You think the dead we loved ever truly leave us? von abgemeldet (Wichtelgeschichte für NovaIxioXerces) ================================================================================ Kapitel 1: You think the dead we loved ever truly leave us? ----------------------------------------------------------- „Die Welt ist kalt“, waren die ersten klaren Worte, die Iursis seit dem Beginn des Schneefalls in den frühen Morgenstunden vernahm. Inzwischen waren zwei karge Mahlzeiten vorübergezogen und jede davon hatte er alleine, als Nachhut ihrer bedauernswert angreifbaren Dorfgemeinschaft, verbracht. Aber nun tauchte Raeng dicht neben ihm auf, brachte ihn dazu, sowohl seinen Blick vom Boden zu nehmen, als auch eine Mimik auf sein eingefrorenes Gesicht zu zaubern. Ein unamüsiertes Zucken auf seinen zum Lachen geschaffenen Lippen, mehr war wirklich nicht möglich. „Du bist nich' meine Ablösung.“ Unwirsch, abweisend. Die Kälte bekam ihm nicht gut. Die Furcht noch viel weniger. In der Einsamkeit wuchs sie ungehindert an, doch untersagte er es sich, um Gesellschaft zu bitten. Raeng war allerdings nicht unbedingt die Gesellschaft, die er sich gewünscht hätte. Jedes Wort, das den Mund seines Freundes verließ, sprach sich gegen die brüchige Hoffnung aus, der sie vor etlichen Tagen zu folgen beschlossen hatten. Er empfand Wut ihm gegenüber, wärmender als das Feuer in der Feuerstelle ihrer alten Hütte, aber gleichzeitig gefährlicher. Wut zerstörte Freundschaften, deshalb hätte er sich eher die Zunge abgebissen denn eine Freundschaft zerstört. Raeng nickte leicht. Natürlich war er nicht seine Ablösung. Ihr Dorfvorsteher Enam hätte ihm niemals eine solche Aufgabe übertragen. Iursis knirschte mit den Zähnen. „Außerdem is' nich' die gesamte Welt kalt. Erinner dich an Mance Rayders Worte. Die Menschen im Süden ham sich vor Jahrhunderten den Drachen unterworfen und obschon dies inzwischen ein Lied der Vergangenheit is', streift der Odem des Drachen noch immer übers Land und erwärmt es. Bald werd'n wir ihn ebenfalls auf der Haut fühlen.“ Bildete er es sich ein oder war Raengs Blick von Mitleid geprägt? Die Felle vermummten diesen so dicht und er hätte schwören können, dass der fallende Schnee sich verdoppelt hatte. Noch mussten die Karren vorankommen, sonst wäre er längst auf welche gestoßen. Aber wie lange noch? „Du glaubst also weiterhin daran.“ Iursis schnaubte, ein Blitzen erschien in seinen Augen. „Ja, tu ich und du solltest das auch.“ „Hmm... Was meinst du, wann wir rasten?“ „Wenn Enam es sagt. Wechsel nich' einfach das Thema und hoff, dass ich vergess, was du gesagt hast. Wir ham es schon schwer genug, auch ohne dass du als Sohn unsers Anführers ständig Hoffnungslosigkeit verbreitest.“ Jetzt nahm der mitleidige Ausdruck Form an, war kaum mehr zu übersehen. Doch mit einem Schaudern fragte Iursis sich, wem das Mitleid galt, ihm oder Raeng selbst? Es tat ihm Leid und ermüdete ihn immer wieder die selben Themen durchzukauen, aber aufgeben konnte er nicht. Es hätte bedeutet auch Raeng aufzugeben, der seinen Blick gerade erstaunlich ungern zu erwidern schien, obwohl seine Worte so direkt waren wie üblich: „Keiner hört auf mich, egal, was ich sage. Ich bin nur der jüngste Sohn und außer dir nennt mich sowieso jeder Feigling.“ „Das wär' besser, wenn du wenigstens einmal das Schwert behalten hätts, das ich dir geschenkt hab'“, antwortete Iursis, derweil er anklagend auf Raengs leere Hüfte deutete, an der das Holzschwert hätte hängen sollen. Es war ein gutes Schwert gewesen, von einem guten Baum und mit viel Aufwand verarbeitet. Vielleicht nicht so stabil wie sein eigenes aus Eisen, das seine Schwester Süd einer Krähe abgenommen und ihm überlassen hatte – Sie und Nord hatten schließlich ihre Bögen -, aber ein Schwert war besser als kein Schwert. „Sranra ist damit glücklicher als ich.