meetings von lufie ================================================================================ Kapitel 1: meetings ------------------- 1 …Naomi „Hier“ Die Frau mit den dunklen Augen reichte ihm einen kleinen, gläsernen Fisch. „Können Sie das reparieren?“ Eine abgebrochene Flosse. Der Glaser nickte. Es dauerte nicht lange, bis das Glas ausgehärtet war. Die Frau bezahlte schweigend. Der Glaser packte den Fisch in braunes Papier. Dann ging die Frau. Die Absätze klackerten auf dem Pflaster. Den Fisch hatte eine Freundin zerbrochen. Vor langer, langer Zeit. Es war ein Versehen gewesen. Nun war sie lange tot. Schwierige Operation am Herzen. Hohes Risiko. Sie war bei der Beerdigung gewesen. Sie hatte auch geweint. Heute dachte sie nur noch manchmal an sie. In der Wohnung war es kühl. Sie schlüpfte aus ihren Stiefeln, lief auf Socken in die Küche. Setzte Wasser auf. Sie lebte allein. Sie hielt nicht viel von Männern. Auf dem Tisch lag der Krimi, den sie gerade las. Aber sie konnte jetzt nicht lesen. Sie musste arbeiten. Obwohl Sonntag war. Sie klappte den Laptop auf, tauchte einen Teebeutel in das heiße Wasser. Sie mochte keinen Kaffee. Die Keksdose war leer. Der Kühlschrank auch. Ihr Magen knurrte. Sie bestellte etwas beim Chinesen. Es war ungesund, das wusste sie. Aber zum Kochen hatte sie keine Zeit. Ihre Finger huschten über die Tastatur. Vielleicht sollte sie Urlaub nehmen. Irgendwohin fahren, wo die Sonne schien. Die Katze scharrte an der Tür. Sie öffnete ihr, stellte ihr Futter hin. Das Tier sprang ihr auf den Schoß. Sie schubste es herunter. Die Arbeit ging vor. Erst spät in der Nacht schaltete sie den Laptop ab und trank den letzten Schluck Tee. Er war inzwischen kalt. Sie spülte die Tasse mit der Hand aus. Die Spülmaschine war schon voll. Später im Bett las sie noch in ihrem Krimi. Sie wusste längst, wer der Mörder war. Sie las trotzdem weiter. Der Schreibstil gefiel ihr. Sie gähnte. Morgen musste sie einkaufen. Vielleicht kaufte sie morgen Blumen. Blumen brachten ein wenig Leben in diese leblose, stille Wohnung. Die Katze kam ins Zimmer geschlichen. Sprang neben ihr auf die Bettdecke. Aber da war sie längst eingeschlafen… 2 …Tabea Im Blumenladen hatte eine schöne, dunkelhaarige Frau gestanden. Ein wenig verloren gewirkt hatte sie zwischen all den Blumen, unentschlossen. Tabea hatte ihr zugelächelt. Die Frau sah ein bisschen aus wie ein Model. Aber glücklich wirkte sie nicht. Die ganze Welt war voll von unglücklichen Menschen. War sie denn die Einzige, die glücklich war? Ihren Strauß Astern in der Hand sprang sie alle drei Stufen des Ladens auf einmal hinunter. An der Ecke kaufte sie sich vom Wechselgeld ein Eis. Musik machte die Stadt lebendig. Sie setzte die Kopfhörer auf, drehte die Musik so laut, wie es ging. Sie wusste, dass es ungesund war. Sie machte es trotzdem. Sie lebte hier. Und jetzt. Und jetzt wollte sie glücklich sein. Was wäre, wenn sie morgen sterben würde? Dann wäre sie nie in den Genuss gekommen, laute Musik zu hören. Eis kleckerte auf den Asphalt, als sie über eine Pfütze hinwegsprang. Einige Spatzen hüpften über die Straße. Sie warf ihnen Stückchen von ihrer Eiswaffel zu. Laut mitsingend tanzte sie durch die Stadt, balancierte über eine Mauer. Die Leute drehten sich nach ihr um, warfen ihr seltsame Blicke zu. Tabea lachte sie an. Sie lachten nicht zurück, guckten nur noch seltsamer – vielleicht abfällig? Nur ein kleines Mädchen lachte breit. Sie hatte eine Zahnlücke. Tabea mochte sie auf Anhieb. Ein Junge kam neben ihr aus einem Hauseingang, schloss sein Fahrrad ab. „Nimmste mich mit?“, fragte Tabea ihn. Sie kannte ihn nicht. Aber sie sah ihn oft in der Stadt. Und das war doch fast auch so etwas wie kennen, oder? Er sah nett aus. Nicht so wie die anderen. Sie mochte seinen bunten Schal. Er schien ein wenig verwirrt, aber dann nickte er. Tabea wusste nicht, wo er hin wollte. Sie fragte auch nicht. Sein Schal flatterte im Fahrtwind. Sie steckte ihm eine Aster an die Mütze. An wem sie vorbeifuhren, dem winkte sie. Einige Vögel sangen. Sie sang mit. Zusammen singen war schöner als allein singen. Er fuhr in ein Dorf. An einer Schafweide vorbei. Über einen schlammigen Trampelpfad. Bis an einen kleinen Bach. Dort stiegen sie ab und er warf das Fahrrad ins Gras. Sie fragte nicht, was er hier wollte. Man musste nicht irgendwohin fahren, nur weil man dort etwas wollte. Sondern weil es so schön war. Er setzte sich auf einen Baum und holte einen Block aus seinem Rucksack. Und einen Malkasten. Er begann zu malen. Sie setzte sich neben ihn. Es schien ihn nicht zu stören. „Das ist mein Lieblingsplatz.“, sagte er. „Hier geh ich hin, wenn sich meine Eltern streiten.“ „Soll ich gehen?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. „Ist schon ok.“ Sie wickelte sich seinen Schal um den Hals. Er war schön weich und kuschelig. Auf der Erde lagen eine Menge schöne Blätter. Rote und orangene. Sie könnte sie aufsammeln und zu Hause pressen. Er malte sie. Das war seine Art von Pressen. Die Luft war anders als in der Stadt. So sauber. Die Musik hatte sie längst ausgemacht. Die Musik der Natur war viel schöner… Naomi hatte das singende Mädchen aus dem Blumenladen wieder gesehen. Sie lächelte ihr wieder zu. Sie trug einen Strauß Tulpen im Arm. Sie hielt ihr eine entgegen. Naomi schüttelte den Kopf. „Kann ich mitkommen?“, fragte das Mädchen. „Wohin?“ „Dahin, wo du hin willst.“ Sie schüttelte wieder den Kopf. „Das geht nicht.“ Sie ging weiter. Das Mädchen folgte ihr. „Bist du traurig?“ „Lass mich bitte in Ruhe.“ Als Naomi sich das nächste Mal umdrehte, war das Mädchen verschwunden. Komisches Gör. Dabei war sie doch bestimmt schon fünfzehn. Ob ihre Eltern wussten, dass sie die Schule schwänzte? Sie setzte sich in ein Café, bestellte sich eine heiße Schokolade. Ein Stück Kuchen. Heute hatte sie frei. Der Job gefiel ihr nicht. Zu viel Zeit am Computer. Aber er war eh nur eine Ausweichlösung. Bis sie eine ordentliche Arbeit gefunden hatte. Sie wollte Lehrerin werden. Mathe/Physik. Hierher gezogen war sie wegen des Studiums. Vielleicht sollte sie nach Berlin gehen. Dort fand sich sicher eine Stelle. Die Schokolade war noch sehr heiß. Sie trank vorsichtig. Am Tassenrand blieb etwas Lippenstift zurück. Morgen wurde sie schon 28. Vielleicht gönnte sie sich dann eine kleine Tüte Schokotrüffel. Freunde hatte sie hier kaum welche. Eher Bekannte. Ob jemand an ihren Geburtstag dachte? Für eine alte Dame hatte sie im Rahmen eines Projektes eine Patenschaft übernommen. Es war eine einsame, alte Dame. Aber sie war glücklich. Auch sie hörte gern laute Musik. Und auch sie sang und tanzte dazu. Irgendwo waren sich doch alle Menschen ähnlich. Egal ob jung oder alt. Naomi hatte sie lange nicht besucht. Vielleicht Mittwoch. Mal sehen. Als sie die Schokolade bezahlen wollte, da fiel eine gelbe Tulpe aus ihrer Tasche. Seltsames Mädchen. Sie legte die Blume auf den Tisch. Dann ging sie… 3 …Tino Als Tino das Café betrat, da lag auf einem der Tische eine Tulpe. Er setzte sich, bestellte sich eine Limonade. Der Kellner sah die Tulpe, aber er nahm sie nicht mit. Tino zog seinen Block aus dem Rucksack. Vielleicht sollte er sie malen. Er wusste eh nicht, was er tun sollte. Wenn seine Eltern sich stritten, wusste er nie, was er tun sollte. Zu Hause war es nicht auszuhalten. Vielleicht sollte er die Tulpe malen. Er fing an. Er malte gerne. Das einzige, was ihn von der Realität ablenkte. Seine Schwester litt genauso unter den Streitereien der Eltern. Sie fuhr dann zum Skaten in den Park. So hatte jeder seins. Jeder seine Art, damit fertig zu werden. Als ihm warm wurde, nahm er Mütze und Schal ab. Er legte sie neben die Tulpe. Der Schal gehörte ihm nicht. Er gehörte dem Mädchen, das er gestern getroffen hatte. Eigentlich hatte sie ihn ja getroffen. Sie hatte ihm seinen Schal abgetauscht. Gegen ihren. Auf ihrem Schal waren viele bunte Blumen, auch gelbe Tulpen. Am Saum hingen viele bunte Fransen. Er duftete nach Lavendel. Seltsames Mädchen. Aber er hatte sich besser gefühlt mit ihr. Er nippte an seiner Limo. Als er das Glas abstellte, rutschte aus seinem Block ein Blatt Papier. Das Mädchen. Er hatte das Mädchen gestern gemalt. Es war hübsch geworden. Vielleicht sollte er sich eine Leinwand kaufen und es darauf abmalen. Papier wellte sich immer so. Aber er hatte nicht mehr viel Geld. Sein letztes Geld hatte er für eine CD ausgegeben. Schöne Musik. Die hätte dem Mädchen sicher auch gefallen. Ein alter Mann setzte sich an den Nachbartisch. Er rauchte. Tino hasste das. Er stopfte sein Zeug in den Rucksack. Trank hastig die Limo aus. Das Geld legte er auf den Tisch. Es war zu wenig. Hoffentlich würde der Kellner es zu spät bemerken. Draußen nieselte es. Sein Vater rauchte viel. Wie ein Schlot. Das ganze Haus stank danach. Tino konnte es nicht ausstehen. Er hatte die Tulpe liegen lassen. Er zögerte. Sollte er sie lieber mitnehmen? Er entschied sich dagegen. Vielleicht reichte sein Geld ja noch für eine Leinwand. Wenigstens für eine kleine… 4 Es war dunkel, als Tabea die vielen Treppen nach oben stieg. Fenja stand vor dem Spiegel. Sie schminkte sich. Sie blickte nicht auf, als Tabea kam. „Gehst du wieder auf eine Party?