wenn sie dran dachten, welche Position sie wohl bei ihnen haben würden; sie waren Putzfrauen und daran würde sich wahrscheinlich nie etwas ändern. Christy seufzte ein letztes Mal in das Schloss hinein, da sprach Juls die Worte „Kommt, lasst uns gehen.“ Die drei waren gerade am losgehen, da schüttelte Rina den Kopf: „Nein – nein ich gehe nicht zurück! Ich werde nicht zurückgehen!“ „Rina...!“, die zwei Freundinnen sahen ihr überrascht nach, als sie zurück ins Schloss lief. Sofort die Taschen abgestellt, liefen sie ihr nach. „Rina!“, Christy sah sie im linken Flur um die Ecke biegen, „Bleib sofort stehen...!“ Gerade um die selbe Ecke gebogen, blieben die zwei schnell selbst stehen: Rina hatte Avrial aufgesucht und stand flehend vor dem sowieso schon gebrochenen Mann. „Bitte, Meister Avrial! Schickt uns nicht zurück! Bitte, wir wollen nicht zurück ins Dorf!“ „Ri-na!“, Juls zog sie von dem Schlossherren weg, „Rina, hör auf damit! Lass ihn in Frieden!“ „Meister Aaaavrial-“, meinte Rina noch, „Bitte! Ihr wisst doch gar nicht, wie die Männer aus Ikana drauf sind-“ „Schluss jetzt!“, Juls zog sie den Flur entlang. „Was genug ist, ist genug. Christy komm, wir gehen!“, sie sah schnaufend zurück, „Christy?“ „...Juls hat recht.“, nun begann sie den Kopf vor Avrial zu senken. „Die Männer aus dem Dorf sind wirklich schrecklich.“ „C-Christy...!“ „Nein, Juls.“, sie grummelte, ehe sie sich wieder dem traurigen Mann zudrehte. „Meister Avrial, Ihnen geht es schlecht... sehr schlecht sogar. Sie sind am Ende – und dann wollen Sie auch noch ganz alleine das Schloss betreuen?“, Christy schüttelte traurig den Kopf, „Wir wissen Bescheid, wir wissen es! Sie haben Madame Yne nichts angetan, dass hätten Sie nie machen können! Nie, nie, nie, nie! Also-“, sie schluchzte, „Seien Sie bitte nicht stur... schicken Sie uns nicht weg... Sie brauchen unsere Hilfe. So... haben wir alle etwas davon.“ Die ganze Zeit sprach Avrial kein Wort. Erstrecht nicht hatte er einen Blick auf die Mädchen geworfen. Allein dass er die Augenbrauen zusammenzog und minimal nickte, ließ die drei Bediensteten überaus erleichtert aufsehen. „Danke!“, Christy verbeugte sich, „Vielen Dank, Meister. Wir werden unser bestes geben, das versprechen wir.“ Die drei Bediensteten hielten mit vollem Einsatz ihr Wort. Neben dem Putzen und Kochen kümmerten sie sich um Avrial, so gut es ging. Der Verlust hatte ihm ein schwarzes Loch in die Brust gerissen, dass wohl nie mehr gefüllt werden konnte. Das mindeste, was die drei tun konnten, war den Arcaner abzulenken und zu beschäftigen. Doch jeden morgen spürte Avrial aufs neue, dass er nur schwer Atmen konnte. Erstrecht, wenn der Name seiner verstorbenen Frau in ihm wieder hallte. Er wusste, er würde Yne nie wieder sehen. Er hatte sie verloren... Schnell das Frühstück ans Bett gebracht, waren die drei Putzen zur Stelle, um den Magier aus seinen eintönigen Gedanken zu zerren. Es kam nicht selten vor, da sank Avrial mitten in einen der Flure auf den Boden. Meistens standen eine oder zwei der Mädchen bei ihm, ließen alles liegen und stehen, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Oftmals saßen alle vier beim Abendessen zusammen, während der Arcaner nur wenig bis gar nichts von seinem Teller anrührte. Er seufzte immerzu; Juls meinte poetisch, es sei seine gebrochene Seele, die nach Luft schnappte. Eines Tages, nach dem Abendessen, brachte Rina Avrial auf sein Zimmer, während die zwei anderen den Tisch abräumten. Juls ließ einen Seufzer los, da begann Christy zu prusten: „Was ist los? Schnappt deine Seele nach Luft?“ „Ja, so ungefähr.“, meinte sie, „Was meinst du? Meister Avrial ist ein Arcaner. Und... laut Büchern werden Magier bis zu zweihundert Jahre alt...“ „Und?“ „Wir werden sterben, ehe unser Meister über Madame Yne hinweg kommt... nicht war?“ „Ich weiß es nicht...“, sie schüttelte den Kopf, „Und selbst wenn... wir haben es versprochen. Hast du denn etwas anderes vor, Juls?“ „Nichts auf der Welt wäre für mich wichtiger. Aber... eines ist sicher.“ „Ja, du hast recht...“, Christy lächelte traurig in Richtung Stufen, auf denen vorhin noch Rina und Avrial gegangen waren, „Die Frau, die Meister Avrial aus seinen selbstgebauten Gefängnis befreit, muss erst noch geboren werden.“ Kapitel 20: 5. Der Magier und das Mädchen ----------------------------------------- „Das ist blöd.“, Hände in die Hüften gestemmt, stand ein großer Mann vor dem weiten Ozean. Seine dunklen – fast grünlichen – langen Haare wehten im heftigen Takt der Windböen. Eigentlich hatte er hier, an der Küste, nichts verloren. Eigentlich. „Das ist jetzt wirklich blöd.“, er wischte sich über die Schultern seiner violetten Kleidung, die an manchen Stellen zerrissen war und deutliche Anzeichen eines Kampfes zeigten. Man könnte meinen, er hätte mit einem Bären gerauft; in Wirklichkeit wurde er – für ihn auf gemeine Art und Weise – mitten in der Nacht überfallen. Das war nichts neues und wäre auch nichts besonderes, wenn es denn zwei, oder drei Räuber gewesen wären. Jedoch- „Da hinten steht er!!“, schnell umgedreht, erblickte er einen Mann mit Heugabel, der auf ihn deutete. Im nächsten Moment liefen viele Leute – Männer, Frauen, sogar ein paar jugendliche – mit Stöcken, Fackeln und allerlei Haushaltsgegenständen, um die Hausecke im Hintergrund. „Oh oh-“, Nicht mit Schreck, aber doch in Eile, machte sich der Gejagte wieder auf den Weg; nach rechts, den Steg am Meer entlang. Seine aufgebrachten Verfolger, bestehend schon fast aus einem ganzen Dorf, ließen nicht locker und liefen ihm auch weiterhin nach. Es war ja schon irgendwo beeindruckend, wie viel Ausdauer sie besaßen; besonders wenn man bedenkt, wie weit weg sie eigentlich wohnten. Im Hafen angekommen, stand der Gejagte plötzlich mitten in einer Sackgasse, zwischen zwei einfachen Holzhäusern gefangen. Er blickte hinter sich und sah am Steg ein Schiff, welches gerade beladen wurde. Zwar zog er eine Augenbraue hoch, da die zwei fleißigen Arbeiter manche Körperteile von Tieren hatten, doch sah er auch eine – für einen dunklen Magier reichlich unüberlegte – Chance zu verschwinden. Da lief die Horde von Menschen um die Ecke: „Da ist er! Er ist gefangen!“ Die vordersten Männer schnauften vor Wut, ehe sie voran gingen und den Gejagten weiter in die Enge trieben. Hinten aus der Menge konnte man eine ältere Frau rufen hören: „Stecht ihm die Augen aus!“, ehe weitere anfingen zu rufen: „Erhängt ihn!“, „Macht ihn fertig!“, „Verbrennt ihn!“, „Versenkt ihm im Meer!“ Da liefen die vordersten Männer los und schwangen ihre Waffen gegen den sich schützend eingezogenen Mann – als er plötzlich im Nichts verwunden war. „Was zum!?“ Die Horde blickte verwirrt und suchend umher – ihr Gejagter war plötzlich weg. Einer der Männer vorne sah sich ebenfalls um, ehe sein Blick gen Holzplanken wanderte – und seinen Kollegen an die Schulter klopfte: ein leicht violett glühendes Pergamentpapier lag am Boden, schien von selbst in sich zu verfallen. Im selben Moment verdrehten die Männer die Augen: ihr Gejagter hatte sie – mal wieder – ausgetrickst. Zufrieden mit seinem Ablenkungsmanöver, sah der dunkle Magier grinsend aus einer großen Holzkiste, die mit einem weißen Leinentuch abgedeckt war. Sie war eine der letzten gewesen, die aufs Schiff gebracht wurde; ehe es ablegte und hinaus, aufs weite Meer fuhr. Zwar hatte der Gesuchte keine Ahnung, wo es hinging – doch musste das Schiff irgendwo seine Ladung abliefern. Bis sich die Lage des Dorfes, nahe dem Hafen wieder gelegt hatte, hielt er es für besser, seine Zeit am Zielort des Schiffes zu verbringen. Der nächste Morgen brach an; es war kalt und selbst im klaren Wasser des Hafens, in dem das Schiff ankerte, lagen verfärbte Blätter an der Oberfläche. Die fleißigen Arbeiter schafften die Ladungen an Land, als gerade ein Katzenmensch das Leinentuch von einer großen Holzkiste hob – und ein blinder Passagier ihm entgegen wank. „Danke fürs mitnehmen!