Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 011 – Schläge ------------- Es war heiß geworden. Unerträglich. Ich stand direkt neben dem Feuer, das meterhoch in den Nachthimmel züngelte. Meine Haut spannte von der Hitze. Ich musste schnell hier weg. Als ich mich umdrehte, erkannte ich zwei Gestalten, die nur wenige Meter hinter mir standen. Männer mit Hüten und hellen Hemden, auf denen dunkle Flecken im Feuerschein schimmerten. Sie sahen müde aus. Wie nach einem Kampf, den sie um Haaresbreite überlebt hatten, und starrten gebannt ins Feuer. Ich folgte ihren Blicken mit einem unerklärlich dumpfen Gefühl.  Schon bevor ich es sehen konnte, wusste ich, was mich erwartete: eine Frau. Mitten im Feuer stand sie und verbrannte vor meinen Augen. Katerina. Es konnte unmöglich sein, doch ich war mir sicher, dass sie es war. Meine Augen flogen über den Boden zu meinen Füßen. Ich musste etwas tun, bevor es zu spät war, und griff einen langen Ast, um den Scheiterhaufen zu zerstören. Keiner hinderte mich daran. Ich tat mein Bestes, das brennende Holz beiseitezuschaffen, um Katerina befreien zu können. Glühende Funken schlugen mir entgegen, hinterließen Löcher in Ärmeln und Rock und ich musste mich zusammenreißen, mich nicht abzuwenden. Nur für einen Augenblick fragte ich mich, warum mich die Männer nicht aufhalten wollten. Ich blickte zu ihnen hinüber, um mich zu vergewissern, dass sie noch dort standen. Es war kaum zu erkennen, erst als mein Blick klarer wurde, erkannte ich den Unterschied. Jemand anderes stand dort. Jemand den ich kannte. Christina? Mir wurde schwindelig bei Ihrem Anblick und ich wandte mich lieber der Hitze des Feuers zu, als sie länger ansehen zu müssen. Ich wollte weitermachen. Es ging nicht. Meine Hände waren festgezurrt an einen glühenden Pfahl, der aus der Mitte des Scheiterhaufens ragte, noch ehe ich mich hatte umdrehen können. In Sekunden fraß das Feuer mein Haar und meine Kleider und ich erstickte im Rauch, während die Flammen meine Haut verbrannten. Ich schrie vor Schmerz und jeder Atemzug brachte mich dem Tode näher als dem Leben. Gefesselt inmitten der wahrhaftigen Hölle und niemand wollte mich retten, ganz gleich wie laut ich um Hilfe rief. Ich war auf mich allein gestellt und meine Möglichkeiten waren begrenzt. Ohne Hilfe würde ich verbrennen. Ich zitterte und um mich herum begann es zu beben. Es erschütterte mich und der Schmerz ließ langsam nach. "Bist du endlich wach?" Sofia sah mich mit sorgenvollen Augen an und löste ihre Hände von meinen Schultern. "Du hast das Haus beinah zusammengeschrien ... Geht es wieder?" Mein Mund war trocken, meine Lunge brannte und ich spürte den Kloß, der sich in meinem Hals breitmachte. Ich nickte. "Das war jetzt das zwölfte Mal." Sofia seufzte und reichte mir ein Glas Wasser, wie sie es immer tat, wenn ich mitten in der Nacht von ihr aus einem Alptraum geweckt wurde. "Was war es diesmal?" "Katerina." Meine Stimme war rau und ich hatte Mühe meine Fassung aufrechtzuerhalten. "Schon wieder?" Es war schon das fünfte Mal gewesen, dass ich an Katerinas Stelle auf dem Scheiterhaufen gebrannt hatte. Es begann jedes Mal anders und endete doch immer gleich. Wenn es nicht der Scheiterhaufen war, so stieß man mich über eine Klippe oder in einen Brunnen, nachdem man mich gejagt hatte. Der schöne Traum, den ich in meiner ersten Nacht in diesem Haus hatte, war der Einzige gewesen. Seitdem folgte ein Alptraum dem nächsten, und wenn es schlecht lief, so musste ich mich alleine damit herumquälen. Sofia nahm das Glas aus meiner Hand und sah mich mitleidig an, während ich Tränen aus meinem Gesicht wischte. "Ich werde mir etwas einfallen lassen, damit du zukünftig ruhiger schlafen kannst." "Danke ..." Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sofia tatsächlich eine Lösung einfallen würde. Dennoch war ich dankbar, dass sie sich um mich sorgte. Und das, obwohl sie zur Zeit nichts als Probleme mit mir hatte. Nachts schrie ich, tagsüber saß ich nutzlos im Salon oder in meinem Zimmer, weinte gelegentlich ohne Grund und trug nicht das Geringste zu einem annehmbaren Zusammenleben bei. Ezra war das Ganze offenbar zu viel geworden. Ich hatte ihn seit meinem Einzug nicht mehr gesehen. Auch Magdalena konnte nicht den ganzen Tag über meine Hand halten. Sie hatte viel zu tun und ich vermisste ihre Geschichten. "Versuch noch ein wenig zu schlafen. Es ist erst zwei Uhr", verabschiedete sich Sofia und verschwand aus meinem Zimmer. Ich konnte nicht von ihr erwarten, dass sie bei mir blieb, wenngleich ich etwas Gesellschaft gut hätte gebrauchen können. Ich rutschte zurück unter meine Bettdecke und begann Löcher in die Luft zu starren. Alles war besser, als wieder zu träumen, also zwang ich mich, wach zu bleiben und lauschte auf die Geräusche, die mich umgaben. Es war still. Nachdem Sofias Schritte verklungen waren, konnte ich den Wind hören, der leise um die Ecken des Hauses strich. Die Uhr an meiner Wand tickte und meine Lider wurden schwerer. Ich setzte mich wieder auf und starrte eine Weile zur Tür. Unten im Salon lagen die Hunde. Es waren nur ein paar Stufen. Ich wickelte mich in meine Decke und ging eilig hinunter. Isaak und Yasha blinzelten mich müde an, als ich mich zu ihnen legte, doch ließen sie mich ohne Widerstand gewähren. Im Kamin glühte es noch schwach, während ich zur Ruhe kam. Der Fußboden war nicht halb so bequem wie mein Bett und trotzdem wollte ich in diesem Moment nirgendwo anders sein, als zwischen diesen beiden Tieren. Ich gestattete mir schließlich die Augen zu schließen und hoffte, dass die Hunde meine Alpträume fernhalten würden, als ich in der Etage über mir Schritte hörte. Jemand ging den Flur entlang Richtung Treppe. Mir wurde unwohl bei dem Gedanken, dass sich irgendjemand im Haus herumtrieb. Ich wurde hellhörig, als die Schritte verstummten, nachdem sie ins zweite Stockwerk gegangen waren. Jemand klopfte an eine Tür und es dauerte nicht lange, bis diese geöffnet wurde. "Können wir kurz reden?" Es war Ezras Stimme. Er sprach leise und war nur mit Mühe zu verstehen. Er musste vor Sofias Zimmer stehen, wenn meine Ohren mich nicht täuschten. "Natürlich. Worum geht es?" Ich hatte mich nicht verhört: Es war Sofia. "Megan." Dann wurde die Tür geschlossen und ich konnte nichts mehr verstehen. Um mich ging es also. Ich war sofort hellwach und meine Gedanken begannen wild umeinander zu kreisen. Was wollte er mit Sofia besprechen? Sicher war er es leid, dass ich ihm jede Nacht mit meinem Geschrei den Schlaf raubte. Vielleicht würde Sofia mich jetzt doch zurück auf die Straße setzen. Nervös begann ich Yashas Ohr zu kraulen. Ich wartete und mein Herz pochte laut gegen meine Rippen. Es dauerte ewig. Zehn Minuten, fünfzehn, vielleicht auch zwanzig, bis die Tür oben sausend aufgerissen wurde. "Du bist wahnsinnig, Sofia!" "Halt den Mund! Das geht dich nichts an." Auch Sofias Tonlage war angespannt. Das hatte ich noch nie bei ihr gehört. "Wie du meinst. Aber sie ist schwach und vollkommen ungeeignet und das weißt du auch." Beide schwiegen, bis Ezra fortfuhr: "Unternimm etwas, bevor ich es tue!" "Verschwinde jetzt!" Es klang beängstigend, wie das Knurren eines Hundes und ließ mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Die Unterhaltung war damit beendet und Ezras Schritte halten durchs Treppenhaus. Ich versteifte mich unwillkürlich. Er verließ die zweite Etage und kam eilig hinunter ins Erdgeschoss, wo ich ihn aus dem Salon heraus erschrocken ansah. Seine Miene war kalt, kälter als sonst, und ich meinte sie hätte sich weiter verdunkelt, als er eilig die offene Tür zum Salon passierte, um das Haus zu verlassen. Ich zuckte zusammen, als er die Tür mit einem lauten Knall hinter sich schloss. Bevor ich es tue! Das klang, als würde er mich loswerden wollen. Egal wie. Ein beängstigender Gedanke. Das und meine unverändert armselige Situation ließen mich zweifeln. An meiner Entscheidung, Sofia zu begleiten, an der Sicherheit, die dieses