“ „Sie geht mit 'nem Kind schwanger, sie sollt' keine Waffe tragen.“ Eben noch rechtzeitig streckte Iursis seine Hand aus und hinderte Raeng daran kopfüber im Schnee zu landen. War es so schwer gleichzeitig zu gehen und zu reden, dass der Dummkopf die deutlich sichtbare Wurzel nicht bemerkt hatte? Er hätte ein Dutzend Flüche ausstoßen können, wurde jedoch von Raengs dankbaren Lächeln und dessen hastigem Versuch das Gespräch weiterzuführen, daran gehindert. „Das Kind wird sie nicht davon abhalten zu kämpfen, wenn eine Gefahr vor ihr auftaucht. Besser sie tut es mit einem Schwert als mit einem Stein, nicht wahr? Nicht einmal Vater wird es ihr verbieten, denn er weiß, dass Rocand es so gewollt hätte.“ Bei der Erwähnung von Rocands Namen hoben beide einträchtig die Hände und formten die traditionelle Geste ihres Dorfes gegen das Böse. Iursis war sich nur allzu bewusst, dass keine Geste der Welt sie vor den Weißen Wanderern beschützen konnte, genauso wenig wie sie Rocand, Raengs drittältesten Bruder, und seine vier Gefährten beschützt hatte. Lediglich er war entkommen – aber nein, daran wollte er nicht denken. Nicht auch noch während seiner wachen Zeit. „Schön, also wird Sranra kämpfen. Un' du?“ Raeng sah ihn wirklich finster an, allerdings störte es ihn wenig. Selbst Raeng konnte nicht böser schauen als Nord und die hatte diesen Spitznamen nicht umsonst. Wer je gedacht hatte, die Kälte zu kennen, war seiner Schwester nie begegnet, wenn sie auf ihren missratenen, kleinen Bruder wütend war. „Bitte hör auf. Lass das Thema einmal ruhen und mich der Tatsache erfreuen, dass ich in dir einen Freund gefunden habe. Ich werde nicht kämpfen, weder um deinen Respekt zu erlangen, noch damit meine Eltern, meine Brüder oder das ganze verfluchte Dorf mit mir zufrieden sind!“ Raengs Lippen zitterten eindeutig nicht wegen des Wärmeverlusts. Iursis beließ es zähneknirschend dabei. Bald brauchte er Holzzähne, wie ihre Dorfheilerin, die alte Onsa. Sie gingen schweigend durch den leblosen Wald, in dem sich zwar mächtige Baumriesen an das unfruchtbare Erdreich klammerten, Tiere jedoch vergeblich gesucht wurden. Was die Kälte nicht dahingerafft hatte, war den Räubern an oberster Stelle in der Nahrungskette zum Opfer gefallen. Nicht dass es hier je eine große Vielfalt von Lebewesen gegeben hätte. Onsa, in deren Kopf sich eine Schatztruhe voller Geschichten verbarg, hatte den Generationen nach ihr nicht nur ihre Liebe für die Legenden von Bael dem Barden vermacht, sondern auch die Erinnerung an die Kinder des Waldes am Leben erhalten. Im freien Volk wusste jeder nur zu gut, dass viele totgeglaubte Sagen bis heute rege zwischen den Erben der alten Stämme umherwanderten. Trotzdem blieben gewisse Geschichten nur Märchen. Die Kinder des Waldes waren verschwunden und würden ihre Heimat nie wieder in lebensfroher Pracht erstrahlen lassen. Doch immerhin hatten die Götter ihnen Mance Rayder geschickt. Dafür hatte Iursis ihnen schon mehr als einmal ein Opfer im Götterhain dargebracht. Ohne Begleitung von Raeng, der, wie Iursis mit solchen Entsetzen vermutete, dass er nicht darüber nachdenken konnte, nicht an Götter glaubte. Plötzlich blieb eben jener stehen und hob den Kopf dem Himmel entgegen. Er sah aus, als würde er einen Geruch wahrnehmen, obwohl seine Nasenflügel sich nicht regten. Das Verhalten war Iursis nicht neu. Inzwischen hatte er sogar eine Ahnung, was es bedeutete, wenn Raeng sich so verhielt. „Cona kommt“, sagte dieser nun und Iursis nickte. Genau das war es. Raeng schien andere Menschen spüren zu können, bevor man sie sehen oder hören konnte. Es gehörte allerdings zu den Dingen, über die er nicht mit Iursis reden wollte. Enams jüngster Sohn hatte mehr Geheimnisse als eine stinkende Krähe, die früher ein Lord gewesen war. Bis Cona dann tatsächlich erschien, dauerte es noch einige, angenehm ruhige Minuten. Doch sobald er in Hör- und Sichtweite war, meinte er leider, sich bemerkbar machen zu müssen. „Hey Federkop', ich bin deine Ablösung! Und oh, was macht denn Feigling hier? Versteckste dich vor Rim? Keine Sorge, die Kleine haut noch lascher zu als du un' sowat will die einz'ge Tochter vom Nachfolger det alten Mannes sein. Ich ahn' schlimmes.