“ Der arme Tiermensch konnte nur mehr Luft holen, da war der Fremde auch schon verschwunden. Weg aus der Kiste, weg aus dem Hafen – einfach weg. Es verstrich der Vormittag, ehe sich der dunkle Magier halbwegs geborgen in einem kleinen Wald, nahe eines Dorfes, niederlassen konnte. Ihm waren die seltsamen Bewohner grundsätzlich egal, auch wenn er ihre Tierkörperteile wie Ohren, Schweif, Nase, etc. ulkig fand. Große Lust einen aus der Nähe zu betrachten, hatte er nicht – am Ende schlug dieser noch Alarm und verriet sein Versteck im Wald. Immerhin war er, mit seinen rein menschlichen Zügen – und noch dazu seinem Können für dunkle Magie – schon ein sehr seltener Anblick. So machte er es sich auf einen dicken Ast bequem, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah durch das verfärbte Blätterdach, auf zum blauen Himmel. Für den Herbst war dieser Tag ziemlich schön. Es zogen kaum Wolken vorbei und die Sonne wärmte den sonst so kalten Boden. Doch da knurrte sein Magen – als ihm klar wurde, dass er sich nicht die ganze Zeit hier oben verstecken konnte. Irgendwann musste er weiter, sich etwas Essbares beschaffen; und sei es nur ein Apfel. So fing er an zu überlegen: Auf die Suche gehen, Stehlen, oder einen Passanten überfallen? Da hörte er ein Geräusch. Schnell den Kopf gedreht, sah der dunkle Magier in die Richtung, aus der es stammte. Eindeutig trockenes Laub, welches durch Schritte anfing zu rascheln: jemand ging durch den Wald, ihm entgegen! Für den Fremden mit leeren Magen die ideale Gelegenheit, an entweder Nahrung oder Geld zu kommen. So hockte er sich auf und machte sich bereit, dem Passanten entgegen zu springen und ihm den Weg abzusperren. Als das Rascheln der Blätter direkt unter ihm zu hören war, sprang der dunkle Magier los. Er wirbelte mit ein bisschen Hilfe von Magie zusätzliches Laub auf, als er auf dem Boden landete – der Effekt sollte für Schreck bei dem Passanten sorgen. „Her mit dem-!“, der Magier hielt inne, als er irgendwie niemanden sehen konnte. Etwas verwirrt blickte er kurz im Kreis – war der Passant geflohen? Oder gar nur ein leicht schreckhaftes Tier gewesen? Ein Laubhaufen, nicht weit entfernt, fing an zu rascheln. Da war sein Opfer hingekommen! „Aha-!“, das Laub mit Magie weggeblasen, drückte ein kleines, sitzendes Mädchen die Augen zusammen. Als die Böe vorüber war, blinzelte es auf, zu dem verdutzten Magier. Sie war noch sehr, sehr klein; höchstens zwei, oder drei Jahre alt. Ihre weißen Katzenohren und Schweif konnte man dennoch sehr gut erkennen. Kurz gab sie ein leises Niesen von sich, sodass ihre kurzen, schwarzen Haare nach vorne fielen. Das erklärte einiges. Irgendwie klangen die Schritte, als würde jemand betrunken umher torkeln – mit einem Kleinkind hatte der dunkle Magier allerdings nicht gerechnet. „Uhm...“, er kniete sich zu dem Mädchen, „Bist du hier etwa ganz alleine? Wo sind deine Eltern...?“ Die Kleine blinzelte ihn mit ihren großen grünen Augen an. Kurz sah sich der dunkle Magier um, da er wirklich weit und breit niemanden sonst sehen oder hören konnte. Schließlich seufzte er und blickte erneut zu dem Kind. „Ach na toll.“ Sollte er die Kleine einfach hier zurücklassen? Sie und ihre Geschichte ging ihm nicht im geringsten etwas an – und etwas zu Essen hatte sie auch nicht bei sich. Trotzdem, irgendwie würde es dem dunklen Magier leid tun, sie dem Wald zu überlassen. Das einzige Problem war, dass er weder wusste, wo er nach den Eltern suchen sollte, noch, wie man mit Kleinkindern überhaupt umgeht – schon im nächsten Moment der Überlegung zog das Kind – fröhlich brabbelnd – fest an seinen grünlichen Haaren. „Ok, ok- das geht schon einmal gar nicht.“, er zog seine Haare weg und stand langsam auf. „Ich hab eine Idee: du bleibst hier und ich locke jemanden her.“, er seufzte, „Zwar ist dann mein Versteck im Eimer, aber-“, er sah mit verzogenem Blick hinab: das kleine Mädchen begann an seinem Fuß zu knabbern. „Schmeckts?“, kurz verschränkte der dunkle Magier die Arme, „Du hast wohl genauso viel Hunger wie ich.“ Da sah die Kleine auf – ihre Ohren wackelten dabei. Sie mag in der Entwicklung stehen, doch hören konnte sie scheinbar schon ganz gut. „Ma.“ „Ma?“, der dunkle Magier lauschte ebenfalls. Tatsächlich: da war eine leise Stimme zu hören, die durch den Wald schallte. „Ist das deine Mutter?“ „Mamamamamama-“, die Kleine schien sich zu freuen – und knabberte im nächsten Moment weiter an seinem Bein. „Hör mal Kleine-“, er ging ein paar Schritte voran und bemerkte, dass sie nicht los ließ, „Ähm, könntest du-“, der Magier schüttelte ein wenig sein Bein – die Kleine schien sich festgebissen zu haben. So seufzte er, „Großartig.“, ehe ihm eine Idee kam: „Ahm, ok. Was auch immer – pass auf; gleich bin ich dich trotzdem los!“, schnell ein Pergament aus dem linken Ärmel gezogen, blitzte dieses auf, ehe die zwei von ihrem Punkt verschwunden waren. Eine schwarzhaarige Katzenfrau lief inzwischen voller Sorge durch den Wald. Immer wieder einmal blieb sie stehen und rief dabei laut dem Namen ihrer vermissten Tochter. „Traaaacy! Tracy!“ Die Frau sah es nicht hinter sich aufblitzen, jedoch vernahm sie ein leicht genervtes, lautes Räuspern. Als sie sich leicht erschrocken umdrehte, bot sich ihr ein seltsamer Anblick: ein großer Mann mit trockener Mine deutete hinab, zu seinem leicht gehobenen Fuß, an dem ihre Tochter verbissen hing. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass die kleine Pestbeule zu dir gehört.“ „Ach, da bist du ja, Tracy!“, ein wenig schien sich die Frau für ihr Kind zu schämen. Sie zog die Kleine von seinem Bein und nahm sie zu sich hoch. „Vielen Dank, sie war plötzlich einfach weg...“ „Ja, das dachte ich mir schon. Sie sieht etwas zu klein aus, um allein in nem Wald zu spazieren. Aber einen gesunden Appetit hat sie!“ Die Frau kicherte, „Nicht direkt, sie ist in ihrer Kau-Phase.“, als sie den Blick des Mannes sah, redete sie weiter: „Kleine Kinder probieren alles mögliche mit dem Mund aus. Es könnte ja gut schmecken?“ „Aha... ok.“, während der Magier sich ein wenig desinteressiert am Kopf kratzte, musterte ihn die Katzenfrau: zerrissene Kleidung, schmutziges Gesicht, abgenutzte Stiefel. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde die meinen, vor ihr stand ein Obdachloser. Doch die Tatsache, dass es in ihrer Heimat nur sehr wenig ausgewachsene Männer ohne Anzeichen eines Tieres gab, ließ sie eher vermuten, er sei lange umher gereist und habe nun kein Dach über dem Kopf. Die Katzenfrau lächelte freundlich und streichelte ihrer Tochter über den Kopf. „Also, wissen Sie-“ „Dann viel Spaß noch mit der Kleinen, verlier sie nicht wieder.“, der Fremde war bereits umgedreht und losgegangen. „Warten Sie doch!“, rief die Frau daraufhin, „Wollen Sie vielleicht mit mir kommen?“ Kurz verzog der Magier überlegend das Gesicht, ehe er den Kopf schüttelte. „Tut mir leid, ich steh nicht auf Anthros.“ „Ich wollte Sie zum Essen einladen, Sie ungehobelter Kauz.“, sie schnaufte, „Außerdem sind wir Tiermenschen.“ Völlig überraschend stand der dunkle Magier nicht mehr vor, sondern neben ihr. „Sagten sie Essen?“ Ob es eine gute Idee war, den Mann zu sich einzuladen? Er war seltsam, doch hatte er ihre Tochter heil zurückgebracht, was ihn irgendwo zu einem guten Kerl machte. Außerdem hatte die Katzenfrau das Gefühl, es ihm schuldig zu sein. Während sich der Mann mit selbstgekochtem den Magen füllte – es waren Reste vom Mittagessen, doch schien ihm das nicht zu stören – saß ihm die Katzenfrau gegenüber. Ihren Kopf hatte sie auf den Händen abgestützt, gleichzeitig behielt sie ihre Tochter Tracy im Auge, die über den Boden umher krabbelte. „Ach, wir haben ums noch gar nicht einander Vorgestellt – ein Name ist Magret, das hier ist Tracy. Sagen Sie, Herr...“ „Furah.“ „Herr Furah-“ „Nur Furah.