Lost in music von abgemeldet (Musik heilt) ================================================================================ Kapitel 1: ~Incubus, Nightmare, Nachtmahr~ ------------------------------------------ Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Für die Kinder der „Straße“ kann eine Ewigkeit schon einen Tag bedeuten, denn selbst ein Tag kann lang sein. Meine Ewigkeit hingegen hatte drei Wochen gedauert. Früher hatte ich ihn jeden Tag gesehen. Cain, meinen besten Freund seit Kindertagen. Ein Jahr lang bewohnte er schon seine eigene Zwei-Zimmer- Wohnung außerhalb der „Straße“. Seine Gründe hatte ich nie erfahren. Auf der langen Fahrt stadteinwärts dachte ich über unser Leben nach. Beide stammten wir aus gutbetuchten Familien, welche uns zuerst vernachlässigt und dann verstoßen hatten. So kamen wir in die „Straße“, eine Art privates Jugendzentrum, in dem wir versuchten unser Leben wieder in den Griff zu bekommen. Eigentlich ist es einfach in der Straße zu überleben, wenn man sich in die Hierarchie einfügt. Für mich kein Problem. Schnell nahm mich der Musikerclan auf und bei ihnen fand ich endlich eine neue Familie. Es machte mich unendlich glücklich, dass alle mich beim Bassspielen unterstützten und ich schließlich in eine der „Groupe petit“, eine Nachwuchsband, aufgenommen wurde. Ich genoss die Anerkennung, welche ich mir im Laufe der Jahre erarbeitet hatte. Cain jedoch war schon immer anders gewesen. Für ihn war es unsinnig sich irgendwo anzuschließen, auch wenn sich der Sport- und der Literaturclan sich um ihn stritt. Es dauerte nicht lang bis er zum Außenseiter wurde. „Ist doch schöner, wenn die Leute einen nicht hintergehen können“, pflegte er wie ein Greis zu sagen und setzte meist noch ein selbstgefälliges Grinsen auf, welches seinem eigentlichen Charakter widersprach. Schließlich bewarb er sich für eine Stelle in einem kleinen Buchladen und zog aus der Straße, sobald er die Zusage erhielt. Zwar hatte seine Entscheidung unserer Freundschaft nichts abgetan, aber ich vermisste die unsere gemeinsamen Nachmittagsstunden in denen ich mit ihm die Sportler beobachtete und wir über unsere Zukunft nachdachten. „Nächster Halt: Bahnhof Mitte“, verkündete die mechanische Stimme aus dem Lautsprecher der S-Bahn. Ich stand auf und ging langsam Richtung Tür. Rennen in der Bahn sah nicht nur uncool aus, es war auch kreuzgefährlich wegen des plötzlichen Halts an den vielen Ampeln der Innenstadt und dem dabei entstehenden Sog Richtung Boden. An der Tür angelangt, hielt auch die Bahn und ich konnte aus dem Abteil springen. Schnell bewegte ich mich Richtung Fußgängerweg, denn ich hatte schon des Öfteren die Bekanntschaft einer Kühlerhaube gemacht. Nun machte mich auf den Restweg zu beschreiten. Mich ergriffen gemischte Gefühle, wenn ich die Straße betrat, in der Cain wohnt. Einerseits hatte ich etwas Angst, denn nicht selten hört man von Banden, die diese Gegend unsicher machten. Andererseits war sie das Zuhause von Cain und er war die wichtigste Person in meinem Leben seit jeher. Ich betrat also die kleine, dunkle Seitengasse, welche mich von der Hektik der Stadt wegführte. Mein erster Eindruck der Gasse war mit einer Erinnerung an die Straßen Londons verbunden gewesen. Dort war ich als Kind mit meinen Eltern gewesen. Die schmiedeeiserne Eingangstür und die Treppen hinauf bis zur Tür hinauf lockten mich förmlich an. Schnell schritt ich durch die Gasse und hinauf zur Eingangstür, wollte gerade die alte Türglocke drücken, als die Haustür aufgerissen wurde und eine junge, erzürnt wirkende Frau schoss heraus. Erst stockte ich, aber als ich mir ihr Gesicht genauer besah, hatte ich meine Gewissheit. Ama starrte mich an. Die dunkelhaarige Schönheit leitete seit cirka einem Jahr den Literaturclan und war für ihre überschwellenden Gefühle bekannt. Warum hatte man sie zu Cain geschickt? Es war doch weitestgehend bekannt, dass die beiden einander nicht leiden konnten. Oder doch? Ich riss mich aus meinen schwirrenden Gedanken und erwiderte ihren Blick lächelnd. Das Fußvolk schweigt zu seiner eigenen Sicherheit. „Guten Tag, Ama-sensei“, grüßte ich sie höflich. Eine Erwiderung folgte nicht. Schlecht gelaunt wurde ich nur angefahren:„Du bist doch der Babybass, der immer mit Cain abhängt?“ Babybass, du Gossenmädchen? Langsam zweifelte ich am Verstand dieser Frau. Ich mochte unter ihr stehen und vielleicht hatte ich auch nicht so viel Einfluss wie sie, aber musste sie mich deswegen gleich beleidigen? Ihr einen möglich grausamen Tod wünschend nickte ich. „Gut, dann richte ihm aus, dass er eine Woche hat.