Dead Society von Gepo (Die Hoffnung stirbt zuerst) ================================================================================ Kapitel 7: Erste Schritte in den Käfig -------------------------------------- Da bin ich wieder! Und ich muss direkt eine Sache loswerden: Danke für eure ganzen Kommis! Danke! Wirklich danke! Ihr seid einfach nur klasse! Und ich bin ehrlich überrascht, dass euch Ryou so mitnimmt - ich habe noch kaum etwas über ihn geschrieben und schon weint ihr ihm Tränen nach. Aber es folgen ein paar Kapitel über ihn ^.- Ich für meinen Teil hab ihn sehr lieb. Und jetzt will ich ganz schnell schweigen und euch lesen lassen. Nur kurz noch ein paar Neuigkeiten: Ich habe vier Kapitel dieser FF geschrieben, eine ganz kleine FF, die ich auch gleich hochlade und wobei der Titel alles sagt (Titel: "Dead Society - Kleine Nebensequenzen") und auch ein kleines Stück bei meinem Buch. Näheres findet ihr in meinem Weblog. Ich freue mich, wieder da zu sein! Und nun viel Spaß beim Lesen: P.S.: Mir ist Ryous und Bakuras Augenfarbe entfallen ^.^" Jetzt sind sie eben blau... (danke für den Hinweis) ______________________________________________________________________________ „Und achtet darauf, dass der Fisch nur leicht anbrät! Er darf nicht braun werden, er muss von einem leichten Goldton überzogen werden. Hijiri, pass mit dem Fett auf!“ Die Lehrerin hechtete von einem Tisch zum nächsten, wiederholte alle zwei Minuten ihre wirklich konstruktiven Vorschläge für alle und gab hier und da noch ein paar spezifischere Anweisungen. Nur bei einem Tisch hatte sie bisher noch keinen einzigen Kommentar gegeben. Nicht nur, da das Essen richtig gut aussah – was bei den anderen aber auch nicht half, um vor ihren Kommentaren geschützt zu werden – sondern auch, weil sie wohl eine leichte Angst vor der Reaktion hatte. Ihr Blick war immer wieder über Katsuyas mit Metall durchlöcherte Ohren, seinen Verband mit dem Blutfleck an der rechten Seite und seine Nitenbänder gewandert. Und ebenso oft zu dem Jungen, der neben dieser in sich selbst zusammengefallenen Gestalt stand. Der Kleine pfiff während der Arbeit vor sich hin und schien ohne jeglichen Gegenkommentar auf den Älteren einzureden. Als sie das letzte Mal bei beiden vorbeigekommen war, sprach er gerade von den neu entwickelten Tiefseenetzen, mit denen man die Umwelt noch effektiver zerstören konnte. Der Punk stand seelenruhig daneben und schnitt gerade Gemüse für eine Beilage. Und er sah auch nicht so aus, als wollte er den Redefluss stoppen. „…du musst bedenken, was für ein immenser Beifang dabei gemacht wird! Nicht nur, dass der Seeboden unheilbar zerstört wird und verschiedenste Fischarten ausgerottet werden, nein, man muss auch noch den größten Teil des Fanges tot zurück ins Meer werfen! Die Fischbestände leiden darunter und wenn man da auch noch an die Umweltverschmutzung denkt… diese Raubfischerei ist wirklich unverzeihbar. Wie denkst du darüber?“ Katsuya wendete gerade den Fisch in der Pfanne und drehte den Herd herunter, damit auch die Lehrerin endlich zufrieden war. Nach ihrem Kommentar am Nachbartisch konnte er ja schließen, dass die kleinste Bräune schon eine schlechte Bewertung geben würde. Aber eigentlich waren seine Gedanken eher beim Essen all dieser Dinge als bei der Zubereitung. Trotzdem machte er sich ganz gut – wenn man sich nun mal ein Leben lang selbst versorgte, dann lernte man das Kochen mehr oder weniger unausweichlich. Aber das Schwierigste war wohl, währenddessen auch noch dem Monolog neben sich zu folgen. Aber wenigstens hatte er es geschafft, diesen Ryou auf andere Gedanken zu bringen – das war es doch glatt wert. „Wenn ich ehrlich bin, ich habe mich damit nie viel beschäftigt.