Haus mir vielleicht bieten konnte und nicht zuletzt an mir selbst und ob ich Sofias Anforderungen überhaupt genügen konnte. Wahrscheinlich war ich völlig fehl am Platz. Ich hatte gehofft, es würde mir hier bald besser gehen, aber das tat es nicht. Stattdessen ging ich allen auf die Nerven mit meinem Geheule. Es tat mir leid und ... ich wollte es nicht und trotzdem musste ich wieder weinen. Schon wieder. Ich weinte, weil ich weinte. Weil ich schwach war und nichts dagegen tun konnte. Ich war erbärmlich, das wusste ich. Es schnürte mir die Brust zusammen, dass ich jeden Tag und jede Nacht aufs Neue meiner Traurigkeit nachgab. Manchmal waren es nicht die Erinnerungen, nicht mein gebrochenes Herz, nicht die Schuld, die auf mir lastete, die mich zum Verzweifeln brachten, manchmal war ich es einfach selbst. Ein Spiegel, eine Fensterscheibe oder einfach nur meine Gedanken ... in einem schwachen Moment konnte mich alles aus der Bahn werfen und schwache Momente gab es viele. Jetzt war so ein Moment und aus einem Moment wurden lange Minuten, in denen ich mich meinen Gefühlen einfach hingab, bis die Müdigkeit mich endlich erlöste. —   Einige Stunden später weckte mich das leise Scheppern von Töpfen, das aus der Küche drang. Magdalena bereitete das Mittagessen zu. Frühstück gab es seit Tagen nicht mehr. Ich schlief zu lange, um dafür Zeit zu haben. Meine nächtlichen Wachphasen hatten meinen Schlafrhythmus sehr durcheinandergebracht. Als ich mich aufsetzte, waren Yasha und Isaak schon nicht mehr da. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie aufgestanden waren. Magdalena kam zu mir in den Salon, als ich mich gerade aufs Sofa gesetzt hatte. "Bist du in Ordnung?" "Es geht schon, danke." "Das wird überhaupt nicht besser ..." Auch Magdalena war es nicht entgangen, dass meine Situation nicht die beste war. Sie hörte mich genauso wie die anderen jede Nacht und sah mich täglich, wie ich lethargisch herumhockte. "Es tut mir leid. Ich gehe euch auf die Nerven." "Nicht doch, bitte, du brauchst dich nicht entschuldigen. Ist schon in Ordnung." Ich stimmte schweigend zu. "Soll ich dir einen Tee machen? Oder dir etwas Gesellschaft leisten?" "Nein." Ich wusste, dass Magdalena nach wie vor viel zu tun hatte. "Mir geht es gut." Sie nickte seufzend. Natürlich wusste sie, dass es mir nicht gut ging, doch sie akzeptierte mein Nein und verschwand aus dem Salon. Ich hatte sie schon häufiger abgewiesen, um nicht direkt vor ihren Augen meine nur allzu zerbrechliche Maske zu verlieren. Ich rieb mir die Augen und beschloss mich etwas frisch zu machen, um wenigstens nicht so elend auszusehen, wie ich mich fühlte. Auf dem Weg nach oben kam Betty mir entgegen. Sie maunzte mich vergnügt an und brachte mich für einen kurzen Moment zum Lächeln. Ein Kunststück. Ich hob sie hoch und nahm sie mit mir. Da Ezra tagsüber für gewöhnlich in der Stadt war, konnte ich mir erlauben, seine Katze für ein paar Stunden in Beschlag zu nehmen. Ich hatte das kleine Fellbündel fest im Blick, als ich oben um die Ecke bog, um ins Badezimmer zu gehen. Ein harter Aufprall, direkt hinter der Ecke, ließ mich die Luft anhalten. Betty zappelte sich hektisch aus meinen Armen und mein Herz schlug mir augenblicklich bis zum Hals. Vor mir stand eine junge Frau, die sich bei Weitem schneller wieder beruhigte, als ich es konnte. Innerhalb von Sekunden waren mir Tränen in die Augen geschossen. Ich spürte den Klos in meinem Hals, den ich nicht wieder hinunterschlucken konnte. "Entschuldige", sagte die Frau, "Geht es dir gut?" Ich war erstarrt. Die braunen Augen der Frau waren unsicher auf mein Gesicht gerichtet, über dessen Wange langsam eine Träne rollte. Ich wollte, dass sie einfach verschwand und mich alleine ließ. "Du kannst gehen, Fay." Es war Ezra. Die Frau – Fay – wandte sich kurz zu ihm um. "Jawohl." Sie nickte und verabschiedete sich von mir mit einem entschuldigenden Lächeln. Ich stand noch immer reglos im Flur, während Ezra aus dem Zimmer trat, das für