Dead Society von Gepo (Die Hoffnung stirbt zuerst) ================================================================================ Kapitel 26: Lebensphilosophie ----------------------------- So, da bin ich wieder ^.^ Göttingen war toll. Zwei Kapitel hab ich geschrieben ^.- Mit diesem Kapitel erfülle ich einen Wunsch von Matael, im nächsten erfülle ich den nächsten. Hat noch jemand Wünsche? (außer: Lad schneller hoch! Schreib schneller! Schreib längere Kapitel! Bring endlich XY und YX zusammen! Sex!!!) So, aber jetzt mal ernst. Denn dieses Kapitel ist ernst. Das, was hier beschrieben ist, ist eine humanistisch-existentialistische Lebenseinstellung - ich weiß, die ist nicht ganz leicht. Aber Leben ist nie leicht, oder? Ich würde jeden bitten mit einer gewissen Portion Ernst hieran zu gehen. Und ich bitte sogar inständig um eure eigene Meinung zu diesem Thema. Das hier ist mal etwas, das mir am Herzen liegt. Und hey! Hier kriegt ihr zum ersten Mal etwas von meiner eigenen Meinung zu hören ^.- (auch wenn es nur ein kleiner Teil ist, den ich in dieser Formulierung auch schon wieder nicht stehen lassen kann) Definition Hoffnung (wegen mehrfachen Missverständnis): Hoffnung ist für mich die Hoffnung, die aus Erwartungen heraus resultiert. Wenn man also erwartet, dass etwas eintrifft, nicht, wenn man sich wünscht, dass etwas eintrifft. Sie ist aber auch weiterhin nicht mit der Erwartung gleichzusetzen, denn Erwartung im Sinne von Antizipation von Zielen (sozial-kognitive Theorie nach Bandura) ist eine Notwendigkeit jeder Handlung. Kurzum, Hoffnung ist die Erwartung von Fremdinitiative. _______________________________________________________________________________ „Und, was hat er gesagt?“, fragte Ryou gespannt nach und zog ungeduldig an seinem Jackenärmel. „Nix.“, der Blonde seufzte. „Was heißt hier nix? Irgendetwas muss er doch gesagt haben!“ „Nein… er hat sich an seinen Computer gesetzt, mir eine Erlaubniserklärung geschrieben, sie ausgedruckt, unterschrieben und mich mit einem Lächeln zur Tür verwiesen.“ „Und keinen Ton gesagt?“ „Nein.“, er schüttelte den Kopf, um seine Aussage zu unterstreichen. „Hm…“ „Was soll ich jetzt denken, was meinst du?“ Ryou starrte den Bordstein an, während er weiter neben Katsuya herwanderte. Er schien wirklich angestrengt darüber nachzudenken. Wie viele tausend Gedankengänge ratterten wohl täglich durch dieses zierliche Köpfchen? „Für den Fall, dass sein ganzes Benehmen seit Montag ein Test an dich war, könnte das die Bestätigung sein, dass du bestanden hast. Für den Fall, dass er dich eigentlich mag und nur nie zeigen wollte, könnte das das Zeichen sein, dass er es dir ab jetzt doch zeigen will. Aber wenn er dich wirklich hasst, dann…“, Ryou atmete einmal tief durch, „Dann könnte das auch nur seine Belustigung über deine in seinen Augen sinnlosen Rettungsversuche sein. Zumindest scheint er allerdings froh darüber zu sein, dass du nicht aufgegeben hast.“ „Warum sollte er das, wenn er mich doch hasst?“ „Damit er dich noch mal niederschlagen kann. Er könnte eine sadistische Ader haben…“, der Weißhaarige zuckte mit den Schultern, „Ganz ehrlich, sein Verhalten ist sehr… abstrakt.“ „Abstrakt?“, Katsuya wurde zum Lächeln verführt. „Nun ja… abnormal eben. Es ist so gegensätzlich – ich wünschte, ich könnte seine Gedankengänge nachvollziehen. Ich weiß ja auch nicht, wie er nun eigentlich zu dir steht.“ Ja, das war doch schon mal eine gute Frage! Eine, auf die er so bald sicher keine Antwort kriegen würde. Warum musste dieser Typ auch so kompliziert sein? „Wie geht es denn Bakura?“, wechselte der Ältere kurzerhand das Thema. „Um in seinen Worten zu sprechen, er fühlt sich grottig. Was normalerweise heißt, dass er eine diebische Freude am Leben hat.“, der Kleine zwinkerte. „Ich hoffe, er hat nichts Schlimmes mit meiner Akte angestellt…“ „Hätte er das gewollt, er wäre letzten Donnerstag in die Schule gekommen, um dich festzunehmen. Also scheint wohl alles gut gegangen zu sein.“ „Ein Glück…“, Katsuya seufzte, „Die Polizei wäre jetzt das Letzte, was ich gebrauchen könnte.“ „Ähm, du…“, der Weißhaarige verfiel wieder in seine schüchterne Art – hieß, dass er sich zu irgendetwas durchringen musste, „Darf ich was Persönliches fragen?“ „Schieß los.“, erwiderte der andere mit einem Lächeln – Ryou war aber auch zu süß. „Hattest du denn schon mal Ärger mit der Polizei? Und wenn, warum?