Der Sekundenzeiger aus flüssigem Stickstoff von Palmira (Eine Schneekugel im Globusherz) ================================================================================ Kapitel 3: ----------- „Was ist ein Neuron?“ Cyrus hatte seine Pizza und Tyree eine eisgekühlte Cola. Ein Gefrierbeutel mit Eiswürfeln wäre ihm zum Kühlen deutlich lieber gewesen, doch der Prophet galt nichts im eigenen Land. Und er wollte zumindest verhindern, dass seine Nase mehr anschwoll als nötig. Wie er rote Etiketten doch hasste. Trotzdem fühlte es sich… etwas weniger bedeutend an. Obwohl das Etikett rot war. Obwohl Tyree von dieser Farbe in seinem Gesicht vorerst gründlich genug hatte. Obwohl er alles erfasst und noch nichts eingeordnet hatte, was in dieser kurzen Zeit passiert war. Cyrus war ihm keine Hilfe – er futterte Pizza aus einer minderwertigen Pappverpackung und schmierte sich Chilisoße um den Mund. Auf seine eigene Art sah das tatsächlich auch aus wie Blut. Tyree seufzte gereizt und senkte die Coladose etwas. „Eine Nervenzelle. Was du wissen solltest, weil ich es dir erklärt habe.“ Cyrus zuckte mit den Schultern und sammelte einen Käsekrümel von seiner Hose. „Klar. Aber du hast gesagt, sie soll das Neuron loslassen… Ich hab‘ irgendwas nicht mitgekriegt, oder?“ „Was du nicht ‚mitkriegst‘, du Primat, geht auf keine Planetenoberfläche.“ „Sprach der Typ, der gerade aussieht wie Tingle.“ Als Tyree die Stirn runzelte, grinste Cyrus. „Es gibt Dinge, die weißt du nicht, oder?“ „Ich ziehe es vor, sie nicht zu wissen.“ „So funktioniert das aber nicht.“ Cyrus biss von seiner Pizza ab und zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch, ein Ausdruck, bei dem selbst die Postbotin regelmäßig ins Stammeln geriet. „Erklär‘ mir das mit dem Neuron, und ich erklär‘ dir Tingle.“ „Ich lege keinen Wert-“ „Na komm schon, zieh mal kurz den Stock aus deinem Arsch.“ Cyrus schluckte seine Pizza herunter und schien das erste Mal Interesse daran einzubüßen. Was eigenartig war, da er sich heute vor allem für’s Fressen und Prügeln begeistert hatte. Tyree hielt die Coladose an seine Nase und blinzelte abschätzig. Doch er ging nicht. „Mom hat schon unsere Sachen verpackt. Und sie will mich über’s Wochenende zu ihrem Ex Ronan nach Albany schicken.“ „Sie verliert keine Zeit.“ Tyree sah es nicht ein, überrascht zu tun. „Das müsstest du kennen.“ „Ro ist über’s Wochenende nicht zu Hause. Sie hat es nicht mal mit ihm abgesprochen.“ Etwas Gequältes huschte über Cyrus‘ Miene. „Sie weiß nicht ansatzweise, was sie tut. Sie hat lange durchgehalten, aber… jetzt schafft sie es nicht mehr.“ Tyree senkte die Dose. Er sah Cyrus nicht an. Sie berührten sich nicht, und als die U-Bahn vor ihren Augen durch den Tunnel donnerte, übertönte sie jedes Geräusch. Hier unten nieselte es nicht. Es roch muffig und entfernt nach Pisse, aber es nieselte nicht. Er konnte nicht denken, wenn ihm etwas auf den Kopf fiel. „Du bist ein Neuron.“ Die Bahn war vorbei. Tyrees Stimme näselte immer noch ziemlich nervtötend, und Sprechen tat weh, doch die Hysterie seiner Organe brauchte allmählich seine Geduld auf. „Du bist hochspezialisiert – auf irgendetwas, das noch niemand für nützlich erklärt hat – und empfindlich. Unfähig, dich zu reparieren oder dich fortzupflanzen.“ Cyrus schnaubte amüsiert, enthielt sich jedoch der Bemerkung. Tyree hätte aufgehört zu reden, wenn er es nicht getan hätte. „Fran ist deine Gliazelle.“ Tyree atmete leise aus. „Sie… stützt dich, repariert dich, ernährt dich-“ „Sie bildet meine Gehirnflüssigkeit?!“ „Offensichtlich nicht.“ „Und du bist Dad-… Davids Gliazelle?“ „Die Transferleistung war überdurchschnittlich, Cyrus.“ „Das ist ganz schön krank.“ So lautete der finale Richtspruch. Cyrus kaute an einem Stück Salami und sann eingehend darüber nach, was er von Tyree im Rahmen seiner Hausaufgaben gelernt hatte – und wählte natürlich die falschen Dinge aus. „Das heißt, du pflanzt dich für ihn fort?“ „Jedes Beispiel hinkt.“ „Manchmal bist du mir echt unheimlich.“ Cyrus schob sich den Rest Pizzarand in den Mund und wischte seine Finger zu Tyrees immensen Missfallen an seiner Hose ab. „Kriege ich deine Cola?“ „Taktisch einwandfrei. Nein.“ „Kann ich das Wochenende bei dir und deinem Dad bleiben?“ „Nein!“ Eine weitere Bahn raste vorbei. „Wollen wir einen Roadtrip zu einem meiner Ex-Stiefväter machen?“ „Nein!“ Ziemlich laute Reisegruppe aus Mexiko. „Gehen wir einen Bus klauen?“ „Nein!“ Zwei sich wie wild ankläffende Hunde, die das Echo einer Untergrundstation redlich nutzten. „Kaufen wir uns ein Pony?“ „Ne-ein.“ „Du bist keine Gliazelle, Ty.“ „Immer noch eine Bessere als du.“ „Kriege ich deine Cola?“ Tyree hörte nicht, ob er seufzte, als er die Dose aushändigte. Sie war lauwarm von seinen Fingern, doch seine Nase tat mittlerweile weniger weh. Cyrus öffnete die Dose wider Erwarten nicht. Seine Stimme war ruhig, erstaunlich ruhiger als die eines Sechzehnjährigen. „Kann ich das Wochenende bei dir und deinem Dad bleiben?“ „Du versprichst dir etwas davon.“ „Ja, mir, aber nicht meiner Mom.“ „Wenn du das Versprechen nicht hältst, bringe ich dich um.“ Die Coladose zischte beim Öffnen und spuckte braunes Zuckerwasser auf Cyrus‘ Hose. „Fuck, hast du ein Taschentuch?!“ „Korrekte Aussprache in einem Zeitfenster von fünf bis sieben Sekunden abzüglich Reizverarbeitungszeit. Da. Nicht zu stark scheuern. Du bist das dümmste Neuron, das mir je begegnet ist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)