“ „Echt nicht? Na gut, ich bin auch nur durch Zufall darauf gekommen. Mein Bruder arbeitet ja immer lange und so habe ich abends meist nichts zu tun. Und da er mir verboten hat einen Nebenjob anzunehmen, habe ich begonnen alles zu lesen, was ich so in die Hände bekomme. Der Nachbar hat angefangen, mir seine Tageszeitungen zu schenken und über uns wohnt eine Studentin, die sich immer von mir abfragen lässt. Und im ersten Stock lebt eine Hausfrau, die hat wegen der kleinen Wohnung fast nie etwas zu tun und daher erzählt sie mir gern den neuesten Klatsch. Und seit Bakura – also mein Bruder – mir einen Computer geschenkt hat und mir sogar eine Internetverbindung bezahlt, kann ich mich nach Lust und Laune über ganz viele Sachen informieren.“ Es war wirklich auffällig, wie oft dieser Junge seinen Bruder erwähnte. Ryou hatte dem Älteren schon erklärt, dass sein Bruder sein Ein und Alles war und die beiden zusammen in einer Wohnung am Stadtrand lebten. Und dass sein Bruder beider Lebensunterhalt mit jeder Menge Jobs verdiente und manchmal kaum zum Schlafen kam. Und wie sehr es den Jungen belastete, dass er nichts für eben diesen Bruder tun konnte und ihm nur auf der Tasche lag. Aber Bakura schien ein ganz netter Typ zu sein. Nach Ryou wollte er seinem kleinen Bruder eine gute Ausbildung mit auf den Weg geben, damit der einmal besser endete als er selbst. Und dass sich beide wirklich gern hatten und sie trotz der Armut ihr Leben sehr liebten – Glück musste man halt haben. Aber mehr erzählte der Weißhaarige auch nicht. Er hatte noch mit keinem einzigen Wort seine Eltern oder irgendwelche sonstigen Verwandten erwähnt. Er hatte nicht gesagt, was in seiner Vergangenheit passiert war. Und er hatte auch noch nicht verraten, warum ihn keiner mochte. Und all diese Fragen brannten Katsuya auf der Zunge. „Meinst du, der Fisch ist gut so?“, meinte er stattdessen. Ryou richtete seinen Blick in die Pfanne, drehte die beiden Stücke Lachs und nickte zustimmend. Während der Blonde die gebratenen Tiere elegant aus der Pfanne fischte, füllte der Kleinere schon mal Reis auf und stellte auch die restlichen Utensilien auf den Tisch – das Beste an Hauswirtschaft war doch wirklich das Essen. Und nachdem Ryou die Lehrerin gerufen hatte und sie das Essen mit einer zufrieden stellenden Note abgesegnet hatte, konnte es auch losgehen. Und Katsuya sah seine Chance. „Sag mal, darf ich dich eigentlich etwas Persönliches fragen?“ „Darf ich vorher eine Frage stellen?“ Katsuyas Augenbraue fuhr nach oben und sein leicht missfälliger Blick traf Ryous bittende Augen. Er harrte noch kurz aus, doch lehnte sich kurz darauf zurück und seufzte. „Meinetwegen…“ „Ich wollte eigentlich nur wissen, warum du so hungrig bist.“ Der Blonde zog die Augenbrauen zusammen. „Bitte?“ „Na ja, du verschlingst dein Essen mit Heißhunger und wenn ich ehrlich bin, dann siehst du sogar ein wenig ausgezehrt aus…“ Katsuyas Blick verfinsterte sich. „Ah, natürlich musst du nicht antworten! Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein!“, Ryou ruderte mit seinem Armen und errötete leicht. Na gut, er wollte ja auch etwas Persönliches von dem Zuckerstück wissen – also sollte er auch etwas von sich preisgeben. „Nun, nicht jeder hat einen Bruder, der einem das Leben finanziert. Und ich habe nun mal keinen Job.“, okay, viel hatte er nicht wirklich verraten. Aber Ryou konnte sich ja seine Reime darauf machen. „A- ach so… bist du böse, wenn ich von meinem Bruder erzähle?“ Darüber musste Katsuya dann doch lächeln. „Nein, ganz sicher nicht. Aber ein bisschen beneiden muss ich dich trotzdem. Das Schicksal hat es mit dir wohl etwas besser gemeint.“ Doch entgegen seiner Vermutung hellte sich das Gesicht des Jüngeren nicht auf, sondern wurde plötzlich sehr traurig. Und seine Augen nahmen wieder diese leichte Leere an. „Ryou!