“ Noch eine lange Geschichte… Katsuya schien heute gar nicht mehr aufhören zu können mit Erzählen. Wenigstens füllte es die Zeit, bis sie bei Ryous Wohnung angekommen waren. Der Blonde nahm einen Schluck von seinem Wasser und beobachtete Ryous Handbewegungen, während er dessen Erklärungen lauschte. „Wenn du dann die Zahl für x, die sich aus dem Produkt ergibt, damit die Division stimmt, hier einträgst und das mit allen weiteren Stellen ebenso machst, kommst du auf das Ergebnis. So einfach ist die schriftliche-“ Ein Klingeln aus Richtung der Eingangstür unterbrach ihn. „Das muss Anzu sein. Bin sofort wieder da.“ Während Ryou sich zur Tür begab, schnappte der Ältere sich den Stift und rechnete die Aufgabe zu Ende. Okay, so schwierig war schriftliche Division ja wirklich nicht. Irgendwann in der Grundschule hatte er das auch mal gelernt… na ja, daran erinnerte er sich eh kaum. „Du kommst genau richtig.“, hörte er den jungen Mann an der Tür sagen, „Wir haben gerade den Stoff fertig, den wir letztes Mal schon zusammen gemacht haben.“ Dieser trat wieder ins Zimmer und ihm folgte genau die Person, die Katsuya irgendwie schon erwartet hatte. Es war wirklich Anzu, seine Kollegin aus dem Sixth Heaven – die Welt war wirklich klein. Musste sie nicht unter der Woche abends arbeiten? Dann müsste er sie ja nicht allzu lange ertragen – irgendwie hatte er jetzt überhaupt keine Lust auf ihre Anwesenheit. „Hi, Anzu. Wie geht’s?“ „Oh.“, war alles, was sie im ersten Moment über die Lippen brachte, „Warte… arbeitest du nicht auch bei uns? Als Samstagsaushilfe?“ „Ich heiße Katsuya…“, grummelte Angesprochener. „Ach ja, stimmt. Hallo, Katsuya.“ Er unterdrückte den Drang einmal laut aufzuseufzen und mit den Augen zu rollen und widmete sich stattdessen wieder seinem Blatt, dessen Aufgaben er zwar schon alle gelöst hatte, aber welches trotzdem noch interessanter als das Mädchen ihm gegenüber war. „So, da du nun ja auch da bist, können wir ja den Stoff aus der Mittelschule wiederholen. Ich dachte, wir beschränken uns auf Bruchrechnen, Prozentrechnung, Gleichungen, Ungleichungen, Geometrie und Körper, rationale Funktionen, Wahrscheinlichkeitsrechnungen, pq-Formel, binomische Formeln und lassen Sinus-, Cosinus- und Tangensfunktionen sowie Kreisberechnung erstmal raus. Und wir könnten noch mal Maß- und Längeneinheiten wiederholen.“ Vorsicht, großes Neonreklameschild mit der Aufschrift: „Hä?“ „Keine Sorge, wir haben ja zwei Stunden Zeit.“, Ryou lächelte ihn an. A-Quadrat und B-Quadrat gleich C-Quadrat im Dreieck und A plus B zum Quadrat gleich A-Quadrat plus zwei mal A mal B plus B-Quadrat und A plus B mal A minus B gleich A-Quadrat plus B-Quadrat und A minus B zum Quadrat- „Ich kann nicht mehr!“, rief Katsuya und warf seine Formelsammlung auf den Tisch, „Meiner ganzer Kopf besteht nur noch aus A und B und C!“ „Na, wenigstens ist damit sicher, dass du den Anfang des Alphabets nicht vergisst.“, neckte Anzu ihn. „Sehr witzig…“, knurrte der Blonde. Okay, die Brünette war eigentlich ganz in Ordnung. Nicht so ganz schrecklich zickig und hysterisch, wie er am Anfang gedacht hatte. Für ein Mädchen ganz nett. Aber manche ihrer Kommentare hätten auch aus Kaibas Mund kommen können… aber ehrlich, beide hatten braune Haare, beide blaue Augen, beide ein Faible für Modeklamotten – sie hätten verwandt sein können. Aber nein, das waren sie nicht. Dafür gab es eine andere Verwandtschaft! Anzu war Hirotos Schwester. Wie das irgendwann mal ins Gespräch kam, wusste er nicht mehr, aber das war hängen geblieben. Hiroto hatte er noch nie nach seiner Familie gefragt, fiel ihm auf. Hatte ihn auch nie interessiert. Er könnte ja nachher mal nachfragen. „Oh, schon halb sieben!“, rief die Teenagerin plötzlich. „Schon?“, fragte Ryou nach und warf einen schnellen Blick aus dem Fenster, „Dabei ist es noch gar nicht dunkel…“ „Wir haben ja auch Spätsommer.“, warf der Blonde ein. „Ich muss dann auch mal los.“, meinte Anzu schnell, während sie auch schon ihre Unterlagen in ihre Tasche stopfte, „Vielen Dank, Ryou. Sehen wir uns Montag oder wieder Mittwoch?“ Der Jüngste warf einen kurzen Blick zu Katsuya, bevor er sagte: „Ich halte Montag für gut, wir machen als nächstes deinen jetzigen Stoff. Ist das okay?“ „Ja, klar.“, sie warf sich ihre Handtasche um und griff sich ihre Jacke von der Lehne, „Dann noch mal danke und bis zum nächsten Mal. Wir sehen uns Samstag?“, fragte sie an Katsuya gewandt, der nur nickte, „Dann bis dann.“ Mit den Worten hatte sie den Raum auch schon verlassen. Eine öffnende, dann sich schließende Tür und es war wieder Ruhe. „Ich hoffe, sie hat dich nicht allzu sehr gestört…“ „Nein, schon gut.“, der Blonde lehnte sich zurück, „So schlimm ist sie nicht. Muss zwar nicht meine beste Freundin werden, aber sonst ist sie ganz okay.“ Ryou lächelte nur. „Können wir aber Mathe hier mal beenden? Mein Kopf raucht wirklich schon…“ „Wasser?