gewöhnlich verschlossen war, und sich mir näherte. Er blieb vor mir stehen und streckte eine Hand nach mir aus. Ich zuckte zurück. "Wegen einem Zusammenstoß kannst du nicht anfangen zu weinen", wies er mich ganz nüchtern darauf hin, dass ich überreagierte. Ich wusste, dass er recht hatte, es war mir egal. Mit Ezra wollte ich noch viel weniger sprechen, als mit dieser Frau, die ich nicht kannte. Er sollte mich in Ruhe lassen, mir aus dem Weg gehen, wie er es die letzten Tage auch getan hatte. Wieso war er heute überhaupt zu Hause? "Reiß dich endlich zusammen. Du bist kein kleines Kind mehr." "Es passiert einfach", sagte ich schließlich, "ich kann nichts dafür." Meinen Blick hatte ich fest auf den Boden geheftet. Auch wenn er mein verheultes Gesicht sowieso nicht sehen konnte, fühlte ich mich nicht in der Lage, ihn anzusehen. "Wenn du meinst. Dann gib nächstes Mal besser Acht, wohin du läufst." Ich nickte und fügte schließlich ein zaghaftes "Ja" hinzu, da Ezra auf das Nicken nicht reagierte. Er sagte nichts mehr. Stattdessen griff er nach meinem Arm und es brannte wie Feuer. Ich versuchte ihn wieder loszureißen. Wollte er mich jetzt schon loswerden? War seine Toleranzgrenze schon erreicht? Ich bekam es mit der Angst zu tun. "Lass mich!", schrie ich ihn an. Er war viel zu stark für mich und hätte er gewollt, er hätte mir sonst etwas antun können, doch er ließ los. "Du solltest es desinfizieren und verbinden." "Was?" Mein Atem ging schnell. Ich wusste nicht was er meinte, denn mein Gehirn war zu sehr damit beschäftigt, sich einen Fluchtweg zu überlegen, als dass es ihm hätte folgen können. "Du blutest." Ezra hielt seine Hand hoch, mit der er nach meinem Arm gegriffen hatte. An seinen Fingern glänzten rote Flecken. Ich sah hinunter auf meinen Arm. Betty hatte einige tiefe Spuren hinterlassen, als sie geflüchtet war. Das war mir noch gar nicht aufgefallen und erst jetzt merkte ich, wie sehr es auch ohne Ezras Hand brannte. "Oh ..." Ich wurde ruhiger, während ich meinen Arm betrachtete. Ezra ging wortlos ins Badezimmer und ich hörte den Wasserhahn, unter dem er sich mein Blut von der Hand wusch. Ich atmete tief durch und gab mir Mühe, solange ruhig zu bleiben, bis Ezra wieder in seinem Zimmer verschwunden war. Volle fünf Minuten stand ich dort, ohne mich zu rühren. Die ganze Zeit über eisern mit mir kämpfend, dieses Mal nicht in Tränen auszubrechen. Erst nach einer Weile ging es wieder. Ich schämte mich dafür, so leicht erschüttert worden zu sein und wollte nichts mehr, als mich in meinem Zimmer zu verstecken. Nur musste ich zuvor noch einmal nach unten, um Magdalena nach meinem Arm sehen zu lassen. Ich steuerte die Küche an und fand dort mehr als ich wollte. Am Tisch saß die junge Frau von eben. Fay. Sie saß vergnügt über einem Teller von Magdalenas wunderbaren Aufläufen und schien sich prächtig mit der Köchin unterhalten zu haben, bis ich aufgetaucht war. "Möchtest du auch etwas essen?", fragte Magdalena. Ich schüttelte den Kopf, mir war nicht nach Essen. Am liebsten wäre ich sofort wieder gegangen, doch das ging nun nicht mehr, da beide mich erwartungsvoll ansahen. Ich hielt meinen Arm hoch und hoffte, dass Magdalena auch ohne Worte verstand, was ich von ihr wollte. Sie sah mich erschrocken an. "Was ist denn mit dir passiert?" "Das war wohl meine Schuld", erklärte Fay und sah mich mitleidig an. "Entschuldige nochmals." Ich musste mich kurz sammeln, bevor ich etwas sagen konnte. "Schon gut ... nur ein paar Kratzer." Dann wandte ich mich mit meiner Bitte an Magdalena: "Könntest du mir bitte eben helfen?" Magdalena, die gerade mit dem Abwasch beschäftigt war, sah mich unsicher an. Ihre Hände waren nass und seifig, außerdem war sie beschäftigt. "Ich kann das machen!", bot Fay mir ihre Hilfe an.  