“ Bereits beim zweiten Wort hätte Iursis gerne sein Schwert gezogen. Er mochte den Spitznamen, den Süd ihm verpasst hatte, noch bevor er seinen echten Namen erhalten hatte. Aber aus Conas Mund war er blanker Hohn. Aus Conas Mund war jedes Wort wie Schimmel auf einem drei Jahre alten Brotkanten. „Drei Dinge. Erstens, nenn Raeng nich' Feigling. Zweitens nenn Enam nich' alter Mann, er is' hundertmal fähiger un' klarer im Kopf als du, du winselnder Nesträuber. Und drittens, Rim is' noch 'nen Kind, in ein paar Jahr'n prügelt sie dich 'nen Berg hoch, während du immer noch kein Weib geraubt hast.“ Viel zu schnell für Iursis Geschmack standen sie sich gegenüber. Raeng hielt sich im Hintergrund, die Augen schwach glühende Kohlestücke und die Lippen zwei kaum erkennbare Striche. Iursis knurrte und klang dabei einem Wolf sehr ähnlich. „Putzig, wie du die Ehre von Menschen vertedigist, die dat nich' selbst könn'.“ „Armselig, wie du Süd hinterhersabberst, obwohl du weißt, dass es Schande bringt, eine Frau aus dem eig'nen Dorf zu raub'n.“ Hatte Cona da seine Hand am Schwert liegen? Sollte er es doch versuchen und am besten noch mit der alten Leier ankommen, dass keiner Süd rauben wollte, weil er noch an ihrem Rockzipfel hing. Die Götter wussten, dass Iursis der bessere Kämpfer von ihnen war und wenn sie es nicht wussten, waren sie blind. Cona, klein und zäh, taugte als Kletterer, nicht als Krieger. „Ach, hau ab, Federkop'. Enam wartet drauf von dir zu hör'n, ob du wat ungewöhnliches geseh'n hast.“ Wunderbar, Cona wusste es ebenfalls. Nichts hielt ihn länger davon ab, im schnellen Tempo zur Hauptkolonne aufzuschließen und sich im Wagen seiner Schwestern ein Plätzchen zum Schlafen zu sichern. Irgendwo weit vor ihnen konnte er winzige, tanzende Lichter ausmachen. Die ersten Fackeln wurden also angezündet. Und wenn er sie sehen konnte, bedeutete es ein Ende des Schneefalls. Er hatte es nicht bemerkt. Ob dies nun ein gutes Zeichen war, indem es wärmer wurde oder ein schlechtes, indem es kälter wurde, würde sich noch herausstellen. Vorläufig freute es ihn. Weniger Schnee verhieß ein gutes Vorankommen, selbst für die Schwachen und Alten. Beinahe lächelnd klopfte er Raeng auf die Schulter und war kurz davor diesen zu schubsen, um ihn ebenfalls zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Jede Sekunde in Conas Nähe war verschwendete Lebenszeit. Aber Raeng rührte sich nicht. Er sah ihn nicht mal an. Kündigte sich etwa wieder Besuch an? Iursis vermutete jemanden, der sich danach erkundigen wollte, ob er noch lebte. Aber war da nicht etwas Ungewöhnliches in Raengs Gesicht? Ein nervöses Zucken? Ein panisches Zusammenziehen der Pupillen? Iursis Zähne klappten aufeinander. Plötzlich hatte er schreckliche Angst. „Was is' los, Raeng? Wer kommt?“, fragte er gedämpft und hätte beinahe nicht gefragt, wer käme, sondern was käme. Das heraufziehende Unglück war wie ein Jucken an einer Stelle seines Rückens, an der er sich nicht kratzen konnte. Er hasste dieses Gefühl. Iursis hörte Raeng seinen angehalten Atem ausstoßen, bevor die gefürchteten Worte von dessen Zunge rollten: „Sie kommen. Rocand und Mo und andere, die ich nicht richtig fühlen kann. Die Weißen Wanderer und ihre Gefährten, sie kommen.“ Stille. Cona durchbrach sie als erstes mit einem gackernden, nervtötenden Lachen. Iursis reagierte kurz nach ihm, indem er Cona sanft gegen das Schienbein trat. „Au! Wat soll dat, du Nachgeburt eines... eines... wat auch immer! Es ist Tag, kein Weißer Wanderer erscheint am Tag und deren früher mal menschliche Anhängsel erst recht nich', wenn wir Fackeln anham. Verschwindet einfach und lasst mich in Frieden.