Die Stimme des Waldes von Newt ================================================================================ Kapitel 1: Die Stimme des Waldes -------------------------------- Jeder kennt sie, die Art von Fragen, die einem als Kind von den Erwachsenen immer und immer wieder gestellt werden. Fragen wie „Bist du auch brav gewesen?“, „Macht dir die Schule Spaß?“ oder „Warum bist du noch nicht im Bett?“ hat jedes Kind schon einmal zu hören bekommen und in der Regel sind sie leicht zu beantworten. Auch Jake hatte sich ihnen in den knapp neun Jahren seines Lebens bereits stellen müssen, doch es gab eine Frage, deren Beantwortung ihm schon immer Probleme bereitet hatte. „Was willst du später einmal werden?“ Das schien eine der Lieblingsfragen der Erwachsenen zu sein, denn er hatte sie bereits so oft gehört, dass er nicht einmal mehr wusste, wie häufig er schon über eine mögliche Antwort nachgedacht hatte. Für die anderen Kinder schien es ganz einfach zu sein, ihre Zukunftsträume zu äußern. Sie wollten Pokémon-Meister, Krankenschwester, Forscher oder Musical-Star werden, ihren Eltern nacheifern, einem Traum hinterherjagen und so bald wie möglich in die Welt hinausziehen. Jake hingegen hatte keinen Traum, dem er hinterherjagen wollte. Was das anging, träumte er nicht einmal besonders oft, nicht einmal im Schlaf, und wenn, waren es verwirrende Träume, an denen er ganz sicher nicht vorhatte, sein zukünftiges Leben auszurichten. Es würde nicht einmal mehr ein Jahr dauern, bis er, wie alle anderen Kinder in seiner Klasse, sein allererstes Pokémon erhalten würde. Spätestens dann würde von ihm erwartet werden, seinem Leben eine bestimmte Richtung zu geben, einen Plan zu verfolgen. Doch ebenso, wie Jake keine Träume hatte, besaß er auch keine Pläne, die darüber hinausgingen, wohin er am nächsten Tag zum Spielen gehen würde. Der Gedanke an ein eigenes Pokémon erschien ihm so fern, und die drängenden Fragen seiner Eltern so lästig. „Morgen weiß ich es vielleicht“, war meistens seine leise Antwort, bevor er nach seinen Gummistiefeln und seiner Spielzeugangel griff und in den Steineichenwald verschwand. ‚Morgen‘ war immerhin auch noch ein Tag. Ein Tag, der in weiter Ferne lag. *** Es war ein heller, freundlicher Morgen, als das Gezwitscher der Taubsi vor seinem Fenster Jake aus dem Schlaf weckte. Er blinzelte und warf einen kurzen, verschlafenen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch, der ihm anzeigte, dass es bereits nach zehn Uhr war. Zwar war es ein Samstag, doch Jake war für gewöhnlich kein Langschläfer, sondern brach auch am Wochenende meistens bereits kurz nach Sonnenaufgang auf, um im nahen Wald zu spielen. Dass er es diesmal nicht getan hatte, daran war vermutlich wieder dieser Traum schuld. Leise gähnend setzte Jake sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch seine zerzausten roten Haare, während er versuchte, die Bilder seines Traumes für sich zu fassen, bevor sie ihm wieder entgleiten würden. Bilder war vermutlich das falsche Wort. Jake träumte sehr selten in klaren Bildern, was vermutlich daran lag, dass er ein Kind mit eher wenig Fantasie war, weswegen er seine Träume zumeist am nächsten Morgen auch sehr schnell wieder vergaß und nicht weiter darüber nachdachte. Auch der Traum, der ihn nun schon seit einigen wenigen Wochen beinahe jede Nacht verfolgte, war für ihn nur schwer in Worten zu beschreiben. Es war kein Albtraum, soviel stand fest. Jake erinnerte sich an Farben, hell und freundlich wie Lichter, die durch das Laub von Bäumen schienen und auf dem Erdboden in sich ewig verändernden Formen tanzten, und er selbst befand sich mitten darin. Es fühlte sich angenehm an, geborgen. Und dann war da die Stimme. Sanft und warm hatte sie Nacht für Nacht seinen Traum ausgefüllt, sein Bewusstsein umschlossen und ihm Dinge zugeflüstert. So sehr sich Jake auch im Hier und Jetzt bemühte, er konnte sich nicht erinnern, was die Stimme zu ihm gesagt, oder ob sie überhaupt wirklich zu ihm gesprochen hatte. Alles, was in ihm zurückblieb, war der Nachhall dessen, was die Stimme in ihm ausgelöst hatte. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Jake trotz der leichten Müdigkeit voller Energie und einfach gut, er wollte sofort aufspringen und tausend Dinge tun, für die er normalerweise jeden Morgen einen gewissen Vorlauf brauchte. Mit einem innerlichen Schulterzucken streifte Jake den Gedanken an diesen seltsamen Traum ab und beschloss, den herrlichen Sonnentag dazu zu nutzen, endlich an dem Baumhaus weiterzuarbeiten, an dem er bereits seit mehreren Monaten bastelte. Eine Stunde später war er bereits auf den Weg in den Wald, nachdem seine Mutter ihm ein Lunchpaket gepackt und ihn ermahnt hatte, das Essen nicht zu vergessen und vorsichtig zu sein. Azalea City grenzte direkt an den Steineichenwald und war eine friedliche Umgebung, die hauptsächlich von zahlreichen Flegmon und kleineren Wald-Pokémon besiedelt wurde, und doch versäumten Jakes Eltern es niemals, ihren Sohn zur Vorsicht zu ermahnen, wenn er allein im Wald spielen ging. Der angenehm kühle Schatten der Bäume umfing den Jungen auf den Pfaden, die nur ihm allein bekannt waren und die tief in den Wald hineinführten. Er war noch nie sonderlich gesellig gewesen, weswegen er seine Nachmittage nicht, wie andere Kinder aus der Stadt, mit seinen Freunden verbrachte. Das war etwas, was Jake noch nie vermisst hatte, er fühlte sich wohl dabei, alleine durch den Wald zu streunen und seine eigenen kleinen Abenteuer zu erleben. Sein Weg führte ihn beinahe bis an den Rand des Gebirgszuges, der das Einzugsgebiet von Azalea City einrahmte. In diesem Teil des Waldes ragten die Bäume besonders hoch in den Himmel hinauf, knorrig und verschlungen durch die Jahrhunderte, in denen sie ungestört dort hatten wachsen und gedeihen können. Einen von ihnen hatte Jake dazu auserkoren, Träger seines Baumhauses zu werden. Sein Eintreffen auf der kleinen Lichtung scheuchte ein Rudel Wiesor auf, die leise keckernd im hohen Gras verschwanden, ehe er einen längeren Blick auf sie erheischen konnte. Das tat Jake beinahe leid, denn er hatte die Pokémon nicht erschrecken wollen, obwohl sie ohnehin sehr scheu waren und sich nur selten zeigten. Er hängte seinen Frühstücksbeutel an einen tiefhängenden Ast der mächtigen Steineiche, in deren Schatten er seine kleine Waldwerkstatt aufgebaut hatte. Der Boden seines Baumhauses, bestehend mehreren fest miteinander vertäuten Treibholzbalken, war bereits fertiggestellt und saß einigermaßen sicher zwischen dem Geäst der Eiche. Das Dach würde er aus kleineren Zweigen und Baumrinde bauen, die Materialien dafür hatte er bereits nach wochenlanger Sammelarbeit zusammengetragen. Das Problem waren die Seitenwände, denn dafür würde er mehr und größere Holzbalken benötigen. Solche waren rar, denn Stürme waren zu dieser Jahreszeit selten, sodass er auf der Suche nach abgebrochenen Ästen häufig nicht sehr erfolgreich war. Am Strand wurde ab und zu Treibholz angespült, doch in den letzten Tagen hatte er Pech gehabt. Unentschlossen drehte sich Jake um die eigene Achse und legte grübelnd seine Stirn in Falten. Er könnte noch einmal hinunter an den Strand gehen und schauen, ob das Meer heute etwas ans Ufer geschwemmt hatte. Doch dadurch würde er erneut mindestens einen Nachmittag verlieren, denn