Gerne hätte ich widersprochen, doch Magdalena bedankte sich bereits und erklärte Fay, wo sie alles finden würde. Ich folgte der fremden Frau in den Salon und nahm auf dem Sofa Platz, während sie einen kleinen Koffer aus dem Schrank holte. "Freut mich, dass wir uns auch endlich kennenlernen. Auch wenn die Umstände nicht ganz ideal waren." Fay tupfte mit einem Wattebausch über meinen Arm. Ich blieb angespannt und nickte nur knapp. Sie machte einen netten Eindruck, trotzdem war mir die Situation unangenehm. "Ich bin Fay." "Megan." "Ja, ich weiß. Magdalena hat mir schon von dir erzählt, als ich das letzte Mal hier war." "Das letzte Mal?" Ich überwand mich, sie nun doch anzusehen. "Kurz nach eurer Rückkehr. Du hast geschlafen, deswegen hat man uns einander noch nicht vorgestellt." "Verstehe." Fay wickelte einen Verband um meinen Arm und verkündete fröhlich, dass sie nun fertig war. Ich dankte ihr und schwieg weiter vor mich hin. "Nächstes Mal bin ich vorsichtiger, wenn ich um Ecken biege", versprach sie mit einem Lächeln. "Dann bist du öfter hier?" Es war das Einzige, was mich interessierte. Fay überlegte. "Könnte man wohl so sagen ... So ein- bis zweimal im Monat bin ich hier. Es kommt immer darauf an, wie-" Magdalena unterbrach sie: "Die Kutsche ist da." Sie räusperte sich. "Ich fürchte, du musst jetzt gehen, Fay." Sie warf Magdalena einen kurzen Blick zu und erhob sich eilig vom Sofa. "Bin schon ... huch ..." Sie taumelte leicht zur Seite und ich packte ihren Arm, noch ehe ich darüber nachdenken konnte. "Alles in Ordnung?" Fay hatte sich wieder gefangen, rieb ihre Stirn und ich ließ sie los. "Alles gut", lachte sie, "nur der Kreislauf. Ich bin zu schnell aufgestanden. Danke fürs Festhalten!" Ich nickte und Fay verabschiedete sich hastig. Die Tür fiel ins Schloss und ich wandte mich Magdalena zu, die uns aus der Küche beobachtet hatte. "Wer war das?" "Fay." "Ich weiß, aber warum war sie hier?" Magdalena war ungewöhnlich still. Normalerweise erhielt ich ausschweifende Antworten auf fast alle meine Fragen. Sie seufzte leise, während sie ihr Geschirrtuch zusammenfaltete. "Sie kommt gelegentlich vorbei und leistet Ezra Gesellschaft." "Gesellschaft?" "Ja." Ich sah sie weiterhin fragend an. Warum war sie so kurz angebunden? War es ein Geheimnis? "Es tut mir leid, Megan, ich kann dir nicht mehr sagen. Ezras Angelegenheiten gehen mich nichts an. Wenn du mehr wissen möchtest, musst du ihn selbst fragen." "Schon gut." Wenn es Magdalena nichts anging, dann würde es auch mich nichts angehen. Ich hatte zwar eine Vermutung und hätte gerne gewusst, ob ich richtig lag, doch allzu neugierig wollte ich nicht sein, also ließ ich es bleiben und machte mir selbst meine Gedanken, welche Art von Gesellschaft Fay Ezra leistete. Ob sie eine Hure war? Ich hatte angenommen, Huren sähen anders aus. Schmutziger. Möglicherweise war sie keine. Magdalena ging zurück ans Waschbecken und beendete ihre Arbeit. Ich legte etwas Holz nach, dann ging ich nach oben, um mich endlich zu waschen. Es war wieder still geworden und mit jeder Sekunde, in der meine Gedanken wanderten, fühlte ich mich unwohler in meiner Haut. Ich war so dumm. Fay schien eine nette junge Frau zu sein und ich war einfach nur unhöflich und dämlich gewesen. Ich hasste es, dass ich mich nicht zusammenreißen konnte, dass ich mich so sehr verändert hatte. Selbst das Gesicht im Spiegel war mir fremd geworden. Es sah anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Alt und abgemagert, mit dunklen Ringen unter den vom Weinen geröteten Augen. Es war hässlich. Alles, was ich darin sehen konnte, war abstoßend und ich fragte mich, wie mich jemals ein Mensch hatte schön finden können. Wahrscheinlich hatten sie das nie ... Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus, dann brachte ich die Morgentoilette zu Ende und verschwand so schnell es ging aus dem Badezimmer. Ich musste hier raus, nicht nur aus dem Bad, nein, aus dem Haus. Ich wollte an die Luft, dahin wo mich niemand hören würde und wo ich niemandem auf die Nerven ging. Ich schlüpfte eilig in meinen Mantel und ging zur Tür hinaus. Es war das erste Mal seit meinem Einzug, dass ich hinaus ging und es tat mir unheimlich gut. Ich spazierte querfeldein über die Wiesen, die sich hinter dem Haus erstreckten. Yasha und Isaak hatten sich mir angeschlossen und wir liefen stundenlang ziellos durch die Gegend. Es war so angenehm, niemandem unverhofft zu begegnen, mich nicht für meine Schwäche erklären und entschuldigen zu müssen und einfach nur zu laufen.  