“, fragte Tabea. Sie stellte die Tulpen in eine Vase. Fenja nickte. Ihr Blick fiel auf die Tulpen. „Du immer mit deinen Blumen.“ Sie schlüpfte in ihren Mantel. Zupfte den Fellkragen zurecht. „Ich mag sie“ „Sie kosten eine Menge Geld. Wir sind keine Millionäre.“ Fenjas Pfennigabsätze klackten bei jedem Schritt. „Magst du mitkommen?“, fragte sie. Ihr Lippenstift glänzte. Die Korkenzieherlocken wippten wenn sie sich bewegte. Tabea schüttelte den Kopf. Fenja ging. Das Schminkzeug lag überall verstreut. Tabea ließ es liegen. Sie hielt nicht viel von Partys. Das Einzige, was sie dort mochte, war die Musik. Die Jungen dort gingen nur dorthin, um mit einer Freundin wieder hinauszugehen. Sie flirteten, spendierten Getränke, versuchten zu einem Kuss zu überreden. Tabea mochte diese Art von Menschen nicht. So oberflächlich. Fenja liebte das. Sie brachte ständig Leute mit in die Wohnung. Auf dem Tisch lag eine angebrochene Packung Knusperflocken. Unten auf der Straße war alles ruhig. Die Laternen warfen warmes Licht auf den Bürgersteig. Sie sah einen alten Mann die Straße entlang schlurfen. Er hatte einen Hund dabei. Tabea kannte ihn. Er war Glaser. Eigentlich war er schon zu alt dafür. Er sollte sich lieber ausruhen. Tabea warf eine Tulpe aus dem Fenster. Kühler Wind wehte herein. Von irgendwoher schallte Musik. Der Glaser sah die Tulpe. Er hob sie auf. Verwundert suchte er die Fenster ab. Zuckte mit den Schultern. Steckte sie ins Knopfloch seiner Jacke. Dann ging er weiter. Und Tabea lächelte… ...der alte Glaser Seltsam. Eine Tulpe, die vom Himmel fällt. Erst heute hatte er eine solche auf dem Tisch eines Cafés gesehen. Seltsam, seltsam. Aber seine Frau würde sich freuen. Sie liebte Blumen. Der Hund zerrte an der Leine. So sehr, dass der alte Glaser beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Er schimpfte. Er war eben auch nicht mehr der Jüngste. Sein Rücken schmerzte. Bei der Arbeit taten ihm die Augen weh. Er musste eigentlich zum Arzt gehen. Er wollte nicht. Hatte Angst vor einer Operation. Mit dieser elenden Raucherei musste er auch aufhören. Seine Frau schimpfte ständig mit ihm. Den dunkelhäutigen Jungen in dem Café hatte es sicher auch gestört. Deshalb war er gegangen. An einer Ecke lungerten einige Jugendlichen herum. Der Hund kläffte. Er zog ihn zurück. Vielleicht sollte er wirklich in Rente gehen. Das wäre wirklich besser für ihn. Aber was sollte dann aus der Glaserei werden? Sein Sohn wollte sie nicht übernehmen. Er wollte studieren. -Berufswunsch des Sohnes- wollte er werden. Bald machte er sein Abitur. Der alte Glaser seufzte tief. Was sollte bloß aus der Glaserei werden? Schon sein Großvater war hier Glaser gewesen. Die Glaserei war eine lange Familientradition. Aber was nun? Sein Sohn wollte nicht Glaser werden. Er würde den Laden wohl schließen müssen… Vor der Haustür putzte er sich die Schuhe ab. Seine Frau deckte den Abendbrottisch. Er legte ihr die Blumen auf den Tisch. Sie stutzte. „Tulpen?“ „Für dich. Hab ich gefunden.“ Sie schien sich zu freuen. „Das ist lieb. Danke“ Sie gab ihm einen Kuss. „Ist der Junge gar nicht da?“ „Er ist noch mal mit Freunden weg.“ Sie stellte die Gläser auf den Tisch. „Ich hab heute eine Packung Zigaretten für dich gekauft. Du hast doch gesagt, sie seien alle.“ Er setzte sich auf seinen Platz „Wirf sie weg.“ Verwundert drehte sie sich zu ihm um. „Was?“ „Morgen hör ich auf mit der verdammten Raucherei.“ Sie lächelte. „Endlich.“ Sie setzte sich. „Wir schaffen das schon.“ 5 Als Tino zur Tür herein kam, zitterte die Luft vor Spannung. Es stank nach Zigarettenqualm. Seine Mutter saß im Wohnzimmer und sah fern. Sie rauchte. Ihr Gesicht war tomatenrot. „Hallo Tino.“ Sie sah ganz anders aus als sonst. Irgendetwas war passiert. Sie rauchte sonst nie. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus. „Hallo Ma“ Sein Vater schien nicht da zu sein. Er ging in sein Zimmer. Dort stank es nicht. Er ließ sich auf sein Bett fallen. Seine Mutter kam herein. Sie hatte die Zigarette aufgeraucht. In der Tür blieb sie stehen, die Stirn in tiefe Falten gezogen. „Tino“, sagte sie. Tino wurde schlecht. Er ahnte, was jetzt kam. „Dein Vater und ich…wir haben beschlossen, uns zu trennen.“ Sie wartete auf eine Antwort. Als keine kam, fuhr sie fort „Ich weiß, dass das schwierig ist für euch beide. Aber…es geht einfach nicht mehr. In letzter Zeit haben wir uns nur noch gestritten und…“ Sie rang nach Worten. „Ist schon o.k., Ma“, sagte Tino. „Es tut mir leid.“, sagte sie. Wischte sich schniefend eine Träne von der Wange. Dann ging sie. Sie schloss die Tür vorsichtig. In Tino hatte sich alles zu einem schmerzhaften Klumpen zusammengezogen. Sein Schädel brummte. Er musste hier raus. Das war alles, was er dachte. Raus an die frische Luft. Er schnappte seinen Rucksack, Jacke, Mütze, Schal. Dann war er weg. An der frischen Luft ging es ihm besser. Er atmete tief durch. Er fühlte sich leer. So leer. Er hatte gewusst, dass die Trennung irgendwann kommen würde. Aber es tat trotzdem weh. Er wanderte ziellos durch die Straßen. Sie waren menschenleer. Er kickte einen Stein vor sich her. Irgendwann würde er sich entscheiden müssen. Zwischen seinem Vater und seiner Mutter. Zu wem er ziehen wollte. Eigentlich wollte er zu keinem. Vielleicht würde er dorthin gehen, wo seine Schwester hinging. Er spürte, wie ihm Tränen in den Augen brannten. Er wollte nicht nach Hause. Nicht heute. Und auch nicht morgen. Er kam an einer Gruppe Jugendlicher vorbei. Eine Flasche wurde ihm hingehalten. „Magste nen Schluck?“ Eine Mädchenstimme. Tino zögerte nicht lange. Der Alkohol brannte im Hals. Es war ihm egal. „Hast wohl Kummer, was?“ Das Mädchen war älter als er. Strohige, rot gefärbte Haare. Er nickte. Gab ihr die Flasche zurück. Er musste weiter. Er konnte sich hier nicht die Birne zu saufen. Aber wo sollte er denn hin? Hier war es doch eigentlich ganz nett. Wieder nahm er die Flasche. Trank. Und merkte, wie der Schmerz langsam kleiner zu werden schien… 6 Tabea hielt die Tulpe nur noch zwischen zwei Fingern. Es war die letzte. Sie musste treffen. Unten sah sie die Schemen von den Jugendlichen. Und von Tino. Sie musste ihn einfach treffen. Sie ließ los. Langsam trudelte die Tulpe durch die Nacht. Immer dem Boden entgegen. Ihre Blüte leuchtete im Laternenschein. Sie traf Tino auf die Mütze. Er zuckte zusammen. Die anderen lachten. Verwirrt schaute er nach oben. Tabea lehnte sich über das Fensterbrett. Soweit nach vorne wie es ging. Ihre Füße hingen in der Luft. „Los!“, rief sie. „Komm hoch!“ Sie rannte zur Tür. Drückte den Summer. Drückte bis ihr der Finger wehtat. Dann endlich hörte sie im Treppenhaus, wie die Tür aufging. Die anderen auf der Straße johlten. Hoffentlich kamen sie nicht mit hoch. Aber es war nur Tino, der die Stufen hoch gestapft kam. Von der Kälte draußen hatte er eine rote Nase. Die Tulpe hielt er in der Hand. „Komm rein“, sagte sie und schob ihn in die Wohnung. Er schien noch nicht betrunken zu sein. Immer noch verwirrt sah er sich um. Er sagte kein Wort. Zog die Jacke aus. Schlüpfte in die Pantoffeln, die Tabea ihm hingestellt hatte. „Hier“ Sie warf ihm ein Geschirrtuch zu „Du kannst abtrocknen.“ Sie lächelte breit. Dann tauchte sie die Hände wieder ins Abwaschwasser. Als Tino sich nicht regte, sagte sie: „Du kannst hier bleiben. So lange du willst.“ Er nickte wie in Trance. Dann griff er sich einen Teller und begann mechanisch, ihn abzutrocknen. Eine Weile schwiegen beide. Dann sagte Tino: „Meine Eltern haben sich getrennt.“ Tabea sagte nichts. Tino holte Luft. „Und ich will zu keinem von beiden.“ Tabea stellte eine Tasse neben das Spülbecken. „Und deine Schwester?“ Tino zuckte mit den Schultern „Weiß nicht.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Schniefte. „Ich heiße Tabea.“, sagte Tabea. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie nicht. „Tino“, murmelte er. „Kann ich…kann ich heute Nacht hier bleiben?“ 7 Die Katze war nicht wieder gekommen. Naomi hatte sich nie weiter um sie gekümmert. Sie hatte ihr Futter gegeben. Sie ab und zu gestreichelt. Aber eigentlich war ihr das Tier immer egal gewesen. Sie hatte ihr ja nicht einmal einen Namen gegeben. Sie seufzte. Wieso merkte man erst, wie lieb man etwas hatte, wenn es nicht mehr da war? Wieder und wieder stand sie an diesem Abend in der offenen Terrassentür. Starrte in die schwarze Nacht hinaus. Rief nach ihr „Katze!“. Aber Katze kam nicht. Schließlich gab sie es auf. Ihr Tee war schon fast kalt. Gearbeitet hatte sie auch kaum. Diese blöde Arbeit. Am liebsten hätte sie den Laptop in hohem Bogen aus dem Fenster geworfen. Sie hatte immer geglaubt, dass sie allein schon klar kommen würde. Dass sie niemanden weiter brauchte. Bisher hatte es ja auch geklappt. Sie hatte sich eigentlich nie allein gefühlt. Aber jetzt, wo die Katze weg war, da merkte sie, wie einsam sie war. In solchen Momenten bräuchte man eine beste Freundin, die man anrufen könnte, dachte sie. Aber sie hatte keine beste Freundin. Nicht mehr. Seit sie umgezogen war nicht mehr. Die Telefonnummern von ihren alten Freunden waren auch abhanden gekommen. Unschlüssig lief sie durch die Wohnung. Auf dem Tisch stand noch der Laptop. Sollte sie nicht lieber gleich ins Bett gehen? Sie fuhr sich durch die Haare. Ging zum Telefon. Wählte eine Nummer. Betete, dass jemand da war. Endlose Sekunden vergingen. Dann hörte sie eine Stimme am anderen Ende. „Behringe?