“, fragte der Weißhaarige nach und hielt die Flasche hoch. Katsuya blinzelte nur, legte den Kopf schief und lachte schließlich, als er verstanden hatte. „O je… jetzt bin ich schon so benebelt, dass ich Witze nicht mehr verstehe…“, er kicherte noch immer leicht. „Was machen wir denn, wenn nicht Mathe?“ Katsuyas Augen blitzten förmlich, als er sich zur Seite beugte und knapp vor Ryous Gesicht stoppte. „Och, ich wüsste da schon etwas…“, hauchte er, „Wir könnten doch ein wenig spielen…“ „Karten?“, fragte der Weißhaarige nach. Süß, zu süß und viel zu unschuldig… „Ja, Karten.“, lächelte der Blonde, während der Jüngere schon aufgesprungen war und jetzt nach einem Kartenspiel suchte. Wie machte Bakura das bloß? Mal ehrlich, das war wie Wolf und Lamm. Die beiden passten ja wirklich überhaupt nicht zueinander. Aber Gegensätze zogen sich an, oder? Kaiba und er würden auch nie zusammenpassen. Oder hatten vielleicht beide noch eine weiche Seite? Nun, Bakura sah man seine Schwäche für seinen Bruder ja wirklich an. Vielleicht passten sie durch ihre Unterschiedlichkeit ja gerade zusammen. Man könnte glatt sagen, sie ergänzten sich. Bakura hatte keine Scham Dinge offen zu sagen, was genau das war, was Ryou brauchte. Und Ryou konnte sich dafür beherrschen und zurückhalten, was wiederum Bakura fehlte. Ja, eigentlich ergänzten sie sich. Wenn Ryou Hikari war, dann war Bakura auf jeden Fall Yami. Und der echte Yami? Also, Atemu… könnte man Yugi den Namen Hikari geben? Die beiden waren auch so ein Paar, das sich ergänzte. Und Kaiba? Da bräuchte man eine Person, die aus dem Bauch heraus entscheidet, die spontan ist, einfach nachzuvollziehen, offen, direkt und kumpelhaft. Wie Feuer oder Wind. Ja, gute Attribute. Wenn Kaiba das Eis und Yami war, dann musste der Hikari ein Feuer- oder Windtyp sein. Ein kleiner Wirbelwind vielleicht. Ob es so jemanden in Kaibas Leben gab? „Was möchtest du denn spielen? Maumau oder Mogeln oder Bauernskat oder Rommee oder was? Irgendwie fehlt uns für jedes gute Spiel ein Spieler…“ „Wir können ja deinen Bruder fragen, wenn er wieder da ist.“ Hatte er das jetzt echt gesagt? Na gut, vielleicht taute der bei einem guten Spiel ja auf. „Echt? Würdest du? Das wäre super! Hast du heute lange Zeit?“ „Öhm, ja, schon… wieso?“ „Mein Bruder würde niemals eine Niederlage auf sich beruhen lassen. Außer bei mir, da ist das irgendwie okay… er grummelt zwar, aber er gönnt mir Siege. Bei anderen lässt er so was aber nie und nimmer auf sich sitzen.“ „Ach, ein schlechter Verlierer?“ „Nur jemand, der nie aufgibt.“, der Kleine zwinkerte. „Schach.“, meinte Ryou mit einem Lächeln. Nachdem sie entschieden hatten, dass sie mit den Kartenspielen warten würden, bis Bakura kam, hatte Ryou ihm Schach beigebracht. Nur war das Spiel definitiv schwer! Und zwei Siege hatte der Jüngere schon davongetragen. Man sollte wohl keine Strategiespiele gegen intelligente Menschen spielen… „Ich ziehe mit dem König auf B-7.“ „Ich setze meinen Läufer auf D-9. Damit bist du Schachmatt.“ „Nicht schon wieder!“, rief Katsuya verzweifelt und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken, „Gibt es nicht irgendwelche Tricks bei diesem Spiel?“ „Nein.“, der Kleine lächelte, „Deswegen mag ich es ja so. Alles, was man tun muss, ist, die Strategie des Gegners zu erkennen und eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im Zweifelsfall kann man aus der Strategie des Gegners sogar eine eigene Falle für ihn machen. Du musst einfach scharf aufpassen und jeden einzelnen Schritt genau bedenken.“ „Und wenn man zu dumm ist, die Strategie des Gegners zu durchschauen?“ „Dann kann man versuchen zu überlegen, was man selbst an der Stelle des Gegners tun würde. Manchmal dauert es ein bisschen, bis man es versteht, aber mit der Zeit durchschaut man jemanden immer.“ „Und wenn der Gegner nun Züge macht um einen zu verwirren?“ „Dann beherrscht er zumindest das Spiel. Man muss einfach noch vorsichtiger sein.“ „Und wenn man nun aber keine Ahnung hat, was man zu seinem eigenen Schutz tun soll?“ „Dann ist Angriff manchmal die beste Verteidigung. Man muss nur den Mut habe, alles auf eine Chance zu setzen und seinen Figuren vertrauen. Und vor allen Dingen muss man sich selbst vertrauen.“ „Irgendwie bist du einem Freund von mir sehr ähnlich… der sagt mir so etwas auch öfters.“ „Dann beherrscht er das Spiel wohl sehr gut.“ „Ja… man könnte sagen, er ist der König der Spiele. Nur gegen sich selbst verliert er immer.“ Katsuya kreuzte seine Arme auf dem Tisch und legte sein Kind darauf. „Und du? Wie spielst du selbst?“ „Offensiv. Immer offensiv. Ich kann nichts anderes als auf mein Glück zu setzen. Aber manchmal ist der Gegner einfach stärker…“ „Da kann man wohl nichts tun außer sich selbst bis zum Untergang treu zu bleiben und niemals nachzugeben.