Erst spät am Abend kamen wir zurück, durchgefroren und erledigt aber dennoch zufrieden. "Da bist du ja endlich", begrüßte mich Sofia, die bereits im Salon auf mich gewartet hatte. "Wo warst du?" "Spazieren. Ich musste etwas an die Luft." Sie winkte mich zu sich und bat mich, mich zu setzen. "Dir geht es besser." "Ja, ein bisschen." "Das freut mich!" Sie wirkte erleichtert. "Ich fürchtete schon, dich demnächst an einem Baum hängen zu sehen." "... Nein, das könnte ich nicht." Sie sah mich prüfend an. "Du hast es schon einmal versucht." "Das war anders ..." Ich verknotete meine Hände fest ineinander und blickte starr auf die Teekanne, die auf dem Tisch stand. Das kleine bisschen Leichtigkeit, das mir der Spaziergang beschert hatte, war wieder verschwunden und Sofia schien nicht zu bemerken, dass ich nicht im Geringsten Lust auf ein solches Gespräch hatte. "Was war anders?", fragte sie ungeniert weiter. "Die Situation. Ich war verzweifelt." Ich gab mir Mühe so ruhig wie möglich zu antworten. "Warum?" Ich schwieg. "Megan?" "Ich will darüber nicht sprechen." Die Erinnerungen wollten sich wieder zurück in meinen Kopf drängen und ich biss die Zähne fest zusammen, um das zu verhindern. Ich wurde zunehmend unruhiger, während ich Sofias Blicke auf mir spürte. "Ich will das nicht", wiederholte ich meine Worte, um Sofia davon zu überzeugen, dass sie nicht weiter fragen sollte. Sie wusste schon genug und ich konnte nur hoffen, dass sie es verstehen würde. "In Ordnung. Wenn du noch nicht bereit bist, dann muss ich das akzeptieren." Sie seufzte leise und stellte ihre Tasse auf den Tisch. "Ich hatte angenommen, dass es gut für dich wäre, wenn du dich jemandem anvertrauen könntest, anstatt dich alleine durch deine Probleme zu kämpfen. Ich bin gerne für dich da, wenn du reden möchtest." "Danke ... ich werde darüber nachdenken." Ich war sicher, dass ich es nicht tun würde. Ich wollte nicht darüber sprechen, mit niemandem, ich wollte es einfach nur vergessen, aber das konnte ich nicht, wenn man mich immer wieder darauf ansprach. Schon jetzt flackerten die Bilder an meinem inneren Auge vorbei, obwohl ich kein Wort darüber verloren hatte. Meine Beine wurden weich und ich spürte, wie mein schwarzes Loch an mir zu zerren begann. "Ich habe mir noch etwas anderes für dich überlegt", warf Sofia unerwartet zwischen mich und meinen Abgrund. "Wenn du nicht mit mir sprechen möchtest, dann ist das wahrscheinlich genau das Richtige für dich!" Ich sah sie fragend an und sie erhob sich. "Du wirst dich körperlich ertüchtigen! Das wird dich auf andere Gedanken bringen und du wirst danach gewiss besser schlafen." Sie ging einige Schritte zu einer Kommode und brachte mir ein Stoffbündel, das darauf abgelegt worden war. Körperliche Ertüchtigung? Das war vielleicht gar keine schlechte Idee. Etwas Bewegung würde mir sicher nicht schaden. Ich entfaltete das Bündel in meinen Händen. "Eine Hose?" "Natürlich. Oder dachtest du, du wirst mit Rock trainiert?" "Nun ... ja." Sofia lachte herzlich und wies mich an, die Hose gleich anzuziehen. "Sie passt nicht", erklärte ich trocken, nachdem ich sie hochgezogen und geschlossen hatte. "Sie passt." Sofia widersprach mir und schmunzelte zufrieden. "Sie ist zu eng." "Nein, du bist es bloß nicht gewohnt. Das vergeht mit der Zeit." Ich atmete tief durch. "Ist gut." "Dann kann es jetzt losgehen!" Sie wandte sich zum Treppenhaus und begann lauter zu sprechen: "Ezra! Sie ist fertig!" Ich fuhr herum. Wieso Ezra? Mein Puls war in die Höhe geschnellt. "Keine Sorge, er ist ein guter Lehrer." Das beruhigte mich nicht. Ich wusste nicht, was das plötzlich sollte und was mir nun