Dead Society von Gepo (Die Hoffnung stirbt zuerst) ================================================================================ Kapitel 22: Gebrochen --------------------- Der Titel sagt schon eine Menge, denke ich. Was ich sehr interessant finde, ist die Vorstellung, die hier einige von Setos Gefühlswelt haben. Dass er Kats eigentlich liebt, aber das nicht zeigt. Wer meine FF "Oni-Onii" gelesen hat, der weiß, ob dem so ist oder nicht ^.- Übrigens ist weder das Thema Hoffnung noch Wahrheit damit abgehakt - das wird euch noch lange verfolgen. So, genug der Vorrede, hier das neue Kapitel ^.- Viel Spaß! (ob man den hier hat... ôo) _______________________________________________________________________________ Katsuya blieb einfach liegen. Mitten im Klassenzimmer. Warum auch nicht? Stören würde er kaum jemanden. Die waren alle in Hauswirtschaft und schlugen sich den Bauch voll. Nein, hier konnte er bleiben. Hier störte er niemanden, hier musste sich keiner für ihn interessieren. Hier war er ein Nichts. Und der Boden kühlte schön. Die schönen, kalten Fliesen. Es war schön hier zu liegen. Alles war so schön, wenn man der Realität einfach mal entfloh… So wunderschön… Die Uhr tickte fast lautlos. Doch hier in der Stille waren es Paukenschläge, die sie von sich gab. Wenn man noch genauer lauschte, dann konnte man sogar einige Schüler von einer anderen Etage hören. Und man konnte sehen. Ein starker Wind war aufgezogen und wog die Bäume im Wind. Hin und her tanzten die Äste und Blätter. Wenn man sich dafür interessierte, konnte man auch die ganzen Stuhl- und Tischbeine zählen. Ja, in der Schule war es schön. So friedlich und ruhig und heimelig… Freundlich. Ja, es war freundlich. Überall helle Farben, die Wärme des Sommers, die sich in den Räumen staute und diese wunderbare Ruhe. Und der Boden war so weich. Er war glatt und kühl und reflektierte das Sonnenlicht. Es war schön hier zu liegen. Alles war einfach wunderschön. Wie schön, dass er hier willkommen war… Zuhause gab es nur Dreck und Müll und Alkohol. Zuhause war ekelhaft. Zuhause war grausam. Aber Zuhause war der Ort, wo sein Herz lag. In seinem Zimmer, auf dem einzigen Möbelstück, was er hatte. Auf seinem Schreibtisch. Da stand sein Herz. „Großer Bruder! Großer Bruder!“, rief Shizuka in seinen Gedanken, „Aufstehen!“ „Grmbl…“, meinte der Neunjährige nur und drehte sich um, bevor er sich die Decke auch über den Kopf zog. „Wach auf! Wach auf!“, kleine Hände packten sie und zogen sie ihm weg. „Lass das…“, grummelte der Blonde und suchte mit der Hand nach seinem Bettzeug, „Gib die Decke wieder her…“ „Nein.“, die Fünfjährige stellte sich stur. „Aber es ist Sonntag!“ „Du hast Geburtstag!“, rief sie dagegen, „Du musst aufstehen.“ Katsuya guckte sie nur ganz gequält an, streckte sich dann aber doch und gähnte. „Juhu!“, jubelte die Kleine und sprang in sein Bett. „Aber nur, weil du so süß bist…“ „Ich hab’ auch ein Geschenk für dich.“, plapperte sie fröhlich drauf los und unterbrach sich selbst, indem sie ihm einen Guten-Morgen-Kuss aufdrückte, „Mama hat mich mit zum Einkaufen genommen und da habe ich das gefunden! Ich hab’ zwar ganz dolle betteln müssen, aber dann hat sie es gekauft. Und jetzt hab’ ich ein Geschenk für dich.“, sie entließ ihn aus ihrer Knuddelattacke, „Wie alt bist du denn jetzt?“ „Neun.“, grinste der Ältere stolz. „Wie viele Finger sind das?“ „So viele.“, er zeigte es mit seinen Händen und sie versuchte es nachzumachen. „Bald bist du zu alt für meine Finger.“, entschied sie. „Bis dahin bist du schon in der Schule und kannst bis zwanzig zählen.“, meinte er nur. „Und wenn du noch älter wirst?“ „Dann kannst du auch viel weiter zählen.“ „Juhu!