“ Sie seufzte, „Furah... Sie scheinen nicht von hier zu kommen. Wohnen Sie sehr weit weg?“ „Keine Ahnung.“, redete er mit vollem Mund, „Kommt drauf an. Wo sind wir hier?“ Kurz musste die Katzenfrau schmunzeln. „Auf Palooza, dem Tiermenschen-Reich.“ „Noch nie gehört.“, Furah vergrub sein Gesicht in der angehobenen Schüssel. „Palooza ist eine größere Insel, über Desteral und Azamuth-“ „Ah, jetzt kenne ich mich aus.“, er grinste, „Dann weiß ich ja auch, wie ich zurück komme.“ „Wie denn?“ „Wie ich hergekommen bin. Ich vesteck mich in einer Transportkiste!“ Sie lachte daraufhin, „Sie sind schon komisch; wäre es nicht leichter, ein Ticket für eine Überfahrt zu kaufen?“ „Kaufen; woher soll ich das ganze Geld klauen?“ „Sie könnten es doch erarbeiten?“ „Mh, nein.“ „Wieso denn nicht?“ „Mag ich nicht.“ Magret seufzte etwas trocken. Wen hat sie sich da nur ins Haus geholt? Irgendwie wuchs in ihr die Angst, ihn nicht mehr los zu werden. „Wohnst du alleine hier?“ Auf seine Frage, kehrte die Katzenfrau aus ihren Gedanken zurück. „Uhm, nein – mein Ehemann, Ben ist bei der Arbeit, draußen auf See.“ „Ah, das erklärt einiges; hab mich schon gefragt, wie eine alleinerziehende Frau mit Kleinkind sich so eine schicke Bude leisten kann.“ So toll war das Haus nun auch nicht. Magret konnte drauf hin nur kichern: „Ich betrachte das einmal als Kompliment, vielen Dank.“ Inzwischen hatte Furah seine Portionen fertig gegessen. Er war so satt wie lange schon nicht mehr und war sicher, noch den ganzen morgigen Tag nicht hungrig zu werden. Als ihm Magret einen weiteren fragenden Blick zuwarf, verdrehte er schließlich den Kopf. „Was?“ „E-Entschuldigen Sie...“, sie schien verlegen, „Es ist unhöflich zu fragen, aber... Sie sind kein Mensch, habe ich recht?“ „Ich bin Arcaner.“, er deutete auf sich selbst, „Oder können sich gelbäugige Menschen beamen?“ Fröhlich nickte Magret darauf: „Das habe ich mir gedacht, ein Arcaner!“, sie wurde leiser, „Hätte nicht geglaubt, einen je zu sehen... unglaublich.“ Während sie vor sich her redete, hörte ihr Furah gar nicht mehr zu: das kleine Mädchen hang wieder an seinem Bein, doch dieses Mal drückte sie es, anstatt zu knabbern. „Aaaw.“, meinte Magret darauf hin, „Sie scheint Sie sehr zu mögen.“ „Ich weiß absolut nicht, warum.“, er zog sie an ihrem Strampelanzug hoch, vors Gesicht, „Normaler weise bin ich der Kinderschreck. Na gut, auch nicht ganz. Aber ich bin Kindern egal, bis ich sie verschrecke.“ Die Mutter kam herüber und nahm ihm das Kind ab – er wusste wirklich nicht, wie man ein Kind halten sollte. „Na, ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Außerdem haben Sie sie zurückgebracht.“, als Magret die Kleine auf seinen Schoß setzen wollte, zuckte er leicht zurück: „Moment, was soll das denn!?“ „Sie mag von Ihnen hochgenommen werden-“, trotz Proteste, setzte sie ihre Tochter auf Furah ab, „Außerdem muss ich das Geschirr abwaschen gehen. Wenn sie zu lästig wird, setzen Sie sie auf den Boden... aber wirklich setzen, nicht am Kragen nehmen wie ein Kaninchen, ja?“ Nur mehr mit trockenem Blick sah Furah der Mutter nach, wie sie das Geschirr einsammeln ging und danach aus dem Raum trat. „Ja... was auch immer.“ Er sah schnaufend zu dem Mädchen, die brabbelnd ihre Ärmchen schwang. Als sie aufgestanden nach seiner Nase griff, zuckte er wieder mit dem Kopf zurück. „Lass das-“ Die Kleine ignorierte seine schroffe Art und setzte sich wieder, um an ihrer Hand zu kauen. „...Wird dir das nie langweilig? Du-“, als sie herzhaft zu gähnen begann, hielt Furah kurz inne. Irgendwo war die Kleine ja süß. Nach einer Weile des ruhigen Sitzens, fielen dem Kleinkind langsam die Augen zu. Vom Essen schwer, fühlte auch Furah, wie die Müdigkeit langsam zuschlug. Summend den letzten Teller abgetrocknet, legte Magret das Geschirrtuch zur Seite. Sie hatte erwartet, dass ihr Gast nach Hilfe rufen würde, wenn Tracy zu wild wurde. Jedoch war nicht einmal das gewohnte brabbeln, oder eine genervte Stimme zu hören – es war beruhigend und erschreckend sogleich. So machte sie sich auf den Weg zurück. An der Türschwelle blieb sie schließlich stehen: Tracy war auf Furah eingeschlafen, der – am Stuhl hängend – ebenfalls vor sich her schlief. Von dem Anblick entzückt, legte Magret schmunzelnd den Kopf schief. Nach einem kurzen Moment ging sie eine Decke holen, um den Gast so gut es ging zuzudecken. Ausgeruht und mit vollem Magen trat Furah die Reise zurück nach Desteral an. Zuvor aber stand er vor dem Haus der freundlichen Katzenfrau, um sich zu verabschieden. Er hatte ihr gerade grüße unbekannter weise an ihren Ehemann gewünscht, da kam Tracy aus dem Haus gelaufen – oder besser gesagt schnell gewatschelt. Sie klammerte sich an Furahs Bein und hielt ihn fest im Griff. „Fu-ah!“ „Aw, sie will nicht, dass Sie gehen.“ „Ja aber, mitkommen kann sie auch nicht-“, er schüttelt leicht sein Bein, „Wenn ich hier bleibe, kriege ich bestimmt noch ärger.“ Magret kam herbei, um Tracy von ihm wegzunehmen – da begann die Kleine laut zu quängeln. „Mäusschen, schon gut – schluss jetzt, der Mann kann nicht bleiben.“ „Ach, hör auf zu weinen.“, Furah hob belehrend den Finger, „Wir sehen uns bestimmt wieder, wirst schon sehen!“ Magret kicherte darauf, „Falls sie sich noch an Sie erinnern kann – und umgekehrt.“ „Ach, wir werden sehen. Die Kleine hat auf jedenfall aufgehört zu weinen.“ Da streckte Tracy die Hände nach ihm aus. „Fu-ah!“ „Sie will, dass Sie näher kommen.“ Fragend zu ihr gebeugt, drückte das kleine Mädchen ein Abschieds-Bussi auf seine Wange auf. Magret fing darauf hin an zu lachen, während sich der dunkle Magier die Wange abwischte. „Ja... ja, leb auch du wohl.“ „Machen Sie es gut – und schauen Sie, dass Sie einen anständigen Beruf finden!“ „Was auch immer – vielen Dank!“, Furah wank den Beiden zum Abschied, da war er bereits unterwegs. Auch die kleine Tracy wank ihm fröhlich nach. Der Magier aus dem fremden Land hatte einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Kapitel 21: Märchenmond - Happy Birthday, Sunny! ------------------------------------------------ Es war einmal... ein goldblondes Mädchen mit braunen Augen. Sie besaß nicht viele Sachen und wohnte bei ihrer Stiefmutter. Nicht, weil die Familie so arm war, aber irgendjemand musste ja putzen. Sie aß von dem, was übrig blieb und zog die Kleider an, die ihre großen Stiefgeschwister nicht mehr wollten. Wieso sie nicht einfach auszog? Weil die Jobchancen miserabel waren. Wobei auch fast niemand Schuhputzer benötigte. Wirklich. Die standen an jeder Ecke. Als die Familie eines Samstags gemeinsam shoppen war, kaufte sich ihre ältere Stiefschwester einen roten Mantel. Er war so strahlend rot, dass man meinen könnte, wenn man ihn ansieht geht die Sonne auf. Oder unter. Je nachdem. So rot, dass alle anderen rotfarbenen Kleider dagegen blass aussahen – und genau das störte die Schwester gewaltig. Sie hatte den Mantel zwei mal getragen (einmal auf dem Heimweg und einmal bei der krassen Feststellung) und danach nicht mehr angesehen. Das goldblonde Mädchen nutzte diese Chance und hatte das erste Mal seit langer Zeit einen strahlenden, neuen Mantel. Sie trug ihn überall wo sie hinging. Von da an war sie in der ganzen Umgebung als Rotmäntelchen bekannt. Sehr zu Gunsten der Stiefmutter. Denn den gestiegenen Bekanntheitsgrad nutzte sie schamlos aus: Rotmäntelchen musste Botengänge erledigen und durfte sich nicht über die Ware beschweren, egal was es war. Der einzige Trost den sie hatte war, dass sie sich jedes Mal ein paar wenige Münzen vom Gewinn heimlich einsteckte. Irgendwann konnte sie dank des Geldes ausziehen, so ihre Gedanken. Eines Tages kam ein neuer Auftrag herein. Ihre Stiefmutter hatte ihr einen Korb mit einer großen Flasche Wein auf das Bett gestellt. Liebevoll wie sie war, zeigte sie auf die Ware. „Das da muss noch heute durch den finsteren Wald, auf die andere Seite des Sumpfes, hinter dem versperrten Nebelschloss, zu einer alten- äh, Frau gebracht werden. Und beeile dich, wir heben dir Pissnelke nichts vom Abendessen auf. Und es gibt... Schokopudding als Nachttisch!