“ Sofort fokussierte der Weißhaarige ihn wieder und fand in die Realität zurück. „Willst du mir nicht mal endlich sagen, was mit dir los ist? Ich krieg Angst, wenn du plötzlich so abschweifst. Diese Leere ist wirklich grauenhaft mit anzusehen.“ „Entschuldige…“, sein Blick wandte sich dem noch unangerührten Fisch zu. „Nein, nicht entschuldigen. Ich weiß ja, woher das kommt, ich hab so was schließlich auch. Aber sag mir doch, warum du so leidest.“ Ryou sah scheu zu ihm auf, ließ die Augen wieder sinken und blickte zurück. Die Holzstäbchen in seinen Händen wurden ruhelos durch die Luft geschwungen, während die Arme doch an den Körper gepresst waren. Er wandte den Blick von rechts nach links, von links nach rechts und zurück zu Katsuya. „Hast du morgen Nachmittag Zeit?“ Natürlich hatte Katsuya Zeit und natürlich hatte er zugestimmt. Und nicht unnatürlicher Weise hatten sie das Thema auch nicht mehr angeschnitten. Ryou hatte noch von dem Jurastudium der Nachbarin erzählt, bei dem er sie immer abfragte und von dem Horrorfilm, den er letztens zusammen mit seinem Bruder gesehen hatte. Und Katsuya hatte die Gegenfragen geflissentlich überhört, welche Filme er denn am liebsten mochte und was er mal studieren wollte. Studieren konnte er eh vergessen, er musste arbeiten, da konnte man auch nichts dran ändern. Er hatte kein Geld, um etwas zu Essen zu kaufen, er hatte kein Geld, die Rechnungen zu bezahlen und er hatte erst recht kein Geld, um sich Filme anzusehen. In dem Sinne hatte das Essen übrigens sehr gut geschmeckt – aber seinen Hunger hatte es nicht gestillt. Auch die fünfte Portion Reis nicht. Erst die zwei Extraportion, die er nach dem Unterricht von einem Nachbartisch geklaut hatte, weil sie dort über waren, hatten ihn satt gemacht. Aber wie lange würde das anhalten? Das nächste Mal Hauswirtschaft hatte er erst Freitag. Also war klar, was er heute Abend noch tun würde. Er brauchte einen Job und das dringend. Aber wo bitte ließ sich außer in der Prostitution schnell Geld machen? Er konnte nicht bis zum Monatsende warten. Und Schwarzarbeit war seit der letzten Razzia wirklich schwer zu kriegen. Was also tun? Eigentlich gab es da wie immer nur eine Antwort: Beziehungen spielen lassen. Auch wenn er das hasste, eine andere Chance hatte er wohl nicht. Und da weder sein Vater noch Yami hier irgendeine Hilfe waren, hatte er auch nur eine Anlaufstelle: Sein Nachbar Hiroto. Und vor genau dessen Tür stand er nun. Und wie immer nagten die Zweifel an ihm. Ob er abgewiesen werden würde, ob er sich überhaupt Hoffnungen machen sollte und ob irgendjemand ihn bei seinem schrägen Outfit nehmen würde. Er konnte es nicht verleugnen, er war eine lebende Leiche. Er lebte im Armenviertel von Domino in einer ziemlich abrisswürdigen Bude, in der Wasser- und Stromversorgung eigentlich schon ein Wunder darstellten. Er wurde von der Polizei gehasst und von dem Gesetz im Stich gelassen. Er hatte einen arbeitslosen Alkoholiker zum Vater und eine Mutter, die mit seiner Schwester abgehauen war. Er hatte kein einziges gutes Zeugnis und keinen Schulabschluss. Er hatte straßenköterblondes Haar und war ausgedörrt wie ein Bulimiekranker. Auf seinen Armen prunkten Selbstverletzungswunden und Spritzeneinstiche. Er lief als Punk rum und sein einziges Vermögen stellten die Piercings an seinem Körper dar. Wer zur Hölle sollte ihn denn einstellen wollen? Aber er wäre nicht Katsuya Jonouchi, wenn er nicht wenigstens den Versuch wagen würde. Nachdem er noch einmal tief eingeatmet hatte, betätigte er die Klingel und lauschte den Schritten auf dem Flur, die auf die Tür zuwanderten. Diese wurde einen Spaltbreit geöffnet, geschlossen und nach Entfernen des Vorhängeschlosses endlich aufgemacht. „Katsuya!