Loose Ends von Kroko (Divine-centred one-shot) ================================================================================ Kapitel 1: Try Walking In My Shoes ---------------------------------- Er hatte sich schon oft überlegt, ob und wie er den Tod finden würde. Diese Variante war ihm dabei allerdings nicht in den Sinn gekommen. Und wäre es auch niemals. Im Grunde hätte es ihn auch sicher amüsiert, wäre es nicht sein eigenes Ableben, um das es hier ging. Er fand keinen Halt, konnte keinen Muskel bewegen, vor ihm nichts als Schwärze als er es realisierte. Das war das Ende. Und für einen Moment schien die ganze Welt still zu stehen. Völlige Ruhe legte sich auf seine Ohren, die Szenerie fror ein und sein Blick kehrte sich völlig nach innen. Oft wird behauptet, im Moment des Todes sähe man noch einmal mit enormer Geschwindigkeit das eigene Leben wie einen Film am inneren Auge vorbeiziehen. Doch nichts dergleichen geschah. Er öffnete die Augen. Er fühlte nichts, er hörte nichts, sah nichts. Dann Bilder. Überall. Viele, ungeordnete Bilder in sinnloser Reihenfolge. Bäume, ein Fenster, Schnee... Er hatte das Gefühl, ihm müsse der Schädel zerspringen, und noch immer konnte er sich nicht rühren, bis die ganze Szenerie plötzlich stehen blieb. Und mit einem Mal, wie aus dem Boden gestampft, stand dort dieser Junge. Höchstens fünfzehn Jahre alt, doch er sah älter aus. Sein Blick wirkte älter. Seine Züge sahen verbissen und ausgezehrt aus. Sein rostbraunes Haar war struppig, die dunkelgrünen Augen blutunterlaufen. Dennoch lächelte er ihn an. „Divine“, grüßte er freundlich. Der Angesprochene schluckte kaum merklich. „Du brauchst keine Angst haben. Du bist nicht tot. Noch nicht.“ Der Junge bemerkte es ohne Anflug von Freude. Ihn selbst schien es traurig zu machen, was er gerade gesagt hatte. „Wer bist du? Was willst du von mir?“, fragte Divine ohne Umschweife. Doch der Junge lächelte nur geistesabwesend, trat einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn bei der Hand. „Du kennst dich hier nicht aus. Ich werde dir den Weg zeigen.“ „Wohin?“ Der Ältere versuchte vergeblich, ungeduldig zu werden. Doch eine unglaubliche Ruhe hatte ihn genau in dem Moment erfasst, als auch der Junge seine Hand ergriff. „Denk nicht an das ,wohin'“, bat der Junge. „Genieße den Weg, solange du noch kannst. Er ist alles, was dir noch bleibt.“ Bevor Divine noch irgendetwas fragen konnte, kehrte der Jüngere ihm den Rücken zu und ging ihm voran. Auch wenn er nicht mit Gewissheit sagen konnte, ob der Junge sich ihm gerade zu- oder abgewandt hatte. Alles um ihn war so wirr und willkürlich wie plötzliche Gedanken, unmöglich zu verarbeiten oder zu begreifen. Die Umgebung verschwamm. Als hätte jemand einen Stein in einen Teich geworfen kräuselte sich die Oberfläche in regelmäßigen Linien. Als sich die Wogen glätteten drehte sich um Divine alles. Er konnte wieder etwas spüren, es fühlte sich glasklar an. Er sah sein eigenes Spiegelbild in der Glasscheibe direkt vor sich. Und dahinter einen Raum. In dem Raum lag, auf einer Bahre, ein kleiner braunhaariger Junge. „Tobi“, murmelte Divine, als er ihn erkannte. „Du erinnerst dich an ihn“, bemerkte sein junger Begleiter. „Warum hast du mich hierher gebracht?“, entgegnete Divine. „Soll ich Reue üben für meine Taten, kurz bevor ich sterbe?“ Er lachte leise und verächtlich. „Mein Unterbewusstsein muss konfuser sein als ich es befürchtet hatte.“ Daraufhin sah er sich um. Alles war genau wie an jenem Tag. Er befand sich im Kontroll-Bereich des Stimulus-Decks, dementsprechend mitten im Hauptgebäude der Arcadia-Bewegung. An den Bedienungspulten herrschte Hochbetrieb, einer seiner Untergebenen erwartete weitere Anweisungen. Divine befahl, die Kraft der Elektrostöße zu verstärken. „Aber Sir! Der Junge erträgt nicht viel mehr!