bevorstand. Ich hörte seine Schritte und es dauerte nicht lange, bis er vor uns auftauchte. Kühl und distanziert wie immer. "Aber ich dachte ..." Ich hatte angenommen, Sofia würde mir zeigen um was es ging. Was auch immer es war, ich wollte es nicht mit Ezra tun. Er selbst wirkte ebenso wenig erfreut darüber, mir etwas beibringen zu müssen und das machte es noch schlimmer. "Viel Spaß euch beiden", verabschiedete sich Sofia vergnügt und schob mich in Ezras Richtung. "Nein, aber ich will-" "Komm jetzt." Ezras Tonfall war hart, als er mich aufforderte, mit ihm zu kommen. Alles in mir sträubte sich, doch mir blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzulaufen, als er die Tür zum Keller öffnete und nach unten verschwand. Ich atmete tief durch, sammelte all meinen Mut zusammen, nahm die Öllampe vom Haken im Flur und stieg hinunter in die Kälte. Wir passierten einige Regale voller Vorräte. Alles mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Ezra führte mich zu einer weiteren Tür und ließ mich in einen zweiten Raum treten. Ich konnte nichts sehen, nur kahle Wände und Sand am Boden. "Unser Übungsraum", erklärte Ezra und schloss die Tür hinter sich. "Geh die Lampen anzünden." Er stand wartend, mit verschränkten Armen, neben dem Eingang, als ich mich zu ihm umdrehte. "Was tun wir hier?" Die Frage quälte mich und ich brauchte dringend eine Antwort. "Selbstverteidigung, damit du stärker wirst." Ich musste es mir kurz durch den Kopf gehen lassen. Für Ezras Geschmack offenbar zu lang, denn er fuhr fort: "Damit du nicht mehr so hilflos bist." Hilflos? Es hörte sich nicht schön an, wie er das sagte, doch ich musste mir eingestehen, dass er recht hatte. Gerade jetzt, in dieser Situation spürte ich es ganz deutlich. "Ich bin nicht sicher, ob ich das kann." "Deswegen sind wir hier. Jetzt entzünde die Lampen." Ich befolgte seine Anweisungen und brachte Licht in den großen Raum, dann stellte ich die Lampe auf einen kleinen hölzernen Tisch, der sich im Dunkeln verborgen hatte. Ezra hatte sich zur Mitte des Raumes begeben und wartete dort auf mich. Ich schluckte und näherte mich ihm zögerlich. Ich hatte Angst vor dem was jetzt passieren würde, auch wenn ich nicht einmal wusste, was es war. "Wir beginnen mit etwas Leichtem", verkündete er, als ich vor ihm stand, "Rechts- oder Linkshänder?" "Rechts." Er hob seine linke Hand. "Schlag in meine Hand." Ich betrachtete seine offene Handfläche. Ich sollte ihn schlagen? "Worauf wartest du?" "Entschuldigung!" Ich musste mich zusammenreißen. Auf keinen Fall wollte ich ihn verärgern, also ballte ich meine Hand zur Faust und schlug zu. Sein Arm bewegte sich keinen Millimeter. Er forderte mich zu einem festeren Schlag auf und ich tat mein Bestes. Diesmal fing er meine Faust und hielt sie fest. "An deiner Schlagkraft musst du noch arbeiten. Und nimm den Daumen nach außen, sonst brichst du ihn dir." "Oh ... in Ordnung." Er lockerte seine Finger, die meine Hand umfasst hatten, und zeigte mir, wie ich eine anständige Faust machte. Dass er von meinen Schlägen nicht beeindruckt sein würde, hatte ich erwartet. Ich war schließlich weder kampfsporterfahren, noch überhaupt besonders aktiv und ich kam mir komisch dabei vor, in seine Handfläche zu schlagen. Ich fühlte mich unwohl dabei und es wäre mir tausendmal lieber gewesen, hätte ich das mit Sofia machen können. "Noch mal." Ich schlug meine Faust erneut in seine Hand. "Mit mehr Motivation", forderte Ezra und ließ mich noch einige Male zuschlagen. "Du nimmst es nicht ernst", stellte er nach einigen Schlägen mit meiner Linken fest. "Nein, ich ... es tut mir leid, ich komme mir dabei nur merkwürdig vor. Es ist neu für mich." "Danach fragt auf der Straße aber niemand." Richtig. Trotzdem konnte ich mich nicht überwinden und Ezra ging zu einem anderen Programmpunkt über. "Ich werde dir später einen Sandsack aufhängen, damit kannst du üben, wenn ich nicht da bin." "Ja, das werde ich", versprach ich. Ezra zeigte mir einige