“ Oh man, Schokopudding! Selbstverständlich wollte Rotmäntelchen das Abendessen um nichts auf der Welt verpassen. So gab sie ihrer Stiefmutter das Wort, rechtzeitig zuhause zu sein. „Das hoffe ich für dich. Sonst kannst du die Nacht mal wieder im Kuhstall verbringen, da wir die Tür absperren, wenn es Finster wird. Und keine deiner Schwestern hat Lust, extra für dich aufzustehen.“ Nach einem mütterlichen Schubser aus dem Hof, ging Rotmäntelchen ihrer Wege. Sie hatte ein fröhliches Liedlein im Kopf und hopste mit dem Korb voll Wein den Weg in den finsteren Wald. Wieso er ausgerechnet diesen Namen trug, wusste sie bis heute nicht. Denn so finster war er gar nicht. Nur sehr dicht. So ums verrecken dicht, dass man besser nicht vom markierten Trampelpfad abkam. Rotmäntelchen setzte sich ihre Kapuze auf, sodass nur Strähnen ihres goldenen Haars heraus hingen. Sie war in Gedanken versunken und summte nebenbei Geistesabwesend das Liedlein aus ihrem Kopf. Es war kein besonderes Lied – jeder aus dem Dorf kannte es. Es war der große Sommerhit, der typisch Eintagesfliegenhaft im Herbst bereits wieder vergessen sein würde. Und im nächsten Frühjahr würde jeder die Augen verdrehen, sollten sie das Lied noch einmal hören. Da es, wie üblich, mit der Zeit sehr nervig werden konnte. Als Rotmäntelchen außer dem tapsen ihrer Füße noch ein weiteres Geräusch vernahm, blieb sie stehen. Anstatt zur Sicherheit los zu laufen. Vorsichtig blickte sie hinter sich, den Weg entlang, den sie gekommen war – doch konnte sie niemanden sehen. Auch sonst war das Geräusch verschwunden. Vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet? So hob sie kurz ihre Schultern, ehe sie weiter den Weg entlang hopste. Als dann doch ein Tier aus dem Gebüsch gesprungen kam, ließ Rotmäntelchen den Korb fallen und nahm eine Art Kampfpose an, von der sie selbst nicht wusste, was das eigentlich soll. „Oh.“, sie lockerte sich, als sie einen harmlosen, knurrenden Wolf vor sich sah. Er war fast doppelt so breit wie Rotmäntelchen und versperrte dementsprechend den ganzen Pfad vor ihr. Sein Fell leicht zerzaust und schwarz, bis fast dunkelgrün, starrte er das Mädchen mit seinen stechenden, gelben Augen an. „Na, Süße? Wohin so eilig?“ Das Mädchen blinzelte. Hatte der Wolf sie gerade 'Süße' genannt? „Durch den finsteren Wald, lieber Wolf. Auf die andere Seite des Sumpfes, hinter dem versperrten Nebelschloss, zu einer alten- äh, Frau. Und mein Name ist nicht Süße, sondern-“ „Ich nenn' dich einfach Rotmäntelchen.“, der Wolf grinste dabei bis über beide Ohren, sodass seine großen, spitzen Zähne gut sichtbar waren. „...Ganz allein? Weißt du nicht, dass gefährliche Raubtiere hier im finsteren Wald ihr Unwesen treiben?“, er machte dabei eine Bewegung, als sei es die Ausgangspose für einen Absprung. „Doch, Ma' hat mich vor ihnen gewarnt.“, das Mädchen sah überlegend nach oben, „Hasen, Rehe und Rebhühner soll ich meiden, die können sehr schnell sein. Füchse, Wölfe und Wildschweine sind ok.“ Der Wolf sank trocken den Blick. „War das nicht eher umgekehrt..?“ „Mmmmmmmmh...“, Rotmäntelchen schüttelte den Kopf, „Nein.“, und lächelte freundlich. Nach einem ungläubigen Blick grinste der Wolf nun wieder. „Da kann man nichts machen. Ich werde dir auf die 'Sprünge' helfen!“ Schon im nächsten Moment stürzte sich der Wolf auf Rotmäntelchen. Sein Gebrüll klang dabei eher wie ein verrücktes Lachen, als ein Kampfschrei. Das Mädchen wich schützend zurück und kniff die Augen zu – doch als sie wieder hinsah, war der Wolf weg... und mit ihm der Korb! „HEH!“, Rotmäntelchen, darauf erpicht auf dem sicheren Weg zu bleiben, kam vom Pfad ab und folgte den vor ihr raschelnden Sträuchern. Immer tiefer durch den finsteren Wald jagte sie dem Wolf hinterher. Sie dachte in diesem Moment gar nicht daran, dass sie nachher auch wieder zurück musste. Gerade, als das Mädchen das Tier einholte und vor ihren Füßen laufen sah, stolperte sie über ein mitten im Gebüsch liegenden Stein. Was hatte der auch dort verloren? So mitten im Wald. Tolpatschig kippte sie nach vorne und packte, rein aus Reaktion, nach dem schwarzgrünen Fell des Wolfes. Er stieß noch ein „Nein, was machst du!?“ hervor, ehe er mit Rotmäntelchen den Abhang hinab gerissen wurde. Im Gegensatz zum Mädchen besaß der Wolf vier geschickte Beine, auf die er landen konnte und anschließend – während Rotmäntelchen mit dem Gesicht im Moos lag – sich taumelnd aus dem Staub machte. Als der Spuk vorbei war, war es still. Das Mädchen hörte keine Blätter rascheln und auch keine Vögel singen. Keine Nagetiere fiepen und keine Würmer pupsen. So still, dass Rotmäntelchen ihren Magen verdauen hat hören können. Und ein Atmen. Ein leises Atmen, dass allerdings nicht von ihr kam. Fragend hob sie den Kopf aus dem weichen Moos und erblickte einen geschliffenen, massiven Stein vor sich. Er war rechteckig und an den Seiten verziert, was darauf schließen ließ, dass er von Menschen bearbeitet wurde. Rotmäntelchen kam langsam auf die Beine zurück und klopfte sich ihre Knie ab. Ehe sie sich dem fast schon Schrein-artigen Stein näherte, griff sie nach dem Korb mit Wein, den der Wolf auf seiner Flucht stehen hat lassen. Da lag doch tatsächlich eine junge Frau auf dem flachen Stein – das leise Atmen stammte von ihr. Rotmäntelchen näherte sich ihr vorsichtig. Sie beugte sich über und bewunderte ihre reine, blasse Haut. Ihr langes Haar und Kleid, so weiß wie Schnee. Katzenohren und Schweif so schwarz wie Ebenholz, ebenso die Nase. Als die Katzenfrau ihre Lieder hob, blickte Rotmäntelchen in tiefblaue Augen. Während das Mädchen staunend lächelte, veränderte sich der ruhige Blick der Frau zu einer fragenden Miene. „Rotmäntelchen...? Was machst du denn hier?“ Rotmäntelchen trat ein wenig zurück und wartete, bis sich die Katzenfrau aufsetzen konnte. „Das könnte ich dich auch fragen-“, sie deutete lächelnd auf sich, „Du kennst mich?“ „Ja, ich habe Gerüchte über ein Mädchen mit rotem Mantel gehört, welches Botengänge erledigt.“ „Du kommst mir auch bekannt vor.“, sie lächelte erneut, „Und jetzt weiß ich auch, wieso: Du bist Schneeröschen, das Supermodel aus dem weiten Norden! Und was tust du hier?“ „Nun gut, ich fange an.“, Schneeröschen entgegnete ihr freundlich. „Ich warte auf meinen Freund, Sir Toony von Fuchsstein. Er sollte mich eigentlich abholen... aber dann wurde ich müde und habe mich schlafen gelegt. Ich dachte, er würde mich wecken, wenn er hier ist.“ „Wie lange wartest du denn schon?“ „Welchen Tag haben wir heute?“ „Den neunten.“ „Dann drei Tage.“ „Du liegst seit drei Tagen hier und wartest auf deinen Freund?“, Rotmäntelchen schüttelte ungläubig den Kopf. „Du verstehst das nicht. Bis jetzt ist er immer gekommen! Immer.“, nun senkte Schneeröschen ihren Blick, „...Bis auf heute.“ „Vielleicht... hat er sich verlaufen? Aus welcher Richtung sollte er denn kommen?“ „Die, in der das versperrte Nebelschloss liegt.“ „Oh, aber dann hast du Glück!“, Rotmäntelchen lächelte regelrecht energisch, „Ich muss durch den finsteren Wald, auf die andere Seite des Sumpfes, hinter dem versperrten Nebelschloss, zu einer alten- äh, Frau. Wieso begleitest du mich nicht, bis du deinen Freund siehst? Dann kann er sich auch nicht mehr verlaufen!“ „Eine gute Idee!“, Schneeröschen stand vom gemeißelten Stein auf, „Jedenfalls besser, als zu warten.“ „Jap. Nochmal drei Tage.“, das Mädchen kicherte. So ging Rotmäntelchen den Abhang hinauf, zurück auf den vorgegebenen Pfad und war nicht mehr alleine. Wenn nun der böse Wolf auftauchte, konnten sie zu zweit Steine nach ihm werfen. Oder spitze Schuhe. Ihr Weg durch den finsteren Wald endete an einem Schild mit der Aufschrift: „Vorsicht, Sumpf: Rutschgefahr!