“ „ich…ähm…“ „Ah…guten Abend Naomi. Das ist ja schön, dass du mich anrufst.“ Frau Behringe klang fröhlich. Naomi räusperte sich. Ein bisschen peinlich war ihr das Ganze schon. „Ich…Habe ich Sie geweckt?“ „Oh, nein, nein…ganz und gar nicht.“ Frau Behringe lachte leise. „Möchtest du vorbei kommen, mein Kind?“ „Ja…ja, sehr gerne. Es macht Ihnen doch nichts aus?“ „Aber nicht doch. Komm ruhig!“ „Auf Wiedersehen.“ Naomi atmete erleichtert aus. Dann zog sie ihren Mantel an und rannte aus der Tür. Frau Behringe wohnte nicht weit entfernt. In ihrer kleinen Wohnung roch es nach Gewürzen, als sie eintrat. „Das ist aber schön, dass du mich besuchst.“, sagte die alte Dame. „Ich bekomm so selten Besuch. Setz dich doch!“ Sie deutete mit der Hand auf eine kleine Sitzecke. Sie sah gemütlich aus. „Der Tee ist gleich fertig.“ Naomi hing den Mantel auf einen Bügel und setzte sich. Hier war es schön warm. In ihrer eigenen Wohnung war es immer so kalt. Frau Behringe stellte die Teetassen auf den Tisch. Kleine, filigrane Tässchen. „Die hab ich noch von meiner Mutter.“, sagte sie und lächelte. Aus dem Radio tönte leise Musik. „So“ Sie setzte sich. „Möchtest du Schlagsahne?“ Naomi nickte. „Warte. Ich zeige dir etwas, mein Kind. Ein Orakel“ Sie sprühte sie Sahne auf einen Teelöffel. Dann tauchte sie den Löffel vorsichtig in den Tee ein. Die Schlagsahne verwirbelte in kleinen Kringeln. „Ah“, sagte sie. Lange brauchte sie nicht zu überlegen. „Dir wird bald etwas sehr schönes passieren, mein Kind. Etwas, mit dem du überhaupt nicht rechnest“ Und sie zwinkerte geheimnisvoll. Es war spät in der Nacht als Naomi nach Hause ging. Es ging ihr viel besser nach ihrem Besuch bei der alten Dame. Vielleicht sollte sie sie öfter besuchen. Von alten Menschen konnte man eine Menge lernen, das wusste sie nun. Und als sie zur Tür herein kam, da stand die Katze vor der Tür. So, als wäre sie gar nicht weg gewesen… 8 Tino schlief unruhig. Er erwachte, als es dämmerte. Erste feine Sonnenstrahlen drangen durch das kleine Fenster. Seine Augen waren völlig verquollen. Zuerst wusste er gar nicht, wo er war. Dann kam die Erinnerung. Er fühlte, wie ihm schlecht wurde. Tabea schlief noch. Er hatte in Unterwäsche schlafen müssen. Es war ihm egal. Lieber so etwas als nach Hause zu müssen. Er hatte gestern nicht Bescheid gesagt, wo er war. Seiner Schwester hatte er eine SMS geschrieben. Mehr nicht. Er konnte nicht wieder einschlafen. Wie spät es war, wusste er nicht. Er wollte nicht zur Schule. Ob er schwänzen sollte? Er kroch tiefer in den Schlafsack. Er konnte nicht wieder einschlafen. Der Wind rüttelte an den Fensterläden. Die Heizung rauschte. An der Wand hing ein Druck von Van Goghs Sonnenblumen. Vergilbt, aber dennoch schön. Er drückte die Wange gegen das Kissen. Lange lag er wach. Zermarterte sich das Hirn. Tabea murmelte im Schlaf und wälzte sich hin und her. Es kam ihm so komisch vor. Vor zwei Tagen noch hatte er das erste Wort mit ihr gewechselt. Und nun schlief er in ihrer Wohnung. Für Tabea schien es normal zu sein. Im Treppenhaus hörte er gedämpfte Stimmen. Das Schließen einer Tür. Er sollte sich lieber anziehen. Darauf bedacht, leise zu sein, stand er auf. Trotzdem knarrten die Dielen. Ziemlich laut. Tabea öffnete die Augen. Tino hielt erschrocken inne. „Hab ich dich geweckt? Tut mir leid.“ Er kam sich blöd vor. Sie winkte ab. „Morgen“. Lächelte. Unter ihren Füßen knarrten die Dielen kaum. Sie verschwand im Bad. Als Tino sich anzog, merkte er, wie verkatert er war. Sein Kopf brummte. Hatte er gestern so viel getrunken? Er rieb sich die Stirn. „Ist alles in Ordnung?“ Tabea stand vor ihm. Besorgt. Tino winkte ab. „Halb so wild“ Eine Weile noch sah sie ihn an. Dann ließ sie von ihm ab. „Lass uns Brötchen holen gehen.“ Sie lächelte aufmunternd. Im Treppenhaus standen Leute. Sie waren nicht viel älter als Tino selbst. Sie stanken nach Qualm. „Blumentante!“, riefen sie, als sie an ihnen vorüber gingen. „Was hastn da wieder fürn Assi angeschleppt?“ Sie lachten laut. „Lass die“, sagte Tabea nur. Sie zog ihn weiter. „Gehst du nicht zur Schule?“, fragte er sie auf der Straße. Sie schüttelte den Kopf. „Mit der Schule bin ich zum Glück fertig. Ich jobbe als Kellnerin.“ „Willst du keine Berufsausbildung machen?“ „Nö“ Sie lachte. „Von zu viel Arbeit wird man stumpfsinnig.“ Sie lächelte breit. „Ich bin eigentlich ganz zufrieden, so wie es ist.“ Tino hätte sie jünger eingeschätzt. „Nimmst du mich auf den Rücken?“, fragte sie plötzlich. „Was?“ Sie lachte. „Warte“ Sie kletterte auf eine kleine Mauer. Sie war leichter als er gedacht hatte. Mit beiden Händen umklammerte sie seine Schultern. „So. Und jetzt hüaaaa!“ Und Tino begann zu rennen. Tabea lachte ausgelassen. Als sie ihren Schuh verlor, lachte sie noch mehr. Sie bekam ganz rote Wangen. Sie brauchten doppelt so lange für den Weg. Tabea pflückte Schneebeeren. Warf sie auf den Weg. Wenn sie darüber liefen, knallte es. Die Kastanien waren reif. „Steck sie in deine Hosentasche. Das bringt Glück.“, sagte sie. „Schade, dass sie nicht so schön rund bleiben.“ Und Tino dachte nicht mehr an seine Eltern. An die Schule. An seine Kopfschmerzen. Eine alte Frau beim Bäcker keifte: „Müsstet ihr nicht längst in der Schule sein?“ Tabea lachte nur. Sie schenkte ihr eine von den Kastanien. „Sie bringen nur Glück, wenn man sie verschenkt.“, erklärte sie später. Ihr Atem stand als weißer Nebel vor ihrem Mund. Raureif lag auf den Grashalmen. Als sie zu Hause ankamen, waren die Brötchen platt und zerquetscht. „Lass nur.“, sagte Tabea „Hauptsache, sie schmecken.“ Und schmierte sich zwei Zentimeter Nutella auf ihr Brötchen… …Elisa Ob in dem Haus überhaupt jemand wohnte? Der Putz blätterte ab. Entblößte nacktes Mauerwerk. Unten waren die Scheiben zerschmissen. Sie mied das Haus. Man erzählte, dort würden Rechtsradikale wohnen. Elisa klingelte. Klingelte noch einmal. Nichts regte sich. War sie doch falsch? Dann öffnete sich die Tür. „Tino!“ Sie umarmte ihn vorsichtig. Er sah krank aus. Müde und übernächtigt. „Ich hab dich überall gesucht.“ Er blickte missmutig auf seine Schuhe. „Hat die Schule schon angerufen?“, fragte er. Elisa zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ Und etwas leiser fügte sie hinzu „Ich schwänze selber.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Eine Weile war es still. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Aber es kam niemand. „Magst du vielleicht mit hoch kommen?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte bloß nachsehen, wie es dir geht.“ Sie setzte sich auf die unterste Stufe. Zaghaft setzte Tino sich neben sie. Elisa drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. „Weißt du schon, zu wem du gehen möchtest?“ Tino schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich will zu keinem von beiden.“ Elisa drehte den Kopf in seine Richtung. „Pa will nach Berlin gehen…Ich glaube, ich geh mit.“ Tinos Gesicht blieb regungslos, als sie das sagte. Lange sagte niemand etwas. Elisa stand auf. Klemmte ihr Skateboard unter den Arm. „Ich geh in den Park. Willst du mitkommen?“ Tino schüttelte den Kopf. „Ich bleib hier.“ Sie lächelte breit. „Erzähl dann mal!“ Dann rollte sie davon. Als Tino die Treppe hinauf ging, stand dort Tabea. Sie wartete. „Lass uns in die Stadt gehen.“, sagte sie. „Ich nehm die Kopfhörer mit. Dann geht es dir besser“ 9 An diesem Tag bekam Naomi eine weitere Absage. Sie hätte am liebsten laut geschrieen. Gab es denn keine einzige Schule, die eine Mathelehrerin brauchte? Und das ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Geburtstage waren eben doch wie jeder andere Tag auch. Vielleicht sollte sie ihn gar nicht erst feiern. Sie brauchte jetzt einen Kaffee. Das Wasser im Wasserkocher gluckerte. Die Katze lag zusammen gerollt auf einem Stuhl. Sie trank zwei Tassen. Dann ging es ihr besser. Sie sollte nicht zu sehr daran denken. Sie konnte es ja doch nicht ändern. Sie hatte noch Gutscheine für Kleidung. Sie brauchte Pullover. Es wurde langsam kalt. Frau Behringe hatte vorhin angerufen. Gratuliert. Sie zum Kuchen essen eingeladen. Sonst hatte niemand an sie gedacht. Aber das hatte sie auch nicht erwartet. Die Sonne blinzelte zwischen den Wolken hindurch. Fiel durch die Terrassentür. Eigentlich wollte sie nicht aufstehen. Der Kaffee war noch nicht ausgetrunken. Nein. Draußen war schönes Wetter. Vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Viele Menschen waren nicht unterwegs als sie aus der Tür ging. Im nahe gelegenen Park fuhren einige Skater. Naomi sah sie oft, wenn sie hier vorbei kam. Den Laptop hatte sie mitgenommen. Vielleicht arbeitete sie ja noch ein bisschen. Den Krimi auch. Aber eigentlich sollte sie lieber arbeiten. Sie hing ziemlich hinterher. Es gab schöne Rollkragenpullover. Schwarze. So einen ähnlichen hatte sie letztes Jahr schon gehabt. Leider war er ihr versehentlich in der Wäsche eingegangen. Als sie in die Umkleidekabine ging, sah sie das Mädchen mit den gelben Tulpen. Den Jungen bei ihr hatte sie auch schon öfter gesehen. Fast wie eine Tänzerin streifte sie durch den Laden. Zog eine rote Federboa aus einem Wühlkorb. Setzte eine