Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 025 – Merry Christmas and a Happy New Year ------------------------------------------ Ich behielt es für mich. Sofia erhielt das vorletzte Kapitel und ich verwahrte das Letzte sicher in meinem Schreibtisch. Nicht ein Wort war über meine Lippen gekommen, dass es fertig war, zu niemandem. Es war ein Geheimnis. Die Zufriedenheit über den Abschluss meiner Geschichte entwickelte sich schnell zu einer unangenehmen Leere. Ziellose und langweilige Monate. Ich füllte sie mit Büchern, Gesprächen, Alltag und gelegentlichen Ausflügen nach Pierre. Das tat ich regelmäßig, wie ich es Amanda versprochen hatte, um nach dem Rechten zu sehen. Es ging ihr gut, ihr Cousin hatte sich beruhigt und ich war froh, dass sie sich schnell erholt hatte.   Mit einer Tasche voll Lebensmittel kam ich zurück nach Hause – Magdalena hatte mich um den Einkauf gebeten. Schon vor der Tür fiel mir auf, dass sich drinnen etwas Außergewöhnliches zutrug. Ich hörte Musik. Weihnachtsmusik – das gab es gewöhnlich nicht. Umso erstaunlicher war es, dass nicht Magdalena dahinter steckte. „Was ist hier los?“, fragte ich verblüfft, nachdem ich sie in der Küche antraf. Magdalena zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was plötzlich in sie gefahren ist. Sie feiert Weihnachten eigentlich nicht.“ Sofia stolzierte mit einem großen Korb voll weihnachtlicher Dekoration durch den Salon und verteilte Engel und Sterne überall im Raum. Ein imposantes Schauspiel. Magdalena und ich beobachteten sie durch den Flur. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie uns bemerkte. „Ist etwas?“, fragte sie und kam herüber. „Du summst Weihnachtslieder. Wir machen uns Sorgen“, klärte ich sie auf. „Mögt ihr es nicht?“ Komisch, dass sie das fragte. „Schon“, antwortete Magdalena. „Dass du es magst, das wundert uns.“ „Manchmal tut ein wenig Abwechslung einem gut“, erklärte Sofia ihre plötzliche Begeisterung und drückte mir ihren Korb in die Hand. „Hier, du kannst den Rest verteilen.“ Sie ließ uns ratlos zurück und rief ihre Hunde zu sich, um mit ihnen nach draußen zu verschwinden. Derart aufgedreht sah man sie selten – eigentlich nie – und ein bisschen steckte mich ihre Vorfreude an. Ich wünschte Magdalena noch einen schönen Abend und begann die restlichen Tannenzweige und glänzende Christbaumkugeln im Haus zu verteilen. Sofia hatte reichlich Material gekauft und alles war neu. Während ich ein paar Zweige auf dem Fensterbrett drapierte, öffnete sich weiter hinten im Gang eine Tür und Ezra kam mir entgegen. „Hey Ez... oh.“ Ich stellte augenblicklich das Sprechen ein, nachdem ich sein Gesicht gesehen hatte. Wenn Sofia heute der Sommer war, so herrschten bei Ezra die kältesten Minusgrade, die je gemessen wurden. Er hatte derart schlechte Laune, dass sein Anblick mich frösteln ließ. Zur Sicherheit hielt ich die Luft an, bis er an mir vorbeigegangen war, ich wollte das Fass nicht zum Überlaufen bringen. Vielleicht hatte Sofia sich den letzten Rest seiner positiven Energie einverleibt. Gut, dass wir für den heutigen Abend nicht verabredet waren. Ich platzierte noch ein paar Kugeln in der Bibliothek, dann verschwand ich mit einem Stapel Bücher in mein Zimmer und entschied, mich nicht in deren Probleme einzumischen. Es ging mich nichts an – wie Ezra sagen würde.   