“, wieder jubelnd sprang sie wieder aus dem Bett und zog ihren Bruder an einer Hand ins Bad. Ja, so war das damals gewesen. Seine süße kleine Schwester. Seinen elften Geburtstag, wo ihre Finger nicht mehr reichten, hatte sie nicht mehr erlebt. Seinen zehnten auch nicht. Das war der letzte Geburtstag gewesen, den sie zusammen gefeiert hatten. Das erste und letzte Mal, dass sie ihm etwas schenken konnte. Die wunderschöne Drachenstatue. Es war ein Abschiedsgeschenk an ihn, auch wenn sie damals beide nicht wussten, dass es bald zu Ende sein würde. Das einzige, was ihn noch mit seiner Familie verband. „Katsuya.“, sagte seine Mutter kalt. Komisch… ihr Gesicht war ganz verschwommen. Nur Shizuka auf ihrem Schoß war klar. Und war sein Vater im Raum? Er konnte sich kaum erinnern. „Dein Vater und ich, wir werden uns trennen.“ Ja, sein Vater war auch im Raum gewesen. Er stand am Fenster, während seine Mutter auf der Couch saß. Und er selbst hatte hinter dem Glastisch vor der Couch gestanden. „Aber warum?“, fragte der Neunjährige. „Wir haben uns eben nicht mehr lieb.“, wehrte sie ab, „Man hat entschieden, dass du bei deinem Vater bleibst.“ „Warum?“, fragte er noch einmal. Er verstand nicht, was das auf einmal sollte. „Ich werde mit Shizuka das Haus verlassen.“, sie strich dem jetzt sechsjährigen Mädchen über das Haar. „Hast du mich nicht mehr lieb?“, fragte der Junge verzweifelt. „Das ist es nicht…“ „Was habe ich falsch gemacht? Was habe ich denn falsch gemacht, Mama? Egal was, es tut mir Leid! Es tut mir ganz schrecklich Leid! Du darfst nicht gehen…“ „Was ich tue oder nicht, hast du mir nicht zu sagen.“, meinte sie schroff. Er lief um den Tisch und kniete sich zu ihren Füßen. „Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid. Bitte geh nicht weg, Mama.“ Sie zog die Beine weg und erwiderte nur: „Geh deine Hausaufgaben machen.“ „Bleibst du dann, Mama?“, er weinte mittlerweile. „Geh!“, fauchte sie ihn an. Schniefend zog er den Kopf ein, stand auf und ging hinaus. Hausaufgaben machen… Natürlich war sie nicht geblieben, auch wenn er getan hatte, was sie befahl. Und es hatte sehr lange gedauert, bis er verstanden hatte, dass sie nicht wegen ihm gegangen war. Jahrelang hatte er sich die Schuld gegeben, dass sie weg war. Und dass sie Shizuka mitgenommen hatte, die nun wegen ihm weinen musste. Er spürte, wie sich seine Brust verkrampfte. Es war, als würde man sein Herz auswringen wollen. Zitternd zog er die Beine an und legte die Arme darum. Von da an war es bergab gegangen. Wenn er morgens aufwachte, dann war da niemand, um ihn zu wecken oder wenigstens zu begrüßen. Kein Guten-Morgen-Kuss mehr, kein Knuddeln. Nicht mal jemand, mit dem er morgens frühstücken konnte. Sein Vater arbeitete von ganz früh bis sehr spät. Eher gesagt, er arbeitete sehr früh und ging sich danach amüsieren. Katsuya blieb allein im Haus. Nachmittags, wenn die Schule vorbei war, blieb er dort mit Freunden. Denn wenn er nach Hause kam, dann war die Tür zu. Jedes Mal setzte er sich auf die Stufen und wartete. Wartete, bis sein Vater irgendwann einmal nach Hause kam. Alles, was er hatte, waren Hausaufgaben. Und seit er begonnen hatte, die Hausaufgaben zu beschuldigen, dass seine Mutter wegen ihnen gegangen war, hatte er auch keine mehr gemacht. Seinen Lehrern war das irgendwann auch egal, solange er mitarbeitete und alles halbwegs konnte. Wozu auch sich Mühe machen? Die Geschichte des Jungen war ja stadtweit bekannt. Aus dem würde eh nix mehr werden. Mit zwölf musste das Haus verkauft werden, da sein Vater eine Menge Schulden gemacht hatte. Freundlicherweise zogen sie nach Domino, wo der Junge mittlerweile zur Schule ging. Damals wusste er noch nicht, dass sein Vater längst ein Alkoholproblem hatte. Das kam ganz schleichend wie Gift. Erst fiel nur auf, dass sein Vater mehr schlief. Sein Blick war meistens glasig und er konnte sich nicht mehr so gut konzentrieren. Dann kam die Wende – er verlor seinen Job. Ab dann wurde wirklich an allen Enden gespart, ernährt wurde sich nur noch von Reis und manchmal Fisch oder Fleisch, Obst gab es kaum noch. Die Schulbücher konnten nicht mehr bezahlt werden und Kleidung wurde auch keine neue