“ Iursis öffnete den Mund, aber dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er wendete den Kopf und blickte in Raengs Gesicht. Alles, was er in ihm lesen konnte, war Resignation. „Du hast Recht. Sie kommen nicht. Sie sind bereits da.“ Irgendwann war er losgelaufen. Alleine. Cona hatte ihn auf seine Aufforderung hin ignoriert und Raeng war mit geschlossenen Augen in eine Art Starre verfallen. Er hatte nicht versucht ihn wachzurütteln, so als ahnte er, dass in diesem Moment Gefühle auf seinen Freund eindrangen, die er sich nicht vorstellen konnte. Ihm selbst ging es nicht unbedingt besser. Die Erinnerung an den Tag von Rocands Tod verlangte nach Aufmerksamkeit und machte seine klaren Gedanken zu Blättern, die vom Wind willenlos umhergewirbelt wurden. Er versuchte sich auf die wenigen, noch brennenden Fackeln und die leisen, zu ihm durchdringenden Schreie zu konzentrieren. Hätte er seinen Atem nicht zum Laufen benötigt, hätte er zu den Göttern gefleht, dass alles nur ein nächtlicher Albtraum sei. Natürlich war es das nicht. Schon meinte er vor sich eine bekannte Gestalt zu erkennen, die ihm getragen von Angst entgegenkam, als er durch etwas viel Schrecklicheres an seiner linken Seite zum Anhalten gezwungen wurde. Eis in seiner menschlichsten Form, mit einem Schwert in den Händen, das kein Schmied in seiner Heimat hätte erschaffen können. Das Wesen blickte ihn an und durchdrang ihn. Aber so furchteinflößend und unvorstellbar grauenhaft der Weiße Wanderer an sich schon war, er war nicht das schlimmste. Iursis Hände am Schwertgriff zitterten zu stark, um die Waffe zu ziehen. Sein ganzer Körper bebte, bis hin zu seinem schnellen, unkontrollierten Atem und der Erde an sich. Er hatte den Boden unter seinen Füßen immer für sicher gehalten, aber nun war es schon das zweite Mal, dass dieser seine Knie dazu verlockte, auf ihn niederzusinken. Welch wunderbare Vorstellung zu fallen und sich der Angst zu ergeben, die sein Herz erfüllte. Sein Kampfgeist war gefallen. Sein Mut nie vorhanden gewesen. Weil durch das Auftauchen der Weißen Wanderer, eine Erinnerung in ihm beschlossen hatte sich hervorzukämpfen. Eine Erinnerung an Wesen, die jede glückliche Erinnerung und jedes positive Gefühl aus ihm herauszogen hatten, bis nichts mehr von ihm dagewesen war, außer einem Skelett, das versucht hatte Leben zu imitieren. Denn er hatte leben müssen, um etwas zu tun, etwas wieder gut zu machen und etwas anderes besser zu machen. Dieses brennende Verlangen zu leben, existierte noch immer und endlich konnte Iursis sein Schwert ziehen. Der Weiße Wanderer hatte ihn regungslos, und wartend angesehen. Doch kaum tänzelte Iursis zur Seite, hob er sein eigenes Schwert und holte aus. Es schien, als hätten beide einträchtig zugestimmt, den Kampf beginnen zu lassen. Vermutlich hatte er keine Chance. Seine Fähigkeiten waren menschlich, die des Ungeheuers vor ihm nicht. Auch konnte er sich nicht erinnern, wie er bei seiner ersten Begegnung mit den eisigen Todesboten entkommen war. Sie hatte vor ihm gestanden, lange, einem gefrorenen Wasserfall ähnliche Haare und so schön, dass jeder Mann sich gerne von ihr hätte töten lassen. Iursis vielleicht ebenfalls, wenn er nicht gerade in der grausigen Erinnerung gefangen gewesen wäre. Aber als sie ihre Finger an seinen Hals hatte legen wollen, war er plötzlich woanders gewesen. Weit weg von ihr und seinen sterbenden Freunden. Sein Gehirn musste kurzzeitig den Dienst versagt haben. Das oder es gehörte zu den Dingen, die ihn seit seiner Kindheit eben manchmal geschahen und von denen Onsa gesagt hatte, er dürfe nicht mehr darüber sprechen. Der nächste Schlag kam zu schnell. Keine Zeit ihn zu erwidern, nur ausweichen und möglichst nicht den Boden küssen. Mit der Schulter streifte