Mütze auf. Die beiden lachten viel und alberten herum. Die Verkäuferin schaute schon gereizt zu ihnen hinüber. Der Pullover passte. Vielleicht würde sie zwei nehmen. Als sie aus der Kabine trat, waren die beiden nicht mehr da. Naomi bezahlte. Sie hatte Lust auf Apfelstrudel…. Es wurde ein schöner Tag. Schöner, als sie gedacht hatte. Ab und zu blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Sie wärmte nicht, trotzdem genoss Naomi es. Es war das erste Mal, dass an ihrem Geburtstag die Sonne schien. Sie arbeitete nicht. Der Laptop blieb die ganze Zeit in ihrer Tasche. War auch besser so. Als sie nach Hause kam, da hing an der Türklinke ein Kleid. Ein rotes Wollkleid. Auf einem Zettel daneben stand: „Rot steht dir viel besser als schwarz. Alles Gute zum Geburtstag! “ 10 Mit Tabea durch die Stadt zu gehen, das hatte etwas. Tabea entdeckte Dinge, die Tino nie aufgefallen wären. Tino sah die Stadt auf einmal völlig anders als vorher. Alles schien viel bunter und lebendiger. Tabea machte sich nichts daraus, was andere über sie dachten. Gar nichts. Es war ihr schlichtweg egal. Sie sprach die Leute an, als wären es alte Freunde von ihr. Sie schien in dieser Stadt wirklich jeden zu kennen. Sie lachte hier über eine Postkarte, hörte sich dort eine CD an, warf einem Straßenmusiker einige Münzen in den Becher. Sie hatte wirklich alle Zeit der Welt. Sie musste auch bestimmt erst abends arbeiten. In einem Buchladen kaufte sie sich zwei Bücher. Tino hatte eigentlich nie besonders gern gelesen. Er schaute sich viel lieber Filme an. Elisa und er hatten sich früher oft Filme angesehen. Heute taten sie das kaum noch. Eigentlich gar nicht. Elisa war meistens bis spät in die Nacht unterwegs. Überhaupt hatten sie sich sehr voneinander entfernt. Schade eigentlich. Ob das an dem Streit der Eltern lag? „Kommst du?“ Tabea stopfte die Bücher in ihre prall gefüllte Tasche. Tino legte das Buch, in dem er gerade geblättert hatte, bei Seite. Draußen waren nicht viele Leute unterwegs. Die meisten arbeiteten noch. Ab und zu dachte Tino an seine Eltern. Irgendwann würde er nach Hause kommen müssen. Das würde Riesenärger geben. Tino schob den Gedanken bei Seite. Jetzt war er noch weit davon entfernt. Er sollte den Tag genießen. Ein alter Mann mit einem Hund an der Leine kam ihnen entgegen. Der Hund war sehr groß. Er schnüffelte neugierig an Tinos Jacke. Tino wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er hatte großen Respekt vor Hunden. So lieb und brav sie auch sein mochten. Tabea tätschelte den Kopf des Tieres. Sie grüßte den Mann fröhlich. Er sah krank aus. Eingefallene Wangen. Augenringe. Verdutzt blieb er stehen, als Tabea ihm im Vorbeigehen ein kleines Buch in die Hand drückte. Sie hatte es vorhin in dem Buchladen gekauft. „Komm!“ Sie nahm Tino am Arm. Tino war auch stehen geblieben. Er sah dem Mann hinterher, der sich immer wieder nach ihnen umdrehte. Er humpelte ein wenig. „Wieso hast du ihm das Buch geschenkt?“ Tino wandte sich zu Tabea um. Diese lächelte und fasste seinen Ärmel. „Darf ich das nicht?“ Sie gingen langsam weiter. „Er gewöhnt sich gerade das Rauchen ab.“, sagte sie nach einer Weile. „Und es geht ihm sehr schlecht deswegen. Er kann nicht schlafen, trinkt zu viel Kaffee, hat Kopfschmerzen…er führt den Hund den ganzen Tag aus, nur um sich irgendwie abzulenken.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Das Buch bringt ihn auf andere Gedanken.“ Tino erwiderte nichts. Sie überquerten eine Straße. Er verstand das nicht. Woher nahm sie das ganze Geld? Das Kleid für die Frau mit den langen Haaren war auch nicht besonders billig gewesen. Sie kamen am Kino vorbei. „Sieh mal!“ Sie blieb stehen. Deutete auf ein Filmplakat. „Geht gleich los, der Film.“ Der Film hatte Tino auch interessiert. „Ich hab kein Geld.“, sagte er. „Macht nichts.“ Sie lachte und zog ihn hinein. „Dafür hab ich genug.“ 11 Als Fenja abends in die Wohnung kam, war Tabea allein. Verträumt saß sie am Fenster und blickte hinaus in den Sternenhimmel. So wie fast jeden Tag. Aber es war doch etwas anders. Auf dem Boden lag eine Matratze. „War jemand zu Besuch?“ Fenja hing die Tasche an die Gardarobe. Drehte die Heizung auf. Es war kalt. Tabea drehte sich nur kurz um. Sie nickte. „Tino“, sagte sie. Mehr nicht. Fenja ging in die Küche. Kehrte kurze Zeit später mit einer Tasse Kaffee zurück. Sie setzte sich. Sie fragte nicht genauer nach Tino. Tabea lernte fast jeden Tag irgendwelche Leute kennen. „Hoffentlich hat er keinen allzu großen Ärger bekommen zu Hause.“, sagte Tabea und stützte den Kopf in die Hände. Dann blickte sie wieder in den weiten Sternenhimmel hinaus. So schweigsam war sie noch nie gewesen… Auch Naomi blickte an diesem Abend oft aus dem Fenster. Die Nacht war klar. Naomi kannte nicht viele Sternenbilder. Gerade einmal den großen Wagen. Und den Orion. Manchmal wünschte sie sich, mehr über sie zu wissen. Der Bildschirm des Laptops flimmerte. Ihre Augen schmerzten. Eigentlich sollte sie ins Bett gehen. Diese verdammte Arbeit. Am Anfang hatte sie ihr noch Spaß gemacht. Aber jetzt schon lange nicht mehr. Es wurde Zeit, dass sie eine ordentliche Stelle fand. Sonst wurde sie hier noch wahnsinnig. Als sie aufstand, fiel ihr Blick auf das Kleid. Sorgfältig auf einen Bügel an den Schrank gehängt. Wieder las sie den Zettel. Dreimal. Viermal. Sie verstand gar nichts mehr. Wem nur gehörte dieses Kleid? Frau Behringe nicht. Den Nachbarn auch nicht. Sie überlegte. Las noch einmal den Zettel. „Rot steht dir viel besser als schwarz“… Jemand hatte gesehen, wie sie die Pullover gekauft hatte. Und ihr daraufhin das Kleid geschenkt. Oder? Naomi fuhr sich über die Augen. Das war ja wie in einem Krimi hier. Am Ende vielleicht noch das singende Mädchen aus dem Geschäft… Ihr schwirrte der Kopf. Sie sollte wirklich schlafen. 12 Vorsichtig betrachtete Tino sein Veilchen. Blau-lila angelaufen. Es tat weh. Diese verdammten Typen. Bloß, weil er eine andere Hautfarbe hatte. Deswegen hasste er die Schule so sehr. Vielleicht sollte er wirklich mit seinem Vater und Elisa nach Berlin gehen. Er gab es auf, das Veilchen zu versuchen abzudecken. Es hatte keinen Sinn. Seiner Mutter würde er sagen, er sei gestolpert und gegen eine Tischkante gefallen. Ein letztes Mal betrachtete er sich im Spiegel bevor er ging. Mit Sonnenbrille herumlaufen war noch auffälliger. Zumindest zu dieser Jahreszeit. Er nahm sich einen Kaugummi. Hoffentlich war Tabea zu Hause. Die Leute warfen ihm Blicke zu. Neugierige, abweisende, aber auch mitleidige. Er versuchte, sie zu ignorieren. Wenn Tabea das schaffte, dann schaffte er das auch. Bis zu Tabea war es kein weiter Weg. Elisa hatte erzählt, in dem Haus würden Rechtsradikale wohnen. Hoffentlich hatte sie Unrecht. Tino hatte wenig Lust auf ein zweites Veilchen… Fenja öffnete, als er klingelte. Sie schien nicht begeistert zu sein über seinen Besuch. „Tabea ist nicht da.“, sagte sie mürrisch. „Ich weiß nicht, wann sie wiederkommt. Ich sag ihr Bescheid, dass du hier warst, o.k.?“ Sie wollte die Tür wieder schließen, aber Tino hielt sie zurück. „Warte einen Moment. Wo ist sie denn?“ „Keine Ahnung.“ Fenja zog genervt ihren Lippenstift nach. „Sie ist heute Morgen weggefahren.“ „Weggefahren?“ „Hm. Das macht sie oft. Setzt sich morgens in den Zug, fährt zu Freunden in ne andere Stadt. Sie hat fast auf der ganzen Welt Freunde.“ Sie klappte den Taschenspiegel zu. „Komm in n paar Tagen wieder.“ Damit schlug sie die Tür zu. Die Tage vergingen. Jeden Tag ging Tino an Tabeas Haus vorbei. Anfangs klingelte er noch. Fragte nach ihr. Aber irgendwann ließ er es dann bleiben. Er verstand die Welt nicht mehr. Wieso verschwand sie so einfach? Ohne ihm irgendetwas zu sagen? „Mach dir nichts draus.“, sagte Fenja nur. „Sie hat tausend Freunde. Du bist für sie nichts weiter als einer unter vielen.“ Tino mochte Fenja nicht. Aber. Sollte es wirklich so sein, wie sie sagte? Tino konnte sich das nicht vorstellen. Bedeutete er ihr gar nichts? Jeden Tag schleppte er sich zur Schule. Manchmal hatte er Glück, und die Typen ließen ihn in Ruhe. Er passte höllisch auf, dass er nie allein war. Manchmal gab es doch noch Leute, die bei solchen Dingen nicht wegsahen. Als Tabea nach einer Woche immer noch nicht zurückgekehrt war, beschloss Tino, nicht mehr an sie zu denken. Er malte viel in dieser Zeit. Ging auch öfters mal mit Elisa in den Park. Einige von Elisas Freunden mochte er ganz gern, um manche machte er einen großen Bogen. Nach zehn Tagen zog sein Vater aus. Nach Berlin. Tino hätte nicht gedacht, dass er ihn so sehr vermissen würde. Elisa würde noch bleiben. Bis zum Ende des Halbjahres. Dann würde wohl auch sie weg sein. Seine Mutter wurde sehr schweigsam. Es war fast schon unheimlich. Sie verlor kein einziges Wort mehr über den Vater. Es war fast so, als hätte es ihn nie gegeben. Sie fragte auch kein einziges Mal, zu wem Tino gehen wollte. Eigentlich war es auch ganz froh darüber. Er wusste es nicht. Er wusste es wirklich nicht. Er wollte bei Elisa sein. Aber er wollte auch nicht seine Mutter ganz allein lassen. Und dann gab es ja auch noch Tabea. Er würde viel lieber bei ihr bleiben. Aber nun war sie ja weg. Einfach so. Manchmal fragte Tino sich, ob sie nicht einfach nur ein Traum gewesen war. Ein