“, erwiderte der Andere. „Dann brauche ich ihn nicht. Wenn er so schwach ist, ist er meine Zeit nicht wert“, hörte er sich sagen. Sowohl Divine als auch der Junge neben ihm beobachteten teilnahmslos, wie Tobi unter Schreien und Krämpfen elendig verreckte wie ein Tier. Die Szenerie verschwamm abermals. Divine schnaubte belustigt. „Wozu soll das gut sein?“ „Wozu soll was gut sein?“, fragte der Jüngere kaum merklich irritiert. „Warum zeigst du mir das? Soll es mir etwa Leid tun? Soll ich mich schämen, weil ich einen kleinen wertlosen Bastard wie ihn habe umbringen lassen?“ Er lachte abermals, diesmal lauter. Der Junge sah ihn ausdruckslos an. Die Umgebung verzerrte sich abermals. Wieder ein schreiendes Kind. Divine musste lächeln. „Was soll das, was willst du von mir?“ Und ein Weiteres. Und noch eines. All die Kinder, die er getestet hatte. Mit denen er experimentiert hatte. Kinder mit besonderen Kräften, manche besaßen mehr davon, manche weniger. Er sah sie in immer kürzeren Abständen, ihre Schreie hallten durch den leeren Raum durch den die Bilder zu fliegen schienen, der Lärm wurde lauter und schriller, alles wirbelte um Divine und seinen jungen Gegenüber. Doch obwohl die Schreie Dutzender Kinder ohrenbetäubend laut wie ein Tornado über ihn hinwegfegten, Divine bewegte keine Miene. Stille. Drückend und lauter als jeder Schrei. Der Junge sah ihn an, weder anklagend noch wütend. „Hör mal“, begann Divine schließlich. „Dies sind die letzten Nanosekunden meines Lebens. Und ich würde sie gern mit interessanteren Gedanken verbringen als diesen.“ Er ging auf den Kleineren zu. „Komm schon, in meinem Leben muss doch Nennenswerteres passiert sein als das.“ „Es liegt nicht an mir, woran du denkst“, antwortete der Junge gleichgültig. „Offenbar hast du diese Kinder gut in Erinnerung behalten“, fügte er hinzu. Divine sah ihn kurz prüfend an. Dann zuckte er mit den Schultern. „Was soll's. Ich hatte vermutet, ich hätte sie schon längst alle vergessen.“ Er lächelte auf den Jungen herab. „Sie haben nie einen großen Platz in meinen Gedanken eingenommen.“ „Warum hast du dich dann so genau daran erinnert, wie du den Tod des Jungen angeordnet hast?“, fragte sein Gegenüber. Leicht verwundert hob Divine eine Augenbraue. „Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich, weil er der Grund dafür war, dass mir in ein paar Augenblicken der Tod bevorsteht. Aber lass uns nicht weiter darüber reden, ich mag noch nicht daran denken.“ Er hielt kurz inne und überlegte. „Sag mal, der Weg, von dem du mir vorhin erzählt hast... kann ich ihn beeinflussen?“ Der Kleine nickte. „Ein wenig, ja. Aber du musst bedenken, dass all das hier eigentlich mit unheimlicher Geschwindigkeit in deinem Kopf abläuft, also kannst du es nicht sehr genau lenken.“ Er legte den Kopf schief. „Und, nachdem du dir eben angesehen hast, wie du all diese Kinder zu Tode gequält hast... in welche Richtung soll der Weg nun gehen?“ Doch Divine hatte sich schon in Bewegung gesetzt. „In eine Erfreulichere, bitte“, murmelte er mehr zu sich selbst. Der Weg führte ihn vorbei an unendlich vielen Kleinigkeiten, Dingen, die er gesehen, bemerkt, gedacht, verworfen hatte. Ein Bleistift, der von einem Buch rollte, sein Spiegelbild in den Augen einer anderen Person, deren Namen er vergessen hatte, ein Mädchen, das von Tausenden Scherben umgeben durch die Nacht stürzte... („Was aus ihr wohl geworden ist...?