“ Mit diesen Worten rauschte sie davon. Mir taten diejenigen leid, welche ihr heute noch begegnen würde. Ich öffnete die Tür, die ich glücklicherweise vom Zuschlagen gehindert hatte, wieder und trat ein. Vermutlich hätte mich Cain nach einem solchen Besuch nicht mehr hereingelassen. Verübeln konnte ich es ihm nicht. Kopfschüttelnd betrat ich das Treppenhaus, welches offensichtlich in den letzten Stunden geputzt worden war, denn die Stufen trieften nicht wie üblich vor Dreck und zudem nahm ich einen leichten Zitronenduft wahr, welcher so chemisch roch, dass er nur von Putzmittel stammen konnte. Meine gute Laune langsam wiedererlangend lief ich die Stufen zum ersten Stock hinauf. Meine Rache an Ama würde süß sein, auch wenn ich noch nicht wusste wie. Vor der ramponierten Holztür angekommen, blieb ich kurz stehen um mich etwas zu beruhigen. Bei einem meiner letzten Besuche hatte mich Cain förmlich herausgeekelt, weil ich mit einem 1000-Watt-Grinsen bei ihm erschienen war. Danach hatte ich mir vorgenommen ihn nicht mehr mit guter Laune zu überschütten, zu sehr genoss ich unsere wenige gemeinsame Zeit. Nach einigen Minuten zog ich den Zweischlüssel aus meiner Armeetasche und schloss die Tür mit einem leisen Klicken auf. Beunruhigt nahm ich zur Kenntnis, dass er nicht abgeschlossen hatte, was für ihn eigentlich normal war. Bedacht vorsichtig verschloss ich die Tür hinter mir. Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie neben die Tür. Meine Tasche und meinen Winterparka legte ich gleich daneben. „Cain?“ Ich versuchte abzuschätzen wie er gelaunt war. Da er nicht antwortete, schwante mir böses. Auf Socken schlich ich über den Parkettboden durch den Vorraum ins Wohnzimmer. Dort erblicke ich ihn auch sofort. Zusammengesunken hockte er auf den grauen Couch und starrte auf einen kleinen Fernseher auf dem nur das Fehlbild flimmerte. Ich ging um die Couch herum und ließ mich neben ihm nieder. An die Lehne des Sofas gelehnt beobachtete ich ihn. Er trug heute abgerissene Bluejeans und ein weißes T-Shirt. Er war barfuss. Seine braunen Haare waren länger geworden und hingen ihm einheitlich über die Schultern, zudem verwehrte sein schräges Pony einen Blick auf sein rechtes Auge. Recht gesund sah er noch aus, aber er war blasser geworden, weiß wie der Tod. Noch immer ruhte sein Blick auf der Bildröhre. Nun richtete ich meinen auch darauf. „Was soll das denn sein? “ fragte ich nach einer Weile und legte den Kopf schräg. „Pixelstorm“, antwortete er kratzig und starrte weiter. „Schön“, meinte ich und griff nach der Fernbedienung. Ich hob sie hoch und sah ihn fragend an. Dabei bemerkte ich, dass er mich kurz aus den Augenwinkeln betrachtet hatte. „Kann ich?“ fragte ich, als er nicht reagierte. Es folgte nur ein Nicken. Gut, dachte ich bei mir und schaltete auf ITV, meinen Lieblingsmusiksender, der täglich rund um die Uhr nur Musik brachte. Gerade lief „Dig“ von Incubus und ich wollte mich gerade in die weichen Polster sinken lassen, als Cain aufstand. Als ich mich zu ihm umsah, hatte er bereits das Sofa umquert und war in der sich anschließenden Küche verschwunden. Wieder griff ich nach der Schalte, stellte den Fernseher etwas leiser und erhob mich ebenfalls um ihm zu folgen. Er stand mir den Rücken zugewandt vor der Werkfläche und holte gerade zwei Tassen aus dem hängenden Küchenschrank. An schlechten Tagen kochte er nur sich eine Tasse Tee und ließ mich stehen. Ich war also nicht unerwünscht. Das Wasser machte gurgelnd auf sich aufmerksam und Cain goss es über die Teebeutel, die er zuvor in die Tassen gehängt hatte. Fast augenblicklich breitete sich der Duft von Heidelbeeren aus. Mit je einer Tasse in einer Hand ging er ohne mich weiter zu beachten an mir vorbei ins Wohnzimmer. Konnte es sein, dass er sich zwei gemacht hatte? Doch dann zerstob er meine Ängste, in dem er mich leise rief. „Akira!“ Hatte ich schon erwähnt, dass ich auf seine Stimme wie eine Motte auf Licht reagierte? Mit dem Anflug eines Lächelns folgte ich seinem Ruf und ging zurück ins Wohnzimmer um mich zu ihm zu gesellen. Wieder Stille, aber diesmal war sie nicht ganz so bedrückend. Nach einer Weile streckte ich meine Hand nach einer der Tassen aus, zog sie aber nach einer kurzen Berührung wieder zurück. Schmerz lass nach! War noch nicht so viel Zeit vergangen wie ich annahm? Ein gedämpftes Lachen neben mir bestätigte meine Annahme. Ich ließ also von einem erneuten Versuch ab und wand mich Cain zu. Er saß in der gleichen Pose wie zuvor. Die Beine an den Körper gezogen und die Arme auf den Knien abgelegt. Diesmal sah er aber mich an mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. Ich lehnte mich zurück und begann: „Also, wie geht’s dir, Cain?“ Er verzog das Gesicht gespielt leidvoll. „So schlimm? “ fragte ich. Heftiges Nicken folgte. Ich grinste und forschte weiter: „Vielleicht wegen Ama-sensei?“ Wieder verzog er das Gesicht, diesmal aber ehrlich ratlos. „Wie kommst du auf Ama?“ Gespielt geschockt sprang ich auf und rief: „Das fragst du mich und nennst sie so freundschaftlich >Ama