mehr gekauft. Katsuya trug seine Jeans als Dreiviertelhosen und nähte seine Shirts eigenhändig um. Schuhe gab es die Alten vom Vater und was der Blonde sonst noch brauchte, musste er halt stehlen. Herr Jonouchi verfiel zusehends. Erst ging er noch raus, brach zusammen, wenn er wieder kam und schlief ansonsten. Dann blieb er größtenteils in der Wohnung. Er rasierte sich nur noch selten und die Körperpflege allgemein wurde immer schlechter. Weil die Entzugserscheinungen ihn beutelten, trank er immer mehr. Manchmal glatt so viel, dass er kaum noch ansprechbar war. Es gab Zeiten, da schwebte er nur noch zwischen Apathie und Schlaf. Darauf folgte der geistige Verfall. Es kam vor, dass er versuchte aus leeren Flaschen zu trinken oder im Müll wühlte. Teilweise aß er verfaulte Lebensmittel und erbrach sie kurz darauf wieder. Läuse und noch so anderes Viehzeug begannen ihn zu bevölkern. Das war der Zeitpunkt, als Katsuya es nicht mehr aushielt. Er versteckte die Flaschen und verkaufte sie später, brachte seinen Vater mit Gewalt dazu sich zu waschen und säuberte die Wohnung regelmäßig. Sein Vater begann dafür ihn zu schlagen. Als er vierzehn war, eskalierte die Lage. Sein Vater warf ihn halbtot geprügelt aus der Wohnung. Das war an sich nichts vollkommen Ungewöhnliches, aber in Kombination schon. Für Katsuya war das der Moment, wo er die Hoffnung aufgab. Sein Vater würde nicht mehr gerettet werden können. Er selbst ebenso wenig. Okay, seine ganzen Bemühungen hatten wenigstens ein bisschen Nutzen – sein Vater wusch sich und betrank sich nicht mehr bis zum Delirium. Dafür wurde er zum Prügelknaben. Der Blonde verbrachte nur noch wenig Zeit in der Wohnung. Er schloss sich einer Schlägerbande an, jedoch nur einer kleinen Jugendgruppe. So gesehen – das war unglaubliches Glück gewesen. Es gab Gruppen, aus denen kam man nie wieder raus. Entweder mitmachen oder sterben. Das waren die Extremen, die meist sogar Verbindungen zu den Yakuza hatten. Einmal hin, nie wieder weg – außer zum Grab. Nein, er hatte wirklich Glück gehabt. Die Boots waren eine so kleine und unbedeutende Gruppe, dass sich niemand wirklich um sie scherte. Und nach nur drei Jahren war er ihr Anführer geworden. Sich einen Namen zu machen war eine sehr riskante Sache. Entweder es half einem für immer zu entkommen und für den Rest seines Lebens Ruhe zu haben – oder es riss einen noch tiefer hinein. Bekannt zu sein hieß Feinde zu haben. Bekannt zu sein hieß im Visier der Yakuza oder einiger Untergrundorganisationen zu sein. Das Beste war es eigentlich, gerade mal die Polizei zum Freund oder Feind zu haben. Und ja, da musste man sich entscheiden – doppeltes Spiel war ein sicheres Todesurteil. Bekannt zu sein hieß diplomatisch begabt sein zu müssen, denn sonst war man schneller tot als man wollte. Aber Katsuya war gerade mal durch Schlägereien und Messerstechereien bekannt geworden und das auch wiederum nur in der Jugendszene. Wenn man jetzt darüber nachdachte, musste er einen ganz gewaltigen Schutzengel gehabt haben. Er war wieder raus gekommen. Und jetzt hatte er seine Ruhe. Solange keiner alte Geschichten aufwärmte und ihn anheuern wollte, würde er auch weiter seine Ruhe haben. Aber wer wusste schon, was passieren würde? Das ganze Leben war ungewiss. Vielleicht starb er auch einfach hier und jetzt, wo er gerade lag. Vielleicht wäre das wirklich das Beste. Einfach hier liegen bleiben und warten, bis der Körper ganz ausgekühlt war. Ob er bis morgen früh erfrieren konnte? Wahrscheinlich nicht, es war Sommer. Er könnte sich in der Sporthalle erhängen. Oder in der Chemie ein paar nette Sachen schlucken. Sich vom Schuldach stürzen – als würde dieser blöde Maschendraht irgendwen aufhalten. Vielleicht war das wirklich gut. So könnte er dem ganzen Spuk ein Ende machen. Aber er hatte keine Kraft mehr dazu. Er wollte nur noch liegen. Liegen und schlafen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)