“, fragte er sich beiläufig), eine Karte, die er in einem Duell auf den Friedhof legte, und immer wieder der süße Duft von Rosen aus unbezähmbarem roten Haar. Der Gedanke vertiefte sich. Weiche, warme, blasse Haut, zierliche Fußgelenke. Kleine Hände, ein langer, schlanker Hals. Heißer, leichter Atem aus vollkommenen Lippen. Dieses runde, herzförmige Gesicht mit den großen, mandelförmigen, tiefbraunen Augen. Und unvorstellbar starke psychische Kräfte. Verheerende Attacken voller Hass und Schmerz. Die heftigste Gewalt, die er jemals erlebt hatte, mit Ausnahme seiner eigenen. „Aki“, flüsterte Divine mit einem Lächeln und beobachtete jede noch so kleine ihrer Bewegungen, an die er sich erinnerte. „Sie war perfekt.“ Er betrachtete die Aki, die in seinen Gedanken vor ihm lag. „Ich habe sie perfekt gemacht.“ Er lachte leise. „Verdammt, sie und ich, wir hätten die ganze Welt unterjochen können.“ Er sah sich selbst mit den behandschuhten Fingern liebkosend über Akis Nacken streichen. Er biss die Zähne etwas fester zusammen. Obwohl er den Jungen nicht sehen konnte, wusste er, dass er sich nicht weit entfernt befand und ihn genau beobachtete. Divine verweilte einen Moment bei diesen Erinnerungen. „Sie ist meine loyale Dienerin“, sagte er in den Raum hinein und hörte sich es gleichzeitig selbst zu Yusei sagen. „Aki gehört mir.“ Er spürte, wie seine Kraft nachließ. So warf er einen letzten Blick auf die erste Umarmung, die er ihr gegeben hatte, und wandte sich ab. Dort stand der Junge und wartete bereits vor neuen Gedanken. Doch zuerst schien er nach einer Erklärung zu verlangen. Er gab ihm keine. Er hatte keine. Aki war Aki. Sein Werk. Sein Eigentum. Seine Perfektion. Seine Dienerin, ja sogar seine Sklavin, wenn er es so wollte. Seine Hoffnung. Seine Hoffnung auf Freiheit. Sofort schloss er die Tür und konzentrierte sich auf alles, was ihm sein junger Wegbegleiter zeigte. Er hatte keine Zeit für überflüssige Erinnerungen. „Das sind sie nicht“, sagte der Junge. Natürlich hörte er, was Divine dachte, schließlich hallten die Gedanken durch seine Erinnerungen laut und klar wie eine Kirchenglocke. „Du weißt, dass sie es sind“, entgegnete Divine und stieß die nächste Tür auf. Kurz darauf wünschte er sich nichts mehr, als dass er es gelassen hätte. Glühend heiße Schmerzen durchzuckten ihn und raubten ihm den Verstand. Er hörte Stimmen, fühle kaltes Metall auf der Haut. Und Angst. Unbeschreibliche Angst. Er hörte seine eigenen Schreie. Blind vor Schmerz und Furcht versuchte er den Fesseln zu entkommen, doch er konnte sich nicht rühren. Er wollte, dass es aufhörte. Er wollte ohnmächtig werden, er wollte sterben, er wollte, dass es aufhörte. Der Schmerz ließ nach. Nur ein leises Knistern erfüllte noch die Luft. Und das unerträglich hohe Piepsen in seinen Ohren. Das Licht blendete ihn. Seine Augen taten weh als habe er lange Zeit kein Licht gesehen. Er konnte den Schatten von Menschen ausmachen, die um ihn herum standen. „Wie hat er reagiert?“, fragte eine Frauenstimme. „Es ist unglaublich, wie kann er das überlebt haben!“, rief eine andere. „Wie viel Volt waren das?“ „Über 5.000, Professor.“ Sie waren so laut, sie sollten verschwinden... Hände berührten ihn, tasteten ihn unsanft ab, rissen seinen Kopf hin und her. Das Atmen fiel ihm schwer. Es fühlte sich an, als habe man ihm die Lunge mit Salzsäure ausgespült und den Mund mit Kloake. Er hustete kraftlos. „Der Generator ist verschmort!“, hörte er jemanden sagen. „Wie erklären Sie sich das?“ „Ich habe keine Ahnung.“ Die Stimme wurde leiser. „Aber wenn ich ehrlich bin, ich ziehe es vor, dieses Monster zu beseitigen.