“ Abgesehen davon, dass es rutschig war, war es matschig und dreckig. Es gab zwar einen schnell gepflasterten Weg, doch dieser endete so manches Mal in einer Schlammpfütze. Rotmäntelchen und Schneeröschen gingen ohne zu Reden hindurch. Zum einen waren sie fasziniert und erschaudert zugleich, was die vielen, von Ranken umschlungenen Bäume, die ihre hängenden Blätter in das Sumpfwasser eintauchten, anging. Zum andern hörten sie gequake. Viel gequake. Kröten und Frösche, so laut durcheinander quakend, dass die ganze Luft von dem Gerufe erfüllt war. Glubschige, gelborangene Augen starten sie von den kleinen Tümpeln und Teichen rund um den Pfad an. Manche verschwanden beim Hinsehen blitzartig im trüben Gewässer – dass jemand den Sumpf kreuzte, kam nicht allzu oft vor. „Sieh dir den mal an.“, Rotmäntelchen kicherte, „Der wird Huckepack getragen!“ „Rotmäntelchen... die paare sich.“ „...Oh.“ Schneeröschen lächelte. „Wusstest du das nicht? Die Frösche rufen nach Partnern, um sich zu paaren. Danach legt das Weibchen Eier in seichtem Wasser ab und darauf schlüpfen die Kaulquappen.“ „Kaulquappen?“ „Ja, das sind sozusagen Babyfrösche. Sie sehen ähnlich aus wie Fische und atmen keine Luft, bis ihnen Beine wachsen.“ Rotmäntelchen sah sie ungläubig an. „Das hast du jetzt aber erfunden.“ Ihre neue Freundin musste darauf kichern. „Nein, es stimmt! ...Habt ihr in eurem Dorf keinen Teich?“ „Ähm... doch, schon...“, man sah dem Mädchen ihre Verlegenheit an. „Aber ich bin bis vor einer Woche nicht allzu oft draußen gewesen.“ „Du wurdest festgehalten, stimmts?“ „Ein wenig... ja.“ Schneeröschen, die einen Arm um die Schulter des Mädchens legte, nickte verständnisvoll. „Ich weiß, wie das ist. Als Kind wurde ich von meinem Onkel wie Porzellan behandelt. Ich durfte nicht einmal alleine aufs Örtchen.“ „Und was hast du dagegen getan?“ „Ich bin abgehauen, startete eine Modelkarriere und angelte mir einen Adelssohn.“ „Oh.“, Rotmäntelchen blinzelte, „Aber ich dachte, du bist selbst aus reichem Hause?“ „Das stimmt auch. Aber ich pflege keine so gute Beziehung mit meinem Onkel.“ „Irgendwie verständlich.“ Als ein Ruf ertönte, mehr Menschlich als ein Quaken, sahen beide auf. Schneeröschens Katzenohren waren gespitzt, erpicht darauf, den Ursprung des Rufes zu finden. „War das ein Frosch-?“, Rotmäntelchen wurde von ihr unterbrochen, als der Ruf erneut zu hören war. „Ich glaube nicht.“, war die Antwort, „Es hört sich eher... wie ein 'Hilfe' an.“ Nun sah das Mädchen auf. „Ist jemand in Schwierigkeiten?“, sie schreckte sich, „Vielleicht steckt jemand im Sumpfwasser fest!?“ „Dort lang!“, Schneeröschen zeigte sofort in die Richtung, aus der der Ruf zu hören war, ehe die zwei losliefen. Er war erneut zu hören, lauter, je näher die Frauen dem Auslöser kamen. Kurz vor einem trüben Teich blieb Schneeröschen blitzartig stehen. Rotmäntelchen hielt so knapp vor dem Wasser an, dass sie mit den Armen rudern musste, um nicht hinein zu kippen. „Siehst du etwas?!“ Die weißhaarige Frau schüttelte den Kopf. „Nein...“ „Ich bin hier!“, eine männliche Stimme war zu hören. Nur wo? Beide sahen in alle Richtungen, allen voran über den Teich. „Hier unten!“ Nun sahen sie ihn: einen Frosch, mit einem gelben und einem blauen Auge. Beim Anblick des Tieres runzelten beide die Stirn. „Ein... Frosch.“, so Rotmäntelchen. „Ich bin kein Frosch! Ich bin ein Mensch!“ „Ein Frosch, der sich für einen Menschen hält.“ „Oh, ach ja?“, der Frosch pustete seine Backen auf und stützte seine langen Hände in die... Hüfte. „Können denn Tiere sprechen?“ „Der Wolf von vorhin schon.“ „Sag, kleiner Fro- Mann.“, Schneeröschen ging in die Hocke, „Hast du um Hilfe gerufen?“ „...Ja! Ja, das tue ich jeden Tag! Und ihr glaubt gar nicht, wie froh ich bin, endlich jemanden zu sehen.“ „Was ist denn passiert?“, wollte Rotmäntelchen wissen. „Eine böse Hexe hat mich verzaubert! Sie fand es witzig, dies in einem Sumpf zu tun... neben all den Kröten und Fröschen läuft für normal jeder an mir vorbei.“, er deutete auf Schneeröschens Katzenohren, „Zum Glück konntest du mich hören. Und... darf ich dir etwas anvertrauen?“, die Frau beugte sich, um den Frosch besser zu hören, „Wenn du mich küsst, verwandle ich mich in einen Prinzen. Als Dank werde ich dich gerne ehelichen.“ Schneeröschen kicherte verlegen. „Oh nein, lieber Frosch. Ich bin bereits versprochen, an Sir Toony von Fuchsstein.“ „Bitte verzeiht mir. Das sollte mir eigentlich klar sein, bei so einer Schönheit.“ Rotmäntelchen verdrehte die Augen. „Aber meine Freundin hier, Rotmäntelchen hat noch keinen.“ „Wie!?“, dem Mädchen schoss die Röte ins Gesicht. „Spinnst du!? Ich küss doch keine Frösche!“ „Wie schade...“, der Frosch sah traurig aus, „Dann werde ich für immer in dieser Gestalt bleiben.“ „Äh, nein, nein-“, nun versuchte das Mädchen, ihn zu beruhigen, „Vielleicht gibt es einen anderen Weg... mh, wie wärs, wenn wir diese Hexe suchen und sie bitten, dich zurück zu verwandeln?“ „Das wird sie wohl kaum machen...“ „Vielleicht ja doch. Manchmal tun Frauen etwas, weil sie beleidigt wurden. Und wenn ich eine Hexe wäre, würde ich das genauso regeln!“ „Äh...“, nun bekam es der Frosch mit der Angst zu tun. „N-na ja... bei so einem Temperament... wird sie den Zauber vielleicht wirklich zurücknehmen.“ „Wo lebt diese Hexe denn?“ „Auf der anderen Seite des Sumpfes, hinter dem versperrten Nebelschloss.“ „Das trifft sich aber toll!“, entgegnete Rotmäntelchen fröhlich. „Ich muss auf die andere Seite des Sumpfes, hinter dem versperrten Nebelschloss, zu einer alten- äh, Frau. Schneeröschen sucht ihren Freund, darum wird sie uns eine weile Gesellschaft leisten.“ „Oh- ok-“, ehe der Frosch zu Wort kam, nahm ihn Rotmäntelchen hoch und setzte ihn über ihren Kopf, auf die Kapuze. „Keine Angst, Herr Frosch. Wir sind in null-Komma-nichts aus dem Sumpf raus!“ „Sehr freundlich, vielen Dank. Ich hoffe nur, dass mir hier oben nicht schlecht wird...“ „Aaach. Ich bin kleiner als Schneeröschen. Wenn du wirklich ein Mensch sein willst, musst du dich daran gewöhnen.“, die Gruppe ging los, dem Ende des Sumpfes entgegen. „Aber ich bin ein Mensch!“ „Schon klar.“ Der Sumpf war doch etwas größer, als zuerst gedacht. Immer noch starrten sie die gelben Augen der Kröten und Frösche von überall an. Als Rotmäntelchen absichtlich eine hektische Bewegung vollführte und dabei „Buga buga!“ schrie, waren diese aber schnell verschwunden. Irgendwann änderte sich die Gegend allmählich. Auf dem matschigen Pfad krochen Nebelfelder und die Bäume veränderten ihr Erscheinungsbild, in finstere, Blätterlose Gestalten mit verdorrten, langen Ästen. „Na freundlich hier.“ „Wir sind am Weg zum Nebelschloss angekommen.“, entgegnete Schneeröschen. „Ich kann gar keine Sonne sehen.“, so Rotmäntelchen, die Sorgenvoll den Kopf schwang und damit auch den Frosch. „Ob es schon dämmert?“ Der Frosch gab sich mühe, sich festzuhalten. „Nein- mein Zeitgefühl sagt mir, dass es später Nachmittag ist.“ „Ui! Kein Wetter, sondern Tageszeit-Frosch.“ „Ich bin kein Frosch!“ „Sagt mal...“, Rotmäntelchen blieb gemeinsam mit Schneeröschen vor einer alten, verwachsenen Steinmauer stehen. „Wieso nennt man das eigentlich 'versperrtes Nebelschloss'?“ „Das riesige Tor ist versperrt.“, so Schneeröschens Antwort, „Niemand kann hinein...“ „Und wie zum Geier sollen wir dann auf die andere Seite?“ Da plusterte sich, stolz auf sein Wissen, der Frosch auf. „Dummerchen. Wir gehen natürlich rund herum, durch den stockfinsteren Wald!“ „Stockfinsteren? Ist der verwand mit dem finsteren Wald?“ „Was..?“ „Also ich geh nicht noch einmal durch einen Wald.“, Rotmäntelchen begann, die Steinmauer entlang zu gehen. „Da sitzt bestimmt wieder dieser gemeine Wolf, der mir den Korb klauen will. Oder noch schlimmer: Rebhühner.“ „Was..!?“ „Rotmäntelchen!“, rief Schneeröschen, die ihr eilig nachlief, „Was hast du denn vor? Willst du einbrechen?