“ „Und zu hoffen?“ Ryou stockte, atmete tief durch und schüttelte erst langsam, dann immer heftiger den Kopf. „Nein, nicht hoffen.“ „Nicht hoffen?“, fragte Katsuya nach. „Kennst du die Geschichte mit der Büchse der Pandora?“ Er setzte sich wieder gerade hin und verneinte kurz. „Das ist eine altgriechische Legende. Zeus versiegelte das Übel in einer Büchse. Diese gab er Pandora, damit sie darauf aufpasste. Aber sie wusste nicht, was darin war und somit plagte sie die Neugier. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus und öffnete die Büchse. Alles Übel strömte heraus und verbreitete sich auf der Erde. Von Schuldgefühlen geplagt schloss sie die Büchse wieder, sodass eines darin blieb – die Hoffnung.“ Katsuya lehnte sich wieder vor und blickte unverwandt in die blauen Augen. „Diese Geschichte hat eine Menge Aspekte. Zum ersten stellt sich die Frage, warum Zeus das Böse denn überhaupt geschaffen hat. Und es gibt nur eine Antwort. Nämlich, dass gar nicht er es war, sondern die Menschen selbst, die es schufen. Zeus nahm es nur von ihnen, weil er ihnen etwas Gutes tun wollte. Doch es war ein Mensch, der das Übel wieder zurückbrachte, weil er menschlich handelte. Menschlichkeit beinhaltet Gutes wie Böses und kommt nicht ohne einander aus. Und schließlich kommt der Aspekt der Hoffnung. Die Menschen verehrten fortan die Hoffnung als das größte und seltenste Gut, weil der größte Teil davon in der Büchse geblieben war. Ich muss allerdings fragen, wenn das Übel in der Büchse war, warum war dann die Hoffnung darin? Doch nur, weil auch Hoffnung ein Übel ist.“ Das klang definitiv plausibel. „Hast du jemals Sartre gelesen?“ Katsuya schüttelte den Kopf. „Sartre war Existenzialist. Existenzialisten denken, dass der Mensch ein Wesen ist, das volle Verantwortung übernehmen muss. Ein Mensch darf nicht einfach Verantwortung abschieben, sagen, dass jemand anderes die Schuld trägt – denn zu einem gewissen Grad trägt der Mensch immer Schuld an etwas. Um mal mich selbst als Beispiel zu nehmen, ich würde nach dieser Auffassung Schuld am Tod meiner Mutter und Schuld an meiner Vergewaltigung tragen.“ Harte Auffassung… und unglaublich, dass Ryou plötzlich so offen sprechen konnte. „Schuld am Tod meiner Mutter hätte ich insoweit, dass ich ihr nicht geholfen habe, dass ich meinen Vater nicht vorher umgebracht oder ihn habe einsperren lassen. Und Schuld an meiner Vergewaltigung hätte ich insoweit, dass ich nicht vorher weggelaufen bin oder meinen Vater etwas angetan habe.“ „Denkst du so?“, unterbrach Katsuya ihn kurz. Ryou seufzte. „Ich behalte es im Hinterkopf und weiß es somit, aber… wirklich daran glauben kann ich nicht. Das wäre einfach zu schmerzhaft. Ich… es… es tut auch so genug weh.“, urplötzlich schossen Tränen hervor, „Ich… nein, ich will daran einfach nicht glauben. Nicht jetzt zumindest… dafür sind die Wunden… zu frisch.“ „Entschuldige.“, meinte Katsuya schlicht und rückte zu dem Jüngeren herum. „Warte kurz… geht gleich wieder.“, dieser lehnte sich kurz an ihn und genoss die Wärme. Ein paar Minuten dauerte es, bis Ryou sich wieder beruhigt hatte. Das Ganze wirbelte anscheinend eine Menge auf… ob er vielleicht das Thema wechseln sollte? Das alles interessierte ihn wirklich, aber er wollte Ryou nicht verletzen. „Es ist nicht leicht darüber zu sprechen…“, sagte der Weißhaarige irgendwann, „Es ist zwar jetzt schon acht Monate her, aber… trotz allem, was mein Bruder getan hat, schmerzt es. Manchmal mehr, manchmal weniger. Manchmal fühle ich mich unglaublich verloren und einsam, manchmal fühlt es sich an, als würde mein Herz ausbluten… aber dann ist immer mein Bruder da. Ich weiß nicht, wie das kommt, aber er ist wirklich immer da, wenn es mir beschissen geht. Im Sommer bin ich einmal einem Mann auf der Straße begegnet, der sah meinem Vater unglaublich ähnlich. Ich war so… es… ich weiß gar nicht mehr, was alles passierte. Ich bin einfach sofort nach Hause gelaufen und… da war mein Bruder. Obwohl er eigentlich bis abends arbeiten musste, er war an dem Mittag zu Hause. Er hat sich um mich gekümmert und… ich weiß bis heute nicht, warum er auf einmal zu Hause gewesen war. Ich… solche Zufälle sind mehrmals passiert. Das ist… Ich war… ach, irgendwie passiert das einfach immer. Manchmal frage ich mich, ob es nicht irgendwelche übersinnlichen Kräfte gibt. Ich meine, die Sache mit dir ist doch auch komisch. Ich kannte dich gerade mal zwei Tage, da habe ich dir meine komplette Lebensgeschichte erzählt. Ich weiß nicht, warum, ich habe dir einfach vertraut. Und mein Gefühl hat mich nicht enttäuscht. Und auch jetzt bist du noch hier, obwohl du all das über mich weißt…“, er seufzte und schüttelte sich, „Und ich kann mit dir darüber sprechen. Obwohl ich eigentlich nie jemandem etwas sagen wollte…“, er sah Katsuya in die Augen, errötete leicht und senkte den Kopf, „Ähm… sag mal… du…“ Okay, Schüchternheitsanfall – was gab es diesmal? „Ich… dürfte ich mich auf deinen Schoß setzen? Ich glaube, ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann.“ Als Antwort breitete Katsuya nur die Arme aus. „Danke…“, der Jüngere kuschelte sich bei ihm ein, „Wo war ich, bevor ich meinen kleinen Anfall bekam?“ „Existentialisten denken, dass ein Mensch die volle Verantwortung trägt und diese nicht abschieben darf.“, wiederholte der Blonde – so was blieb hängen. „Ach ja.“, Ryou lächelte, „Des Weiteren glauben Existentialisten, dass die Menschen sich Gott nur ausgedacht haben, um Verantwortung an ihn abschieben zu können.“ „Beispiel?“, fragte der Ältere nach, dem das ein bisschen hoch war. „Nun, im Christentum kann man das ziemlich gut sehen. Da heißt es, dass es einen gütigen Gott gibt, der einem die Sünden verzeiht. Wenn ein Mensch also wissentlich etwas Böses tut, dann kann er sich denken, dass Gott ihm das verzeiht. Er kann zum Beispiel beichten gehen und bekommt dann als Buße, dass er drei Gebete sprechen muss. Damit ist dann alles wieder gut. Und so kann sich ein christlicher Mensch immer wieder reinwaschen und neues Böses tun ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Er schiebt die Verantwortung für seine Taten einfach auf Gott ab.“ „Kapiert.“, meinte Katsuya nur. Bei allen Göttern, ob es sie nun gab oder nicht, das war hoher Stoff. Aber logisch war es allemal, das stimmte schon… „Das ist im Groben das, was ein Existentialist glaubt. Sartre geht in seinen Schriften auch von diesem Ansatz aus. Und er behauptet, dass Hoffnungslosigkeit der größte Optimismus ist.“ „Wie bitte?“, fragte er ziemlich überrascht. Hoffnungslosigkeit der größte Optimismus? Wie kam man denn da drauf? „Ja.“, Ryou lächelte ihn von seiner Schulter aus an, „Genau das sagt er.“ „Und wie kommt er darauf?“ „Nun, man muss sich noch mal in Gedanken rufen, dass er davon ausgeht, dass Menschen ihre Verantwortung gerne abschieben. Zum Beispiel auch auf die Hoffnung. Solange man hofft, dass etwas eintrifft, tut man nicht alles dafür, dass es eintrifft. Somit sorgt die Hoffnungslosigkeit dafür, dass man wirklich etwas tut und damit die Verantwortung dafür übernimmt. Somit ist nicht die Hoffnung, dass etwas Gutes geschieht, der Optimismus, sondern die Hoffnungslosigkeit, da man da wirklich dafür arbeitet, dass etwas Gutes geschieht.“ „Beispiel…“, jammerte Katsuya gespielt. „Nehmen wir dich und Kaiba. Für dich wäre es etwas Gutes, wenn er deine Gefühle erwidert, oder?“ „Na ja…“, er wurde etwas rot, „Darüber muss ich noch nachdenken…“ „Gehen wir mal davon aus. Du möchtest also, dass Kaiba sich in dich verliebt. Dann kannst du natürlich hoffen, dass es passiert oder sogar darauf vertrauen, dass es passiert. Manche Menschen nennen das eine gute Lebenseinstellung und Optimismus. Da denke ich allerdings anders, genau so wie Sartre. Denn erst wenn du diese Hoffnung aufgibst, doch das Ziel nicht verlierst, dann tust du wirklich alles, damit er sich auch in dich verliebt. Und genau das ist wahrer Optimismus! Nur glauben oder hoffen oder vertrauen bringt nichts, man muss etwas tun! Du kannst also dein Leben lang hoffen, dass er sich in dich verliebt oder wirklich etwas tun, damit es passiert. Und entweder es klappt oder es klappt eben nicht. Wenn es nicht klappt, dann kannst du es auch immer wieder versuchen. Und gerade damit übernimmst du auch Verantwortung. Die Verantwortung für dein eigenes Leben.“ Der Ältere musste erstmal tief durchatmen. Wie kam ein Fünfzehnjähriger zu solchen Überzeugungen? Das war ja echt nicht mehr normal. Da hatte sich glatt mal jemand mit dem Leben auseinandergesetzt. Und ihm kam noch ein ganz anderer Gedanke… die Wahrheit hinter dem Leben musste wirklich unfassbar grausam sein. „Ich kann also entweder hoffen, dass Kaiba sich irgendwann in mich verliebt oder etwas tun, damit er es wirklich tut? Aber muss ich die Hoffnung wirklich aufgeben, damit ich es tue? Ich meine, ich kann ja auch hoffen und etwas tun…“ „Aber so lange du hoffst, tust du nicht alles, was in deiner Macht steht.“ „Das ist schwer… wenn ich die Hoffnung aufgebe, woran halte ich mich fest? Was ermutigt mich, es immer wieder zu versuchen und immer mehr zu tun, um mein Ziel zu erreichen?