“ Stille. „Sollten wir nicht vorher herausfinden, was es mit ihm auf sich hat“, fügte der Mann hastig hinzu. Jemand zerrte Divine von der Bahre, auf der er sich offenbar die ganze Zeit befunden hatte, herunter und davon. Zwei Männer waren es, einer an jedem Arm. Divine brachte nichts weiter als ein heiseres Stöhnen hervor. Die Männer stießen ihn durch eine Tür, diese fiel schwer ins Schloss. Schnelle Schritte entfernten sich. Das Licht erlosch. Und in Divine stieg wieder Angst auf. Regelrechte Panik. Er presste sich rücklings gegen die eiskalte Wand. Hastig entfernte er sich ein Stück von der Erinnerung. Schwer atmend stand er einen Schritt davon entfernt und betrachtete sie entsetzt. „Woher kommt die??“, keuchte er. „Du hast es nicht vergessen“, antwortete der Junge, „Du kannst es nicht vergessen. Selbst wenn du wolltest.“ „Natürlich kann ich das vergessen!“, Divine schrie nun beinahe. Er wurde in die Erinnerung zurück gezogen. Die Dunkelheit um ihn herum formte Bilder, Krallen, Augen, Zähne. Kaum erkennbar in der Schwärze, sich stetig wandelnd und verändernd, wie die Schatten eines Baumes im Wind. „Mach, dass es aufhört!“, schrie er den Jungen an. „Hol mich hier raus!“ Er kniff die Augen zusammen und presste die Hände auf die Ohren, doch ihre Klauen fuhren über seine nackte Haut, er hörte das donnernde Grollen der Monster überall. Dann nahm der Junge abermals seine Hand. Sofort befand er sich wieder außerhalb des Gedankens, betrachtete ihn schaudernd und schwer atmend. Sein jüngeres Ich sackte an der Wand zu Boden und blieb dort zitternd liegen. Er konnte sein Gesicht erkennen. Es sah genauso aus wie das seines jungen Begleiters. Divine starrte ihn an. Der Junge schaute zurück. „Ich will das nicht sehen!“, knurrte Divine. „Wenn du gehen willst, kannst du gehen. Aber du weißt, was dich erwartet“, entgegnete der Kleine, der genauso aussah wie Divine selbst. Noch immer hielt er seine Hand. „Bleib doch noch ein bisschen hier“, bat er. „Ich weiß, es ist nicht schön, aber es...“ „Ja, ich weiß“, unterbrach ihn Divine unwirsch. „Es ist alles, was uns noch bleibt.“ „Dann sei nicht so hastig. Oder willst du das Ende des Weges so schnell erreichen?“ Gerade war der Größere dabei gewesen, sich umzudrehen und nach dem nächsten Gedanken zu suchen, doch er hielt inne. Kurz verharrte er so, dann ließ er den Kopf sinken. Schließlich schaute er zurück auf den zitternden Jungen, der vor Angst und Kälte ganz bleich war. Er wandte sich zurück und setzte sich zu ihm. Nach einer Weile legte er eine Hand auf die bebende Schulter. Es mochten Stunden in diesem Gedanken vergangen sein, er betrachtete jede einzelne Minute. Er erinnerte sich an jedes Detail in diesem Raum. Er erkannte die tiefen Kratzer überall in den Betonwänden, die Stahltür war von innen verbeult und zerschlissen als wäre sie aus Moosgummi. Kerben wie von tiefen Krallen übersäten den Boden, und das dreifache Panzerglas der winzigen Scheibe, durch die am Tage nur milchiges, graues Licht in die Zelle fiel, war zersplittert. All das und dessen Urheber, den abgemagerten Jungen, betrachtete Divine. Bis die schwere Tür wieder aufgestoßen wurde, abermals wurde er unsanft gepackt und davongezerrt. Er wurde auf derselben Bahre festgezurrt, Metallscharniere rasteten über ihm ein, doch sein jüngeres Selbst schien nicht das geringste Interesse daran haben, sich dagegen zu wehren. Es starrte nur ausdruckslos an die geflieste Decke während Menschen in weißen Kitteln um ihn herumstanden. „Fürs Protokoll, wir werden die Spannung der Stöße heute weiter erhöhen. Ich erhoffe mir damit einen tieferen Einblick in seine psychokinetischen Kräfte.“ „Aber Professor, meinen Sie wirklich...“, warf jemand ein. Divine sah sie alle gar nicht an. Er wusste bereits, was gleich geschehen würde. „Wenn er es überlebt, können wir ihn weiterhin als Forschungsobjekt brauchen. Wenn nicht, dann hat das Security Maintenance Bureau ein Problem weniger. Was auch immer er ist, er ist den Behörden bestimmt lieber tot als lebendig.