“ „Irgendwo gibt es bestimmt eine Ranke, oder so etwas.“, das Mädchen zerrte an einer mit der Wand verwachsenen Wurzel, ehe diese nachgab und herausgerissen wurde. „Oh.“ „Das ist Einbruch! Dafür könnten wir festgenommen werden.“ Das Model hatte nicht erwartet, so trocken von ihrer Freundin angesehen zu werden. „Ganz ehrlich. Ein so verwachsenes, versperrtes Schloss? Die Inhaber liegen bestimmt als ausgetrocknete Mumien vor dem Schachbrett.“ „Psst! Das sagt man doch nicht!“ „Schneeröschen, ist schon gut.“, beruhigte Rotmäntelchen, lächelnd, „Ich sage, ich bin es gewesen und nehme im Falle einer Festnahme die Schuld auf mich.“ Da war sie sich sicher. Da hörte man eine fremde, männliche Stimme. „...Wer ist da?“ „Schneeröschen war es!!“ „Rotmäntelchen!“ Allein der Frosch blickte nach oben und sah einen Mann am Fenster des Turmes stehen, unter dem die Gruppe stand. „Hallo! Verzeihen sie bitte! Sind Sie der Schlossbesitzer?“ Der hochgewachsene, schwarzhaarige Mann brauchte einen Moment. „Ja, unter anderem.“, er musterte die seltsamen Reisenden, ehe er weitersprach. „...Wollt ihr in das Schloss?“ „Ja!“, so Rotmäntelchen. „Nein! Bloß auf die andere Seite.“, darauf Schneeröschen, die den Kopf schüttelte. „Machen Sie sich bitte keine Umstände.“ „Oh, ihr bereitet mir keine Umstände.“, der Mann lächelte freundlich, „Ich hatte schon lange keine Gäste mehr.“ Da verschwand er kurz und tauchte wieder mit einer Tasse auf. „Wollt ihr vielleicht einen Tee?“ Nun, schlussendlich, ließ sich auch Schneeröschen beruhigen. Sie sah durch die Runde, als ihre Freundin im roten Mantel mit den Achseln zuckte. Anschließend blickte sie wieder nach oben. „Uhm... gerne. Aber Sie müssen uns das Tor öffnen.“ „Das geht nicht...“, er sah sich kurz um und schien etwas zu murmeln, „Hm, ja, das sollte genug Zeit gewesen sein... wartet! Ich werfe euch etwas zum hochklettern zu!“ Während Rotmäntelchen, bereit zum Auffangen, die Arme ausstreckte, sah der Frosch durch die Runde. „Was meint er mit „das sollte genug Zeit gewesen sein...?“ Da fiel auf das Mädchen so viel schwarzes Haar hinab, dass sie es kaum halten konnte. „I-ist-“, stotterte Schneeröschen, völlig perplex von den Haaren, „Ist das- etwa alles- alles echtes Haar...?“ „Kommt herauf!“, rief der Mann, „Habt keine Angst. Das hält schon.“ Das Mädchen mit roten Mantel konnte sich kaum aus den Haaren befreien, da begann bereits der Frosch das Haar hochzuklettern. Sie selbst schob ihren Korb hinauf zur Schulter, „Wie lange ist der Typ denn schon da drinnen...?“, und begann zu klettern. „Keine Ahnung...“, Schneeröschen selbst beutelte sich ein wenig. „Aber es ist irgendwie widerlich.“ „Ach, das ist bestimmt gepflegt. Komm schon – es ist mit Sicherheit ein kürzerer Weg, als einmal durch den stockfinsteren Wald, um das ganze Schloss herum.“ „Ja... wahrscheinlich hast du recht.“ Der Katzendame blieb das Erklettern der Haare nicht erspart. Sie wartete noch, bis Rotmäntelchen etwas voran gekommen war und begann im Anschluss hinauf zu klettern. Oben angekommen, hob sich Rotmäntelchen mühselig über das steinige Fensterbrett, auf dem der Frosch saß. Er hatte den Weg mit Leichtigkeit geschafft. Obwohl er viel kleiner war. So kanns gehen. Der Mann stand in aller Ruhe im kleinen, runden Turmraum und trank seinen Tee. Nichts hatte auch nur den geringsten Anschein, dass das Beklettern seiner Haare anstrengend war. Denn ehe es den Turm hinab hing, lag das erste Stück auf dem Boden. „Verzeihen Sie...“, schnaufte das Mädchen, als sie der Mann unterbrach. „Oh, du musst Rotmäntelchen sein. Du bist in deiner Umgebung ziemlich bekannt.“ „Ich weiß.“, entgegnete sie ihm und zeigte etwas beleidigt zum Frosch. „Nur der da hat nicht von mir gehört.“ Der grüne Kerl plusterte seine Backen auf: „Natürlich nicht! Ich war die ganze Zeit im abgeschiedenen Sumpf!“ „Stimmt... entschuldige, als Frosch kommt man bestimmt nur schwer an Informationen.“ „Ich bin kein Frosch!“ Schneeröschen kam, endlich, im Anschluss hinauf geklettert. „V-verzeiht... ich habe ein wenig Höhenangst.“ „Oh! Nun erkenne ich Sie!“, der Mann lächelte begeistert, „Sie sind Schneeröschen, die hübsche Frau aus dem Norden!“ Die Katzenfrau kicherte verlegen. „Ganz recht... und Sie sind?“ „Nennt mich Avrunzel. Und, bitte, per Du wäre es mir angenehmer.“ Nach einigen Überlegungen runzelte Rotmäntelchen die Stirn. „Wie kann es sein... dass Si- du von uns gehört hast, obwohl du, wie das lange Haar verrät, sicher schon eine gefühlte Ewigkeit nicht das Schloss verlassen hast...? Sind Sie Magier?“ „Ja, auch.“, bestätigte Avrunzel. Er deutete hinter sich, wo an den Wänden, die gesamte Wand hoch, bis in das spitze Dach des Turms hinein, Bücherregale aufeinander gestapelt waren. „Ich lese sehr viel.“ „Und... da steht drinnen, wer wir sind?“ „Nein. Ich habe Zeitschriften abonniert.“ Von Rotmäntelchen und Schneeröschen waren gleichzeitig ein langgezogenes „Ooh.“ zu hören. „Einmal die Woche kommt ein Postbote vorbei und wirft mir Lesematerial hoch. Steve, netter Bursche.“, der Mann griff nach einer Teekanne, „Wollt ihr einen Tee?“ Auch wenn es Schneeröschen unangenehm war, musste sie das Angebot im Namen der Gruppe ablehnen. „Äh, nein... verzeih uns, aber wir sind eigentlich auf der durchreise.“ Auch, wenn das nicht allen gefiel: „Heh...! Ich hätte gerne einen gewollt!“, so Rotmäntelchen. „Sieh mal zum Horizont, Dummerchen.“, nun zeigte der Frosch aus dem Fenster. „Wenn wir vor Einbruch der Nacht am gesuchten Ort sein wollen, müssen wir uns beeilen.“ „Oh je, du hast recht... ich darf das Abendessen nicht verpassen!“ „...Solche niedrigen Ziele hätte ich auch gerne.“ „Also schön!“, Rotmäntelchen, in höchster Motivation, trat zur Tür des Turmraumes. „Avrunzel: sperr die Tür auf!“ „Das kann ich nicht.“ „Wieso nicht?“ „Der Schlüssel liegt auf der anderen Seite.“ Eine lange Stille breitete sich im Zimmer aus. Sie war, als hätten drei grasende Kühe gerade ein Schwein vorbeifliegen sehen. Genau so ungläubig sah die ungewöhnliche Reisegruppe aus der Wäsche. „Der Schlüssel... liegt auf der anderen Seite.“, wiederholte Schneeröschen. „Ja – wisst ihr, das ist der Grund, wieso ich euch das Tor nicht öffnen konnte.“ „Oh, ich wusste es...“, so die Katzendame, „Es war keine gute Idee, einen anderen Weg zu suchen. Nun sind wir in einer Sackgasse und kommen nicht weiter!“ Schneeröschen klagte noch ein wenig weiter. Über ihren Freund, der sicherlich furchtbare Angst hatte und die drohende Nacht, die die Suche mit Sicherheit erschweren würde. All dem hatte Rotmäntelchen nicht zugehört: sie hockte neben der verschlossenen Tür, starrte ein kleines Loch in der Steinwand an und rieb sich dabei das Kinn. Ihre Augen weiteten sich, als Zeitgleich ein lockeres Lächeln ihr Gesicht zu zieren begann. Zielstrebig sprang sie auf ihren Beinen hoch und schwang sich der Gruppe entgegen. „Leute – ich habe die Lösung!“ Als das Model, der Frosch und der langhaarige Magier zu ihr sahen, grapschte sie schnell den kleinen, grünen Begleiter. Alle, die Augenbrauen besaßen, zogen diese nach oben, als Rotmäntelchen den Frosch durch den Mauerspalt drückte. „Lass mich los! Was tust du da!? Hilfe-!“, noch kurz die Hand in das Loch gedrückt, flutschte der Frosch auf die andere Seite, zum Flur. „So!“, meinte das Mädchen zufrieden, „Und nun hol uns den Schlüssel!“ „Bitte.“, fügte Schneeröschen an. Immerhin wollte sie, zugunsten der Gruppe, dass er auch zurückkam. Avrunzel, an seinem Tee nippend, nickte zufrieden. „Ich weiß zwar nicht, wo ihr diesen Frosch her habt, aber der Ideenansatz ist sehr gut.“ Leise gedämpft konnte man durch die Holztüre hören: „Ich bin kein Frosch!“ Rund vier Minuten dauerte es, dann kam der Nicht-Frosch mit dem Schlüssel zurück, wieder durch die Spalte. Als Avrunzel die Tür aufsperrte und aufstieß, genoss er es in vollen Zügen. Er atmete tief den Geruch des Schlosses ein und erfreute sich all des vielen Platzes. „Endlich! Nun lasst uns diesen Korb der alten- äh, Frau überbringen!