“ „Das ist wie mit dem Leben. Was ermutigt uns denn immer weiter zu leben und trotz aller Rückschläge immer wieder aufzustehen um weiterzumachen? Was haben wir denn im Leben für einen Halt? Manche nehmen sich Gott oder sonst was, an dem sie sich festhalten. Und da kommt eben die zweite Überzeugung der Existenzialisten ins Spiel. Dieses Abschieben der Verantwortung, das ist die Sache mit dem Halt. Und Existenzialisten sagen, dass wir die Verantwortung nicht abschieben, sondern selber übernehmen sollen. Und das heißt weiterhin, dass nur wir selbst unser Halt sind. Wir leben für uns selbst! Das ist der springende Punkt. Wir leben für unsere Wünsche und unsere Träume, wir leben dafür uns selbst das zu geben, was wir haben wollen. Wir leben um das Ziel unseres Lebens zu erreichen. Wir leben dafür unser Glück zu finden. Und auf diesem Weg dürfen wir nicht einfach hoffen, dass das Glück von selbst kommt. Wenn wir glücklich werden wollen, dann müssen wir etwas dafür tun, dass wir glücklich werden! Das bedeutet es Verantwortung zu übernehmen. Wir können unser ganzes Leben auf Gott vertrauen und daran glauben, dass er uns nach dem Tod das Glück schenkt. Aber bringt uns das etwas? Nein, definitiv nicht. Wir haben keine Ahnung, was nach dem Tod kommt und wir wissen nicht einmal, ob es so etwas wie Gott überhaupt gibt. Wir drücken uns damit nur davor Verantwortung zu übernehmen, weil das definitiv eine schwere Sache ist. Denn wie du schon erkannt hast, bedeutet es, dass wir immer weiter machen und kämpfen, obwohl wir keinen Halt außer uns selbst haben. Aber genau das ist es, was wir tun sollen. Um jetzt das Ganze mal wieder in den alltäglichen Bezug zu bringen…“, Ryou atmete einmal tief durch, bevor er fortfuhr, „Nach unserer Annahme ist es für dich Glück, wenn Kaiba deine Gefühle erwidert. Das ist Teil deines Ziels. Und um das zu erreichen, musst du darum kämpfen! Du darfst nur nicht von deinem Weg abkommen oder aufgeben. Denn das hieße dich selbst aufzugeben. Und sich selbst aufzugeben, das heißt die Träume und Wünsche und Sehnsüchte aufzugeben. Das hieße, dass du dein Ziel aufgibst. Und wenn man sein Ziel aufgibt, dann gibt man sein Leben auf. Dann lebt man nicht mehr, sondern existiert nur noch. Denke einfach immer daran, was dein Ziel ist. Das gibt dir die Kraft zu kämpfen.“ Nach diesem Vortrag brauchte Ryou erstmal eine Pause und zwei Gläser Wasser. Und Katsuya brauchte Zeit zum Denken. Kämpfen? Immer auf sein Ziel hinarbeiten? Sich niemals selbst verlieren? Trotz jedes Schlages wieder aufstehen um weiterzumachen? Das war viel, sehr viel auf einmal… was wollte er denn eigentlich mit seinem Leben anfangen? „Ryou, du solltest Philosoph werden.“, stellte der Blonde fest. „Pah! Philosoph?“, man konnte seine Brust anschwellen und seine Augen vor Feuer glühen sehen, „Philosophen sind Leute, die sich den Mund fusselig reden über Dinge, die meistens eh nicht wichtig sind. Oder vollkommen theoretische Konstrukte erfinden, die mit dem Leben eh nichts mehr zu tun haben. Es gibt schon genug gute Meinungen, aus denen sich jeder Mensch eine eigene bilden sollte. Da brauche ich kein Philosophiestudium und keine ach so schlauen Leute, die sich nur oberflächlich mit diesen Dingen auseinandersetzen. Ein paar Diskussionen mit wirklich schlauen Menschen, die auch wirklich etwas zu dem Thema sagen können, reichen mir völlig. Ich kann mit meinem Leben Besseres anstellen.“ „Wie kommt man zu solch einer Lebensauffassung?“, fragte Katsuya schon fast entsetzt, denn die Rede von vorhin hatte sein Hirn immer noch nicht ganz erreicht. „Man muss nur einmal den Tiefpunkt erreicht und nicht aufgegeben haben. Selbstmord ist etwas für die, die an diesem Punkt nicht mehr weiter wollten oder verzweifelt sind. Aber wer weiter macht, für den kann es nur noch bergauf gehen. Wenn einem irgendwann die Kraft fehlt, dann kann man immer noch aufgeben und sich dann in Sinnlosigkeit das Hirn betäuben oder dem Leben ein Ende setzen. Aber wenn man die Kraft nutzt, die jeder von uns hat, dann kann man für sein Glück kämpfen. Und dann erkennt man, dass das Leben eine Chance für uns ist glücklich zu werden.“ „Aber…“, Katsuyas Blick verdunkelte sich, „Das Ganze hat auch schlechte Seiten… was ist, wenn jemand seine Beine verliert und sein Traum es ist einen Marathon zu gewinnen? Was ist, wenn man gar nicht erst die Chance bekommt sein Ziel zu erreichen? Wie soll ein dummer Mensch den Physiknobelpreis gewinnen? Wie soll jemand, der keine Freunde hat, jemals Vertrauen lernen? Wie soll jemand, der nie geliebt wurde, jemals wahre Liebe erfahren? Manchmal sind uns einfach die Chancen nicht gegeben, jemals unser Ziel zu erreichen.“ „Natürlich sind sie das.