“, rief Hiroto erstaunt, blickte kurz über den Flur und zog den Jüngeren in die Wohnung, „Welch seltener Besuch…“ „Ich hoffe, ich störe nicht…“ „Meine Güte, welch Höflichkeit… wenn du schon so nett bist, dann willst du doch sicher etwas, oder?“ Katsuya atmete tief ein – direkt formuliert, es war manchmal echt beschissen, wenn jemand einen kannte. Aber irgendwie ersparte es ihm auch eine Menge Arbeit. „Ich fass mich kurz, bin ja schließlich kein Mann des Wortes. Ich brauche Geld.“ „Halt.“, unterbrach Hiroto ihn, „Du möchtest vom ärmsten Schlucker der Gegend Geld?“ „Du bist einer der Reichsten und ich will ja eigentlich auch gar kein Geld.“ „Was denn dann?“ „Einen Job.“, damit war es also raus. Und seine Hoffnung war eh erloschen, also war es auch egal, was Hiroto sagen würde. Es war nicht wichtig. Überhaupt nicht wichtig. Und wenn er ihn auslachen würde, dann wäre das ganz normal. Vollkommen normal. Er hatte eben nichts anderes verdient. „Ein Job…“, murmelte Hiroto, „Das ist schwer… ich hab ja selber nicht einmal einen sicheren Arbeitsplatz. Die können mich tagtäglich feuern… egal, komm erstmal rein.“, unterbrach er sich schließlich selbst und zog Katsuya in das hinterste Zimmer. Hiroto Honda lebte in der Wohnung direkt neben der der Jonouchis. Jedoch war seine Wohnung noch kleiner, neben dem Flur, der Küche und dem Bad hatte es nur ein Zimmer. Manch anderer hätte selbst das noch als Luxus ansehen können, aber alles war so heruntergekommen, dass man sogar den Schimmelpilz von der Wand kratzen konnte. Und manchmal wurde dieser noch von dunklen Flecken geziert, die wohl einst mal Insekten waren. Katsuya schüttelte sich. Er brauchte einen Job und das dringend! „Was hattest du dir denn vorgestellt?“ „Total egal, ich mach alles außer Leute ficken und mich ausziehen. Und das Geld am besten Cash, denn ich brauche sofort etwas.“ Hiroto kicherte. „Na, willst du ein Mädchen mit ein paar Geschenken rumkriegen?“ Katsuya setzte sich schweigend. „Ach ja, die Jugend…“ „Du bist nur ein paar Jahre älter als ich.“, konterte der Blonde leicht säuerlich. „Tja, aber ich bin in dem Alter, wo man dem Ernst des Lebens ins Gesicht sehen muss. Du kannst deine Jugend ja noch ein wenig genießen…“ Er ballte die Hand zur Faust, biss die Zähne aufeinander und schluckte seinen Kommentar. Oh Mann, was hatte er gute Freunde… das mit dem Kennen nahm er zurück. „Aber ich mag dir gern ein wenig unter die Arme greifen, wenn es irgendwo hapert… und wenn das mit den Geschenken nicht klappt, kannst du ruhig mich fragen. Aber zurück zum Job. Ich ruf erstmal meinen Chef an und frage da ein wenig, ob er nicht jemanden kennt, der eine Arbeitskraft sucht. Wenigstens bist du ein kräftiger Bursche…“ Und schon tippte er eine Nummer in sein Handy – übrigens ein Diensthandy, er selbst hätte sich kaum eins leisten können. Und nur eine halbe Stunde später hatte Katsuya einen Job. Ihm war, als fiele ihm ein ganzes Bollwerk vom Herzen. Er hätte Hiroto nachträglich küssen können – aber seine sonstige Abneigung hielt ihn zurück. Klar, mit dem Kerl konnte man die Zeit verbringen, konnte sicher allen möglichen Scheiß anstellen, konnte über alles reden, aber das hatte nie etwas Persönliches. Außer vielleicht, dass Hiroto in etwa wusste, was bei seinen Nachbarn vorging. Wäre auch ungewöhnlich, wenn nicht – Katsuyas unterdrückte Schreie jede Nacht konnte man sicher nicht überhören. Aber sie sprachen nicht darüber. Er sprach niemals darüber. Jetzt hatte er also einen Job. Ohne Vorstellungsgespräch, ohne Kennen lernen, ohne Fragen nach der Person. So lief es nun mal in der Gosse. Man fragte nicht, was der Wirt nach der Arbeit tat, nicht, was