“ „Und meinen Freund finden!“ „Und die Hexe zu meiner Rückverwandlung zwingen!“ „Oh, redet ihr von Tracalia?“, so Avrunzel. „Uhm... lebt sie hinter dem versperrten Nebelschloss...?“, fragte Rotmäntelchen, zur Sicherheit. „Aber sicher. Sie ist vor einem Jahr ausgezogen.“ „Dann, ja... bitte was, ausgezogen?“ „Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?“, der Mann lächelte freundlich, „Sie ist meine Schwester.“ Kurz kehrte die Stille, der grasenden Kühe, die ein Schwein vorbeifliegen sahen, zurück. Dann patschte sich der Frosch die Pfote in das Gesicht. „Das war ja so klar...“ „Avrunzel, könnten Sie uns zu ihr bringen?“, Schneeröschen fragte mit einer ruhigen Stimme. „Es scheint, als sei die Hexe und die alte- äh, Frau, ein und die selbe Person.“ „Oh, für eine so reizende Dame mache ich alles. Ich habe das Schloss so lange nicht verlassen... ich denke, ein kleiner Spaziergang würde mir guttun.“, er setzte sich in Bewegung und nippte an seiner Tasse, „Aber ich muss euch warnen: Tracalia ist eine schwierige Frau. Bereits als wir klein waren, wollte sie immer all das Spielzeug an sich reißen.“ „Jap.“, so der Frosch, „Das klingt nach der meinen gesuchten Hexe.“ „Wieso das?“, wollte Rotmäntelchen wissen, die den grünen Gesellen wieder auf ihrer Kapuze sitzen hatte. „Weil sie mich bedrängte. Sagte, ich sei 'zum Anbeißen' und solle ihr Freund werden. Was passierte, nachdem ich abgelehnt hatte, kann man sich ja denken.“ Ungefähr hundert Schritte gingen sie, hinter dem Schloss durch den stockfinsteren Wald. Er trug seinen Namen zurecht. Im Gegensatz zum finsteren Wald. Hier war die Luft von dunkler, blauer Luft erfüllt und die Nebelschwaden kreisten nicht nur am Boden. Die Bäume, welche bereits vor dem Nebelschloss so verdorrt und trostlos wirkten, waren hier noch viel unheimlicher. Avrunzel hatte teilweise eine Erklärung dafür. Ja, der stockfinstere Wald war beim Einzug des Nebelschlosses genauso hell und freundlich wie der finstere Wald. Doch als Tracalia begann sich zu verändern und immer habgieriger wurde, veränderten sich auch die Bäume. Ob das nun einen indirekten Zusammenhang mit ihrer Stimmung hatte, oder sie einfach La-Di-Da-Lust dazu hatte, einen Zauber anzuwenden, wusste er nicht. Rotmäntelchen blieb stehen, als Avrunzel und Schneeröschen plaudernd noch etwas weiter voran gingen. Sie drehte den Kopf und lauschte. „Was ist denn, Rotmäntelchen?“, frage der Frosch. „Hast du etwas gehört?“ „Ja...“, so die Antwort. „Es klang wie ein Knurren. Eventuell war es aber auch nur mein Magen.“, kaum setzte sie einen Fuß voran, um zu den anderen beiden aufzuholen, sprang ein Wolf aus dem Dickicht. Nein, DER Wolf! „Du schon wieder!“, Rotmäntelchen umklammerte den Korb, so fest sie konnte. „Ich will dir den Korb nicht stehlen.“, sein Fell schien sich kurz zu sträuben, „Folge mir.“, ehe der Wolf loslief, abseits des Weges in das Dickicht zurück. Das Mädchen blieb darauf noch kurz auf ihrer Position stehen. „Rotmäntelchen, willst du dem etwa folgen? Er frisst dich in einem Stück – und das sage ich nicht nur, weil ich gerade so klein bin.“ „Unsinn, er ist doch kein Reh.“ „Was?“ „Heh, Leute!“, Rotmäntelchen rief Avrunzel und Schneeröschen nach, „Kommt, wir müssen hier weiter!“ Beide liefen zurück zu ihr. „Wieso bist du dir so sicher?“, fragte die Katzendame, „Avrunzel kennt doch den Weg.“ „Ja, aber der Wolf sagte, wir sollen dort lang.“ Avrunzel nahm von seiner Tasse einen Schluck. „...Der Wolf?“ „Vertraut mir. So habe ich euch doch auch gefunden.“, Rotmäntelchen lächelte mit Glanz in den Augen. „Hat es jemals geschadet, vom geraden, einfachen Weg abzukommen?“ Das Mädchen sah durch die Runde und blickte in verwunderte Gesichter. Schließlich gab ihr Schneeröschen recht und nickte. „Also gut. Lasst uns dem Wolf folgen.“ So geschah es. Die Gruppe kämpfte sich durch das Dickicht, abseits des Pfades, welcher zum Haus der Hexe geführt hätte. Auf dem Weg hingen Spinnennetze in den Bäumen und schaurige Lianen schlängelten sich hinab, direkt über den Köpfen unserer Freunde. Alle konnten sie die Angst spüren, welche sich wie ein Schauer über den Nacken bis in die Zehnspitzen ausbreitete. Sie konnten nicht sagen, was dort lag, doch war die finstere Aura allgegenwärtig. „Na endlich.“, Da sprang der Wolf hervor und versetzte der gesamten Gruppe einen Schock. „Musst du uns so erschrecken?!“, Rotmäntelchen klopfte dem Wolf auf den Kopf, wobei er winselte. „Bemerkenswert. Der Wolf kann sprechen.“, so Avrunzel. „Ich doch auch!“, darauf der Frosch. „Ich bin kein Wolf.“, das Tier schien zu seufzen und senkte den Kopf. „Meine Name ist Furwrah. Tracalia hat mich verwandelt.“ „Oohh, du Armer.“, Rotmäntelchen streichelte ihn an der Stelle des Kopfes, den sie zuerst geklopft hatte. „Das Erklärt einiges. Ich meine, wieso du sprechen kannst und so.“ „Ich kann verdammt noch mal auch sprechen!“, nun sprang der Frosch auf der roten Kapuze auf und ab, „Und ich bin auch kein Frosch!!“ Da schoss aus dem Nichts ein heller Blitzstrahl vorbei, welcher direkt den aufgewühlten Frosch traf und ihn von Rotmäntelchens Kopf riss. Die Hände in das Gesicht geschlagen, ließ das Mädchen den Korb fallen und lief als erste der Gruppe dem kleinen Freund entgegen, welcher im dunklen Gras gelandet war, „Herr Frosch, oh nein!“, und sammelte ihn liebevoll in ihre Hände auf. „Oh bitte, öffne die Augen!“ „Was war das?“, so Schneeröschen, „Wo kam das her?“ Dies war das erste Mal, dass Avrunzel nicht an seiner Tasse nippte. „Tracalia.“ Ein schallendes, helles Lachen war zu hören. Wie man es sich eben von einer Hexe vorstellt. Nicht wie von einer alten Frau, aber leicht wahnsinnig. „Iiehhihihihi!“, die Hexe, welche so viel Unglück über die Gruppe brachte, tauchte in einer grünlichen Nebelexplosion vor ihnen auf. Ihre Haare, so schwarz wie die Nacht und kurz geschnitten, bis zu den Schultern. Augen, so grün wie das faulende Gift einer Schlange und Fingernägel, so dürr und lang, wie die einer- hm, Katze. „Aah, Avrunzel, mein lieber Bruder! Hast du es endlich aus dem Turmraum geschafft?“ „Das habe ich nicht dir zu verdanken.“ „Nein. Wieso sollte ich auch?“, sie zeigte ihm die kalte Schulter, „Es hat so lange gedauert, dich darin einzusperren.“ „Das warst du!?“, der arme Avrunzel ließ seine Tasse fallen, „Nein!“ „Doch!“, Tracalia lachte, „Ich sperrte dich im Turmraum ein und lies den Schlüssel am Gang zurück!“ Da schüttelte Schneeröschen den Kopf. „Wieso tust du sowas!?“ „Er hat es nicht anders verdient! Nie wurde ich auch nur einmal zu einem seiner Brettspiel-Abenden eingeladen!“, nun begann die Hexe das Model zu mustern. „...Und du. Du bist Schneeröschen, habe ich recht?“ „J-ja?“ „Ich denke, ich habe hier etwas, was einst dir gehörte. Oh, Schätzchen, kommst du kurz?“ Ein junger, gutaussehender Fuchsmann trat hervor. Er schmiegte sich an Tracalias Schulter und fragte liebestrunken: „Ja, oh liebste Herrin...?“ „Sir Toony von Fuchsstein!“, nun schlug Schneeröschen die Hände in ihr Gesicht. Beim Anblick ihres Freundes in den Armen der Hexe zerriss es ihr fast das Herz. Tränen begannen ihr das Gesicht entlang zu laufen, obwohl sie zeitgleich nicht wahrhaben vermochte, was ihre Augen sahen. „Liebster Toony! Bitte nicht...!“ Nun trat der Wolf vor. „Sieh dich an, Tracalia. So tief bist du gesunken.“, er knurrte regelrecht, „Nimmst dir, was nie dein Eigen war und zwingst es, zu bleiben.“ „Was geht dich das an, Furwrah?“, Tracalia stieß Sir Toony zur Seite, „Du hast hier nichts mehr zu melden. Wieso bist du überhaupt zurückgekehrt?!“ „Um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.“ „Welchem Wahnsinn denn?“, die Hexe lachte spöttisch, „Was willst du machen, in dieser Gestalt? Mich beißen?