er die kratzige Rinde eines kleineren Baumes, der ihm ganz gelegen kam. Sein Gegner war zwar schnell, er aber wendiger. Flink war er darum herum gesprintet und zum nächsten Baum geeilt, während er sich in Gedanken darüber klar wurde, dass man seine Taktik eher dem Bereich „Flucht“ statt „Kampf“ zuordnen konnte. Wie auch immer. Iursis erwartete hinter sich das Zischen eines zum Töten geschwungenen Schwertes zu hören, wurde stattdessen jedoch von einem dumpfen Geräusch überrascht. Er blickte hinter sich, blieb stehen und gaffte. Da lag plötzlich ein Baum auf dem Boden. Der Baum, den er gerade zur Ablenkung benutzt hatte. Sein Verstand meinte trocken, da habe sich wohl jemand als Baumfäller betätigt.. Es war dumm gewesen stehen zu bleiben. Die kristallblauen Augen visierten ihn an, er sah nicht, wie sich die Beine des Wesens bewegten. Es war einfach auf einmal direkt vor ihm und kein Schwert hatte Iursis je solche Furcht eingeflößt. Dennoch unternahm er den Versuch es abzuwehren. Unmöglich. Sein Eisenschwert barst, als es auf das des Weißen Wanderers traf. Die Wucht ließ aus seinen Muskeln Wachs werden. Er stöhnte auf und sackte auf die Knie nieder. Der Boden hatte gegen seinen Willen gewonnen. Schreie in seiner Erinnerung. Er versuchte sich ihnen nicht anzuschließen, kein Laut verließ seine Lippen. Das Verlangen um sein Leben zu kämpfen war übermächtig, aber egal wie stark es war, er sah keine Möglichkeit mehr. Ungewöhnlich langsam hob der weiße Wanderer sein Schwert. Im gleichen Moment knisterte neben ihm etwas, zischte und dann zerplatzte das Gesicht des eisgeborenem Wesens wie eine eitrige Beule, die von Onsa mit ihrem Spezialwerkzeug aufgestochen wurde. Nur dass es nicht durch eine Nadel zerplatzte, sondern ein Stein die Aufgabe erledigt hatte. Erschrockend wirbelte Iursis den Kopf in alle Richtungen. Kein Mensch hätte einen Stein so fest schleudern können. Ein anderer Weißer Wanderer? Aber da war niemand. Er nahm sich nicht die Zeit die Sache zu durchdenken. Das Mistvieh lebte noch, da war er sich sicher. Aber es war für einen winzigen Moment verwirrt. Stöhnend rappelte er sich auf. Sein Schwertarm pochte schmerzhaft vor sich hin, trotzdem musste er weg, einfach weg und am besten nicht in die Richtung, die er zuvor angestrebt hatte. Falls er je die Möglichkeit gehabt hatte, jemanden zu retten, so war sie inzwischen verflogen. Aber selbst für Tränen war jetzt keine Zeit. Sein Gegner kam ihm nicht hinterher und dadurch beruhigt, verließ ihn schon nach wenigen Metern die Fähigkeit zu rennen. Vor sich hinstolpernd lauschte er auf Geräusche, Schreie vielleicht, doch auch die in seinem Kopf waren inzwischen verstummt, dafür stülpte Übelkeit seinen Magen um. Wieder war es der Gedanke an leidlich vorhandene Zeit, der ihn davon abhielt zu kotzen. Wenn er schon nicht fähig war zu laufen, musste er wenigstens nicht zwischendurch stehenbleiben. Stehenbleiben hatte ihm für den heutigen Tag genügend Pech beschert. Wo sollte er nun hin? Einen Bogen schlagen und so zum Standpunkt des Angriffs gelangen, in der Hoffnung Überlebende zu entdecken? Wenn es welche gab, dann nicht dort. Trotzdem musste jemand entkommen sein. Sie waren 113 Leute, für die Verhältnisse ihres Volkes also ein größeres Dorf. Nicht jeder konnte gestorben sein. Cona und Raeng. Es durchzuckte ihn wie einen Blitz. Er hoffte, bereits in die richtige Richtung zu gehen, sodass er bald auf sie treffen würde. Allerdings war er sich gerade nicht sicher, ob seine Orientierung nicht durcheinander geraten war. Den einen fand er schließlich, den anderen nicht. Raeng saß auf einem flachen, schneebedeckten Felsbrocken, hatte die Arme auf seine Oberschenkel gestützt und den Kopf in seinen Händen geborgen. Er hob ihn nicht, um seinem Freund entgegenzusehen. Auf unerklärliche Weise löste dieser Anblick in Iursis wohlvertraute Wut aus. „Wo is' Cona?