“, erwiderte Ryou, „Der Beinlose kann so lange forschen, bis er künstliche Beine erschaffen hat, mit denen er laufen kann. Der dumme Mensch kann so lange denken, bis auch ihm neue Erkenntnisse zuteil werden. Der Freundlose kann immer wieder Vertrauen schenken, bis es erwidert wird. Der Ungeliebte kann so lange nach Liebe suchen, bis er sie findet. Jeder von ihnen wird auf dem Weg oft scheitern und zwischendurch verzweifeln – aber jeder von ihnen kann immer wieder an sein Ziel denken und es wieder versuchen. Man darf nur nie aufgeben.“ „Und wenn man sein Ziel nun nie erreicht? Wenn man stirbt, bevor man sein Ziel erreicht?“ „Glaubst du denn, irgendein Mensch würde sein Ziel je erreichen?“, fragte der Weißhaarige mit einem Lächeln nach. Katsuya blinzelte verwirrt. Bitte? Die ganze Zeit so eine positive Lebenseinstellung und jetzt das? „Na ja… der Dumme könnte ja wirklich den Nobelpreis gewinnen.“ „Natürlich könnte er das. Aber es liegt in der Natur des Menschen nie zufrieden zu sein. Danach wird er sich ein neues, ein höheres Ziel stecken. Aber denkst du, es wäre etwas Schlechtes, dass ein Mensch nie zufrieden ist? Nein, das ist gerade das Gute. Ein Mensch wird sein Ziel nie erreichen, genau so ist es gedacht. Er kann zwischendurch immer wieder Ziele erreichen, aber er steckt sich immer Neue.“ „Aber dann kann ein Mensch doch nie glücklich werden!“, warf der Ältere ein. „Habe ich denn irgendwo gesagt, dass es das wahre Glück wäre, wenn man sein Ziel erreicht?“ Katsuya schwieg. Welch eine Diskussion… nein, er konnte sich nicht erinnern, dass Ryou das gesagt hatte. Aber das Ganze war eh schwer zu erinnern… die Worte hatten ihn im Herz getroffen. Da saßen sie nun fest und sein Bewusstsein konnte sie nicht mehr fassen. Er fühlte sich so beflügelt, so euphorisch und gleichzeitig so verzweifelt. All diese Überzeugungen, die ganzen Konsequenzen, er konnte es nicht fassen. Das war so viel, so unglaublich viel! Es trieb ihn in solche Höhen, wie er sie sich nie vorgestellt hatte. Und was käme jetzt? Dass alles doch nur Schein ist und dass es gar kein Glück gab? Ryou sollte antworten. Ja, er wollte Antworten! Endlich konnte er seine Fragen stellen und endlich bekam er Antwort. Die Frage nach Gott, die Frage nach dem Übel, die Frage nach dem Sinn… es gab Antworten! „Nein, das Ziel zu erreichen ist nicht das wahre Glück. Ziele zu erreichen gibt einen ein riesiges Glücksgefühl, aber das hält nicht an. Man kann nicht dauernd glücklich sein. Aber wahres Glück, das kann man immer empfinden, wenn man will.“, Ryou legte eine bedeutungsschwere Pause ein, „Indem man an seinen Zielen festhält. Wahres Glück kann man immer erleben, so lange man nur sich selbst treu bleibt.“ Sich selbst treu bleiben… es war schwer, aber das war die Herausforderung. Man musste für sein Glück kämpfen. Man durfte nur nicht aufgeben. Welch Ideale! „Dann ist man eigentlich immer glücklich, solange man nicht aufgibt, oder?“ „Ja.“ „Würdest du es bereuen, wenn du hier und jetzt sterben müsstest?“ Da musste selbst Ryou kurz überlegen. „Nun… ich glaube nicht. Ich wäre traurig darüber, doch, denn eigentlich habe ich noch eine Menge vor. Aber bereuen würde ich nichts. Die letzten acht Monate haben mir wirklich alles bedeutet. Ich habe mich selbst gefunden und ich habe mir immer wieder kleine Ziele gesetzt, die ich erreicht habe. Ich kann von mir sagen, dass ich glücklich bin, doch. Jetzt zu sterben wäre schade, ja, aber ich würde nichts bereuen.“ „Glücklich?“, fragte Katsuya überrascht nach, „Aber… ich will nicht allzu böse sein und dich nicht verletzen, aber… ich meine, du bist schon ziemlich gestört, wenn ich das mal so sagen darf. Du hast Angstzustände, Anfälle, bist schwer traumatisiert und hast gerade mal deinen Bruder und ein, zwei Freunde. Trotzdem sagst du, du bist glücklich?“ „Natürlich.“, sagte Ryou sofort, „Jeder Mensch ist doch irgendwo krank, mehr oder weniger halt. Aber das ist ein Teil von mir und ich habe ihn akzeptiert. Was würde es mir denn bringen, wenn ich mich selbst nicht annehme? Selbsthass ist das Schlimmste, was ein Mensch sich antun kann. Denn kämpfen kann man nur, wenn man selbst der eigene Halt ist und der kann man nicht sein, solange man sich nicht selbst vertraut und sich akzeptiert. Dass ich meine Krankheit akzeptiere, heißt ja auch nicht zwangsläufig, dass ich nichts daran ändere oder sie zu bessern versuche. Aber sie ist ein Teil von mir und ich kann nur mit ihr glücklich sein. Sich selbst treu zu bleiben erfordert sich selbst zu akzeptieren, das habe ich bereits gelernt.