“ Rotmäntelchen, traurig den bewusstlosen Frosch in ihren Armen haltend, begann langsam zu verstehen. Ihre Stirn legte sich in Falten bei der Erkenntnis, dieser banalen, sinnlosen Chaotik. Entschlossen stand sie auf und ging auf die Hexe zu. Bis zu ihren Freunden. Weiter lieber nicht. „Jetzt verstehe ich! Du hast einfach eine völlig verdrehte Weltansicht!“ Tracalia zog die Augenbrauen zusammen. „Wie bitte?“ „Ja – sieh dich noch einmal um. Wenn ich das richtig sehe, war Furwrah dein Freund.“ Er nickte. „Als er dich beleidigte, oder sonst was-“ „Ich ging ihr auf die nerven.“ „Okay... also, als er dich nervte. Da hast du ihn in einen Wolf verwandet.“, sie sah zum Frosch herab, der friedlich zu schlafen schien, „Du hattest beschlossen, dir einen neuen Freund zu suchen und daher den netten Herrn Frosch bedrängt. Als dieser ablehnte, hast du ihn auch verwandelt – mitten in einem Sumpf!“ „Richtig!“, so die Hexe, die die Arme verschränkte, „Sonst lernt er es doch nie. Eine Frechheit, einfach eine Dame abzulehnen.“ „Und als du dann immer noch alleine warst, hast du dir den Freund von Schneeröschen geklaut!“ „Ganz genau!“ „Aber das tut man nicht!“ „Wieso denn nicht?!“ „Weil das Diebstahl ist!“, Rotmäntelchen überlegte kurz, „Genau genommen ist das Entführung, immerhin ist Sir von Fuchsstein-“ „Sir Toony von Fuchsstein!“, schluchzte Schneeröschen hinein. „Jaja. Er ist kein Objekt, also gib ihn Schneeröschen wieder.“ „Was – und ich soll erneut alleine sein? Das ich nicht lache!“, die Hexe lachte tatsächlich. „Aber das muss doch nicht sein.“, Avrunzel, der die ganze Zeit in aller Ruhe seine zerbrochene Tasse vom Boden aufgesammelt hatte, richtete sich auf. „Tracalia. Wieso hast du mir denn nie gesagt, dass du gerne an einem unserer Brettspiel-Abenden teilnehmen willst? Ich hätte dich gerne mit an meiner Seite gehabt. Schon als Kind warst du unschlagbar.“ Nun schien die böse Hexe perplex. „E-ehrlich...? So denkst du über mich?“ Der Mann lächelte. „Aber natürlich, liebste Schwester. Du gabst mir immer den Eindruck, den Spielabend im Nebelschloss nicht zu mögen... da haben wir uns in der Kommunikation wohl missverstanden.“ „Oh...“, Tracalia begann, ihre schmerzende Brust zu halten. Sie fühlte ein Stechen, doch zugleich eine Wärme, die sie einst nur vom Kennenlernen ihres Freundes, Furwrah kannte. „Ohh... Avrunzel...“, sie drehte sich der Gruppe entgegen, „Ihr... könnt ihr mich verzeihen?“ „Das, äh-“, Rotmäntelchen sah durch die verstörte, verzauberte Runde. Sich die Tränen wegwischend, nickte Schneeröschen. „Bitte, gib mir meinen Freund zurück... dann verzeihe ich dir gerne.“ Die Hexe nickte. Sogar überaus freundlich. So freundlich, dass der Wald ein kleines bisschen heller schien. Und Sir Toony von Fuchsstein? Er blickte mit einem Mal auf und wusste nicht, wo er war. Doch er erkannte Schneeröschen und schloss diese sofort in seine Arme. „Liebstes Schneeröschen!“, rief er dabei. „Oh, liebster Toony!“, freute sich auch die Katzendame. Tracalia, positiv überrascht über das gute Gefühl in ihrer Brust, etwas richtig gemacht zu haben, sah zu den anderen. „Und was kann ich für euch tun?“ „Bitte-“, meinte Rotmäntelchen. „Bitte, verwandle Furwrah und Herrn Frosch zurück!“ „Oh... das.“ „Oh... was?“ „Die Sache ist die...“, beschämend rieb sich die Hexe am Nacken, „Ich kann Menschen in Tiere verzaubern, aber keine Tiere in Menschen.“, dabei sah sie zu ihrem Exfreund, dem Wolf. „Ist das ein Problem für dich?“ „Spinnst du?“, er grinste bis über beide Ohren. „Du hast mich so oft reden hören, wie sehr ich Wölfe beneide. Ein Leben ohne vier Pfoten kann ich mir gar nicht mehr denken!“ „Ja, aber-“, traurig sah Rotmäntelchen zum Frosch hinab, „Dann wird sich der Wunsch für Herrn Frosch nie erfüllen.“ Tracalia, sich zum ersten Mal über ihre Schuld bewusst, schüttelte bestürzt den Kopf. „Es... es tut mir leid.“ Vielleicht war es besser so. Ein Leben als Mensch konnte sehr anstrengend sein. Insgeheim dachte das Mädchen sich, den bewusstlosen Frosch mit nachhause zu nehmen. Zu ihrer liebevollen Familie. Dann wäre sie nicht so einsam und jemand könnte ihr beim Putzen helfen. Das Abendessen? Das hatte Rotmäntelchen völlig vergessen. Was ist schon ein Abendessen und eine Nacht im Stall, im Gegensatz zu einem Schicksal als Frosch...? Sie schniefte mit ihrem rechten Nasenloch und küsste, ganz vorsichtig, den Frosch auf die kleine Stirn. „Es tut mir so leid...“ Da rührte sich der Frosch. Er rührte sich so schnell, dass ihn Rotmäntelchen erschrocken fallen ließ: und er verwandelte sich! Er nahm seine ursprüngliche Form als Mensch an. Haare, so hell wie die Sonne, ein Hemd, wieder einmal so weiß wie Schnee, ein Auge, so blau wie das Meer und das zweite so schillernd Gelb wie- ach, was weiß ich. Rotmäntelchen, einen Kopf kleiner als Herr Frosch, blieb der Mund offen stehen. So wie jedem in der Gruppe. Da lächelte Tracalia, verschränkte verlegen die Arme. „Wisst ihr jetzt, wieso ich ihn anmachte?“ „Ich danke dir, Rotmäntelchen.“, Herr Frosch verbeugte sich tief vor ihr. „Ich habe das Versprechen gegeben, diejenige zu ehelichen, die mich von meinem Bann erlöst.“ „Auch mich?“, so die Hexe. „Nein.“, er sah das Mädchen mit rotem Mantel liebevoll an. „Du bist eine temperamentvolle, junge Frau. Du erzähltest mir, wie schwierig es in deinem Zuhause ist. Wenn es denn auch dein Wunsch ist, würde ich dich gerne mit in mein Königreich nehmen.“ „Du hast ein Königreich?“ „Das... erwähnte ich ganz am Anfang.“ „Oh. Ok, gerne.“ „So sei es.“ Tracalia, zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Taten, sah durch die Runde. „Und... was machen wir jetzt?“ „Nun...“, entgegnete Avrunzel, „Ich würde euch gerne zu einem Brettspiel-Abend einladen, mit Tee. Nur leider ist meine einzige Tasse zerbrochen.“ „Das macht doch nichts!“, Rotmäntelchen lief schnell zum Korb und holte den Wein hervor. „Oh, mein bestellter Wein!“, freudig klatschte Tracalia in die Hände, „Um mein neues Ich zu feiern – und meine psychisch angerichteten Schäden zu bezahlen – teile ich ihn gerne mit der Runde!“ Alle freuten sie sich. Schneeröschen mit ihrem Freund, Sir Toony von Fuchsstein, Avrunzel, mit seiner Schwester Tracalia, Furwrah, der als Wolf weiter auf die Pirsch gehen konnte und Rotmäntelchen, die ihr altes Leben gegen das, einer angeheirateten Prinzessin des Nachbarlandes eintauschte. Nie mehr musste sie Schuhe putzen, oder die alten Sachen ihrer Schwestern anziehen. Und der rote Mantel? Der kam als Symbol des Neuanfangs mit. Denn mit ihm hatte alles angefangen. Ende. „DAS war das dümmste Ende, das ich je gehört habe.“, Tracy schnaufte, ehe sie einen Stock ins Lagerfeuer warf. „Tracalia hätte diesen von Fuchsstein verbrennen sollen! Und was soll das mit dem einfach so von einem Brettspiel-Abend umkehren lassen?!“ Lyze, immer noch verwirrt von dem Märchen, sah vorwurfsvoll zu Siri. „...Wieso muss ich der Frosch sein?“ „So schlecht war das Ende nicht.“, Avrial lächelte, ehe er zufrieden aus seiner Tasse trank. „Etwas unwahrscheinlich, aber sehr schön.“ „Wieso muss ich der Frosch sein?“ „Ich fand es auch sehr schön!“, an ihrem weißen Haar spielend, kicherte Sunny in die Runde. „Na also.“, Siri lehnte sich, zufrieden mit ihrer Mission, am Baumstamm hinter sich zurück. „Sunny hat ihr Geburtstagsgeschenk gefallen – und das ist die Hauptsache!“ „Und wieso muss ich der Frosch sein?“ „Wolltest du lieber der Wolf sein, der nicht zurück verwandelt wird?“ Da huschte ein lächeln über Avrials violette Lippen. „Dass Furwrah ein Wolf blieb, gefiel mir am Besten.“ Die kleine Gruppe am Lagerfeuer lachte. Ihnen war klar, dass ihr Freund diese Stelle am meisten mögen würde. Sunny lächelte noch einmal in die Runde und nickte. „Vielen Dank, Siri. Danke auch an euch, für eure Geduld. Das war einer, meiner besten Geburtstage, die ich außerhalb von Zuhause verbringen durfte.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)