“ Darauf herrschte Schweigen. Die Menschen machten sich an ihre Arbeit. Doch anstatt zu beobachten, was sie trieben, betrachtete Divine genau den Jungen mit den leeren grünen Augen, der genau wusste, was ihm bevorstand. Seine Hände waren bereits fest zu Fäusten geballt. Das Gesicht hingegen war völlig entspannt. Die spröden Lippen schienen sogar leicht zu lächeln. Was dann geschah, passierte alles sehr schnell und unübersichtlich. Die Stromschläge erfassten ihn, er schrie. Zuerst platzten die Metallscharniere von ihm ab, dann die Gurte, schließlich explodierte der Generator. Zu exakt diesem Zeitpunkt waren bereits alle Menschen im Raum in Stücke gerissen. Alle bis auf einen. Der kleine Junge erhob sich und schleuderte, ohne sie auch nur zu berühren, mit einer einzigen Handbewegung die verschlossene Panzertür auf. Bevor er den Raum verließ, blieb er noch einmal kurz stehen und blickte zurück. Im Dunkeln konnte Divine gerade noch das Lächeln erkennen, das die weichen Züge des Kindes verzerrte, bevor es sich abwandte und verschwand. „Ich habe mich auf die Suche nach anderen wie mir gemacht“, sagte er. „Ich wusste, dass allen... normalen Menschen nicht zu trauen war.“ Er drehte sich um und ging weiter in die Dunkelheit. „In ihrer Welt ist kein Platz für uns. Sie verleugnen uns, vertuschen unsere Existenz, schaden uns, bringen uns um. Also schuf ich einen Platz nur für mich und meinesgleichen. Eine Welt, in der wir frei existieren konnten. Sie war nicht groß, beschränkt auf eine einzige Bewegung von Menschen, die nichts als Verzweiflung zusammenhielt. Aber sie wuchs. Und je mehr ich fand, desto mehr wurde mir klar, dass wir nicht machtlos waren. Wir waren den anderen, den normalen Menschen, nicht wehrlos ausgesetzt. Wir konnten verhindern, dass sie uns vernichteten. Denn eines ist sicher, über kurz oder lang: sie werden es tun.“ Er atmete tief ein. „Aber nicht, wenn wir sie zuerst vernichtet hätten.“ Sein Begleiter war wieder an seiner Seite und lauschte ihm aufmerksam. Er schien etwas jünger geworden zu sein. Sommersprossen sprenkelten seinen Nasenrücken und beide Wangen. „Und sie haben es verdient, dass wir sie vernichten.“ Divine ballte eine Hand zur Faust. „Nach allem, was sie uns angetan haben, nach all dem Schmerz, den wir ihretwegen ertragen mussten. Dafür konnte ich nur die Stärksten von uns brauchen. Also habe ich begonnen, eine Armee zusammenzustellen. Eine Armee, die für ihren Untergang sorgen sollte. Und für unsere Freiheit.“ Er seufzte. „Und ich war nur noch einen winzigen Schritt von der Vollendung meines Plans entfernt.“ Der Junge sah ihn an. „Bist du jetzt bereit für diese Tür?“ Divine betrachtete die noch unklare Erinnerung vor sich. Sie fand noch ein Stück früher in seinem Leben statt als die letzte. „Du weißt, was dich erwartet“, fügte der Junge hinzu. Eigentlich war er noch nie bereit für das gewesen, was ihn jetzt erwartete, und er wollte sich auch nicht daran erinnern. Aber er hatte nur die Wahl zwischen dem Weg und dem Ziel. Er nickte und schloss die Augen. Er fühlte eine Umarmung, weiches Haar und einen angenehmen Duft. Er wollte die Augen nicht öffnen. „Wach auf, Spatz!“, sagte eine Frauenstimme. „Wir sind wieder da!“ Angestrengt versuchte er, die Erinnerungen nur so schemenhaft wie möglich wahrzunehmen. „Nenn ihn nicht Spatz. Er ist doch kein Baby mehr“, murrte ein Mann. „Ich will nicht...“, murmelte Divine. „Wenn du nicht aufwachst, gibt es keine Geschenke.