“, fauchte er ihn mehr an, als er ihn fragte. Raeng schloss die Augen. „Dir nachgelaufen, sobald er kapiert hatte, dass ich doch Recht hatte.“ „Ich hab ihn nich' geseh'n.“ „Kunststück. Er wurde wenige Meter vor dir von einem anderen Weißen Wanderer erwischt.“ „Un' du sitzt hier einfach 'rum, ja?“ „Ja.“ Einen Moment lang wäre Iursis vor Wut fast durchgedreht, aber schlussendlich geschah das Gegenteil. Alles verpuffte und ließ sein zerstörtes Ich zurück. Mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, schlug er die Hände vors schmerzhaft verzogene Gesicht, unfähig zu weinen oder zu schluchzen. „Sie sind noch hier irgendwo, aber sie warten darauf, dass wir freiwillig zu ihnen kommen“, drang Raengs leise Stimme zu ihm durch. Sie hätte emotionslos gewirkt, wenn in ihr nicht ein verstörender Hauch Sehnsucht mitgeschwungen hätte. Iursis antwortete nicht. „Es muss schön sein, einer von ihnen zu sein. Alle ihre Gefühle sind von Kälte geprägt. Wie hat Onsa immer gesagt? Die Kälte ist gefährlicher als jedes Feuer, denn während die Hitze dich sofort angreift, schleicht sie sich heimtückisch an und betäubt dich.“ So offensichtlich begierig hatte sich Raeng noch nie angehört und allein der Tonfall war es, der Iursis dazu brachte seine Hände sinken zu lassen, bevor er überhaupt den vollen Sinn der Worte verstanden hatte. In seinem Mund sammelte sich ein Geschmack nach etwas sämigen, verdorbenen, den er nicht herunterschlucken konnte und der ihn zum Würgen brachte. Eine fiese Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm zu, dass es Raeng recht geschehe, würde er ihm auf die Füße kotzen. Seine Vernunft verbat es ihm allerdings. „Du bist des Wahnsinns“, warf er seinem Freund äußerlich ruhig vor. Dieser erwiderte seinen Blick hasserfüllt. Falls möglich spürte Iursis, wie sein Leben gerade noch tragischer im nächstgelegenen Bach ersoff. „Selbst wenn du nicht anders wärst, würdest du mich nicht verstehen.“ Iursis, dem schon eine Erwiderung auf der Zunge lag, stockte. Ein schmerzhaftes Stöhnen unterdrückend, stieß er sich vom Baum ab und wankte Raeng entgegen. Sein Arm schrie inzwischen ernsthaft danach abgehackt zu werden, die Wucht hatte Schäden hinterlassen, obwohl nichts gebrochen schien. Onsa hätte gewusst, was nun getan werden musste, er aber konnte allerhöchstens eine Wunde abbinden. Um der einschüchternden Wirkung Willen stellte er sich dennoch mit verschränkten Armen vor Raeng hin. „Was meinst du damit, ich wär' anders?“ Raeng zog eine Grimasse. In seinen Augen glomm ein zweifelnder Funke, ob er die Frage beantworten sollte. Vielleicht wirkte die Einschüchterungstaktik, denn er entschied sich dafür und stand so vorsichtig auf, als hätte er sich seit Stunden nicht mehr bewegt. Iursis knirschte ungeduldig mit seinen malträtierten Zähnen. „Hast du es nie bemerkt? Hier“, er piekste mit seinem Zeigefinger in Iursis Brust, wo unter etlichen Fellen dessen Herz verborgen lag, „bist du mehr als andere.“ Verwirrt blickte Iursis auf Raengs Hand hinunter. „Ich versteh immer noch nich'.“ „Denkst du, ich verstünde alles? Aber man muss nicht mal ich sein, um es zu bemerken. Du hast mir erzählt, wieso dir Süd damals deinen Spitznamen gegeben hat. Federkopf. Ein Kopf voll mit den Federn eines Vogels. Weil Vögel freie Geschöpfe sind. Und du konntest kaum laufen, da hast du dich, über die normale Neugier eines Kindes die Welt zu entdecken, hinaus, danach gesehnt frei zu sein. Wolltest nicht eingesperrt sein. Hast kein schlechtes Gewissen gezeigt, wenn du entgegen der Anweisungen deinem eigenen Weg gefolgt bist. Aber wie Vögel nicht alleine in den Süden ziehen, bist du immer loyal gegenüber denen gewesen, die du liebst. All das und noch einiges anderes, kommt von diesem mehr in dir.