schöner Traum… 13 Das Wetter wurde kalt und regnerisch. Naomi ging nur noch hinaus, wenn es unbedingt sein musste. Oder wenn sie Frau Behringe besuchte. Sie schrieb neue Bewerbungen. Schickte sie ab. Auch an Schulen in Berlin. Sie betete, dass es diesmal klappen würde. Sie freundete sich ein wenig mit der Nachbarin über ihr an. Eine junge Frau, etwa in ihrem Alter. Tine hieß sie. Sie redete ein bisschen viel, aber Naomi störte es nicht sonderlich. Sie war froh, überhaupt jemanden zu haben. Außer Frau Behringe natürlich. Aber eigentlich konnte man das auch nicht miteinander vergleichen. Bald schon hatte sie alle Bücher, die sie besaß, mindestens dreimal gelesen. Um Bücher zu kaufen, reichte ihr Geld nicht. Tine las nicht. Frau Behringe nur irgendwelche Liebesschnulzen. So beschloss sie, sich bei der Bibliothek anzumelden. Sie las ein Buch nach dem anderen. Ununterbrochen. Aber sie spürte, dass es ihr gut tat. So verstrichen die Tage. Weihnachten rückte immer näher. In der Stadt hingen an den Bäumen bunte Girlanden. In kleinen Buden wurden Glühwein, haufenweise bunt bemalte Christbaumkugeln und anderer Kitsch preis geboten, Weihnachtsmänner mit flauschig-weißen Wattebärten wanderten durch die Straßen und verschenkten Süßigkeiten. Naomi hielt nicht viel von Weihnachten. Vor allem nicht von diesem ganzen Kitsch drumherum. Nur der Glühwein schmeckte. So verstrichen die Tage. Ohne große Abwechslung. Aber eigentlich gefiel es ihr auch ganz gut so. Eines Tages sprach sie plötzlich der Junge an. Der Junge mit der dunklen Haut. Sie entdeckte ihn erst spät in dem Gemenge des Weihnachtsmarktes. Er hatte ganz rote Wangen. Ob er gerannt war? „Wissen Sie vielleicht, wo Tabea steckt?“, fragte er. Ganz aufgeregt. „Wer?“ Naomi ließ den Becher mit dem Glühwein sinken. Sah ihn verständnislos an. „Du meinst deine Freundin? Keine Ahnung, wo sie ist.“ Was wollte er von ihr? Sie hatte dieses Mädchen gerade ein paar Mal auf der Straße gesehen. Mehr nicht. „Aber sie kennen Sie doch.“ Er sah enttäuscht aus. „Sie hat Ihnen doch das Kleid zum Geburtstag geschenkt!“ Also gehörte doch dem Mädchen das Kleid… Eine Weile schwieg Naomi. Dann sagte sie: „Wir haben keinen Kontakt zueinander. Ich fürchte, ich kann dir nicht weiterhelfen.“ „Schade.“ Der Junge wandte sich ab. „Wiedersehen.“ Naomi zögerte. Dann fasste sie sich ein Herz und den Jungen an der Schulter. „Warte bitte einen Moment!“ Er drehte sich um. Schlecht sah er aus. Nicht gesund. Er hatte ein Veilchen unter dem Auge. Was er sich da wohl getan hatte? „Ich…ich wohne nicht weit von hier…wenn du magst, kannst du mitkommen…“ Zaghaft lächelnd fügte sie hinzu: „Ich hab Kakao.“ Tabea blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Die Landschaft raste an ihr vorüber. Sie knabberte an einem Reistaler. Eigentlich hatte sie keinen Hunger. Im Zug saßen und standen eine Menge Leute. Gestresst und genervt. Müde. Dabei war doch bald Weihnachten. Geschenke besorgen. Weihnachtsbaum kaufen. Weihnachtsbraten zubereiten. Die meisten Menschen schienen sich kein bisschen auf Weihnachten zu freuen. Wieso eigentlich? Das war doch schade. Weihnachten war so viel mehr. Kein Kitsch. Keine Besorgungen. Kein Stress, damit am Heiligabend auch ja alles perfekt war. Der Zug hielt. Mit lautem Quietschen kam er zum Stehen. Tabea stieg aus. Im Bahnhof tummelten sich die Leute. Hasteten von Bahnsteig zu Bahnsteig. Tabea drängte sich hindurch. Bahnte sich einen Weg zum Ausgang. „An Heiligabend sind so viele Menschen unglücklich, Tabea. Deine Aufgabe ist es, sie glücklich zu machen. Sie sollen das Weihnachtsfest genießen. Und es soll kein Stress sein, aber auch keine Party. Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Aber du wirst es schaffen, Tabea. Ich weiß das.“ 14 Naomi hatte von Tine selbstgebackene Plätzchen geschenkt bekommen. Sie liebte Weihnachten. Sie konnte einfach nicht genug davon bekommen. Ihre ganze Wohnung war voll gestellt mit kleinen Engels- und Weihnachtsfiguren. Naomi wusste noch nicht, wo und mit wem sie Weihnachten feiern würde. Ob sie überhaupt feiern würde. Das stand noch in den Sternen. Eigentlich hatte sie keine große Lust. Letztes Jahr hatte sie an Heiligabend einige Kerzen angezündet und leise Musik angemacht. Ein bisschen gelesen. Mit sich selbst Sekt angestoßen. Vielleicht tat sie das dieses Jahr wieder…. Der Junge hieß Tino, wie sie später erfuhr. Er war ohne zu zögern mitgekommen. Er wirkte ziemlich einsam. Für Naomi war es ungewohnt, jemanden zu sich nach Hause einzuladen. Sie hatte es so lange nicht getan. Die Wohnung wirkte auf einmal ganz anders. Viel freundlicher. Naomi kochte heißen Kakao. Stellte Tines Plätzchen hin. Zündete Kerzen an. Draußen wurde es schon dunkel. Tino erzählte, wie Tabea verschwunden war. Nirgends könne er sie auffinden. Wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte es sie nie gegeben. Er hatte überlegt, zur Polizei zu gehen, hatte es dann aber bleiben lassen. „Du hast sie sehr lieb, was?“ Naomi lächelte. Tino schreckte auf. „Was? Ich…ähm…“ Er errötete. „Ja…wahrscheinlich schon.“ „Mach dir nicht so viele Sorgen. Es ist bald Weihnachten. Vielleicht ist sie zu Verwandten gefahren, um mit ihnen zu feiern.“ Tino nickte. Aber so recht glaubte er wohl nicht daran. In dem Moment hätte Naomi sich auch jemanden gewünscht, den sie lieb haben konnte und um den sie sich sorgen konnte. Außer der Katze natürlich. Die saß auf Tinos Schoß. Er streichelte sie behutsam. Als die Sterne schon längst am Himmel standen, ging Tino. „Komm bald wieder.“ Naomi lächelte. Er nickte. Dann schloss er die Tür hinter sich. 15 „Tabea?“ Tino traute seinen Augen kaum. Die Gestalt lief auf ihn zu. „Tino!“ Tabea fiel ihm in die Arme. Aber er schob sie von sich weg. Betrachtete sie. Eine Falte grub sich zwischen seine Augenbrauen. „Wo, verdammt, bist du gewesen? Verschwindest einfach, ohne mir irgendetwas zu sagen!“ Er schien wirklich sauer zu sein. „Es tut mir leid.“, sagte Tabea. Tino schnaubte. „Ich schein dir ja gar nichts zu bedeuten.“, sagte er. „Aber Tino.“ Sie griff nach seiner Hand. „Ich…ich musste etwas Wichtiges erledigen. Ich erklär dir das alles noch. Aber nicht jetzt.“ Er sagte nichts. Keinen Ton. Schaute nur grimmig. „Es tut mir leid.“, sagte sie wieder. „Kommt nicht wieder vor. Ich verspreche es dir.“ Sie nahm auch noch die andere Hand. Unter Tinos Auge war ein Veilchen. Lange schwiegen sie. Tabea bemühte sich um ihr schönstes Lächeln. „Fröhliche Weihnachten.“, sagte sie. „Ach“ Tino zog seine Hand aus ihrer. „Lass mich in Ruhe.“ Er drehte sich weg. „Geh zu deinen Freunden. Du hast doch genug.“ Und damit verschwand er. Ach verdammt. Tabea trat nach einem Tannenzapfen. Die Worte des Meisters klangen ihr wieder in den Ohren. „…Deine Aufgabe ist es, die Menschen glücklich zu machen…“ Aber wie bloß? Wie denn nur? Mit Geschenken? Mit Fröhlichkeit? Tino hatte sie am Ende wohl nur noch unglücklicher gemacht. Dabei hatte es doch jedes Jahr so gut geklappt. Sie hatte die Menschen glücklich gemacht. Aber sie hatte sich mit niemandem richtig angefreundet. Das durfte sie auch nicht. Niemand sollte es bemerken, wenn sie nach Weihnachten wieder verschwand. Außer Fenja. Fenja wusste alles. Und sie behielt es für sich. In der Wohnung herrschte Dunkelheit. Fenja war nicht da. Wohl wieder auf einer Party. Tabea fühlte sich müde und kaputt. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie setzte sich vor den Fernseher. Kuschelte sich in eine Decke. Sie fror, obwohl es nicht kalt war. Was war nur mit ihr los? Warum machte sie sich so viele Gedanken? Sie tapste barfuss in die Küche. Holte sich ein Glas Apfelsaft. Ihr Schädel brummte. Tino war bloß ein Mensch. Sie sollte nicht mehr an ihn denken. Nach Weihnachten würde sie ihn nie wieder sehen… 16 Es ging ihm ein bisschen besser. Er musste nicht mehr ständig an Zigaretten denken. Kopfschmerzen hatte er auch keine. Ein erster Erfolg. Wie oft hatte er vor dem Zigarettenautomat um die Ecke gestanden. Seine ganze Willenskraft hatte es ihn gekostet, das Geld in der Tasche zu behalten. Irgendwann hatte er es zu Hause gelassen. Kam ein Automat, so wechselte er die Straßenseite. Es gab Tage, da begegnete er ständig rauchenden Menschen. Oder riesigen Plakatwänden mit Zigarettenwerbung. Manchmal hatte er das Gefühl, von Zigaretten verfolgt zu werden. Fast so, als wollten sie ihn auf die Probe stellen. Testen, wie weit er kommen würde mit seinem Vorhaben. Er schaute sich die Werbung nicht an. Nur das „Rauchen kann tödlich sein“. Es brannte sich in sein Gedächtnis. Rauchen kann tödlich sein. Kamen ihm Raucher entgegen, hielt er die Luft an. Immer bedacht darauf, den Qualm nicht einzuatmen. Rauchen kann tödlich sein. An manchen Tagen war es schrecklich gewesen. Er trank zu viel Kaffee. Stopfte Essen in sich hinein. Brüllte jeden an, der auch nur einen Mucks von sich gab. Beschwerte sich über dies. Beschwerte sich über das. Über alles. Er wusste, dass es nicht leicht war für seine Frau. Und seinen Sohn. Aber anders wäre er wohl wahnsinnig geworden. Sein Sohn kam kaum noch nach Hause. Und wenn, dann erst nach Mitternacht. Und so etwas vor Weihnachten. Hoffentlich war es bald vorbei. Draußen schneite es. Nicht viel. Nur einige Flocken. Trotzdem war es schön anzusehen. Der alte Glaser hatte um die Ecke Backzutaten eingekauft. Seine Frau wollte Pfefferkuchen backen. Sie stand in der Küche. Holte gerade ein Blech Vanillekipferl aus dem Ofen. Sie summte Weihnachtslieder. Tänzelte durch die Küche. Im ganzen Haus duftete es nach Weihnachten. „Da bist du ja. Hier koste mal.