“ Divine musste innerlich leise lachen. Im Grunde war seine Geschichte der von Aki nicht unähnlich. Genau genommen lief es bei allen gleich ab. Alles begann mit dem ersten Duell. Er öffnete die Augen und sah sich um. Vor ihm ragte ein riesiges, mit Lichtern geschmücktes Haus aus der sternenklaren Nacht. Wahrscheinlich wirkte es auch nur so groß, weil er selbst noch so klein war. Er wurde aus dem Auto gehoben und stand auf einmal bis zu den Knöcheln im Schnee. Die Frau hielt ihn an der einen Hand, mit der anderen umklammerte er die Pfote irgendeines Stofftiers, als er sich auf den Weg zur Haustür machte. Innerlich seufzte Divine resigniert. Er würde in exakt 2.38 Sekunden tot sein, was hatte er schon noch zu verlieren? Die Erinnerung wurde auf seine stille Anweisung hin völlig klar. Der Schnee fühlte sich kalt an auf seiner Haut, er konnte jede Flocke einzeln spüren. Das Stofftier in seiner Hand stellte einen roten Fuchs dar. Er sah auf in das Gesicht seiner Mutter. Es war umrahmt von langem, rotbraunen Haar und ihren Augen spiegelte sich das Licht der Girlanden. Sie lachte, weil ihr Mann versuchte, die Geschenke so unauffällig wie möglich hinter ihnen herzutragen. Divine schluckte. Er hatte sie damals beide sehr geliebt. Das war wahrscheinlich nichts besonderes, jedes Kind liebt seine Eltern. Doch für ihn fühlte es sich merkwürdig an, in seiner Erinnerung wieder dieses Gefühl für sie zu haben, hatte er sie doch die meiste Zeit seines Lebens gehasst. Er hörte das vertraute knarrende Geräusch der alten hölzernen Treppenstufen unter ihren Schritten, erinnerte sich an den kalten Wind, bevor seine Mutter die Tür öffnete, das Licht anschaltete und ihn hineinführte. Dann zog sie ihm die Jacke aus. Sie strich ihm liebevoll durchs Haar und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Divine wandte den Blick ab. Er war überrascht, wie gut er diesen Abend noch in Erinnerung hatte. Jedoch nicht unbedingt positiv. Er wusste noch genau, wie es in der Stube gerochen hatte, wie die Kerzen am Weihnachtsbaum ausgesehen hatten und wie sich sein Vater anhörte, als er ihm sein Geschenk überreichte. Er erinnerte sich noch genau an jede einzelne Karte seines ersten Decks. Und an sein allererstes Duell. An die Schreie seiner Mutter, an das entsetzte Gesicht seines Vaters. Daran, wie er die Treppe hinuntergeschleift wurde, wie er hart auf dem Boden aufschlug und wie ihn mit einem Mal eisige Dunkelheit umfing. Der Kellerboden war steinern und kalt. Er schlug mit den Fäusten auf die Tür ein, schrie um Hilfe, bettelte, flehte. Doch keine Antwort. Nur manchmal hörte er das Schluchzen seiner Mutter. Am Anfang war die Dunkelheit angsteinflößend gewesen. Doch das veränderte sich mit der Zeit. Er hatte kein richtiges Gefühl mehr dafür, wie schnell sie verging. Vielleicht waren Tage vergangen, vielleicht Wochen, als er sie das erste Mal sah. Fratzen in den Schatten. Glühende Augen, grollendes Knurren. Die Dunkelheit war nicht mehr angsteinflößend, sie brachte ihn schlichtweg um den Verstand. Er hatte keine Stimme mehr, darum konnte er nicht schreien. Sie wurden seine Begleiter, bei Tag und bei Nacht. Er sah sie immer im Dunkeln, selbst heute noch. Die Angst vor ihnen und auch vor sich selbst machte ihn halb wahnsinnig. Er konnte nicht die Augen seiner Eltern vergessen, wie sie ihn angesehen hatten... wie sie ihn genannt hatten... Ein Monster... Als sei er eines von ihnen... Er musste Jahre dort unten verbracht haben. Seine Eltern ernährten ihn, indem sie ihm Essen durch die Tür schoben, als sei er ein Tier in einem Käfig. Am Anfang hörte er noch oft seine Mutter weinen und schrie nach ihr, und durch die Tür erkannte er die Stimme seines Vaters, die sagte „Das ist nicht unser Sohn, das ist ein Monster! Wenn es irgendjemand erfährt... dass unser Sohn vom Teufel besessen ist...