“ Vermutlich hätte er zuhören sollen, entsetzt und verwirrt sein, aber bei der Erwähnung von Süd hatte sein Auffassungsvermögen ausgesetzt. Süd würde ihn nie wieder Federkopf nennen, genauso wenig wie Nord ihn Dummkopf schimpfen würde. In seiner Brust war kein Platz mehr für die lebensnotwendige Atemluft. „Jetzt fang nicht an zu flennen. Nicht alle sind tot, wenn es dich tröstet. Rim und Oleram sind sicher versteckt und leben noch. Fragt sich nur, wie lange.“ Raeng ließ sich auf seinen Stein zurückfallen. „Dann müssen wir sie retten“, sagte Iursis langsam, durch Raengs Worte wieder daran erinnert, dass es dem Überleben nicht zuträglich war, gab er sich seiner Schwäche hin. Und wenn noch jemand lebte, hatte er gleich einen triftigeren Grund zu überleben. Die beiden waren Kinder. Rim mit ihren sieben Jahren verlor gerade erst ihre Milchzähne und Oleram war praktisch gesehen noch nicht alt genug, um einen Namen tragen zu dürfen. Keiner hatte es gutgeheißen, dass Falaeh nach dem Tod ihres Geliebten Mo, ihr Kind benutzt hatte, um sich an den Kleinen zu klammern. Der Junge war schwächlich, es wäre besser gewesen, wäre er ohne Namen gestorben. Aber solange er noch atmete, schwor Iursis sich, würde er versuchen, ihn zu retten. Raeng teilte seine Begeisterung nicht ansatzweise. „Deine Stimmungsschwankungen sind schrecklich. Außerdem, hörst du mir je zu? Die Weißen Wanderer warten darauf, dass wir freiwillig zu ihnen kommen. So verlockend das ist, letztlich bin ich wohl doch der Feigling, den alle in mir gesehen haben.“ „Du willst sie also sterb'n lassen?“ „Entweder sie oder wir.“ „Ich könnt's mir nie verzeih'n.“ „Das ist schön für dich. Aber du hast nicht das Recht mich ebenfalls in den Tod zu schicken“, beendete Raeng trotzig ihre Diskussion und hatte wieder dieses hasserfüllte Funkeln in den Augen, das Iursis auf unbestimmte Art weh tat. Still und anklagend wandte er sich ab. Aufzugeben lastete schwer auf seinen Herzen, aber jedes weitere Wort wäre verschwendet gewesen. Jahre der Freundschaft hatten nichts daran geändert, dass Raeng seine Entscheidungen für sich alleine traf und sie durchzog. Jetzt war der falsche Zeitpunkt, um etwas zu ändern und so wie es aussah, würde der richtige niemals kommen. Schon wieder lief Iursis weg, ohne Raeng, ohne sein Schwert, lediglich von dem sicheren Gedanken getrieben, dass er unter keinen Umständen nicht nichts tun konnte. Im Nachhinein hätte er sich selbst schlagen mögen, weil er nicht wenigsten gefragt hatte, wo die Kinder versteckt seien. Weit entfernt vom Standpunkt des Angriffs konnte es nicht sein. Praktisch gesehen war das allerdings sehr wenig Wissen, wie Iursis auf dem Weg dorthin klar wurde. Mehr stolpernd denn laufend bewegte er sich vorwärts und hatte in der Zeit viel zu viel Muße zum Nachdenken. Gedanken an die Toten gestattete er sich nicht, dafür jedoch schmiedete er hunderte halbgare Zukunftspläne, die allesamt in der Erkenntnis mündeten, dass er weiterhin zu Mance Rayders Heer gelangen musste. Mehr denn je war er ihre letzte Hoffnung. Allzu bald begegneten Iursis die ersten Überreste menschlichen Lebens. Fallengelassene Waffen, Karren und Blutflecken. Aber nirgends Leichen. Bei einem Karren, auf dem er eine riesige, dunkelrote Lache fand, musste er sich übergeben. Die Vorstellung, wie ein Wesen aussah, dass nach so viel Blutverlust noch lebendig herumlief, war grauenhaft und ekelerregend. In der Luft hing der beißende Gestank von Gefahr, für seine Nase nicht wahrnehmbar, brachte er seinen sechsten, namenlosen Sinn jedoch dazu sich dauerhaft zu überschlagen und ihn voranzutreiben. Blind ging er an dem Wagen seiner Schwestern vorbei und stieg über Nords Bogen hinweg, der unbeschädigt und vergessen auf dem Boden lag. Er hatte die harte Lektion gelernt, dass keine Waffe gegen die Weißen Wanderer effektiv war. Natürlich half Feuer gegen diejenigen, die nur von ihnen geholt worden waren, aber wenn die Weißen Wanderer persönlich vorbeischauten, half