Ein paar Tage später ging es mich dann doch etwas an. Es war noch eine Woche bis Weihnachten und ich packte ein paar Kleinigkeiten in hübsches Papier. Die Weihnachtsstimmung hatte mich voll erwischt. Neben mir knisterte das Feuer im Kamin und ich band die letzte Schleife um das Geschenk für Magdalena, als jemand an unserer Haustür klopfte. Ein Besucher? Außer mir war niemand im Haus. Magdalena war heute Morgen in die Stadt verschwunden, sie verbrachte ein paar Tage mit William. William Philip – der Mann mit den wunderschönen Pferden. Vor dem zweiten Weihnachtsfeiertag erwarteten wir sie nicht zurück. Sofia und Ezra waren in Rapid City, der nächstgrößeren Stadt in der Nähe, um Besorgungen zu machen. Ich wusste genau, was das bedeutete: Sie waren hungrig. Wieder klopfte es. „Komme!“ Ich legte die Bänder beiseite und ging zur Tür. Vielleicht ein verirrter Wanderer oder ein Bote. Ich zog die Tür auf und blickte hinauf in das Gesicht eines groß gewachsenen Mannes. Er sah nicht aus wie ein Wanderer. Im Gegenteil, er trug einen dunklen Mantel über seinem weißen Hemd und einen Zylinder auf dem Kopf, den er kurz lüftete. Eine bemerkenswert edle Garderobe. „Guten Abend“, begrüßte er mich. „Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?“ „Ich bin ein alter Freund von Miss Volkova. Sie erwartet mich.“ „Sie hat nicht erwähnt, dass jemand zu Besuch kommen würde.“ „Sicher. Ich bin zu früh. Ist sie nicht zu Hause?“ Seine dunklen Augen bohrten sich wie scharfe Messer in mich hinein. Eine Lüge an dieser Stelle hätte er sofort durchschaut. „Warten Sie einen Moment.“ Ich wollte ihn nicht hereinlassen, er war mir nicht geheuer, doch es war zu spät. Seine Hand lag auf dem Holz und er war um einiges stärker. Mühelos schob er mich mitsamt der Tür in den Flur zurück. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun.“ Mit diesen Worten trat er ein. Er legte seinen Hut und den Mantel ab und begab sich in den Salon, als wäre es sein eigenes Haus. Wie selbstverständlich holte er sich ein Weinglas aus dem Schrank und öffnete eine Flasche. „Möchten Sie auch etwas?“, fragte er mich, bevor er sich in Sofias Sessel niederließ. Ich schüttelte den Kopf und schloss die Tür. Offenbar kannte er sich hier aus. „Sie sind also ein Freund von Sofia“, wiederholte ich seine Worte. „Kennen Sie sich schon lange?“ „Länger als Sie ahnen, Miss Paine.“ Ich nahm auf dem Sofa ihm gegenüber Platz. „Sofia hat Ihnen von mir erzählt?“ Er nickte. „Das Experiment.“ „Experiment?“ „Sie sind das Experiment. Die gebrochene Regel. Ich bin sehr daran interessiert, ob Sofias Idee Früchte tragen wird.“ Er auch. Ein Vampir. Natürlich, Sofia gab sich nicht oft mit Menschen ab. „Sie müssen ein guter Freund sein, wenn Sofia Ihnen das anvertraut hat.“ „Der Beste.“ Er lächelte zufrieden in seinen ordentlich getrimmten Zehntagebart. Es war ein weiches, schönes Lächeln. „Nun, Sie wissen, wer ich bin. Darf ich dann auch erfahren, wer Sie sind?“ „Alexander Şerban.“ Ein kurzer Moment, in dem mir die Augen aus dem Kopf fielen, dann fuhr er fort: „Wie ich sehe, haben Sie von mir gehört. Das wundert mich nicht.“ „Möglicherweise brauche ich doch ein Glas Wein. Ich dachte, Sie ... also, das ist wirklich verrückt. Ich dachte, Sie wären längst tot.“ Er lachte herzlich. „Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich noch recht lebendig.“ Ein seltsames Gefühl, ihm gegenüberzusitzen. Ich kannte diesen Mann im Grunde nicht und dennoch hatte ich ihn nackt gesehen. In meiner Fantasie. Sofia hatte mit ihrer Beschreibung nicht übertrieben, er war zweifellos ein atemberaubend schöner Mann. Mir war warm. „Gut“, unterbrach ich die unangenehme Stille, „Und Sie sind hier, weil?“ „Ich möchte mir ein Bild von Ihnen verschaffen.“ „Von mir?“ „Sofia kann wirklich zufrieden mit ihrer Wahl sein. Sie machen auf mich einen äußerst ordentlichen Eindruck.