der Vermieter nachts in den Wohnungen machte, nicht, was der junge Punk neben der Arbeit erlebte. Er würde arbeiten, er würde bezahlt werden und irgendwann würde er gehen, ohne dass sich jemand an ihn erinnern würde. Für die Jobs in den Hinterhöfen der Kneipen stellte man billige Arbeitskräfte ein, die sowieso nach einigen Monaten meist irgendwo tot aufgefunden wurden und somit keine Arbeit machten, da sich eh niemand für sie interessierte. Man arbeitete das ab, was einem aufgetragen wurde und was man sonst machte, war egal. Man lebte zwischen den Huren und Strichern, die es zu nichts Größerem mehr schafften oder versuchten sich aus dem Dreck zu reißen. Oder sich um den Dreck zu reißen. Den Dreck der Menschheit, dessen einziger Vorzug eine spendable Hand war, die einem im Gegenzug zwischen die Beine packte. Katsuya wusste jetzt schon, dass ihm das öfter passieren würde. Aber was half’s? Ob er hinter oder in der Kneipe arbeitete, es gab keinen Unterschied. Die Wesen dort hatten das Menschliche verloren, sie waren schlimmer als Tiere. All ihr Geld landete in den Händen der Prostituierten, des Wirtes oder der Dealer. Und wenn jemand dabei getötet wurde, dann interessierte das auch nicht weiter. Die Gosse hatte ihr eigenes Gesetz und an das galt es sich zu halten. Ebenso wie an die Hierarchie. Katsuya stand ganz unten, er war kaum mehr als ein Junkie. Und er wusste, dass man ihn wie Dreck behandeln würde. Schläge und Tritte standen an der Tagesordnung, Mord begegnete einem alle paar Meter. Dafür war die Gegend eine eingeschworene Gemeinde. Kein Polizist wagte es in die Nähe, sie notierten nur brav die Todesfälle. Katsuya galt hier nichts und auch der Job würde nicht mehr aus ihm machen. Da musste er sich schon hocharbeiten. Vom Hinterhofsjunkie zum Kellner, vom Kellner zum Barkeeper, vom Barkeeper zum Verwalter. Und eben das nahm er nun in Angriff. Das war die Welt, in der er aufgewachsen war und er sollte sich ihr endlich stellen. Und doch, eine Frage nagte an ihm. Er hatte in den letzten Tagen oft an diesen Mann denken müssen und sich oft mit ihm verglichen. Yami. Das ewige Mysterium. Er hatte auch in den Hinterhöfen angefangen, nur hatte er eine andere Karriere gemacht, wenn man es so nennen konnte. Und er stand ganz oben in der Hierarchie. Das war der Platz, den Katsuya nun auch ansteuern musste. Bis er seine Schulausbildung hatte, würde ihn nichts aus der Gosse holen. Die höchste Stellung, die er mit dem ihm vermittelten Job erreichen konnte, wäre eine eigene Wirtschaft. Yamis war ein eigenes Bordell. Und das hatte Yami bereits erreicht, er war unabhängig. Dass er keine anderen verpflichtete, konnte Katsuya ihm hoch anrechnen – aber Yami war eh nicht der Typ, der auf Geld aus war. Und auch nicht einer, der seinen Stand verlassen wollte. Er ließ sich gern vögeln – und Katsuya konnte es nicht verstehen. Und dennoch kam er nicht umher, sich mit seinem besten Freund zu vergleichen. Noch vor einigen Tagen hätte er sie für grundverschieden erklärt. Es war erst zehn Tage her, dass er versunken in Depressionen, mit einer Spritze Heroin im Arm an die Wand gestarrt und sich irgendwann gefragt hatte, wie es wohl wäre, mit den reichsten und schönsten Typen der Stadt zu schlafen. Und es erschien ihm wie die höchste Freiheit, während er im Dreck gesessen hatte und mit dem Messer langsam und fast zärtlich über die Haut an seinem Handgelenk gefahren war. Es war beruhigend, zuzusehen, wie das Blut im Rhythmus seines Herzschlages aus der Wunde gesickert und seinen Arm entlang gelaufen war. Wer stark war und sich behauptete, der konnte in der Hierarchie aufsteigen. Wer aufstieg, der entfloh dem Dreck. Und wer oben angekommen war, der konnte die Gosse verlassen. So