“ Sie steckte ihm einen Kipferl in den Mund. „Hilfst du mir dann mit den Pfefferkuchen?“ Er nickte kauend. Er wollte ihr eine Freude machen. Er legte Musik auf. Weihnachtsmusik. An den Fenstern hingen kleine grüne Tannenzweige. Weihnachten war doch immer wieder schön… Tino wusste nicht, warum er so empfindlich reagiert hatte. Er hatte sich doch so gefreut, Tabea endlich wieder zu sehen. Und dann so etwas. Manchmal sagte man eben genau das Gegenteil von dem, was man meinte. Vielleicht sollte er sich bei ihr entschuldigen. Ein Weihnachtsmann hielt ihm süßlich lächelnd seinen geöffneten Sack entgegen. „Greif zu“ Der Sack war gefüllt mit Bonbons. Der Weihnachtsmann lächelte immer noch. Ein richtiges Geschäftslächeln. Ekelhaft. „Nein danke.“ Tino wollte weiter gehen. Der Weihnachtsmann hielt ihn zurück. „Hast du Kummer?“ Tino riss sich los. Schüttelte heftig den Kopf „Das geht Sie gar nichts an.“, knurrte er. Rannte davon. Blöder Kerl. Er konnte diese künstlichen Weihnachtsmänner nicht ausstehen. Wenn es einen Weihnachtsmann gab, dann sah er sicher ganz anders aus. Ganz anders. Vielleicht trug er in Wirklichkeit Strohhüte, wer wusste das schon… Warme Luft schlug ihm entgegen, als er in die Wohnung kam. Seit sein Vater ausgezogen war, war es viel ruhiger hier. Angenehmer. Man konnte wieder darin wohnen. Das Skateboard lehnte an der Wand. Elisa war also schon da. Sie schmückte zusammen mit ihrer Mutter den Weihnachtsbaum. Lametta hing in ihren Haaren. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Endlich konnte er sich wieder darauf freuen, nach Hause zu kommen… 17 …Philipp „Ich sage es gerne noch einmal. Ich feiere Weihnachten mit meinen Freunden.“ Ein gereizter Unterton lag in Philipps Stimme. Seine Mutter stand am Herd. Die Schürze voller Mehl. Einen traurigen Ausdruck in den Augen. „Junge,“ Sein Vater sah ihn ärgerlich an. „Wenigstens einmal im Jahr könntest du doch bei deiner Familie sein.“ Philipp schüttelte wieder den Kopf. Sein Vater legte die zusammengerollte Zeitung mit lautem Knall auf den Tisch. Seufzte tief. „Mach doch was du willst.“ Philipp sagte nichts. Seine Mutter stand noch immer am Herd. Sah ihn noch lange an. Philipp zog seine Jacke an. „Ich geh wieder weg.“, murmelte er. Zog die Tür hinter sich zu. Kalter Wind peitschte durch die Straßen. Er wickelte seinen Schal fester um den Hals. Auf den Pfützen hatte sich Eis gebildet. Er konnte Weihnachten nicht leiden. Dieser ganze traditionelle Kram. Weihnachtsbaum. Weihnachtsgans. Jedes Jahr der gleiche Sülz. Er hatte es satt. Er konnte das Ende der Schule kaum abwarten. Dann wäre er endlich weg. Weg aus diesem Kaff. Weg von seinen Eltern. Weg von den ewigen Familienfeiern. An einem Haus lehnte ein Mädchen. Als er an ihr vorbeiging, da streckte sie plötzlich den Arm. Dem Himmel entgegen. „Sieh!“, sagte sie. Verwirrt blieb er stehen. Legte den Kopf in den Nacken. Die Sterne blinkten am Himmel. Kein Mond war zu sehen. „Dieser Stern dort, ist er nicht wunderschön?“ Philipp sah sie verständnislos an. „Sicher. Und?“ „Stell dir vor, du würdest ihm folgen. Ihm immer hinterher gehen. Immer weiter. Wo, glaubst du, würdest du ankommen?“ Sie wandte den Kopf und sah ihn an. Völlig ernst. Der verträumte Ausdruck hatte sich in Luft aufgelöst. Ihr Blick war so klar, dass ihm ganz unwohl wurde. „Ich…keine Ahnung.“ Was wollte die von ihm? Betrunken sah sie eigentlich nicht aus. „Irgendwann“, sagte er „würde man sicher wieder hier ankommen.“ Sie betrachtete ihre steif gefrorenen Finger. „Würdest du wieder hierher zurückkehren, wenn du weg gehen würdest?“ Er schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht.“ „Du würdest es nicht vermissen?“ „Nein.“ „Würde dich hier jemand vermissen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Wieso fragst du mich so etwas überhaupt?“ Er versuchte, ärgerlich zu klingen. Es gelang ihm nur halbwegs. „Und deine Eltern?“ Sie blickte auf. „Sicher“ Er steckte die Hände in die Taschen. Es war wirklich kalt. „Ich muss weiter.“, sagte er. „Tschüss“ Sie ließ ihn ziehen. Seltsames Mädchen. Er lief schneller. Er hätte schon längst bei seinen Freunden sein müssen. Als er später in nach seinem Handy suchte, da fiel ein kleiner Zettel aus der Jackentasche: „Sind dir deine Eltern egal?“ 18 …Frau Behringe Frau Behringe hätte gerne einen Weihnachtsbaum gehabt. Aber woher sollte sie den denn kriegen? Ein Auto hatte sie nicht. Und ihr kaputter Rücken war auch keine Hilfe. Naomi hatte ihr letzte Woche einige grüne Tannenzweige mitgebracht. Nun standen sie in einer Vase auf der Kommode. Geschmückt mit drei roten Christbaumkugeln. So war es doch auch ganz nett. Naomi war immer so lieb. Sie war die Einzige, die sie noch hatte. Ihre Tochter lebte in Amerika. Sie kam nur alle paar Jahre zu Besuch. Ihr Mann lebte nicht mehr. Die meiste Zeit war die alte Frau allein. Aber inzwischen machte es ihr nur noch wenig aus. Sie las viel Zeitung. Löste Kreuzworträtsel. Ging spazieren. Sie hatte eine kleine weiße Hündin. Sie hieß Tinkerbell. Als Kind hatte sie diese Geschichte sehr gemocht. Ihr großer Bruder hatte sie ihr immer vorgelesen. Das Buch stand noch immer im Regal in der Stube. Nun zerfleddert und vergilbt, aber trotzdem noch wunderschön. Manchmal blätterte sie ein wenig darin. Erfreute sich an den schönen Bildern. Sie liebte es, in Erinnerungen zu schwelgen. Tinkerbell schlief zusammengerollt auf ihrer Decke. Frau Behringe sah fern. „Tatort“. Sie liebte diese Serie. Da klingelte es. Wer das wohl sein mochte? Es war jedes Mal so spannend, wenn Besuch kam. Mühevoll kam Frau Behringe auf die Füße. Schlüpfte in ihre Puschen. Den Fernseher schaltete sie ab. Auch wenn es „Tatort“ war. Besuch bekam man schließlich nicht alle Tage… Vor der Tür stand Naomi. „Naomi! Schön, dass du da bist. Komm rein!“ Die alte Dame lächelte. Sogleich flitzte sie in die Küche. Kochte Tee. Naomi setzte sich aufs Sofa. Sie kam sich jedes Mal komisch vor, wenn sie der alten Frau nicht half. Aber Frau Behringe bestand darauf, alles, was nur irgendwie ging, allein zu tun. Sie ließ sich nur selten helfen. Frau Behringe kam herein. Zwei dampfende Tassen Tee in den Händen. „Oh“ Sie stellte die Tassen ab. Betrachtete Naomi von allen Seiten. „Hast du dir die Haare geschnitten, Naomi?“, fragte sie neugierig. Naomi nickte. Befühlte ihren Pony. Tine hatte sie dazu überredet. „Damit siehst du viel hübscher aus, glaub mir!“, hatte sie gesagt. Richtig wohl fühlte Naomi sich noch nicht. Aber es gefiel ihr wirklich besser so, das musste sie zugeben. „Als ich jung war, hatte ich auch so schöne lange Haare wie du.“, schwärmte Frau Behringe. Sie tauchte die Sahne in ihren Tee. Naomi tat es ihr nach. Sie hatte inzwischen schon ein bisschen gelernt, das Orakel zu lesen. Sie glaubte nicht wirklich daran. Aber es machte ihr Freude. „Oh, Naomi.“ Interessiert begutachtete Frau Behringe die verwirbelnde Schlagsahne in Naomis Tasse. „Du wirst bald deine Einstellung zu etwas völlig ändern.“ Ihre faltigen Lippen umspielte ein Lächeln. Eine Weile schwiegen sie. Dann fragte Frau Behringe: „Ach, wollen wir dieses Jahr vielleicht zusammen Weihnachten feiern?“ Gespannt sah die alte Frau ihren Besuch an. Naomi zögerte. „Ich…es tut mir leid, Frau Behringe, aber ich werde dieses Jahr wohl gar kein Weihnachten feiern.“ Frau Behringes Gesichtszüge änderten sich schlagartig. „Kein Weihnachten?“ Naomi schüttelte den Kopf. „Ich halte nicht viel davon.“ Als Naomi ging, sagte Frau Behringe noch „Überleg es dir doch noch einmal Kind. Weihnachten ist so ein schönes Fest. Das kann man doch nicht einfach so versäumen.“ Naomi nickte. „Danke für den Tee. Bis zum nächsten Mal.“ Dann war sie weg. 19 Tabeas Entschluss stand fest. Sie würde Tino alles erzählen. Sie wollte nicht, dass er ihr weiterhin böse war. Bis zu seiner Schule war es nicht weit. Gleich hatte er Schluss. Ihr Herz begann zu klopfen. „Du hast dich in ihn verliebt, oder?“, hatte Fenja gesagt. Mit besorgter Miene. „Du weißt, dass du keine engeren Freundschaften oder Beziehungen eingehen darfst.“ Tabea hatte daraufhin lange geschwiegen. Was passierte eigentlich, wenn sie dieses Verbot brach? Würde sie dann ein Mensch werden? „Das ist mir egal.“, sagte sie. „Ich will nicht, dass Tino sauer ist wegen mir.“ Fenja seufzte tief. „Sei bitte vorsichtig. Niemand darf hinter dein Geheimnis kommen.“ In der Ferne hörte Tabea die Schulglocke läuten. Sie beschleunigte ihre Schritte. Fenja. Sie machte sich immer so große Sorgen um Tabea. Aber Tabea hatte das alles langsam satt. Verbote hier. Einschränkungen da. Vielleicht war es doch besser, ein Mensch zu sein… Hoffentlich erwischte sie Tino noch. Schüler strömten aus dem Schulgebäude. Sie stellte sich auf den Hof und wartete. Einige Typen pöbelten sie an. Sie hörte gar nicht hin. Dann hörte sie eine Stimme hinter sich „Tabea?“ Sie wirbelte herum. Tino sah müde aus. „Ich…ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hatte es eilig und hab nicht mehr daran gedacht, dir Bescheid zu sagen.