Griffe, mit denen ich einen Angreifer kurzzeitig aus dem Konzept bringen konnte, um fliehen zu können. Es war merkwürdig. Obwohl Ezra sich mir gegenüber sehr neutral verhielt, fühlte ich mich schlecht. Ich konnte nicht verdrängen, was er zu Sofia gesagt hatte, dass ich unfähig war und dass er etwas unternehmen würde, wenn sich nichts änderte. "Hast du das so weit verstanden?" "Ja." Ich hoffte es verstanden zu haben. In der Theorie war es nicht allzu schwer, nur die Praxis machte mir Sorgen. Wir gingen die Bewegungsabläufe langsam und Stück für Stück durch. Verschiedene Szenarien, Frontalangriff und Überraschungsangriff von hinten, oder von der Seite. Es war viel zu merken, einiges verstand ich nicht, doch ich wollte ihn nicht bitten, es mir noch einmal zu erklären. "Ich werde jetzt versuchen dich anzugreifen", erklärte Ezra, nachdem er mir eine gefühlte Stunde lang gezeigt hatte, welche möglichen Abwehrmethoden es gab. "Konzentriere dich." Ich versuchte mir alle Bewegungsabläufe noch einmal in Erinnerung zu rufen. Ich wusste, dass mir einiges entfallen war, aber es würde schon gut gehen. "Es kann losgehen." Ich machte mich bereit. Ezra kam auf mich zu. Er bewegte sich viel schneller, als während unserer Proben und meine Gedanken fingen an, wild umeinander zu springen. Ich wusste nicht mehr, was zu tun war. Er war bei mir und griff nach meinen Armen, noch bevor ich reagieren konnte. Er hielt mich fest und Panik stieg in mir hoch. Es fühlte sich plötzlich echt an und ich wollte meine Arme losreißen, doch er war zu stark. Mir wurde heiß und ich konnte kaum mehr atmen. Er war mir plötzlich so nah und seine Berührungen drehten mir den Magen um. In meiner Nase brannte der beißende Geruch von Schnaps gemischt mit Leder. Ich wurde auf den Tisch geworfen und er drückte meine Luftröhre zusammen. Mein Körper war wie gelähmt, ich stand unter Schock und konnte nichts tun, als er meine Bluse zerriss. Er lag auf mir wie Blei, genauso giftig und tödlich und in meinen Ohren hallten die zwischen Ohrfeigen die hässlichsten Schimpfwörter, die ich je gehört hatte. Ich wollte sterben, nur um zu entkommen. Diesmal konnte ich nicht fliehen, ich war zu schwach, um ihn noch einmal zu töten. Er würde bekommen was er wollte. Er hatte mich so weit gebracht, dass ich aufgeben musste. Ich konnte ihm nicht entkommen. Michaels Vater packte mich fest an den Schultern. Er begann mich zu schütteln und das kleine Bisschen Mageninhalt, dass ich in mir hatte, bahnte sich seinen Weg aus mir heraus. "Hast du gerade ...?" Ezra klang entsetzt. Ich wusste überhaupt nicht mehr wo ich war, als ich die Augen wieder öffnete. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich schwitze, während mir kalte Schauer über den gesamten Körper liefen. Ezra kniete vor mir auf dem Boden und hatte seine Hände an meine Schultern gelegt. Ich stieß mich von ihm fort und rutschte hastig zurück. Meine Sicht trübte sich und ich schlag die Arme fest um meinen Körper. Es war die realste Erinnerung gewesen, die mich je heimgesucht hatte. Mir war noch immer übel und ich war unfähig das Zittern abzustellen, das mich befallen hatte, obwohl ich wusste, dass es nicht echt gewesen war. Ich war unversehrt und fühlte mich dennoch wie in der Nacht, als der Schuster mich überfallen hatte. "Steh auf." Ezra war herübergekommen und hielt mir seine Hand hin. Ich starrte sie nur an, regungslos. "Worauf wartest du? Ich bleibe nicht ewig hier stehen." "Entschuldige ...", brachte ich unter Tränen hervor. "Du brauchst dich nicht entschuldigen. Gib mir deine Hand und lass uns mit etwas anderem weitermachen." Weitermachen? Wie konnte er jetzt noch ans Weitermachen denken? Ich war fassungslos. Ezra schien es egal zu sein, dass ich mich quälte, es interessierte ihn nicht, was mit mir geschehen war und warum ich so schwach war. Mein zukünftiges Ich war es, an dem er arbeiten wollte und ich gab ihm meine Hand, dass er mich hochzog. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)