nichts. Doch selbst wenn er das Glück haben sollte, nur jemanden aus dem Dorf zu begegnen, kam das in seiner derzeitigen Verfassung dem Sprung von einer Klippe gleich. Also musste er hoffen und sich beeilen, irgendwie. Vermutlich hätte er ewig so weiterirren können. Der Möglichkeit beraubt, nach den beiden Kindern zu rufen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, konnte er lediglich für einen Zufall beten und Zufälle waren gewöhnlich Miststücke. Nachdem er etwas außerhalb des Wagens von Rims Eltern unter den Wurzeln eines massiven Baumstammes eine kleine Höhle entdeckt hatte, die wie jedes andere von ihm gefundene, mögliche Versteck leer war, begann er sich zu fragen, ob Raeng gelogen hatte. Oder ob er – und das erschien ihm die wahrscheinlichere Alternative – zu spät war. Waren Rim und Oleram grauenhafterweise von ihren eigenen Eltern, die sie versteckt oder ihnen zumindest befohlen hatten, sich zu verstecken, gefunden und getötet wurden? Iursis konnte nicht mehr. Mit verschwommenen Blick änderte er seine Richtung, gab es auf und wollte zu Raeng zurückkehren, dem Menschen, den er gerade vermutlich am meisten hasste, aber der nun einmal der letzte Mensch war, der ihm geblieben war. Als hätte der Weiße Wanderer seinen Entschluss gespürt, tauchte er zwischen einer engstehenden Baumgruppe auf und nahm Iursis mit seinen Anblick den Atem. Man musste, befand er dumpf, schon ein Glückspilz sein, um in seinem Leben drei von diesen Ungeheuern zu begegnen. Er kannte sonst niemanden, dem das gelungen war. Der letzte Funken von Sarkasmus in seinen vernebelten Gedanken änderte nichts an der Tatsache, dass ihn die Anwesenheit des Weißen Wanderers mit jedem Schritt, dem dieser näher kam, umwarf. So laute Schreie in seiner Erinnerung und zum ersten Mal auch Bilder und Gerüche. Ein zerstörtes Haus. Salzige Meeresluft. Ein Teppich mit Bildern und Brandlöchern. Und ganz zuletzt das Aufblitzen zweier Menschen, die sich unheimlich ähnlich sahen. Bei beiden hatte er versagt. Diese Erinnerung schmerzte fast mehr als der Tod seiner Schwestern. Immer näher und näher. Iursis' Knie sackten ein, stumme Qualen in seinen Augen. Obwohl ihm die Fähigkeit sich zu verteidigen abhanden gekommen war, tastete seine Hand auf dem Boden neben sich herum, um irgendetwas zu finden, an das sie sich klammern konnte. Ein Stein – nein. Eine Pfeilspitze – auch nein. Erst bei einem ungewöhnlich glatten, kurzen Stock gab seine Hand sich zufrieden. Augenblicklich fühlte er sich sicherer. Zitternd hob er ihn und richtete ihn auf das kalte, tote Ding kaum einen Schritt von ihm entfernt. „Expecto Patronum!“, schrie er heiser und lachte. Natürlich geschah nichts. Kein Licht erhellte die Dunkelheit. Aber was hatte er denn erwartet? Iursis wusste es nicht. Nur langsam verstummte sein Lachen, zurückgedrängt von seiner kläglichen Vernunft, die ihn darauf hinwies, dass er noch lebte. Überrascht sah er auf und blickte den Weißen Wanderer an, der vor ihm stehen geblieben war. Auch dieser sah ihn an, intensiver, bewusster und zu Iursis absoluten Verwirrung weniger von kalten Hass getrieben denn seine Kameraden. Fast wie ein Mensch. Aber die Weißen Wanderer waren nie Menchen gewesen. Sie waren anders, älter und unvorstellbar schrecklich. Das Wesen löste seinen Blick und drehte sich um. Ging weg. In seinen schneeweißen Nacken, deutlich sichtbar durch die kurzen, auf edle Weise verwuschelten Haare, konnte Iursis ein kleines Muttermal erkennen. Es sah aus wie eine Krone. Schluchzend vor Erleichterung oder Schmerz oder etwas, das er nicht benennen konnte und das tief aus seinem Herzen kam, da, wo Raeng gesagt hatte, er wäre mehr, durchgeschüttelt von dieser Empfindung, berührte Iursis mit seiner Stirn den Boden und schenkte der unfruchtbaren Erde seine heißen, verlorenen Tränen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)