“ „Danke...“ „Sie erinnern mich ein wenig an eine hübsche Porzellanpuppe.“ „Wie bitte?“ Es war befremdlich, wie seine Blicke mich Inch für Inch untersuchten. Wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. „Ihr Gesicht, die blonden Haare. Sie erinnern mich an eine Puppe. Das gefällt mir.“ „Ich bin keine Puppe!“ Alexander schmunzelte über meinen energischen Widerspruch. „Gewiss nicht. Verzeihen Sie diesen Vergleich.“ Er trank einen Schluck Wein, bevor er weitersprach: „Ich bin nicht ausnahmslos wegen Ihren hier, Miss Paine. Vielmehr noch interessiert mich, ob Sofias Methode das Risiko wert ist.“ Der Themenwechsel kam mir äußerst gelegen. „Wie kommen Sie darauf, dass sie das jetzt schon beantworten kann?“ „Können Sie es?“ Eine gute Frage. Konnte ich? „Nun ... ja, ich denke, sie ist das Risiko wert.“ „Bitte erklären Sie mir das.“ Alexander hatte sich gespannt nach vorne gebeugt und ruhte mit dem Ellenbogen auf der Armlehne. Ich musste einen Augenblick darüber nachdenken, dann fand ich die Worte, die es am besten beschreiben konnten: „Ich vertraue ihr.“ Er wirkte beinah überrascht. "Das ist durchaus ein nicht zu verachtender Grund. Womöglich sollte ich diese Methode in Betracht ziehen." Klang, als wäre es nicht nur das reine Interesse an Sofias revolutionärem Handeln. "Sie haben konkrete Pläne?" "In der Tat. Der Gedanke reizt mich seit geraumer Zeit." Er winkte ab. "Überlegungen, die ich mit Sofia besprechen möchte." "Verstehe. Sie haben jemanden im Auge." Er nickte. "Einen jungen Mann, etwa dein Alter. Recht begabt an der Geige ... ich denke, Sie würden ihn mögen." Alexander ließ seine Blicke durch den Raum streifen und wechselte wiederholt das Thema: "Leben Sie gerne hier?" "Ja." Seine Präsenz hatte innerhalb kürzester Zeit den gesamten Raum eingenommen. Ein beängstigendes Gefühl, jedes Mal, wenn sein Blick mich streifte. Als versuchte er tief in mich hineinsehen, durch jede Pore meiner Haut. Ich ertrug es noch ein paar Minuten, dann fixierte ich seine Augen. "Hören Sie auf, mich so anzusehen." Er schmunzelte sanft und mein Puls beschleunigte sich spürbar, als er meine Aufforderung verneinte. "Ich sehe Sie gerne an", sagte er und lehnte sich entspannt zurück. Ob er Sofia auch auf diese Weise angesehen hatte? Meine Nackenhaare stellten sich. "Bereitet es Ihnen Unbehagen?", fragte er. Viel mehr als er zu ahnen glaubte. "Sie bringen mich aus dem Konzept", gestand ich und beobachtete, wie seine Gesichtszüge mit Überraschung auf diese Aussage reagierten. "Hören Sie auf damit." "Ich tue nichts", gab er zur Antwort. "Sie-", setzte ich an, um zu widersprechen, dann warf er mir einen Blick zu, der mit Worten kaum zu beschreiben war, und ich verstummte. Er war durchdringend, herrisch und über alle Maßen anziehend. Alexander zog mich in seinen Bann und ich konnte nichts dagegen tun. Wie konnte er bloß? Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und beschloss, mich nicht weiter einschüchtern zu lassen. "Sie sind kein Mann, der oft zurückgewiesen wird, nicht wahr?" Er stellte sein Glas beiseite. "Üblicherweise nicht, aber ich vermute, Sie möchten das ändern?" Das wollte ich, nur sprach ich es nicht aus und Alexander erhob sich. Ich beobachtete, wie er sich die Haare zurechtlegte, den Nacken dehnte und erwartungsvoll zur Tür sah, als hätte er mich von jetzt auf gleich vergessen. Von dichtem Schneegestöber umrahmt, trat Sofia in den Flur – er hatte sie gehört. "Sofia, meine Liebe. Schön, dich zu sehen", begrüßte er sie. "Sieh an." Sofia trat zu uns in den Salon und blieb mit prüfendem Blick vor Alexander