“ Sie spürte, dass sie einen Kloß im Hals hatte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihm alles zu erzählen, fuhr es ihr durch den Kopf. Er hatte sicher schon genug um die Ohren. „Ist schon o.k.“, sagte Tino. Er fragte nicht weiter. Tabea war froh darüber. Der Schulhof war inzwischen fast leer. Nur eine Gruppe Älterer stand noch in der Ecke und rauchte. Als Tino und Tabea an ihnen vorbei gingen, riefen sie ihnen irgendetwas zu. „Kennst du die?“, fragte Tabea leise. Tino nickte nur. Er sah sie nicht an. „Ist nicht so wichtig. Willst du mit zu mir kommen?“ 20 Sind deine Eltern dir egal? Philipp saß im Unterricht. Achte Stunde. Deutsch. Hoffentlich war es bald vorbei. Nach der Schule hatte er sich mit Freunden verabredet. Er sah gedankenverloren aus dem Fenster. Waren seine Eltern ihm egal? Nein. Nicht egal. Er respektierte sie für das, was sie in ihrem Leben geleistet hatten. Aber in letzter Zeit kam er nur noch schlecht mit ihnen aus. Ständig hatten sie verschiedene Meinungen. Ständig stritten sie. Besonders mit seinem Vater. Aber er wollte nun einmal den Laden nicht übernehmen. Er wollte sein eigenes Leben. Selbst bestimmen, wo es lang ging. Wozu machte er sonst bald sein Abitur? Sein Vater sagte, dass er das verstehen würde. Aber vielleicht nahm er es ihm doch übel. Ihm lag sehr viel an dem Laden. Es fiel ihm sicher schwer, ihn aufzugeben. Philipp drehte seinen Bleistift zwischen den Fingern. Dem monotonen Singsang des Lehrers hörte er schon lange nicht mehr zu. Der Zettel steckte in seiner Federmappe. Bestimmt war er von dem Mädchen von gestern. Seltsames Mädchen. Wirklich. Ob sie von dem Streit mit seinen Eltern wusste? In so einer kleinen Stadt wie hier wäre das kein Wunder. Jeder kannte jeden. Neuigkeiten verbreiteten sich in Sekundenschnelle. Man konnte nicht durch die Straßen gehen, ohne erkannt zu werden. Manchmal nervte das. Deshalb wollte er ja auch weg von hier. Vielleicht schon nächstes Jahr. Vorausgesetzt, er schaffte das Abitur. Aber darüber machte er sich keine so großen Sorgen. Würde schon irgendwie klappen. Es klingelte. Die Flure füllten sich mit Menschen. Wieder hatten sie Unmengen von Hausaufgaben aufbekommen. Er konnte wohl heute nicht erst so spät nach Hause kommen… Als er ins Freie trat, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Dort stand das Mädchen von gestern. Ging sie etwa an seine Schule? Sie redete mit einem Jungen aus der neunten Klasse. Philipp kannte ihn ein wenig. Einigen aus seiner Klasse machte es Spaß, ihn anzuschwärzen und ihm ab und zu auch mal eine reinzuhauen. Philipp war noch nie dabei gewesen, er hatte nur davon gehört. Das Mädchen lachte. Ob sie seine Freundin war? Philipp ging auf sie zu und drückte ihr den Zettel in die Hand. „Hier. Das ist deiner.“, sagte er. „Oh, danke. Ich hatte ihn schon gesucht.“ Sie grinste. „Kannst ihn behalten. Hoffentlich hat er dir etwas genützt.“ Sie hakte sich bei dem Jungen unter. „Fröhliche Weihnachten!“, rief sie ihm noch hinterher, bevor sie hinter der nächsten Hausecke verschwand. Und Philipp stand da. Betrachtete den Zettel. Seltsames Mädchen, dachte er… 21 „Kanntest du den?“, fragte Tino argwöhnisch. Er konnte den Typ nicht leiden. Der schaute zu, während andere gemobbt und verprügelt wurden… Tabea schüttelte den Kopf. „Oh, sieh mal!“ Eine Schneeflocke rieselte leise und sanft zu Boden. Dann noch eine. Und noch eine. Tabea fing sie mit den Händen auf. „Sind sie nicht wunderschön?“ Sie lachte über Tinos gelangweiltes Gesicht. „Du findest echt alles schön“, murmelte er. Er schien nicht gut drauf zu sein. „Ach komm“, sie umschlang seinen Arm. „Das Leben lebt sich so viel leichter, glaub mir.“ Sie lächelte. Und da lächelte Tino auch. Wenn auch nur ein wenig… Bei Tino war es ziemlich unordentlich. Überall lag Zeug herum. Umzugskartons standen in der Ecke. Bilderrahmen lehnten an der Wand. Tabea fühlte sich sofort wohl. „Willst du was essen?“ Tino warf seine Mütze in den Schirmständer. Er schien ein wenig verlegen zu sein. „Klar, gerne.“ Tabea strahlte. Er verschwand in der Küche. Sie konnte ihn rumoren hören. Sie mochte die Wohnung. Überall an den Wänden hingen Fotos. Tino auf der Krabbeldecke. Elisa beim Dreiradfahren. Tino bei der Schuleinführung. Elisa bei der Jugendweihe. Alles fein säuberlich in Bilderrahmen eingerahmt. Ob sein Vater die Bilder gemacht hatte? Ein Bild jedoch war abgenommen worden. Es lag umgedreht auf dem Schuhschrank. Tabea drehte es herum. Es war das Hochzeitsbild der Eltern. Sie sahen fröhlich aus. Tino sah seinem Vater sehr ähnlich. Nur die Haut war heller. Sie legte das Bild zurück. Schade, dass sich die Eltern getrennt hatten. Sie sahen so glücklich aus… Sie ging in die Küche. Tino stand am Herd. In der Pfanne brutzelte Rührei vor sich hin. Es roch leicht verbrannt. „Soll ich dir helfen?“, fragte sie. Er schüttelte heftig den Kopf. „Ich schaff das schon.“ Er lächelte schief. Wieder fiel ihr das Veilchen unter seinem Auge auf. „Was hast du da eigentlich gemacht?“ Sie tippte mit dem Finger darauf. Tino zuckte zusammen. Ganz leicht nur. „Ach das. Nichts Besonderes. Bin gestolpert und gegen ne Tischkante gefallen.“, murmelte er. Er mied es, sie anzusehen. „Tino…“, begann sie aber Tino unterbrach sie. „Willst du Ketchup dazu? Oder ein Toastbrot oder so?“ „Ist schon o.k.“ Das Rührei war angebrannt. Aber Tabea hatte Hunger. Tino setzte sich ihr gegenüber. Er zog die Beine an den Bauch. Glücklich sah er nicht aus. „Tino?“ Tabea ließ die Gabel sinken. „Ist irgendetwas passiert?“ „Ach“ Er fuhr sich durch die Haare. „Was soll sein?“ Sie drehte die Gabel zwischen den Fingern. „Du bist anders heute.“ „Nee“ Er blickte auf. Lächelte. „Es ist nichts. Glaub mir.“ 22 „Tino?“ Tabea wühlte sich aus ihrem Schlafsack. Stützte sich auf den Ellenbogen. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Es war zu dunkel. „Hm“ Es war ein schöner Tag gewesen. Sie waren auf den Weihnachtsmarkt gegangen. Hatten sich zu Hause einen Film angesehen. Es war spät geworden. Nun übernachtete sie eben hier. Tino schien es nichts auszumachen. Morgen war ja frei. Übermorgen war Heiligabend. Schon übermorgen. Tabea hatte das Gefühl, erst gestern zu den Menschen gekommen zu sein. Und übermorgen musste sie nun schon wieder weg von hier. Schade. „Hattest du eigentlich großen Ärger wegen dem Schwänzen?“ „Nee. Elisa hatte ja auch geschwänzt.“ „Ehrlich? Hattet ihr euch abgesprochen oder so?“ Sie hörte Tinos Bettdecke rascheln. „Nö“ Tabea musste grinsen. Ein seltsames Geschwisterpaar… Tino schaltete seine Leselampe an. Tabea kniff die Augen zusammen. Es blendete. „Ist irgendwas?“, fragte sie. Tino schüttelte nur den Kopf. Er lag auf dem Bauch, den Kopf tief ins Kissen gedrückt. Gedankenverloren sah er sie an. Tabea setzte sich auf. „Tino?“ Verwirrt sah sie sich um. Was hatte er bloß? Plötzlich kam ein Kissen angeflogen. Es traf sie genau am Kopf. Sie hörte Tino lachen. „Du bist so doof!“ Tabea schälte sich aus dem Schlafsack. Warf zurück. Tino war aufgesprungen. Das Kissen verfehlte ihn und prallte gegen die Wand. Tabea quietschte, als er sie ein zweites Mal traf. „Na warte.“ Sie zog ihm die Decke weg. Eine wilde Kabbelei entstand. Ein Stifteständer wurde umgeworfen. Papier segelte vom Schreibtisch. Sie lachten sich halb tot. Tino hatte an diesem Abend das Gefühl, noch nie so viel gelacht zu haben. War es nicht ein schönes Gefühl? Irgendwann ließ Tabea sich völlig außer Atem auf sein Bett fallen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Gleich war es zwei Uhr nachts. Tino ließ die Blätter liegen. Auch die Stifte. Das war jetzt nicht wichtig. Sein Blick wanderte zur Uhr. Diese verflixte Zeit. So schnell war sie um. „Ähm…wir sollten lieber schlafen.“, murmelte er. Tabea rührte sich nicht. Mit ausgestreckten Armen und Beinen lag sie da. „Ich bleib hier.“ Die Augen fielen ihr zu. Sie gähnte. Ein Kissen flog ihr aufs Gesicht. Sie kicherte. „Na, dann bleib halt da.“ Tino seufzte. Krabbelte in den Schlafsack. „Gute Nacht“ Er drehte sich auf die andere Seite. „Nacht“ Tabea knipste das Licht aus. Dunkelheit umhüllte sie. Leise wisperte der Wind. Tabea schloss die Augen. „Tino?“ Tabea streckte vorsichtig die Hand aus. Berührte seine Haare. „Hm“ Sie holte tief Luft. Jetzt oder nie. Sie hörte ihr eigenes Herz laut klopfen. „Hast du…“ Sie brach ab. „Wäre es…wäre es schlimm für dich, wenn ich auf einmal nicht mehr da wäre?“ Tino drehte sich zu ihr um. „Was?“ Draußen fuhr ein Auto vorbei. Für kurze Zeit war sein Gesicht beleuchtet. Verwirrt. Fast schon erschrocken. „Aber…wieso denn? Wo willst du denn hin?“ Tabea sagte nichts. Verträumt spielte sie mit einer seiner Haarlocken. „Ich hab dich lieb Tino.“, flüsterte sie. Tino ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken. „Ich dich auch.“ Er spürte noch ihre Hand auf dem Gesicht. Dann schlief er ein. 23 Als er am nächsten Morgen erwachte, war Tabea nicht mehr da. Die Bettdecke sorgfältig zusammengelegt. Auf dem Tisch lag ein Zettel. „Lieber Tino, es tut mir leid. Ich würde viel lieber hier bleiben, aber es geht nicht. An Heiligabend bin ich weg. Hab einen schönen Tag! Hast du schon gefrühstückt? Versuch mal die Apfeltaschen von dem Bäcker an der Ecke! Die sind am Besten =) Grüß Elisa und deine Mutter von mir. Kuss, deine Tea“ Tino las ihn mindestens dreimal. Er biss sich auf die Lippen. Verdammt. Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Wieder war sie einfach so verschwunden. Ohne Abschied. Ohne alles. Und er stand wieder da. Machte ihr das vielleicht Spaß? Noch mit dem Zettel in der Hand trottete er in die Küche. Seine Mutter war schon auf. „Guten Morgen, Tino“, rief sie fröhlich. „Ist deine Freundin schon weg?“ „Hm“, murmelte er bloß. Er schlüpfte in seine Schuhe. „Ich geh Brötchen holen.“ Als er seine Jacke anzog, klebte ein Zettel daran: „Nicht böse sein. Bitte!“ Er wurde aus diesem Mädchen einfach nicht schlau… Immer drei Stufen auslassend rannte er die Treppen hinunter. Auf der Straße holte er tief Luft. Der Mann mit dem Hund kam vorüber. Er zog den Hut und lächelte freundlich. Es schien ihm besser zu gehen. Tino lächelte zurück, so gut es ging. An der Tür klebte ein weiterer Zettel: „Da lang bitte →“ Also gut. Sie hatte gesagt, dass er Apfeltaschen kaufen sollte. Er schwang sich auf sein Fahrrad. In seinem Kopf drehte sich alles. Das Herz hämmerte ihm gegen die Brust. Er fuhr viel zu schnell. Der Fahrwind blies ihm fast die Mütze vom Kopf. Beim Bäcker war eine lange Schlange. Immer wieder sah er sich um. Aber keine Tabea zu sehen. Auf dem Rückweg kam er an ihrer Wohnung vorbei. Lange Eiszapfen hingen an der Dachrinne. Für einen Moment überlegte er, zu klingeln. Aber dann heftete er einen Zettel an ihren Briefkasten. Was sie konnte, das konnte er auch… Die Apfeltaschen schmeckten gut. Fast hätte Tino erwartet, in den Teigtaschen einen weiteren Zettel zu finden. So wie in manchen Filmen. Tabea hätte er das durchaus zugetraut. Aber nichts. Gar nichts. Seine Mutter und Elisa überredeten ihn zu einem Gang ins Kino. Der Film interessierte ihn kein bisschen. Aber er wollte auch nicht allein zu Hause herum gammeln. An Tabea dachte er nur noch ab und zu. Wenn sie es nicht nötig hatte, sich bei ihm zu melden. Sie war schließlich noch bis morgen hier. Er würde ihr nicht wieder hinterher rennen. Ob ihr überhaupt etwas an ihm lag? Eigentlich wollte er nicht mehr daran denken. Er machte sich immer viel zu viele Gedanken. Jetzt hatte er Ferien. Ganze zwei Wochen. Die sollte er lieber genießen als sich immer nur den Kopf zu zerbrechen. Als er am Abend ins Bett ging, klebte am Bettpfosten ein Zettel. „Gute Nacht! Wenn ich es schaffe, komm ich morgen vorbei.“ Tino war sich sicher, dass er am Morgen noch nicht dort geklebt hatte. Die Tür öffnete sich. Für einen winzigen Moment dachte Tino, es wäre Tabea, aber es war Elisa. „Kann ich hier schlafen?“ Die Matratze, auf der Tabea geschlafen hatte, lag noch auf dem Boden. Elisa schlief gerne woanders. Mindestens zweimal die Woche stand sie bei Tino in der Tür. Das Kopfkissen mit den Armen umklammert. Fast wie ein kleines Kind. Dabei war sie älter als Tino. „Gute Nacht“ Sie rollte sich auf der Matratze zusammen. „Denkst du immer noch an Tabea?“, fragte sie. Tino antwortete nicht. Elisa seufzte. Sie drehte sich auf den Rücken. „Mich würde das wahnsinnig machen.“ „Was?“ „Na, diese Sache mit den Zetteln. Und dass sie ständig verschwindet.“ Tino verschränkte die Hände im Nacken. „Macht es mich auch.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Aber vielleicht mag ich gerade das an ihr…“ 24 Es war später Nachmittag, als Tabea nach Hause kam. Sie hatte alles erledigt. Nun konnte Heiligabend kommen. Sie atmete tief die kalte Nachtluft ein. Sie konnte Stimmen hören. Ganz sachte nur. Der Wind verwirbelte ihre Haare. Philipp saß zu Hause bei seinen Eltern. Gerade in diesem Moment wurde die Weihnachtsgans angeschnitten Sogar Philipps ältere Schwester aus Hamburg war gekommen. Fröhliche Stimmung lag in der Luft. Es duftete nach frischen Klößen. Nach Rotkraut. Die Party mit seinen Freunden hatte er abgesagt. Und bisher bereute er es nicht. Sollten sie doch alleine feiern. Sich den Kopf mit Alkohol zulaufen lassen. Ohne ihn. Seinem Vater ging es besser. Er lachte wie eh und je. Ab und zu hustete er noch. Aber nicht mehr so schlimm… Naomi hatte sich erst in der letzten Minute entschieden. Auch wenn sie immer noch nicht viel von Weihnachten hielt, sie wollte Frau Behringe nicht allein feiern lassen. An Weihnachten sollte die alte Frau nicht alleine sein. Naomi hatte sogar extra das rote Kleid angezogen. Nicht den langweiligen schwarzen Rollkragenpullover. Der hing im Schrank. Der Laptop lag in der Ecke. Sobald würde sie den nicht wieder auspacken. Aus Berlin war eine Zusage gekommen. Nächstes Jahr würde sie anfangen zu arbeiten. Sie konnte es kaum erwarten. Endlich konnte sie diesen blöden Nebenjob an den Nagel hängen. Der brachte ihr nur schlechte Laune ein. Mehr nicht. Es würde ihr sicher nicht leicht fallen, dorthin zu gehen. Aber Berlin war nicht das Ende der Welt. Sie würde wiederkommen. Ganz bestimmt. Auch Tino saß bei seiner Familie. Die Großmutter war zu Besuch. Er war fröhlich, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder wanderte sein Blick zum Fenster. Draußen schneite es. Tabea schaute hinauf in den schwarzen Himmel. An ihrem Briefkasten klebte ein Zettel. „Ein Abschied sollte schon drin sein, oder? Tino“ Sie musste lächeln. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Bald musste sie zurück. Sie wollte nicht. Sie wollte noch hier bleiben. Bei Fenja. Und bei Tino. Sie rannte los. Der Wind trieb ihr Schnee in die Augen. Ein Auto musste scharf bremsen wegen ihr. Sie achtete nicht darauf. Rannte weiter. Es war nicht mehr weit, nur noch ein kleines Stück… Tino sprang vom Tisch auf. Beinahe hätte er seinen Stuhl umgeworfen. Stürzte zur Tür. „Bin gleich wieder da!“, rief er noch. Dann schlug die Tür hinter ihm zu. Er lief die vielen Stufen hinunter. Seine Schritte hallten im ganzen Treppenhaus. Schnee wehte ihm entgegen, als er die Tür aufriss. Dann sah er nur noch ein Meer aus Haaren. Tabea klammerte sich an ihn. Sie drückte ihn so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb. Sie sagte kein Wort. Zaghaft legte er ihr die Hand auf die Schulter. Dann ließ sie von ihm ab. So ernst hatte sie ihn noch nie angesehen. „Ich muss weg.“, sagte sie. „Aber warum denn?“ Tino verstand das nicht. Konnte sie ihm nicht wenigstens sagen, wohin sie wollte? Sie nahm ihren Schal. Wickelte ihn um seinen Hals. Sie atmete tief ein. „Weil ich das Christkind bin.“ Er wollte etwas erwidern, aber sie legte ihm den Finger auf den Mund. „Jedes Jahr, zwei Wochen vor dem 1. Advent, komme ich auf die Erde. Meine Aufgabe ist es, die Menschen glücklich zu machen. Sie sollen an Weihnachten fröhlich und beisammen sein. Niemand soll allein sein.“ Sie sah ihn so ernst an. Tino wurde mulmig zumute. „Aber meine Zeit ist abgelaufen.“, fuhr sie fort. „Nächstes Jahr komm ich wieder. Versprochen.“ Sie lächelte warm. Erschrocken stellte Tino fest, dass er das Gartentor hinter ihr erkennen konnte. Durch sie hindurch. Tabea lächelte noch immer. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Küsste ihn auf die Wange. Tino kam es vor wie ein Windhauch. Er brachte kein Wort hervor. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er streckte die Hand aus. Griff durch sie hindurch. „Fröhliche Weihnachten!“ Tabea wurde immer durchsichtiger. Eine Windböe zerzauste ihm die Haare. Dann war sie weg. Und Tino stand da. Er verstand gar nichts mehr… Später saß er in seinem Zimmer. Die Knie angezogen. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Nichts war mehr dort, wo es hingehörte. Die anderen schliefen schon. Es ging auf halb eins zu. Was für ein Weihnachten. Er dachte an Tabea. Wo sie jetzt wohl war? Wo wohnte sie, wenn sie nicht auf der Erde war, um Menschen glücklich zu machen? Er öffnete das Fenster. Einige Laternen stiegen auf. Er hatte von diesen Laternen gehört. Himmelssterne hießen sie. Sie sahen so schön aus… Auf seinem Schreibtisch lag noch das Bild. Das Bild, auf dem er sie gemalt hatte. Er hatte es ihr eigentlich schenken wollen. Aber nun war es zu spät. In der Ecke stand noch die Leinwand. Vielleicht sollte er es trotzdem fertig machen. Er kramte seinen Malkasten hervor. Ein Zettel klebte darauf. „Was hältst du von ein bisschen Musik? Versuch das mal: …“ Tino hatte von dieser Band noch nie etwas gehört. Er gab es im Internet ein. Die Musik machte ihm Gänsehaut. Der Pinsel huschte über die Leinwand. Er hatte heute schon mehrere von diesen Zetteln gefunden. An seinem Pullover. Am Joghurtbecher im Kühlschrank. Auf dem Buch, das er gerade las. Er kam sich vor, als wäre er in ein Märchen gefallen. Oder Tabea aus einem Märchen in seine Welt? Als er in die Küche ging, um das Malwasser auszuwechseln, klebte am Wasserhahn wieder ein Zettel. „Wenn man immer wieder stolpert und gegen eine Tischkante fällt, dann sollte man den Tisch lieber wegräumen. Oder seine Kante polstern. Und wenn das nicht geht, ist es besser, den Raum mit dem Tisch nicht mehr zu betreten.“ Tino grübelte mehrere Tage über diesem Zettel, bis er endlich dahinter kam, was gemeint war. Ja. Tabea hatte Recht. So konnte es nicht ewig weiter gehen. Er würde etwas unternehmen müssen. Und er würde bald damit anfangen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)