das Meer lag auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt und versprach keinen sicheren Erfolg. Er könnte natürlich… Jakes Blick blieb an einem der Bäume hängen, dessen Zweige so tief hingen, dass er sie ohne große Schwierigkeiten erklimmen könnte. Sie würden sich auf jeden Fall ausgezeichnet für eine Baumhauswand eignen. Vielleicht würden sein Gewicht und ein scharfer Stein ausreichen, um… „Nein“, murmelte Jake leise zu sich selbst und wandte sich ab. Er würde keine Äste von gesunden Bäumen abreißen, das wäre einfach falsch. Stattdessen beschloss er, doch noch einmal die Umgebung nach heruntergefallenen, toten Ästen abzusuchen, vielleicht würde er ja Glück haben. Unbemerkt dessen, dass er beobachtet wurde, machte sich Jake auf in Richtung Westen. *** Etwa eine Stunde später war Jake von oben bis unten mit Schlamm besprenkelt und um einen ganzen Arm voller Holz reicher. Am Abend zuvor hatte es geregnet, sodass der Boden unter seinen Füßen noch immer aufgeweicht und voller Pfützen war, obwohl die Sonne mittlerweile hell und warm am Himmel stand. Doch weder der Schmutz, noch seine aufgerissenen Hosenbeine machten Jake etwas aus, er war in Gedanken bereits bei seinem Baumhaus, zu dem er so schnell wie möglich zurückkehren wollte. Aus diesem Grund entschloss er sich spontan, eine kleine Abkürzung zu nehmen. Der Weg führte direkt an den Ausläufern des Gebirgszuges vorbei. Seine Eltern sahen es gar nicht gern, wenn er sich zu sehr in die Nähe der Felsabhänge begab, doch es war ein schöner Pfad, der durch blühende Ginstersträuche führte, die seine Kleidung immer dort, wo er sie streifte, mit leuchtend gelbem Blütenstaub bestäubte. Jake mochte diesen Ort, an dem der Wald immer noch ein wenig grüner und die Blumen ein wenig bunter zu sein schienen und die Vogelpokémon stets ein fröhliches Konzert anstimmten. Es dauerte nicht lange und ein schmaler, unauffälliger Holzbau kam zwischen den Sträuchern zum Vorschein, der Steineichen-Schrein. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, dass dieser Ort das Herz des Waldes sei und dass in diesem Schrein das legendäre Pokémon Celebi lebte, welches über den Wald und seine Bewohner wachte. Jake hatte schon des Öfteren einen neugierigen Blick in das Innere des Schreins riskiert, um vielleicht einen Blick auf Celebi zu erhaschen, doch es war ihm nie gelungen. Höchstwahrscheinlich war das wieder einmal eine dieser Geschichten, die Erwachsene gerne erzählten, doch auch dieses Mal konnte Jake nicht umhin, einmal aufmerksam in Richtung des Schreins zu linsen. Doch wie erwartet regte sich auch diesmal nichts, der Schrein stand wie immer unbelebt und unauffällig an der Stelle, wo er seit Jahrhunderten den Gezeiten und Jahren trotzte. Selbst wenn dort jemals ein legendäres Pokémon gelebt hatte, was Jake ein wenig bezweifelte, so würde es sich ganz sicher nicht einem kleinen, schmutzigen Jungen zeigen, der diesen heiligen Ort lediglich als willkommene Abkürzung benutzte. Aus irgendeinem Grund machte Jake dieser Gedanke jedes Mal wieder ein wenig traurig. Er wollte sich gerade abwenden, um seinen Weg fortzusetzen, als ihm auffiel, dass irgendetwas nicht stimmte. Jake brauchte einen Moment, um herauszufinden, was es war. Die Vogelpokémon hatten aufgehört zu singen. Nicht nur das, es war mit einem Mal unheimlich still auf der kleinen Lichtung, so still, dass selbst der Wind aufgehört hatte, durch das Geäst der Bäume zu rauschen. Verunsichert machte Jake einen Schritt rückwärts, die Arme fest um das Holz auf seinem Arm geschlossen. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung, und aus einem unbestimmten Grund hatte er das starke Gefühl, dass er nicht bleiben sollte, um herauszufinden, was es war. Dennoch hob er den Blick in Richtung des Berghangs und erstarrte. Er sah die Katastrophe kommen, bevor die Geräusche mit aller Macht in die Welt zurückkehrten. Mit einem Mal schien sich der Berg zu bewegen, und ehe Jake begriff, dass es ein Erdrutsch war, der direkt auf ihn zuraste, war es auch schon fast zu spät. Der dröhnende Lärm der herannahenden Erdmassen übertönte seinen überraschten Schrei, als er die Äste auf seinem Arm achtlos fallen ließ und stolpernd versuchte, sich in Sicherheit zu bringen, doch es war das Geräusch seines eigenen, panisch schlagenden Herzens, das unsagbar laut in seinen Ohren widerhallte. Stolpernd schlug er sich durch das grelle Gelb der Ginsterbüsche, das ihm zuvor so warm und freundlich vorgekommen war, und realisierte kaum, dass ihm die scharfen Dornen der Pflanzen kleine Kratzer in die Haut rissen. Ich schaffe es nicht, war der einzige Gedanke, der rasend schnell durch seinen Kopf rauschte, immer wieder, wie ein Mantra, das ihn dazu antrieb, trotzdem weiterzulaufen, auch wenn der Boden unter seinen Füßen bebte und er fühlen konnte, dass er es mit der Schnelligkeit des heranrasenden Gerölls nicht würde aufnehmen können. Ein unter dem Gewicht seiner Schritte einstürzender Pokémonbau setzte seiner Flucht ein jähes Ende, als er den Halt verlor und hart auf dem Boden aufschlug. Ein leiser Schmerzenslaut entkam Jake und er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, doch sein Fuß hatte sich irgendwo verhakt, sodass er nichts anderes tun konnte, als hilflos daran zu zerren. Doch es war bereits zu spät, der Erdrutsch walzte mit einer Gewalt auf ihn zu, unter der zuerst der Schrein und anschließend der Ginster zerdrückt wurden. „Nein…“ Jakes Worte waren kaum mehr als ein unhörbares Flüstern, bevor er schützend die Arme über seinen Kopf riss und darauf wartete, ebenfalls von den Erdmassen verschlungen zu werden. Das Donnern dröhnte betäubend laut in seinen Ohren, der Boden vibrierte unter ihm, und dann ---- Stille. Keine Kaskade von heran rollendem Gestein, die seine Knochen zermalmte und seinem kurzen Leben ein gewaltsames Ende setzte. Der Tod kam schnell und schmerzlos und es war so unglaublich still. Doch es war keine Dunkelheit, die ihn einhüllte, sondern ein helles, warmes Licht drang durch seine furchtsam zusammengekniffenen Lider. Irritiert öffnete der Junge seine Augen, nur um sie gleich darauf automatisch noch einmal erschrocken zu schließen, denn das Licht blendete ihn nicht nur, es hüllte ihm komplett ein. Nicht bedrohlich, es fühlte sich sicher an, beschützend, wie die Arme einer Mutter, die ihn vor jedem Leid zu bewahren versuchten. Es war ein Gefühl, das ihm unbestimmt bekannt vorkam. Jake zwang sich, seine Augenlider erneut zu heben und erstarrte, denn sein Körper befand sich nicht mehr auf dem Erdboden, sondern schwebte einige Meter über dem Geschehen. Unter sich konnte er die losgelösten Erdmassen erkennen, die einen guten Teil des angrenzenden Waldes unter sich begraben hatten, doch sie waren nicht mehr in Bewegung. Es war, als ob jemand die Rädchen der Zeit angehalten und der Realität alles genommen hätte, was sie ausgemacht hatte. Keine Bewegung, kein Laut, kein Leben. Nur er, der über allem schwebte, in das Licht gehüllt und vollkommen verwirrt. Und dann hörte er es. Es schien mehr eine Berührung als ein echter Laut zu sein, ein sanftes Summen in seinem Kopf, das ihn dazu brachte, den Blick zu heben und nach oben zu sehen. Über seinem Kopf, im Zentrum des Lichtes, befand sich ein kleines, zartes Wesen, kaum größer als sein eigener Unterarm. Die