stehen. "Ihr seid früh dran, Herr Şerban. Wie ungebührlich für einen Mann von Welt." "Bitte um Verzeihung." Sofia sprach weiter und ich verstand nichts mehr. Vermutlich war es Russisch. Die beiden wechselten ein paar Worte, Sofias Miene erhellte sich zunehmend und mir war von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, die beiden zu beobachten. Sie waren vertraut miteinander. Beinah konnte man hören, wie es knisterte und ich war drauf und dran, den Raum zu verlassen, als Sofia ihre Hände auf seiner Brust platzierte. Welche Intimitäten sie auch immer austauschen wollten, dessen brauchte ich nicht beiwohnen. Mein Entschluss war gefasst und plötzlich – als Alexander sich zu Sofia hinunter beugen wollte – schlug sie ihm ihre Hand ins Gesicht und bohrte ihre roten Fingernägel tief in seine Haut. "Nenn mir einen Grund, dir nicht den Hals umzudrehen!", knurrte sie ihn an. "Es gibt keinen", entgegnete er so ruhig, dass ich glaubte, er wollte es darauf anlegen. "Ganz recht." Zu meinem Erstaunen gab sie ihn frei und nahm sich stattdessen das Glas vom Tisch. Sie trank einen Schluck und fuhr in aller Ruhe fort: "Darf ich vorstellen: Alexander Şerban, ein alter Freund, Gefährte und schlimmster Alptraum. Ich habe ihm bereits hunderte Male gesagt, er solle die Finger von meinen Schützlingen lassen, aber ... da ist er unverbesserlich." "Dabei habe ich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Sie traut mir dennoch nicht", verteidigte er sich. Sofia schnaubte skeptisch und ließ sich neben mir auf dem Sofa nieder. "Er hat eine Vorliebe für menschliche Frauen", klärte sie mich auf. "Ich hoffe, er ist dir nicht zu nahe getreten?" Mir ging etwas ganz anderes durch den Kopf. "Dann war er schon damals ein Vampir?" Verblüffung spiegelte sich in Sofias Gesicht, dann lachte sie und weihte mich ein: "Natürlich. Er ist der Grund, weswegen Katerina keine Wahl blieb, als mich zu wandeln." "Ich war jung", warf Alexander ein, nachdem er erneut in Sofias Sessel Platz genommen hatte. "Hätte sie es nicht getan, wäre ich in dieser Nacht nicht zurückgekehrt." Eine entsetzliche Wendung. "Er hat dich umgebracht?" "Versehentlich, ja", erklärte Sofia und lächelte dabei. "Aber das ist lange her. Dafür habe ich ihm ein halbes Jahrhundert lang das Leben zur Hölle gemacht." "Du übertreibst. Wir hatten eine schöne Zeit", widersprach Alexander und schien in Erinnerungen zu schwelgen. "Wie dem auch sei. Auch das ist lange her und inzwischen sind wir Freunde." Er nickte zustimmend. Für mich war diese Entwicklung weit weniger nachvollziehbar. Er hatte sie umgebracht und dennoch waren sie Freunde. Eine verdrehte Welt, in der die beiden sich bewegten. "Die nächsten Tage wird er unser Gast sein und ...", sie warf ihm einen warnenden Blick zu, "sollte er dich erneut in eine unangenehme Situation bringen, werde ich ihn mit Freude in kleine Stücke zerreißen." Ein liebevolles Lächeln rundete ihre Warnung ab. "Ihr habt sicher viel zu besprechen", kündigte ich meinen Abschied an. "Ich will euch nicht länger aufhalten, also: Gute Nacht." Zeit dieses ungewöhnliche Paar sich selbst zu überlassen. Ich streifte mir meinen Mantel über und eilte hinaus ins Schneegestöber, um Brennholz aus der Vorratshütte zu holen. Ein wenig frische Luft tat mir ebenfalls gut. Ich stapelte die Scheite in einen Korb und wollte den Rückweg antreten, als mir der Schreck durch die Glieder fuhr. Ezra hatte direkt hinter mir gestanden. "Verdammt, Ezra!", fuhr ich ihn an. "Du hast mich erschreckt! Was tust du hier?" Er hob die Hand und eine glühende Zigarre beantwortete meine