“ Katsuya stand vor Staunen der Mund leicht offen. War das überhaupt noch ein Mensch? Diese Worte trieben ihm Tränen in die Augen und machten ihn gleichzeitig unglaublich glücklich. „Nachdem ich vergewaltigt wurde, war es sehr schwer mich selbst zu akzeptieren oder gar zu lieben. Ich fand mich selbst abstoßend. Aber mein Bruder hat mir wieder beigebracht, was ich eigentlich bin. Indem er mir seine bedingungslose Liebe gab, konnte ich mich wieder selbst lieben. Das war die wahre Therapie. Man muss nur lernen sich selbst zu akzeptieren, dann kann man glücklich werden, egal, wie oft man auch niedergeschlagen wird. Und das ist es, was den meistens Menschen fehlt. Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Stolz. Das sind die Dinge, die wir Menschen verloren haben.“ Einige Sekunden herrschte Stille. Ryou hatte die Augen geschlossen und hielt sich noch immer an Katsuyas von Yami geliehenen T-Shirt fest. Ruhig, entspannt, wärmend. Wie ein kleiner Engel. Katsuya hingegen rannen die Tränen aus den Augen. Er wusste nicht warum und er konnte sie nicht stoppen. Aber diese Worte hatten ihn erschüttert. Irgendetwas tief in ihm war bewegt worden, irgendetwas, was schon lange auf Bewegung gewartet hatte. „Ist…“, begann er zögerlich, „Ist das Wahrheit?“ „Was meinst du damit?“, fragte der Weißhaarige zurück. „Ist das die Wahrheit hinter dem Leben?“ Sein Blick verdunkelte sich, wurde schwer und traurig. Er senkte den Kopf wieder, schüttelte ihn und drückte ihn wieder gegen Katsuyas Brust. „Nein…“, hauchte er, „Wahrheit ist das nicht.“ „Nicht?“, die Tränen stoppten – dafür schien sein Herz ins Bodenlose zu fallen. „Nein.“, er seufzte leicht, „Ein schlauer Mann hat vor über zweitausend Jahren gesagt: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Er hatte nicht ganz Recht. Denn der Mensch kann wissen, dass die Wahrheit, nach der du fragst, für ihn nicht zu erkennen ist. Ein Mensch kann sie niemals erfahren. Was ich dir gerade gesagt habe, dass ist eine Einstellung zum Leben, die Rückschlüsse auf die Wahrheit gibt. Aber hast du eine andere Einstellung, dann ist auch Wahrheit etwas anderes für dich. Die Religion, die den meisten Menschen in der Kindheit gegeben wird, das ist nichts anderes als eine Einstellung zum Leben, in die etwas Göttliches mit eingebracht wird. Es ist alles nur eine Sache des Glaubens, egal, ob dieser Glaube nun etwas Göttliches enthält oder nicht.“ „Aber es gibt keine Götter! Eine religiöse Einstellung ist falsch!“ „Nein.“, widersprach Ryou wieder, „Das ist nicht falsch. Du kannst nicht sagen, dass es keine Götter gibt, nur weil es keine Beweise für Götter gibt. Ein Mörder ist auch nicht gleich unschuldig, nur weil man ihm die Tat nicht nachweisen kann. Jede Einstellung ist richtig, es gibt keine falschen Einstellungen. Die Einstellungen sind nur immer verschieden. Menschen nach ihren Einstellungen zu verurteilen, das ist Diskreminierung. Einstellungen können anders sein, aber niemals falsch. Wenn du eine Einstellung wirklich beurteilen willst, kannst du nur schauen, wie gesund sie ist.“ Katsuya zog eine Augenbraue hoch. „Es gibt zum Beispiel erzkonservative christliche Einstellungen, in denen man das menschliche Dasein nur für eine Prüfung Gottes hält. Da ist es dann normal, dass man zwei Stunden am Tag eine Büßerkette umlegt und sich einmal die Woche geißelt. In beiden Fällen werden dir Eisenhaken in die Haut gerannt. Wurde im Film Sakrileg gezeigt und selbst da in gemäßigter Form.“ Hey, den Film hatte er letztes Jahr in Religion gesehen! Einer der seltenen Tage, wo er wirklich mal die Schule besucht hatte. Was kam da noch mal drin vor? „Solche Einstellungen gibt es wirklich und wie du dir denken kannst, sind es keine gesundheitsfördernden. Du kannst auch die ganze Welt als einzige Lüge ansehen, als reine Qual, die man zu überwinden hat. Das führt meistens dazu, dass man wahnsinnig wird. Die Einstellung zum Leben ist eine sehr wichtige Sache. Und man darf nie vergessen, dass sie sich öfters auch mal ändern kann. Deswegen sollte jeder Mensch versuchen sich seine eigene Auffassung bewusst zu machen.“ „Und deine Auffassung ist eine gesundheitsfördernde?“ „Halb und halb.“, meinte Ryou lächelnd, „Solange dein Selbstbewusstsein unerschütterlich ist, ist die Einstellung recht gesund. Du wirst nicht enttäuscht, du arbeitest hart, um dich selbst glücklich zu machen und du hast Spaß am Leben. Aber sobald du Selbstzweifel hast, kann das ins Gegenteil umschlagen… ich habe zum Glück Bakura, der mich immer wieder aufbaut, mich an meine Träume erinnert und mein Selbstbewusstsein stärkt, aber wäre er nicht da, würde ich in völliger Verzweiflung versinken.“ „Hm…“, der Blonde legte den Kopf schief und fixierte die Decke, „Ich weiß gar nicht, was ich eigentlich über das Leben denke… ich versuche mal es raus zu finden.“ Der Kleine lächelte und seine Augen begannen zu strahlen. „Ich bin gespannt auf das Ergebnis.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)