schimmernden, durchscheinenden Flügel auf seinem Rücken vibrierten nur leicht, wie der Flügelschlag eines Kolibri, und doch schien das Geschöpf keinerlei Probleme dabei zu haben, sich und den Jungen in der Luft zu halten. Jake spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, doch es war keine Angst, die von ihm Besitz ergriff. Das Wesen musterte ihn aus neugierigen, himmelblauen Augen und stimmte erneut diesen summenden Laut an, der in seinem Kopf widerzuhallen schien und den er bereits in seinem Traum gehört hatte. „Du bist…“, wollte Jake leise sagen, doch seine Stimme schien ihn verlassen zu haben, weswegen das folgende Wort stumm über seine Lippen kam, wie ein Geheimnis, das niemand sonst hören dürfte. Celebi. Das legendäre Pokémon schien ihn dennoch verstanden zu haben, denn es gab einen hellen, erfreuten Laut von sich, der beinahe wie ein kleines Lachen klang, so als ob es sich darüber freute, seinen eigenen Namen zu hören. In einer verspielt wirkenden Pirouette schwebte es ein wenig hinab, bis es direkt auf Augenhöhe mit dem rothaarigen Jungen war. Ein wenig verwirrt beobachtete Jake, wie Celebi eines seiner winzig kleinen Pfötchen ausstreckte und ihn damit an der Stirn berührte. Die Berührung fühlte sich weich an und vermittelte ihm ein Gefühl von Sicherheit. Und er verstand. „Ich bin in Ordnung“, flüsterte er leise als Antwort auf die stumme Frage, und dieses Mal hatte er seine Stimme wiedergefunden. Der Hüter des Waldes lächelte ihn daraufhin sanft an und das Licht, das sie umgab, begann noch ein wenig stärker zu glimmen. Für einen Moment verspannte sich Jake, als er spürte, wie sie langsam dem Erdboden entgegen glitten, doch das beruhigende Summen des kleinen Feenpokémons ließ ihn wissen, dass er nichts zu befürchten hatte. Celebi brachte sie ein Stück vom Ort des Erdrutsches entfernt auf den Boden zurück und setzte Jake behutsam auf dem weichen Gras ab. Sie befanden sich auf einer kleinen Anhöhe, von der aus sie einen guten Blick auf das hatten, was einmal das Herz des Waldes genannt worden war und jetzt unter Schutt und Geröll begraben lag. Das legendäre Pokémon gab einen leisen Laut von sich und das Licht, das sie bis eben umhüllt hatte, verschwand. Jake fühlte die Leichtigkeit aus seinem Körper schwinden und mit dem Verlust des Lichtes begann die Zeit wieder zu arbeiten. Eine kräftige Brise wehte ihm die Haare aus dem Gesicht und das gewaltige Rauschen des Erdrutsches setzte erneut ein, als dieser seinen zerstörerischen Weg fortsetzte und auch den Ort verschlang, an dem sich Jake noch bis vor wenigen Minuten aufgehalten hatte. Die Erkenntnis, dass er nur knapp dem Tod entronnen war, ließ den Jungen leicht erschauern und er warf einen unsicheren Blick auf Celebi, das nach wie vor neben ihm in der Luft schwebte. Doch der Blick des Feenpokémons war in die Ferne gerichtet, eine gewisse Traurigkeit lag darin und Jake brauchte einen Moment, bis er begriff, was das zu bedeuten hatte. „Der Schrein… dein Zuhause ist zerstört, weil du mich gerettet hast.“ Celebi wandte sich ihm zu und die Traurigkeit in den himmelblauen Augen wich einer Wärme, die Jake verwirrt und traurig zugleich stimmte, denn er konnte beinahe hören, was die Antwort des Pokémons war. Es ist in Ordnung. „Es tut mir leid…“, flüsterte Jake, doch Celebi war nähergeschwebt und legte sein Pfötchen erneut behutsam auf seine Stirn, als ob es ihn trösten wollte. Das kam ihm unglaublich falsch vor, denn nicht er sollte derjenige sein, der getröstet wurde, doch die Sanftheit des Pokémons ließ dennoch ein Lächeln auf seine Lippen schleichen. „Du warst die ganze Zeit über da, nicht wahr? In meinem Traum, da…“ Er musste seinen Satz nicht beenden, denn er kannte die Antwort bereits. Celebi gab erneut diesen hellen, lachenden Laut von sich und ließ sich von seinen schimmernden Flügelchen ein Stück von ihm wegtragen, bevor er sich noch einmal zu ihm umwandte. Unangenehm überrascht sprang Jake auf und ignorierte auch den stechenden Schmerz in seinem Knöchel, denn er wusste nur zu deutlich, was dies zu bedeuten hatte. Abschied. „Nein, warte… bitte geh nicht!