Frage. "Warum hier drinnen?" "Es schneit." Richtig. Trotzdem war das Haus groß genug, um in Ruhe irgendwo rauchen zu können. "Ist irgendetwas?" "Was soll sein?", fragte er zurück. "Du rauchst nicht, wenn nichts ist." Schweigen. Ich hatte Geduld. Eine Weile geschah nichts, dann blies Ezra amüsiert die Luft aus. "Beeindruckende Beobachtungsgabe." "Danke." Sollte ich nachfragen? Nein. Ich entschied, zu warten. Die bessere Entscheidung, wie ich feststellte. Ezra zog an der Zigarre und ergriff das Wort: "Ich würde gerne ein paar Tage verschwinden, wie Magdalena, aber ich kann nicht." "Wieso?" "Wegen dir." "Oh ... wegen unserem Training? Ich kann ruhig ein paar Tage ohne dich damit verbringen." Er seufzte leise. "Nein, wegen Alexander." Sein herablassender Tonfall verriet mir einiges. "Du magst ihn nicht?" "Korrekt. Er bedeutet nichts als Ärger." "Sofia scheint das anders zu sehen." "Er ist ein schmieriger Hund. Selbst dich hat er um den Finger gewickelt!" "Wie? Du spinnst doch!", protestierte ich. Ich fühlte mich ertappt. "Nein. Ich weiß, dass er diese Wirkung auf Frauen hat, besonders auf die menschlichen und ... es kotzt mich an, mit welcher Selbstverständlichkeit er glaubt, sich alles nehmen zu können." "Mich nicht!", behauptete ich felsenfest. "Sicher." Er klang nicht überzeugt. "Bist du deswegen hier draußen? Weil du ihm nicht begegnen willst?" "Weil ich ihm nicht den Kopf abreißen will. Magdalena wäre wenig begeistert, die Sauerei beseitigen zu müssen." "Verstehe." Ich konnte nicht anders, als über diese Aussage zu schmunzeln. Interessant, worüber er sich sorgte. "Gut, dann werde ich zurück ins Haus gehen und mich in meinem Zimmer verbarrikadieren. Zur Sicherheit." Ezra antwortete nicht, also nahm ich an, ich könnte gehen. Falsch. Er war nicht fertig. "Wann gibst du es ab?", fragte er, nachdem ich ihn passiert hatte. "Was?" "Das letzte Kapitel. Wovor hast du Angst?" Ein beeindruckender Themenwechsel. Ich fragte erst gar nicht, woher er das wusste. Es war ein Trugschluss, Geheimnisse vor ihm verbergen zu können, bekam er doch trotz seiner Blindheit deutlich mehr mit, als die Sehenden. "Ich habe keine Angst." "Dann gib es ab." "Ich glaube nicht, dass du das zu entscheiden hast. Man sieht sich." Damit erklärte ich die Unterhaltung für beendet und zog mich ins Haus zurück. Ezra hatte keine Einwände. Er ließ mich ziehen, doch seine Worten klebten wie Harz. Ein geschickter Schachzug, das musste man ihm lassen. Vielleicht hatte er recht, vielleicht nicht. Immerhin verwahrte ich das Kapitel seit nunmehr einem halben Jahr in meinem Schreibtisch. Möglich, dass es Zeit wurde, jedoch nicht, solange Alexander zu Besuch war. Ich verwandte die Tage seiner Anwesenheit, mein Bild zu vervollständigen, dass ich von Sofia und ihrem Leben vor mir hatte. Allmählich fügten sich die Teile zusammen, insofern war Alexander mir überaus hilfreich, wenngleich ich ihn mit Vorsicht genoss. Ezras Warnung hatte ich nicht vergessen und wahrte stets den nötigen Abstand, was leichter war, da Sofia uns nicht alleine in einem Raum ließ. Er hielt meine Hand und hauchte einen Kuss darauf, als er sich am Abend des ersten Weihnachtsfeiertags verabschiedete. "Ich freue mich, Sie bald wieder zu sehen, Miss Paine." Ich nickte höflich und wünschte ihm eine gute Heimreise, dann überließ ich Sofia das Feld und verschwand zurück in den wohlig warmen Salon. Sofia folgte einige Minuten später. Ich legte das letzte Kapitel auf den Tisch und sie sah mich verblüfft an. "Ich habe mich entschieden." Sie nahm das Papier und begutachtete es ausgiebig. "Du hast mich