“ Er verlor jegliches Zeitgefühl. Manchmal konnte er die Monster kontrollieren, oft nicht. Er fürchtete sie. „Ich habe erst sehr spät gelernt, meine Kräfte beherrschen. Bis zu dem Zeitpunkt haben sie mich beherrscht“, erklärte er. Er beobachtete jede einzelne Minute, die er sich im Keller des Hauses befunden hatte, und es waren unendlich viele. Eine halbe Ewigkeit durchlebte er noch einmal. Alles ging unter in der drückenden Dunkelheit und der Kälte. Er aß und schlief, aß und schlief. Irgendwann verlernte er das Weinen. Er verlernte, wie man lachte. Er vergaß die Gesichter seiner Eltern. Er bekam die Erinnerungen in der Finsternis nicht mehr zu fassen, und sie zerrannen ihm zwischen den Fingern wie Sand. Er verlernte Freude und Trauer. Alles was blieb war Angst, und ein Hass, der sich immer tiefer in seine Seele fraß. Doch nach Monaten oder Jahren, bemerkte er an einem Tag, dass er die Monster besonders gut beeinflussen konnte. Er sprengte die Tür auf. Sein Vater brachte keinen Ton hervor, denn er klebte zwischen ihr und der Wand. Der Junge konnte seine Mutter nicht genau erkennen, alles war unerträglich hell. „Mutter...?“, ächzte er. Von seiner Stimme war nichts als ein heiseres Krächzen geblieben. Die Frau fiel auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. Sofort warfen sich die Monster auf sie. Ihr Kopf fiel herunter, als habe man einer Puppe den Hals umgedreht. Menschen waren so zerbrechlich. „Mutter?“, fragte er noch einmal. Doch sie gab ihm keine Antwort mehr. Der Junge schaute auf sie herab, und für einen winzigen Moment überkam ihn das überwältigend starke Gefühl, als müsse er weinen. Doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Das Bild erlosch in der Dunkelheit wie eine Kerze. Divines Gesicht war völlig ausdruckslos, er wusste nicht, was er denken oder fühlen sollte. An all das hatte er sich seit Jahren nicht mehr erinnert. Er hatte versucht, es dieses Mal so pragmatisch und rational wie möglich zu durchleben. Er konnte unmöglich beschreiben, was er in diesen Jahren durchlebt hatte. Er wollte es auch nicht versuchen. Es war vorbei. Jetzt war alles vorbei. Nun beobachtete er sein Leben wie einen rückwärts gespielten Film an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Es war also wahr, was man sich erzählte, registrierte er am Rande seiner Wahrnehmung. Divine war sich zum wiederholten Male nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war. Es fühlte sich an, als hätte er Wochen in seinen Gedanken verbracht, oder vielleicht waren es auch Monate gewesen, Jahre, vielleicht Minuten. Er sah seinen Begleiter verschwinden, alles um ihn löste sich auf, verschwand wieder in gleißendem Licht während er seiner verblassenden Kindheit zusah, wie sie sich rückwärts abspielte. Er sah sich lachen, sah sich weinen. Ein ganz normaler Mensch mit einem ganz normalen Leben. Divine lächelte. Es blieb ihm keine Zeit mehr. Er wusste, es wurde ihm Unrecht getan. Und es gab auch eine Menge für ihn zu bereuen. Aber was hatte das jetzt noch für eine Bedeutung, wer im Recht und wer im Unrecht war? Es würde ihn weder retten noch ihm Erlösung oder Absolution erteilen. Er konnte nur auf sein Leben zurückblicken und es betrachten. Das war alles, was ihm noch blieb. ~~owari. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ AN: Ich hoffe, es hat gefallen :] Als Inspiration haben mir einige Songs von Depeche Mode gedient. Vor allem "Wrong" (◄◄◄ *riesiger großer fetter Leuchtpfeil draufzeig*), "Personal Jesus" und "Walking In My Shoes". Ich hab mir mit dieser FF ne Menge Mühe gegeben, weil Divine für mich ein sehr interessanter und vielschichtiger Charakter ist, den man nicht einfach mit einem "Haha, endlich ist der Blödmann tot!" abstempeln kann. Bin für Diskussionen und andere Meinungen immer offen, für Bashing allerdings nicht ;] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)