“, flüsterte er und streckte seine Hand nach dem kleinen Feenpokémon aus, als ob er es so halten könnte, doch im selben Augenblick wusste er, dass dies nicht in seiner Macht lag. Celebis Schrein war zerstört worden und es musste nun weiterziehen, um ein neues Zuhause zu finden. Das Pokémon schüttelte nur leicht seinen Kopf, beinahe nachsichtig, und doch schien es Jake für einen Moment so, als ob auch Celebi für den kleinsten Teil einer Sekunde zögerte. Doch dann begann sein Körper wieder zu leuchten, in demselben, warmen Licht, das Jake Nacht für Nacht in seinem Traum gesehen hatte und das ihn auch jetzt berührte, ein letztes Mal. Er wollte rufen, schreien, irgendetwas tun, um das Pokémon aufzuhalten, doch seine Stimme schien ihn wieder einmal verlassen zu haben, sodass er nur hilflos zusehen konnte, wie Celebi ihm ein letztes, warmes Lächeln zuwarf und dann inmitten des hellgleißenden Lichts verschwand. Die Stille war zurückgekehrt, jedoch war es diesmal die Leere in seinem eigenen Inneren, die Jake dieses Gefühl bescherte, der Schmerz über eine verpasste Chance und einen verlorenen Freund. „Ich habe mich noch nicht einmal bei dir bedankt…“ Doch der Wald blieb stumm.   ***   „Pass auf dich auf, in Ordnung?“ Die Stimme seiner Mutter war belegt vor Besorgnis, als sie ihn in eine Umarmung zog, die letzte für eine vermutlich sehr lange Zeit. Das kleine Schiggy auf Jakes Armen blubberte leise vor sich hin, während es gezwungenermaßen näher in die Verabschiedung mit hinein bezogen wurde, als ihm lieb war. Doch die warme Hand seines Trainers, die ihm einmal beruhigend über den Kopf strich, entschädigte das Wasserpokémon dafür. „Keine Sorge“, antwortete Jake, während seine Mutter ihm einen Kuss auf die Wange gab und ihn dann entließ. Jake nahm seinen Rucksack auf und wandte sich der Tür zu, dem ersten Schritt auf seiner Reise, die erst enden würde, wenn er sein Ziel erreicht hatte. Damals, vor zwei Jahren nach dem großen Erdrutsch, der einen großen Teil des Steineichenwaldes zerstört hatte, hatte er nicht wahrhaben wollen, dass Celebi wirklich verschwunden war. Er hatte sogar versucht, den Schrein wieder auszugraben, was er schließlich auch nach monatelangen Mühen geschafft hatte, doch Celebi war nicht darin zurückgekehrt. Jetzt war es wirklich nur noch ein bedeutungsloses Bauwerk in einem Wald, der nie wieder zu seiner alten Schönheit zurückfinden würde. Jake hatte einige Dinge herausgefunden. Er hatte Antworten entdeckt, nicht nur in den Büchern seines Vaters, sondern auch in sich selbst. Celebi konnte Zeit und Raum überwinden, doch wenn es noch irgendwo da draußen war, in seiner Zeit und in dieser Welt, dann würde er es finden. Egal wie lange es dauerte. „Was willst du später einmal werden?“ Ich möchte jemand werden, der es wert ist, Celebi zu finden und mich bei ihm zu bedanken. Für alles. Das war sein Plan, das war sein Ziel, und es stand vollkommen klar vor seinen Augen. Als Jake die Tür seines Elternhauses hinter sich schloss und neben seinem ersten Pokémon den Pfad hinab in die Wälder betrat, fühlte er eine unbestimmte Ruhe in seinem Inneren. Sie würden sich wiedersehen. Ganz bestimmt.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)