wie Yami. Yami war ein starker Mensch. Oder er war so labil, dass man ihn einfach für stark halten musste. Er hatte Katsuya gesagt, warum er sich Nacht für Nacht von anderen vergewaltigen ließ. Er meinte, er wolle etwas spüren. Und das konnte Katsuya verstehen – aber warum es diese Art sein musste, das verstand er nicht. Aber sie hatte Vorzüge, das musste er zugeben. Nur glaubte er nicht, dass sich Yami dessen bewusst war. Wenn er in die leeren, ausdruckslosen Augen sah, dann konnte ihm nur schlecht werden. Immer wenn Yami von einem Freier kam, ging es ihm so schlecht, dass er sich umbringen wollte. Und jedes Mal sagte er nur, dass er seine Schmerzen schon erhalten habe. Dass er die Strafe für seine Taten empfangen hatte. Bis er irgendwann in die Wirklichkeit zurückfand und das Feuer seiner Augen wieder zu brennen begann. Und dann war er ein anderer. Er wurde stark, er wurde ein Optimist, er baute Katsuya auf. Er begann so sehr zu strahlen, dass der Blonde sich ohne Bedenken diesem Licht hingeben konnte. Er traf auf Verständnis, auf Freundschaft, auf ein Lächeln. Und waren sie denn da irgendwie anders? Nein, so lautete die Antwort. Sie beide litten, aber sie beide konnten neben den Leid noch leben. Sie brauchten nur die richtigen Orte und sie konnten wieder erblühen. Wie Wüstenblumen, die auf den Regen warteten. Und der Job, so beschissen er auch war, war wie die ersten Tropfen Wasser. Katsuya wollte auch mal wieder blühen, nicht nur in der Schule, die für ihn wie ein kräftiger Schauer war. Aber wenn er an die Schule dachte, dann erkannte er den Unterschied zwischen Yami und ihm: Er hatte noch Hoffnung. „Vater?“ Katsuya sah sich in der Wohnung um und fand seinen Erzeuger vor dem Fernseher sitzen, diesmal mit einem einfachen Wein in der Hand – dann war er zumindest noch nicht sturzbetrunken. „Was willst du, Ratte?“, die Gestalt drehte sich zu ihm um. „Ich dachte, ich wäre unter deinen Beleidigungen schon zum Köter aufgestiegen.“ Die einzige Antwort darauf war ein Knurren. „Ich brauche Geld.“ „Wofür’n das?“, er musterte den Jüngeren von unten nach oben, „Hast’e was ausgefressen?“ „Nein, aber der Kühlschrank ist leer. Ich muss einkaufen.“ Herr Jonouchi wandte sich dem Fernseher zu, schaltete ihn aus und ging um das Sofa herum, an das er sich anlehnte. „Warum klaust du dann nix? Hattest’e sonst auch kein Problem mit.“ Katsuya verdrehte die Augen. „Freut mich, dass du mal halbwegs nüchtern bist, aber vielleicht erinnerst du dich dann auch, dass du mir das Stehlen verboten hast.“ „Dann geh Geld verdienen.“ „Tu ich doch.“ „Ach?“, die Augenbraue des Älteren wanderte ein Stück nach oben. „Ja, ab Samstag. Und Freitag kann ich in der Schule essen. Aber bis dahin bin ich verhungert!“ Er gähnte ausgiebig und streckte die Arme in die Luft, bevor er wieder zusammensackte. „Du gehst zur Schule?“ Katsuya seufzte nur und lehnte sich an den Türrahmen. „Hat Montag wieder begonnen.“ „Welcher Tag ist heute?“ „Dienstag.“ Herr Jonouchi fuhr mit der Hand über die Augen und sah auf die Uhr. „Du musst ins Bett.“ „Vorher brauch ich noch Geld.“ „Ja ja…“, er zog eine abgewetzte Brieftasche aus der Hose und einen Tausend-Yen-Schein aus eben diesen, „Das sollte für euer Kantinenessen reichen.“ „Noch einen und ich lebe länger als einen Tag.“, meinte Katsuya schnippisch und zog den Schein aus der Hand des Älteren. Sein Vater hob nur die Faust und schlug einmal hart zu, sodass der Kleinere zurücktaumelte. „Undankbarer Straßenköter!“ „Womit wir beim Anfang wären…“, flüsterte der Schwächere, während er sich die Wange rieb. „Auf dein Zimmer! Ich hoffe, du schläfst beschissen.“ „Sauf gut.“ Damit wurde die Tür hinter ihm zugeschlagen. 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