lange warten lassen, aber es freut mich, dass ich es doch lesen darf." "Das meine ich nicht. Ich will nicht länger euer aller Zeit verschwenden." Sofia hob den Blick von meinem Kapitel und bedachte nun mich mit prüfenden Blicken. "Wie meinst du das?" "Ich möchte deine Schülerin werden." Sie schwieg. In ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung, also sprach ich weiter: "Ich hatte etwas mehr Freude erwartet." "Hast du es dir gut überlegt? Du weißt, was das bedeutet." Als würde sie mich vom Gegenteil überzeugen wollen. "Natürlich habe ich das. Seit Jahren denke ich darüber nach!" "Gibt es einen bestimmten Grund, warum du dich so plötzlich entschieden hast?" "Benötige ich einen?" Ich war nicht sicher, ob sie sich freute. Im Augenblick sah es weniger danach aus. "Nein." Sie lächelte und hob mein Kapitel ein Stück an. "Ich werde das hier lesen, solange kannst du deine Entscheidung noch überdenken." "Ist gut. Aber sie steht fest." Sie schenkte mir ein wohlwollendes Nicken und verließ den Raum. "Wohin gehst du?", rief ich ihr nach. "Du hast sechs Jahre gebraucht, gönn mir ein paar Tage." Ein berechtigter Einwand, schließlich betraf meine Entscheidung nicht nur mich. Auf ein paar Tage kam es ohnehin nicht an, wenn die Unendlichkeit einen erwartete. So blieb mir genug Zeit, auch Magdalena einzuweihen. Sie hatte es weniger gut aufgenommen, als ich gehofft hatte, doch sie machte keine Anstalten, mich umzustimmen. Mein Entschluss war endgültig. Ich wollte das Geschenk annehmen, das Sofia mir bot. Die Stärke und die Veränderung, die sich daraus ergab. Ich war weit gekommen und bereit den Preis für den letzten Schritt in eine völlig neue Richtung zu zahlen.   "Heute ist wahrscheinlich der beste Tag, für einen Neubeginn", sagte Sofia, als sie kurz nach Mitternacht am Neujahrstag in die Bibliothek kam. "Wenn du noch immer sicher bist." Ich legte mein Buch zur Seite. "Das bin ich." Sie nickte zufrieden und kam herüber, um mir ein halb gefülltes Weinglas zu reichen. Es war kein Wein darin. "Ist das ... Blut?" "Deine erste Mahlzeit, sobald du erwachst", sagte sie ruhig und setzte sich mir gegenüber. "Deines?" "Nein, es ist Menschenblut. Trink, bevor es gerinnt." Sie stieß ihr eigenes Glas gegen meines und leerte ihres in einem Zug. "Es ist besser, du hast etwas im Magen, wenn du aufwachst." Es kostete mich einige Überwindung, diese Flüssigkeit hinunterzuwürgen. Es war noch warm ... Ein widerwärtiger Geschmack nach Metall. Besser ich dachte nicht länger darüber nach. Ich hatte es so gewollt. "Du gewöhnst dich daran", versicherte mir Sofia mit vergnügter Miene. "Was passiert jetzt?" Sie legte ihre Hand offen auf den Tisch. "Deine Hand." Ich gab sie ihr und spürte, wie die Aufregung sich unaufhaltsam durch meinen Körper bahnte. Sofia sprach weiter, ihre Stimme klang wunderbar beruhigend: "Es wird kurz schmerzen, danach wirst du nichts mehr spüren. Es wird schnell vorbei sein. Bist du bereit?" Meine letzte Chance. War ich bereit? Jetzt, da sie fragte ... ich nickte. Sofia zückte ein Messer und hielt ihr Versprechen. Es ging schnell. Sie jagte es durch unser beider Hände, ich schrie und sie war bei mir. Ein kurzer Kuss auf meine Stirn. "Wir sehen uns gleich wieder." Sie sank ein Stück herab und heißes Brennen entflammte meinen Hals. Die Bilder vor meinen Augen verschwammen, meine Hand pochte und viel zu langsam wurde mein Körper taub. Er wurde schwer, meine Lider ergaben sich zuerst und ich wurde ruhig. Ein wohliges Gefühl umfing mich. Ich spürte keine Schmerzen mehr. 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